Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Neues Recht durch neue Richter? | APuZ 43/1976 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 43/1976 Neues Recht durch neue Richter? Hitler und Mussolini Die Entstehung des Oder-Neiße-Konflikts im Spannungsfeld zwischen Ost und West

Neues Recht durch neue Richter?

Diether Huhn

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit der der bremischen Forderung nach dem „neuen Juristen" jüngst aus Bayern entgegengesetzten rhetorischen Frage „Neues Recht durch neue Richter?" ist der „Kampf um die Rechtswissenschaft" in eine neue Phase getreten. Seine materiellen Inhalte hat er dagegen seit Hermann Kantorowicz'berühmter Schrift gleichen Titels (1906) kaum geändert. Reformen in der Juristenausbildung sind nicht geeignet, durchgreifende Änderungen der Rechtsoder gar der Gesellschaftsordnung zu bewirken. Allgemeine politische Befürchtungen gegenüber den Versuchen, die Juristenausbildung zu reformieren, sind deshalb unangebracht. Von ihnen ist nichts zu befürchten, aber auch wenig zu erhoffen. Statt dessen müßten die Anstrengungen darauf konzentriert werden, die Justiz und die Rechtswissenschaft zur Bewältigung der wirklichen Probleme der Praxis wieder geeigneter zu machen. Der Jurist sollte sich durch eine sozialwissenschaftliche Jurisprudenz darauf festlegen lassen, daß er Gesetz und Recht zur Anwendung zu bringen hat, und das heißt wegen der grundsätzlichen Antinomie dieser beiden Sozialgegebenheiten; das Recht neben dem und notfalls auch gegen das Gesetz.

Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines am 20. Februar 1976 in München auf Einladung der Karl-Friedrich von Siemens Stiftung gehaltenen Vortrags.

Mein Thema heißt: Neues Recht durch neue (Richter?

Zunächst ist das noch kein Thema, sondern nur eine Überschrift; man muß erst ein The-Ema daraus machen. Allgemein aufgefaßt frag-

te es nach dem Einfluß der Juristenerziehung i auf die Gestaltung des Rechtes. Durch die Lücke seines fehlenden Prädikates raunt es jedoch Nicht-Geheures, es traut der Erziehung Ungeheures zu. Gibt es, fragt es, hierzulande Leute, welche unser Recht, unser Staats-und Gesellschaftssystem, schreitend auf heimlichen Sohlen, hereinhuschend durch hintere Türen, verändern wollen? Kaum hört man das Fragezeichen noch, man sieht es sich förmlich strecken zum bedeutungsvollen Ausruf: Daß nicht neues Recht komme durch neue Richter! Merket auf.

Kann überhaupt, fragt man dagegen, Ausbildung von solch unheimlicher, beunruhigender Bedeutung sein, daß sie die Festen der Ordnung zittern macht? Ist denn Ausbildung von ähnlicher Wirkungsweise wie sonst nur Politik? In einem der großartigsten Bildungspläne, die die deutsche und fast möchte man sagen: die europäische Bildungspolitik hervorgebracht hat, nämlich in seinem „Bericht der Sektion des Kultus und des Unterrichts an den König"

vom Dezember 1809 schrieb Wilhelm von Humboldt

„Die schwierigste Aufgabe ist, die Nation geneigt zu machen und bei Geneigtheit zu erhalten, den Gesetzen zu gehorchen, dem Landesherrn mit unverbrüchlich treuer Liebe anzuhängen, im Privatleben mäßig, sittlich, religiös, zu Berufsgeschäften tätig zu sein und endlich sich gern, mit Verachtung kleinlicher und frivoler Vergnügen, ernsthaften Beschäftigungen zu widmen." Wie aber gelangt man dahin? „Soll das Verbesserungsgeschäft der Nation mit Erfolg angegriffen werden, muß man es zugleich von allen Seiten beginnen, und nicht glauben, die jüngere Hälfte dem Vorderteil der älteren entreißen zu können. Wie also die Erziehung auf die Jugend, muß der Gottesdienst auf die Erwachsenen wirken, dann ist der Erfolg erst wahrhaft segensreich."

Traut man seinen Ohren? Erziehung und Unterricht für die Jugend, Gottesdienst und geistliches Wesen für die Erwachsenen, und jeder Bürger wird für sich mäßig und sittlich, für den Staat gehorsam sein den Gesetzen und denjenigen sogar noch lieben, der sie gemacht hat?

Dies also Wilhelm von Humboldt, dessen Größe dem Jahrhundert hätte den Namen geben können: der wirksamste und praktischste unter den Klassikern der deutschen Geistesgeschichte. Ist er nun wirksam gewesen in diesem Verbesserungsgeschäft der Nation, und hätte denn in der Tat — nächst dem Zündnagelgewehr — der deutsche Volksschullehrer die Schlacht von Königsgrätz gewonnen? Man muß es bezweifeln.

Ich finde weder hier noch sonstwo im Beispielsschatz der Geschichte einen schlüssigen Beweis für den aufklärerischen Glauben und die politische Hoffnung, daß durch Erziehung und Unterricht, gar durch jenen anderen, den geistlichen Kultus, die gesellschaftlichen Zustände im allgemeinen zu verändern waren Der Lehrer, also der von ihm in Gang gebrachte Sozialisationsprozeß, wirkt so direkt nicht, daß man ihm allein das Ergebnis zutrauen könnte, der Schüler werde, in einen Beruf fortgeschritten, fähig und willens sein, Änderungen vorzunehmen an dem, was er als Gesellschaft sich gegenübertreten sieht Der Wind der Veränderung läßt sich so einfach nicht anblasen. Keine Schule, die niedrigste nicht und nicht die höchste, steht der Gesellschaft als einem Objekt von Veränderungen so gegenüber, daß sie die Rolle des Subjekts jederzeit übernehmen könnte.

Es ist vielmehr umgekehrt die Gesellschaft, die Stimmung im Lande und unter den Leuten, das allgemeine politische Klima, das draußen herrscht, welches auch unsere Schulen und Hochschulen wärmt und frieren läßt. Das Erziehungs-und Unterrichtswesen ist kein neutraler Ort gegenüber der Gesellschaft, worin man sich etwas ausdenken könnte, was von dort aus unmittelbar mit klaren Zielen auch nur, geschweige mit eindeutigen Wirkungen machen könnte, was sonst ganz anders wäre. Der Teil der Gesellschaft, welcher in Schulen und Hochschulen versammelt ist, ist niemals so ganz ein anderer als der entsprechende draußen

Auch die Gesellschaftswissenschaften, die Sozialwissenschaften, sind bislang keineswegs so weit fortgeschritten, daß sich auf ihre Ergebnisse die Hoffnungen stützen ließen, die man auf Erziehung setzt: Auch diese Wisschäften verweisen uns auf die Versuche, die politisch unternommen und verantwortet werden müssen. Anders ausgedrückt: Diese Wissenschaften haben bislang noch kein Verfahren entdeckt, das wissenschaftlich in Anwendung gebracht werden und zu Ergebnissen geführt werden könnte, welche die gesellschaftlich-politisch wirksamen Kräfte nicht wollten.

Wer den Kreis der Erscheinungen mit Ruhe überblickte, auf den unser Thema anspielt, braucht sich die Sorge nicht zu machen, daß durch bestimmte Bemühungen um die Ausbildungsreform der Juristen, daß vielleicht in Hannover oder Bremen: sozusagen in einer antizipierten Waschung der Gehirne künftiger Richter, Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamten unser ansonsten durch Volk, Parlamente und Regierungen, Zeitungen und TV-Moderatoren sicher getragenes Verfassungs-und Gesellschaftssystem hinterrücks an der Achillesferse der Rechtsstattlichkeit überfallen und zum Stolpern gebracht würde.

Die erste Haut, glaube ich, ist meinem Thema damit abgezogen, und nun will ich etwas deutlicher werden. Die Formel des Themas ist eine politische Chiffre, ein verbales Werkzeug — mit aller Vorsicht gesagt — der justizpolitischen Gegenreformation. Soweit ich sehe, stammt sie vom Titel einer Veranstaltung und hernach eines Sammelbandes der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der bayerischen Hanns-Seidel-Stiftung Im Titel dieses Bandes und in seinem Vorwort artikuliert sich ein gewisser kämpferischer, die Polemik aufnehmender, justizpolitischer Konservatismus. Er meldet sich mit dieser Formel zu Wort gegen jenen justizpolitischen Reformatismus, der seit etwa eineinhalb Jahrzehnten, erst vertreten durch einzelne Stimmen, dann in progressiven Chören Parolen über die Szene gerufen hat. In seinen polyphonen Melodien klang das Conti-nuo: In der Justiz, in der Rechtswissenschaft, in und mit den Gesetzen muß manches, vieles, anders: neu werden

Viele Töne weckt der emotionale Bogen-strich, den der über unsere Seele führt, welcher „neu" ruft, und während also auf der einen Seite rhetorisch fragend postuliert wird: Kein neues Recht durch neue Richter!, heißt es auf der anderen — nur erst fordernd oder schon feststellend? —: „Der neue Jurist". Dies ist der Titel eines Buches, das den Untertitel trägt: „Ausbildungsreform in Bremen als Planungs-und Lernprozeß", und in dem sich die meisten von denen äußern, die in bezug auf die Bremer Juristenausbildung von Lautmann bis zu Wiethölter Rang und Namen haben (und auch einige, denen es an beidem mangelt)

Der Kampf um die Rechtswissenschaft tobt also, so scheint es:

„Wir behaupten, daß viele Rechtsfälle überhaupt keine rechtliche Lösung zulassen."

„Nur ganz allein die Jurisprudenz traut sich infolge ihrer angeblich systematischen Vollkommenheit zu, jedes wirkliche und denkbare Problem lösen zu können, und verlangt diese Fähigkeit sogar von dem letzten ihrer Jünger. Und doch nicht ganz allein! Der Quacksalber, der bei dem dunkelsten Fall die Diagnose und bei der verzweifelsten Diagnose die Therapie noch findet, der Priester, der mit eiserner Stirn dem Beichtkind für jede seiner Verfehlungen die von Gott gewollte Buße berechnet, sie sind die fatale Kumpanei, in der der dogmatische Jurist seines Weges zieht."

„Wir bi suchen (statt dessen) Richter, die sowohl mit den im Volke herrschenden Rechtsansschauungen, als mit den Tatsachen des Lebens und den Ergebnissen benachbarter Wissenschaften vertraut sind."

„Spezialisten des Tatbestandes, nicht Tausendkünstler des Rechtssatzes — muß die Lo-sung sein."

Das sind Sätze aus jener berühmten Kampfschrift, die ihr Verfasser im Jahre 1 06 nicht unter seinem wirklichen Namen in die Öffentlichkeit entlassen konnte. Sie heißt — so wie ich oben zur Schilderung der gegenwärtigen Situation mich formelhaft ausdrückte —: „Der Kampf um die Rechtswissenschaft"; Hermann

Kantorowicz ist ihr Verfasser, sein Name leuchtet unter den wenigen großen Namen der deutschen Rechtswissenschaft

Kann man sich auf ihn berufen? Wer weiß! Denn auch ihm wird jene verurteilende For-mel gegolten haben, die Karl Larenz seinerzeit aus Kiel dem großen Gustav Radbruch entgegengerufen hat: Rationalismus, welcher „in der Nacht bleiben will, die man die Aufklärung nennt" Rationalismus, Aufklärer-tum, der Rechtswissenschaft, der Justiz gegenüber in Anwendung und zur politischen Ausübung gebracht, wäre also nächtlich, dunkel, blind vor der Morgenröte, die schon anderswo heraufdämmerte?

Ich spreche hier nicht zufällig über Karl Larenz. Seinen Namen heftet sich jene Schrift, die die warnende Formel meines Themas in die Diskussion eingeführt hat, wie ein Markenzeichen vor; sie läßt ihn — wie er damals vor Radbruch und Kantorowicz warnte — nun vor Wassermann, Topitsch, vor der Frankfurter Schule, vor Luhmann, Kriele, sogar vor Esser, vor allem aber vor der Soziologie warnen und das Feldzeichen der Jurisprudenz aufrichten Das nun — man verzeihe mir's — verknüpft das Thema für mich mit Persönlichem, mit einem entscheidenden Ausbildungserlebnis. In Kiel saß ich, verehrend, Larenz zu Füßen, in einem Seminar über Hegel und seine Rechtsphilosophie. Und weil ich ihn verehrte, denn er nahm uns ernst, er hörte uns zu, er kam uns pädagogisch entgegen — weil wir ihn also schätzten, fragten wir uns damals: Wie kann es möglich sein, daß das Studium der Rechtswissenschaft, von der doch gesagt wird, daß sie mit Gerechtigkeit zu tun habe, daß also die Rechtswissenschaft nicht hilft, ganz eklatantes, gar millionenfach staatlich verordnetes Unrecht als solches zu erkennen und Kräfte zu gewinnen, ihm mutig zu widerstehen?

Auf diese Frage blieb die Antwort aus: während meines Studiums, während meiner Referendarzeit, und sie war auch ausgeblieben, als ich 1968 zu mancher Manns Mißvergnügen schrieb: „Vier deutsche Staaten sind mit demselben Recht und mit d'enselben Universitäten ausgekommen. Millionen Tote liegen am Wegesrand, aber eine sehr wesentliche Tatsache scheint das nicht zu sein."

Aber: „Die Mißerfolge aller bisherigen Versuche, das deutsche Rechtswesen und die Ausbildung der deutschen Juristen zum Besseren zu wenden, beweisen nicht, daß solche Wen-dung nicht nötig oder objektiv nicht möglich wäre, sondern daß sie von den offiziellen Instanzen, von den Inhabern der Rechtsfakultäten nicht zu erwarten ist."

Und dann folgte damals (1968!) der schreckliche Satz: „Demokratie heißt, daß notwendige Änderungen, die von oben, von den berufenen Instanzen, verweigert werden, von unten, von den Betroffenen, erzwungen werden sol-len. Eine gefährliche These. Sie muß von Seiten desjenigen, der hier vom akademischen Rechtsstudium reden hören wollte, jedenfalls mit der Frage rechnen: Was wollen sie inhaltlich? Ich wünsche die Abschaffung der rechtswissenschaftlichen Fakultäten." „Sieh da!" hat mein Freund und Kollege Egon Schneider 1974 dazu angemerkt „Erst wollte er die Abschaffung der rechtswissenschaftlichen Fakultäten, nun hat er sich aber doch lieber selbst eingereiht und nennt sich jetzt gar Professor." Habe ich also Anlaß, meine Sätze von gestern zu verleugnen? Jener Satz von 1968 war gewiß ein etwas radikaler und seine Inhalte zuspitzender Satz, aber ein neuer Satz war es doch nicht. Man lese das Folgende: „Die Nation ist der wissenschaftlichen Juristen überdrüssig. (Denn:) Durch die Wissenschaft (ist die Rechtspflege) zum Glücksspiel geworden.

Die Sprache des gemeinen Mannes hat für diesen Zustand bezeichnende Ausdrücke. Fragt man einen Bauern, wie es mit seinem Prozeß stehe, so ist die Antwort: Er schwebt noch; ein vortreffliches Wort für den schleichenden Fortgang der Sache, die völlige Unverständlichkeit derselben für die Partei. Hat der Bauer den Prozeß verloren, so sagt er nicht, daß er unrecht gehabt, sondern: Ich habe verspielt. Der Verlust des Prozesses und die Verwüstung des Feldes durch Hagelschlag sind ihm Ereignisse ganz gleicher Natur; Unglück, aber kein Unrecht.

Dies also ist der Triumph der Rechtswissenschaft: ein Recht, das das Volk nicht mehr kennt, das von ihm mit den wilden Mächten der Natur auf gleiche Stufe gestellt wird.

Ein solches Übel ist zu groß, als daß nicht die Reaktionen kommen sollten. Schon Justinians Verbot, als sein Gesetzbuch vollendet war, dasselbe zu kommentieren, gehört hierher. Es liegt diesem Verbot der hochzuachtende Wunsch zugrunde, das Recht vor der zersetzenden Macht der Gelehrsamkeit zu schützen. Das Unternehmen Friedrich des Großen, die Advokaten abzuschaffen, ruht auf demselben Grund. Das Unternehmen mußte verunglükken, weil es eine halbe Maßregel war; nicht die Advokaten allein, auch die gelehrten Richter hätte es abschaffen sollen."

Dies waren Sätze aus der berühmtesten rechtspolitischen Schrift, die ein deutscher Jurist jemals hervorgebracht hat. Julius von Kirchmann, nach heutigen Begriffen: Generalstaatsanwalt, später Oberlandesgerichts-Vizepräsident hat sie 1848, am Vorabend revolutionärer Erhebungen, vor der Berliner juristischen Gesellschaft formuliert. Und nun rechnete sie unter die Antiquitäten, weil das offizielle Gerechtigkeitswesen heute tatsächlich hervorbrächte, wa man voraussehbare Rationalität der Entscheidungen nennt und was man schließlich mit dem hehren Namen der Gerechtigkeit belegen könnte?

Mit der öffentlichen Gerechtigkeitspflege steht es nach wie vor nicht zum Besten. Das soll nicht heißen, daß das deutsche Rechtswesen im internationalen Vergleich der Unzulänglichkeiten besonders schlecht abschnitte; aber das, was die Gerichte produzieren, und das, was die Rechtsanwälte den Gerichtsregeln vor-und nachdenken, erfüllt doch kaum eine andere gesellschaftliche Funktion als sie jede andere bürokratische Kompetenz auch erfüllt. Der Bürger hat zum Rechtswesen kein anderes — vielleicht eher noch ein schlechteres — Verhältnis als zur Polizei und zu anderen Behörden: Besser ist's, daß man nichts damit zu tun bekommt. Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist bedrückend groß. Ich sage das als ein täglicher Praktiker des Rechtes. Daß meine Berufstätigkeit in einer besonderen Nähe zur Gerechtigkeit sich bewege, habe ich niemals ernsthaft annehmen können. Gerechtigkeitsverwirklichung ist nicht unser Problem, unser Problem ist Aktenbearbeitung. Unsere Aufgabe ist — nach einem alten Justizspruch — nicht, den Parteien Recht zu geben, sondern ein Urteil: eine Entscheidung. Die Wirklichkeit des deutschen Rechtswesens vollzieht sich weit jenseits jener Festrednerlichkeit, die das Recht und die Gerechtigkeit immer wieder anruft, neuerdings auch noch Ordnungsfunktion von der Justiz verlangt und sie unter die Sicherheitsbehörden einreihen will: Gerechtigkeit und Sicherheit, wohl vereint in bundeskanzlerli-eben Worten und dabei doch oft genug schwere Gegensätze.

Natürlich: Gerechtigkeit! Aber wie denn? Und was ist Gerechtigkeit nicht im allgemeinen, nicht untersucht nach ihrer Stelle in der Rangskala der Werte, sondern befragt auf ihre inhaltliche Aussage für die jetzt, schnell und rasch zu treffende Entscheidung des einzelnen Falles? Es bleibt bei dieser Frage, mehr nicht über dieses, das gerät mir zur Autoritätenbeschimpfung, und über die Jahre sollte ich hinaus sein, in denen solche Attitüde allenfalls ziert.

Die juristische Berufspraxis — und dazu darf ich weder die Hochschulen noch die Ministerien, noch nicht einmal die Prüfungsämter ganz rechnen, ich meine wirklich: diejenige juristische Praxis, die sich auf Menschen bezieht, denen diese Praxis fremd ist: auf den Bürger —, diese Justizpraxis also interessiert sich wenig für das bremische Postulat vom neuen Juristen, sie teilt auch kaum die bayerische Furcht vor dem neuen Recht, das neue Richter vielleicht schaffen könnten. Sie fürchtet sich weder vor, noch hofft sie auf den neuen Juristen. Was sie aber gerne hätte und was, wie ich glaube, auch die Gesellschaft, der Bürger nachgerade verlangt, ist jenseits von alt und neu: der bessere Richter, der bessere Jurist, der kundigere, der ehrlichere, derjenige mit mehr Anstand, meinetwegen also: der gerechte Jurist.

Ich weiß, daß ich damit inhaltlich wenig gesagt habe. Meine Absicht ist lediglich: anzudeuten, warum unsereiner bereits vor Jahren in Verbindung mit anderen juristischen Praktikern jene Postulate über die Juristenausbildung erhoben hat, welche jetzt aus dieser und jener Hochschule herausklingen, die allgemeine politische Diskussion beleben und sich gelegentlich auch andere und neue Gründe und Begründungen gesucht haben.

Diese Postulate waren zunächst Abbilder täglicher praktischer Probleme bei der Anwendung juristischer Kategorien auf Einzelfälle und Ausdruck von nichts anderem und weiterem als des Bemühens, diese Praxis — in aller Naivität sagte man damals — zu verbessern, daß sie den Forderungen der Verfassung nach einem Rechts-und Sozialstaat näher-komme. In der sich schließlich ergebenden Verkürzung stellen diese Postulate nun sich so dar:

Zuvörderst verlangten wir eine engere Verbindung zwischen rechtswissenschaftlicher Theorie und justitieller Praxis, Ausgleichung dieses allerdings als tief empfundenen wechselseitigen Ungenügens. Dies war die Ober-und Hauptforderung, eigentlich das einzige Verlangen, das andere waren Aussagen über die Mittel, ihm Erfüllung folgen zu lassen. Diese sozusagen instrumenteilen Aussagen forderten zur Überwindung des Theorie-Praxis-Gegensatzes zweierlei: Erstens keineswegs die Abschaffung der Jurisprudenz, aber eine Neuformulierung ihrer Inhalte; dies versuchte auszudrücken die Formel von der Integration der Sozialwissenschaften in die Jurisprudenz oder von der Rechtswissenschaft selbst als einer Sozialwissenschaft. Zweitens verlangten wir die Abschaffung der dualen Organisation des juristischen Ausbildungsganges und die Einrichtung einphasiger Aus-bildungsund Studiengänge.

Dies letztere war das Faßbarste, wie sich zu meinem Erstaunen erwiesen hat. Noch vor weniger als zwei Olympiaden war der Ausbildungsgang der bundesdeutschen Juristen ausnahmslos so organisiert, daß zunächst das Studium als eine Reihe von rein theoretischen Veranstaltungen zu durchlaufen, das Referan-darexamen abzulegen, dann der Referendardienst als eine Abfolge rein praktischer, auf Meister-Lehrlings-Strukturen festgelegter Abschnitte abzuleisten und dann das Assessorexamen zu bestehen war. Das nannten und nennen wir ein duales Ausbildungssystem; es wird weiterhin in allen Bundesländern — Bremen ausgenommen — praktiziert. Es stellt ein sehr festgefügtes, traditionsbegründetes, außerdem organisatorisch verhältnismäßig einfach zu handhabendes System dar. Es ist das Ausbildungssystem, das alle Juristen erlebt haben, die in dieser zweiten deutschen Republik Amt und Einfluß haben. Es vereinigt die Erinnerungen ihrer Jugend und ist der tatsächliche und emotionale Grund ihres beruflichen Selbstverständnisses. Deswegen beispielsweise habe ich nicht geglaubt, daß sich alsbald eine Alternative dazu werde errichten lassen. Aber dieses Mißtrauen in die Innovationsfähigkeit unserer Ministerialbürokratie war unbegründet: Seit 1971 gibt es eine bundesgesetzliche Vorschrift, die statt jenes dualen Ausbildungssystems auch einphasige Studiengänge für Juristen gestattet. Das Landesrecht, so sagt § 5 b des Deutschen Richtergesetzes, kann Studium und praktische Vorbereitung in einer gleichwertigen Ausbildung zusammenfassen und das Referendarexamen durch eine Zwischenprüfung oder durch ausbildungsbegleitende Leistungskontrollen ersetzen. Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages hat diese Vorschrift seinerzeit mit folgender Begründung auf den Weg geschickt: „Bevor entschieden werden kann, welche Neugestaltung der Ausbildung allgemein in der erforderlich, praktische Erfahrungen mit Ausbildungsmodellen zu sammeln. Der Fassung dieser Vorschrift, die sich hinsichtlich der Ausbildungsinhalte und -methoden eine große Zurückhaltung auferlegt, liegt die Erwägung zugrunde, die Erprobung einstufiger Ausbildungsmodelle in weitem Umfang zu ermöglichen. Sie gestattet sowohl Modelle, die mit einer sozialwissenschaftlichen Grundlegung beginnen, als auch solche, die zunächst den Schwerpunkt auf die Erlernung der Rechtstechnik legen, als auch solche, die sozialwissenschaftliche und juristische Lehrstoffe gleichzeitig mit-und nebeneinander vermitteln."

Es gibt also mancherorts einphasige Ausbildungsgänge für Juristen;'sie sind inhaltlich sehr unterschiedlich; so entspricht es dem Befehl des Gesetzgebers, denn hier soll ja experimentiert, versucht, erprobt, sowohl dieses wie jenes getan werden Die antipodi-sehen Modelle sind vielleicht der einphasige Studiengang des Münchener Modells in seiner speziellen Ausformung als Augsburger Modell einerseits, andererseits eben das schon mehrfach erwähnte Bremer Modell, vielleicht aber auch das Hamburger Modell oder das Hannover-Modell

Auf der höchsten Ebene liegen diese Unterschiede begründet in je unterschiedlichen Antworten auf jene andere Reformforderung nach Integration der Sozialwissenschaften. Ich will das ein wenig grundsätzlicher, aber auch allgemeiner so formulieren: Die Einphasen-Mo-delle unterscheiden sich darin, daß die einen nicht nur den Ausbildungsgang der Juristen, sondern auch die Jurisprudenz verändern, die anderen dagegen zwar auch den Ausbildungsgang verändern, die Jurisprudenz aber lediglich durch Nachbarwissenschaften ergänzen wollen.

Auf einer niedrigeren Ebene gibt es auch einen anderen Unterschied. Er liegt im Stil der Verwaltungsarbeit, in dem sich hier und dort die Einrichtung der Einphasenmodelle vollzogen hat. Wenn notwendige Veränderungen möglich werden, ergreift den einen der Wind vom Flügelschlag der Geschichte und in ihm erhebt er sich; der andere, wenn das Aufbruchsignal ertönt, läßt dagegen seinen Blick noch eine Weile verharren auf dem, was ihn bisher umgab. Endlich! sagt jener, dieser:

Wer weiß? Das ist Sache des Temperamentes; auch im deutschen Ministerialstil gibt es Temperamente, . und diesbezüglich darf man Vorlieben äußern, sogar Vorlieben für das, was man selbst nicht zuwege birngt und also beneidet. Deshalb gestatte ich mir, eine Vorliebe für den Stil des Bayerischen Justizministeriums unverhohlen auszusprechen. Er verbreitet ein gewisses Gefühl von Solidität und erzeugt jene Hochachtung, die man vor dem Pragmatischen und Praktischen nach Möglichkeit bewahren sollte.

In einem dritten Punkt freilich unterscheiden sich die Einphasenmodelle nicht voneinander. Sie verdeutlichen alle, daß die Idee der Universität für die deutsche Juristenausbildung endgültig als falsch erwiesen ist. Nicht umsonst habe ich mit der Herbeizitierung Wilhelm von Humboldts begonnen. Die Idee der Universität ist, hat er gesagt, das, was der Mensch nur durch und in sich selbst finden kann: Einsicht in die reine Wissenschaft. Da-mit ist nun wohl nichts mehr. Universitäten sind Berufsschulen. Die Aufgabe der jüngsten Vergangenheit wäre gewesen: diese und die anderen Berufsschulen ganz aus dem Organisationszusammenhang herauszulösen, der sich immer noch Universität überschreibt, und die zurückbleibenden Universitäten dadurch wieder Universitäten wahrhaft werden zu lassen. Ich hätte gewünscht, daß man die einphasigen Studiengänge überall als Realhochschulen hätte einrichten können. Dies hätte uns manche Einheitsträume erspart; in Bremen beispielsweise träumt man den Humboldt-Traum noch nach, wenn man dort die Universtität im ganzen als eine politische Einheit und Wirkungsstätte begreifen will Die Aufgabe jeder noch möglichen Bildungspolitik, welche — wie hier — zugleich ganz bestimmte berufliche Funktionen zu bedenken hat, ist nämlich nicht: verschiedene Einzel-wissenschaften zu verschmelzen, im Humboldtschen Sinne zur Idee der Wissenschaft hinaufzuführen oder zu anderen universalistischen Wesenseinheiten, etwa zur kritischen Theorie oder auch nur zur allgemeinen Schule politischen Verhaltens. Die Aufgabe derjenigen bildungspolitischen Bemühungen, die sich auf Hochschulen beziehen, ist überhaupt nicht die Erfüllung eines allgemeinen „Anspruchs auf Bildung". Ich jedenfalls halte ein solches Recht zum Zugang zu Hochschulen, allein um dort gebildet, nicht aber ausgebildet zu werden, für einen seltsamen Mißgriff. Ein Staat, der alle seine Bürger das Lesen lehrt und der die Buchdruckerkunst toleriert, ist darüber hinaus nicht Schuldner eines allgemeinen Bildungsanspruches seiner Bürger Aber jeder moderne Industriestaat schuldet der Gesellschaft seiner Bürger eine möglichst klare Prognose der Bedürfnisse, die sie in überschaubarer Zeit entwickeln und äußern werden, er schuldet die Bereitstellung der persönlichen und sachlichen Mittel zur Befriedigung solcher Bedürfnisse, und er schuldet bei fortdauerndem Wunsch nach progressivem Wirtschaftswachstum, daß solche Bedürfnis-befriedigung in rationeller Weise geschehe, ohne Verschwendung also auch von Arbeitsund Nervenkraft, die anderswo nützlicher und notwendiger wäre. Ich kürze diesen Gedankengang ab. Nach meiner Meinung führt er notwendigerweise zu der Aussage, daß Ausbildungsgänge, die mit wissenschaftlich begründeten Inhalten arbeiten müssen, gezielte Zwänge zur Spezialisierung auf ihre Teilnehmer auszuüben haben.

Verwunderlicherweise bestehen für diese einzig richtige Forderung nach Spezialisierung offenbar keine besonders günstigen politischen, gesellschaftlichen, ideologischen Voraussetzungen. Noch immer finden die Universalisten Auditorien für ihre bildungspolitischen Schwanengesänge. Hartmut von Heutig zum Beispiel fragt in einer jüngeren Schrift über die Einheit der Wissenschaft im Verständigungsprozeß im Titel geheimnisvoll: „Magier oder Magister?“, und fordert uns auf, einer neuen Krise zu entrinnen, nämlich der Krise nicht einzelner Institutionen, etwa der Hochschulen und des Hochschullehrertums, nicht einzelner Wissenschaften, etwa der Jurisprudenz oder der Soziologie, sondern schlechthin „der" Wissenschaft Ist also das unser Bildungsproblem, daß unsere Ausbildungsgänge sich immer nur mit einer Wissenschaft, nie aber schlechthin mit „der“ Wissenschaft beschäftigt haben? Nein, gewiß nicht: Und ich weiß nicht einmal, ob ich nicht zwischen den Zeilen solcher Forderungen lesen soll, daß dieser Imperativ nach der Wissenschaft an sich, der Wissenschaft als Wissenschaft, nur hervorgeht aus dem Profilierungsstreben einer bestimmten einzelnen Wissenschaft, die sich maßlos ins Kraut geschossen fühlt und nun nicht weiß: wohin aus lauter Mangel an Fachkenntnissen; ich meine die Didaktik der Didaktiker, die Pädagogik der Pädagogen, die nun auch anfangen zu wissen, daß nur Fachdidaktik, Fachpädagogik sinnvoll ist, daß die Didaktik nur als Hilfswissenschaft möglich ist, daß also nicht das Ziel aller Ausbildungsgänge die Didaktik sei Ich biete genau die gegenteilige These an. Ich behaupte: „die" Wissenschaft gibt es überhaupt nicht. Zwischen der Wissenschaft vom Recht und der Wissenschaft von den göttlichen Dingen beispielsweise besteht keine Gemeinsamkeit, die man selbst eine wissenschaftliche nennen dürfte. Es gibt das menschliche Vermögen zu denken, und es gibt Methoden zur Bewältigung bestimmter Sachverhalte, die aus der Natur dieser Sachverhalte und aus der Beobachtung ihrer Beziehungen zu anderen Sachverhalten gewonnen sind und die man wegen der Abwesenheit von Metaphysik wissenschaftliche Methoden nennen kann. Jenseits davon beginnen die Mythen.

Das störende Mißverhältnis von Theorie zur Praxis, das ich oben als das Zentralproblem der juristischen Berufsausbildung skizzierte, löst man also nicht dadurch, daß man den Theorie-Praxis-Gegensatz nun selbst zu einem Gegenstand der philosophischen, sozialwissenschaftlichen Theorie macht, sich sozusagen einen Begriff der Praxis zu bilden ver-sucht und — wenn man einen solchen allen-falls gewonnen hat — Forderungen nach Ver-dhaltensänderungen an die Praxis stellt

Wer Ausbildungsreform betreiben will, um das praktische Sozialverhalten von Juristen zu verbessern, für den enthält die Frage unseres Themas zu allererst die Unterfrage, welche Rolle die Rechtswissenschaft zur Verbesserung der berufspraktischen Situation von Juristen noch oder wieder spielen kann. Diese Reduktion der Fragestellung soll zeigen, daß es falsch ist, das Verhältnis der Theorie zur Praxis mit dem Verhältnis der rechtswissenschaftlichen Lehre zur berufspraktischen Anwendung juristischer Kategorien zu identifizieren. Wir müssen uns daran erinnern, daß der Richter nicht die Rechtswissenschaft anzuwenden hat, sondern nach der Verfassung Gesetz und Recht. Die Verfassung des Grundgesetzes erlaubt überhaupt recht radikale Sozialformen, sie ist nach links und rechts keineswegs ausgefüllt durch das, was sich als konkrete Gesellschaft der Bundesrepublik zeigt; so sind beispielsweise ganz andere For-men wirtschaftender Ordnung verfassungsrechtlich möglich als diejenige, an die wir uns gewöhnt haben; und auch ganz andere Formen von Justiz, als diejenige ist, die wir vor uns sehen: Daß der Richter ein akademisch ausgebildeter Mensch zu sein habe, daß er sogenannter rechtsgelehrter Richter sein'müsse, ist keineswegs von der Verfassung gefordert; der Verfassung entspräche auch ein durchgängiges Laienrichtertum Ich frage mich deshalb gelegentlich, ob man nicht viele Probleme, aus denen jetzt die Forderung nach anderen als rein rechtswissenschaftlichen Ausbildungsinhalten abgeleitet wird, einfach dadurch lösen könnte, daß man für eine Vielzahl von Sachen die Richterbank anders besetzt: etwa so wie heute die Kammern für Handelssachen besetzt sind: mehrheitlich mit sachverständigen Richtern, nicht mit juristischen Richtern. Solche gerichtsverfassungsrechtlichen Formen ließen sich erwägen für die gesamte Strafgerichtsbarkeit für die Bausachen für alle familienrechtlichen Angelegenheiten Nochmals also: Die Verfassung fordert vom Richter die Anwendung von Gesetz und Recht, nicht die Anwendung der Rechtswissenschaft. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft als einer Theorie der juristischen Praxis besteht also darin, die sich als „Gesetz und Recht" bezeichnende politische, moralische, philosophische Theorie praktikabel zu machen. Der Inhalt der Rechtswissenschaft hat demzufolge ein mehrfacher zu sein. Erstens muß Rechtswissenschaft Aussagen darüber liefern, was der konkrete Inhalt der als Gesetz und Recht bezeichneten Theorie ist, welchen Anspruch sie an die so-zialen Lebensverhältnisse richtet. Zweitens muß Rechtswissenschaft Methoden bereitstellen, um diesen Anspruch der Theorie zu verwirklichen. Zu diesen Methoden der Transformierung von Theorie in Praxis gehört zum Beispiel die Systembildung. Damit beschäftigt sich die Rechtsdogmatik. Die Rechtsdogmatik — oft mißverstanden als Inhaltsbeschreibung des Rechtes, der politischen Theorie, die diesen Namen trägt — liefert also eine Methode der Rechtsanwendung. Als solche ist sie unentbehrlich Sie liefert eine Rechtsanwendungs-methode, die überwiegend begriffslogisch ist, sehr rational, nachvollziehbar, eingängig und vor allem mit vielen Hilfsmitteln, die Kritik an Normen auffordernd zu organisieren und zu strukturieren.

Aber dies ist nur eine von mehreren denkbaren Rechtsanwendungsmethoden. Exklusivität darf dem Methodenanspruch der Rechtsdogmatik nicht beigelegt werden, noch nicht einmal Priorität. Die Methodenaussage, die die Rechtsdogmatik dem Rechtsanwender vermittelt, ist ermöglicht durch die Arbeitshypothese, daß das Recht als Theorie der sozialen Wirklichkeit sozusagen gegenüberstehe, anders ausgedrückt: daß der soziale Sachverhalt zunächst für sich bestehe und rechtliche Ordnung erst dadurch erfahre, daß man ihn unter die rechtsdogmatische Systemaussage subsumiert, daß sozusagen die soziale Wirklichkeit als Praxis mit den begriffslogischen Aussagen der Rechtsdogmatik als (Entscheidungs-) Theorie verglichen werden könne und daß auf diese Weise Rechtsstrukturen der Wirklichkeit aufgeprägt werden könnten. In.der Tat führt diese Hypothese zu alles in allem praktikablen, relativ einfachen und auch relativ transparenten Methoden, im Hinblick auf einen Sachverhalt die Aussage zu treffen, was in ihm „rechtens" sei.

Diese Einfachheit darf aber nicht dazu verführen, jene Hypothese für eine Wirklichkeitsaussage zu halten. Eine andere Hypothese ist demgegenüber die soziologische Aussage, daß das Recht als politische Theorie der'sozialen Wirklichkeit keineswegs sozusagen neutral gegenüberstehe und erst durch einen Rechtsanwendungsvorgang in sie umgesetzt werde. Recht wird nicht nur durch obrigkeitliche, justitielle Rechtsanwendungsvorgänge in Wirklichkeit, Praxis verwandelt. Recht ist vielmehr schon vor jedem bewußten Anwendungsvorgang von vorneherein in jedem sozialen Sachverhalt wirksam, z. B. als Rechtsbewußtsein der Bürger, als praktische Politik, als vor-, metaund völlig unwissenschaftliche Regel. Wir können überhaupt keinen sozialen Sachverhalt als solchen erkennen, aus der Fülle der Erscheinungen isolieren und beschreiben, der nicht in demselben Augenblick schon „Recht" als Modalität, als Element seiner Struktur enthielte. Recht und Gesetz sind also von Anfang an nicht rein theoretische Gebilde, sondern jederzeit auch soziale Wirklichkeiten. Recht wird der sozialen Wirklichkeit nicht nur hinzugefügt, es wird in ihr auch vorgefunden Wenn wir diese Hypo-these akzeptieren, dann müssen wir für den Richter Rechtsanwendungsmethoden für möglich halten, die nicht systematischer, nicht begriffslogischer, sondern — wie soll man sa-gen? — empirischer Beschaffenheit sind. Sol-che Methoden müßten darauf hinauslaufen, die mit dem Sachverhalt gegebene, ihm immanente rechtliche Struktur im wörtlichsten Sinne zu erkennen: Rechtsfindung durch Erkenntnis der Natur der Sache Wie kann man solche Kenntnis gewinnen?

Die wissenschaftlichen Antworten auf diese Frage sind rar. Merkwürdig ist das deshalb, weil praktische Einsichten dazu häufig, fast bei jedem Richter, Rechtsanwalt, praktischem Juristen vorhanden sind. Meine Praktiker-Trivial-Antwort lautet: Wenn ich nur genügend Zeit habe, einen Sachverhalt in möglichster Vorurteilslosigkeit zu betrachten, d. h. vor allem: die Beteiligten lange genug anzuhören, dann ergibt sich fast immer das Rechtsurteil von selbst. Es hernach, wenn es als Ergebnis gefunden ist, unter den Initialen der Jurisprudenz zu begründen, fällt mir nicht schwer

Diese spezielle Trivialerfahrung der Praxis läßt sich verwissenschaftlichen. Von ihr aus ließe sich nämlich ein juristisches Fach bil-den, das — mit einem Namen des Hannover-[— „Theorie der Praxis" heißen könnte. Seine Aufgabe wäre es, die Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft zu bilden, indem es von den Sozialwissenschaften und anderen juristischen Nachbarwissenschaften Antworten auf bestimmte rechtspraktische Fragen abforderte.

Dieser Versuch setzt die Existenz von rechts-didaktischen Anstrengungen voraus. Die Rechtsdidaktik — nicht eine Disziplin der Erziehungswissenschaften, sondern eine Disziplin der Jurisprudenz — bezeichnet diejenigen Inhalte der Rechtswissenschaft, die als Lehrgegenstände der Juristenausbildung entfallen müssen, und benennt diejenigen juristischen Gegenstände, die zu den Nachbarwissenschaften der Jurisprudenz zu erweitern sind.

Mir fehlt hier der Raum, diesen Gedanken zu illustrieren. Ich wünschte aber, wenigstens den folgenden Satz gerechtfertigt zu haben: Mit der Formel „Neues Recht durch neue Richter" wird ein falscher Krieg geführt. Sie nimmt die in Bremen erfundene Scheinalternative ernst, die zwischen Reformmodellen unterscheiden will, denen es lediglich gehe um ein „Neuarrangement des Herkömmlichen" und solchen, die „inhaltliche Ausbildungsreform" betreiben Solche Formulierungen sind nur solange möglich, als man sich im Grundsätzlichen, also im Präliminarisehen aufhält, solange man die eigentliche Arbeit nicht begonnen hat. Diese besteht nämlich darin, für einen ganzen juristischen Ausbildungsgang, sozusagen Stunde für Stunde, die Lehrinhalte vorzuschreiben, nicht Überschriften nur für Fächer zu liefern und die Ausfüllung irgendwelchen einzelnen zu überlassen, sondern — freilich auf wissenschaftliche, didaktische, curriculare Weise — die Defizite der Praxis zu ermitteln und ihnen die Möglichkeiten der Jurisprudenz und ihrer Neben-und Hilfswissenschaften gegenüberzuhalten Rechtwissenschaft muß Sozialwis-senschaft werden insofern, als sie wieder geeigneter werden muß zur Bewältigung der praktischen Rechtsanwendungsprobleme. Demgegenüber gibt es eine Rechtswissenschaft, und vielleicht ist es immer noch die herrschende; mit dieser kann man sich ein Leben lang beschäftigen, gar einen glänzenden Namen in ihr und durch sie gewinnen und kann es immer noch schön und richtig finden, schließlich zu sagen: „Eines will ich nicht. Um keinen Preis. Ich will kein Richter sein. Dererlei steht mir nicht zu. Ich bin nicht sonderlich kundig der Heiligen Schrift, aber von Jugend auf sind mir die Stellen haften geblieben, die dahin lauten: Richtet nicht, damit Ihr nicht gerichtet werdet. Daß der Richter not tut, daran zweifle ich nicht. Allein ich eigne mich nicht für solche Funktionen." Nein, wer eine Wissenschaft betreibt, der muß auch akzeptieren, daß sie Folgen hat. Wenn er bestimmte ihrer Folgen erkennt, aber nicht akzeptieren will, dann muß er sich fragen, welche Fehler der Begriff hat, den er sich von seiner Wissenschaft gemacht hat. Wissenschaft hat bisher durchgängig nichts mit Wahrheit zu tun, sondern mit der Produktion einer bestimmten rationalisierten Verhaltensweise zur sozialen Wirklichkeit. Wie nun also verhält sich der Jurist zur sozialen Wirklichkeit und wie ggf. sollen wir ihn erziehen, daß er sich ihr gegenüber verhalte?

Der Jurist ist benötigt als ein Prognostiker, als einer, der vermutliche gesellschaftliche Abläufe voraus weiß. Dies gibt ihm einen Stil der Unabhängigkeit, des Quer-und Dagegenliegens und fügt seinem Verhalten etwas bei von jener Position des Bewahrens letzter Werte, dieses „Hier stehe ich": etwas Unbedingtes, die Nebentöne überhörendes. Was heißt großer Stil? hat Theodor Fontane gefragt, und er hat geantwortet: „Großer Stil heißt so viel wie vorbeigehen an allem, was die Men-sehen eigentlich interessiert." So arbeitet der Jurist: durch Reduzierung des Falles auf ein einziges Problem, eine einzige Frage, durch Simplifizierung der Sachverhalte auf kühle Strukturen.

Deshalb ist ihm eine gewisse Fremdheit gegenüber dem Sozialen eigen. Sozialingenieure wollen die Juristen nicht sein. Karitatives liegt nicht auf der Linie der Juristen, auch Pädagogisches, Didaktisches nicht. Schnell heißt es: So ist es nun einmal, Rechtskraft tritt ein. Also eine lineare, nicht eine einseitige, vielmehr eine vereinfachte, auf einen Punkt zurückgeführte Moral wird von ihnen praktiziert. Die Juristen drängen auf Klarheit der Antwort, auf Deutlichkeit der Rede. Wo wird sonst heutzutage gesprochen, wie wir in unseren Urteilen sprechen: mit uneleganter, aufs Ambiente nicht Wert legender, bürokratischer Sprache von karger Formelhaftigkeit, die aber das Ja und das Nein eindeutig zuteilt. Zwar sagt man, daß Juristen niemals zu zweit einer Meinung sein könnten. Aber das ist eine vorspielhafte präliminarische Attitüde, sie umspielt die Unsicherheiten, verdeckt die emotionale Schwierigkeit, eben dies zu tun: alles das zu verdrängen, was die Menschen wirklich interessiert. Aber das ist auch Rationalität, zivilisatorisches, professionelles Denken, kein amateurhafter Umgang mit der Moral; professionell ist nämlich: wissen oder jedenfalls zu wissen meinen, „was nicht geht". Dieser Art des juristischen Denkens ist gar nicht wesentlich, ob es bezogen auf andere Kriterien des Denkens „richtig" ist. Den Wert der wesenhaften Wahrheit kennt der Jurist nicht, ihm strebt er nicht nach. Aber allerdings sollte er den Wert der Verfassung kennen. Er sollte sich durch eine sozialwissenschaftliche Jurisprudenz darauf festlegen lassen, daß er Gesetz und Recht zur Anwendung zu bringen hat, und das heißt wegen der grundsätzlichen Antinomie dieser beiden Begriffe: das Recht neben dem und notfalls auch gegen das Gesetz.

Das oberste Ziel aller juristischen Erziehung ist daher vielleicht die Ausbildung jenes Ungehorsams, der nach Oscar Wilde „für jeden, der die Geschichte gelesen hat, die ursprüngliche Tugend des Menschen" ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan (A. Ueber die mit Koenigs-bergischen Schulwesen vorzunehmende Reformen. B. Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Lithauischen Stadtschulwesens), Werke (Hrg. Flitner/Giel/Bd. 5, S. 168 ff, 189, 190, 191, 192; W. v. Humboldt, Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König. Dezember 1809; ebd., S. 210 ff, 211, 217, 218.

  2. W. v. Humboldt, Bericht (s. Anm. 1), S. 211.

  3. W. v. Humboldt, Bericht (s. Anm. 1), S. 212.

  4. Die Annahme, daß sich allein durch Schule, Grund-, höhere und Hochschule „Lehrgehalte in Bildungsgehalte" überführen ließen (z. B. J. Der-bolav, Versuch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Didaktik, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2 Beiheft, 1960, S. 17— 45), halte ich für eine typische Selbstüberschätzung der (philosophischen) Didaktik; ebenso gut könnte die Rechtswissenschaft als Lehrdisziplin behaupten, daß sie aus GesetzesInhalten „rechtlichen Sinn", „Rechtsbewußtsein" erzöge: hernach müßten die Volljuristen in unserem Volk diejenigen Leute sein, die mehr als alle anderen Bürger Gerechtigkeit gesellschaftlich verwirklichten: Ich glaube nicht, daß viele Nicht-Juristen ein solches Bild von der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Juristen pflegen.

  5. Die Bildung der sozialen Persönlichkeit wird, das kann als gesicherte Erkenntnis gelten, in aller Re-gel in weit höherem Maße durch die Familie als durch „offizielle" Sozialisationsinstitutionen bewirkt. Bei dieser Sachlage scheint mir die Befürchtung, daß mit Hilfe der Erziehungsbemühungen von Lehrern die Gesellschaft verändert werden könnte, beinahe paradox zu sein.

  6. Die Furcht, daß von den Universitäten unzulässige gesellschaftsverändernde Aktivitäten ausgehen könnten, scheint mir deshalb oftmals nur eine Verteidigungsstrategie der ganz umgekehrten Befürchtung zu sein, daß bestimmte, gesamtgesellschaftlich bereits wirksame, wohl möglich bereits herrschende Anschauungen und Verhaltensweisen auch die Universität ergreifen, daß also gesellschaftliche Freiräume für priveligierte Lebensformen verloren gehen könnten.

  7. P. Gutjahr-Löser (Hrsg.), Neues Recht durch neue Richter? Der Streit um die Ausbildungsreform der Juristen, München-Wien 1975 = Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung e. V. München,

  8. Ein neuerer Bericht über die „Reform-Szene" ist Rasehorns (zwischen den Linien ein wenig die Melodie der Resignation spielender) Aufsatz: Die Dritte Gewalt in der zweiten Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/75.

  9. Der neue Jurist. (Untertitel außen:) Ausbildungsreform in Bremen als Planungsund Lernprozeß. (Untertitel innen:) Materialien zur reformierten Juristenausbildung in Bremen. Mit Beiträgen von A. Rinken, V. Kröning, R. Lautmann, W. Grikschat, R. Dubischar, P. Thoss, R. -R. Grauhan, R. Hoffmann, W. Däubler, K. Huchting, W. Schröder, R. Wiethölter. = Demokratie und Rechtsstaat. Kritische Abhandlungen zur Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik (Hrsg. Benseler, Rasehorn, Wassermann), Bd. 22, Darmstadt-Neuwied 1973. Vgl. dazu meine Rezension in Recht und Politik 1975, S. 101.

  10. Gnaeus Flavius (= Hermann Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906, abgedruckt auch in: H. Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre (Hrsg. Th. Würtenberger), Karlsruhe 1962, S. 13 ff. Vgl. dazu als ein Freundes-zeugnis: G. Radbruch, Der innere Weg, Stuttgart 1951, S. 96 f.; auch Erik Wolf in seiner Einleitung zu Radbruchs Rechtsphilosophie, zuerst in der 4. Aufl., Stuttgart 1956, S. 41 f.

  11. Von Radbruch zitiert im Vorwort zur 3. Auflage seiner „Grundzüge der Rechtsphilosophie" (seit der posthumen 4. Auflage: „Rechtsphilosophie"), 1932, aus K. Larenz, Rechts-und Staatsphilosophie der Gegenwart, 1931, S. 67.

  12. K. Larenz, a. a. O. (Anm. 7.), S. 12 ff. Kriele und Esser unterstellt Larenz dort gar „verderbliche Behauptungen" (S. 13), um freilich dann zu dem Problem, in welchem Verhältnis die „Auslegungsgesichtspunkte" zueinander stünden, selbst keine andere Antwort zu wissen, als daß das Gericht „aus der Sache" begründen müsse, warum es dem einen oder dem anderen Auslegungsgesichtspunkt den Vorrang gebe (was doch wohl heißt, daß die Rechtswissenschaft nicht in der Lage ist, eine Rangfolge der Auslegungsgesichtspunkte zu liefern, und eben das war der Inhalt jener „Behauptung", welche im Satz zuvor „verderblich" genannt wurde: auf einmal ist sie bloß noch wahr). Ähnlich leicht macht es sich Larenz, a. a. O., S. 15, mit der Abgrenzung der Rechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften. Daß Richter Entscheidungen zu treffen haben, weiß ich, aber ich möchte doch wissen, welche verfassungsmäßige „Entscheidungskompetenz" „der“ Jurist hat. Nach geltendem Recht sogar sind bekanntlich noch nicht einmal alle Richter Juristen, in den Kammern für Handelssachen und in den Arbeitsgerichten sind sie sogar in der Minderheit.

  13. Rasehorn/Ostermeyer/Hasse/Huhn, Im Namen des Volkes? Neuwied und Berlin 1968; dazu jüngst: Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S. 39, 149 f.

  14. A. a. O. (Anm. 13), S. 150.

  15. E. Schneider DRiZ 1974, 378 (worauf ich mich indigniert zeigte in DRiZ 1975, 52).

  16. J. v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Ein Vortrag gehalten in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 1848. Neuausgabe Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt, Reihe Li-belli, Bd 34, S. 39, 36, 37.

  17. über Kirchmann: Aktenstücke zur Amtsentsetzung des Königlich-preußischen Appellationsgerichts-Vizepräsidenten v. Kirchmann, Berlin 1867; Th. Sternberg, J. H. v. Kirchmann und seine Kritik der Rechtswissenschaft. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des realpölitischen Liberalismus, Berlin 1908; Th. Sternberg, Kirchmann, in: ADB; Huhn, Oppositionelle Richter, DRiZ 1968, 81, 82 f.

  18. Keine überzeugenden Antworten auf diese Frage bieten: K. Larenz, über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1966; Erik Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, Freiburg 1953, Neudruck: Darmstadt 1965 (und hatte — die Freirechtsschule bewies es — selbst die bedeutende Anti-Kirchmann-Schrift von F. J. Stahl, Rechtswissenschaft oder Volkes-bewußtsein?, Berlin 1849, nicht geboten).

  19. Drucks. VI/2269, S. 4. Die Bestimmung wird aus Bremer Sicht (und m. E. alles in allem zutreffend) kommentiert und konkretisiert von Rinken, a. a. O., (Anm. 9), S. 11— 17; im übrigen vgl. Hirsch, Experimentierklausel, JZ 1971, S. 286 ff., und die Kommentierung bei Schmidt-Räntsch, DRiG, 2. Aufl.

  20. Ich bin mir freilich nicht ganz sicher, ob der Gesetzgeber wirklich ernsthaft eine Vorschrift von experimentellem Charakter gewollt hat. Ich glaube doch eher, daß in den entsprechenden Floskeln sich im wesentlichen die Furcht vor der eigenen Courage verbirgt. Daß die Wirklichkeit der Vorschrift nicht zu wissenschaftlich verwertbaren Experimenten geführt hat (sondern eben nur zu verschiedenen neuen Ausbildungsgängen), scheint mir festzustehen. Ernsthafte Experimente hätten von vornherein die unabhängige wissenschaftliche Beobachtung vorausgesetzt. Der positive Ansatz, der insoweit in Hannover mit der Einrichtung eines Zentrums für Rechtsdidaktik (G. üb. d. einstufige Juristenausbildung in Niedersachsen. Vom 2. April 1974, Nieders. GVB 1. S. 214, § 20) unternommen worden ist, ist jedenfalls nur ein Ansatz (und möglicherweise bereits ein verspäteter: vgl.den sog. Wassermann-Bericht, Modell Hannover, Hann. 1972 (S. 59). Um es mit einiger Zuspitzung zu sagen: Wenn die praktizierten Ein-Phasen-Studiengänge Experimente sind, dann sind sie jedenfalls als Experimente (so positiv sie auch sonst immer beurteilt werden mögen) dilletantisch. Sie werden keine verläßlichen und benutzbaren Fakten ergeben, sondern nur wieder neue Thesen und Antithesen. In Wirklichkeit geht eben § 5b DRiG nicht vn einer so neutralen Situation aus, wie sie mit der Vorstellung vom gegebenenfalls wieder zurücknehmbaren Experiment beschrieben wäre. Daß von § 5 b DRiG so vielfältig und von politisch so unterschiedlich denkenden Urhebern Gebrauch gemacht ist, drückt vielmehr die Tatsache aus, daß die herkömmliche Juristenausbildung sich überlebt hat, daß sie sich durch ihre Ergebnisse als unbrauchbar, als unpraktisch erwiesen hat. Es gibt keine Rückkehr. .

  21. Auf diese Differenzierung legt E. Niebler, Die einstufige Juristenausbildung in Bayern, a. a. O., (Anm. 7.) S. 18 ff., Wert; danach ist das sog. „Münchener Modell" das bayerische „Kernmodell".

  22. Nachweise zu den Materialien für die vergleichende Betrachtung der Ländermodelle bei H. Ratte, Die einstufige Juristenausbildung in NRW, in dem in Anm. 7 genannten Sammelband, S. 93 ff., 99, Fußn. 25. Weitere Materialien zum Bremischen JAG sind nachgewiesen bei Rinken, a. a. O. (Anm. 9), Fußn. 1 (S. 35). Nach der (selbst sehr festgelegten) politischen Qualifikation von Püttner, a. a. O. (Anm. 7), S. 83, verdienen sich das Hamburger Modell und das Hannover-Modell nach einigen Zwars noch die Zensur „relativ nüchterne Sachlichkeit", auf der linken, „ideologischen" Seite stehen für ihn als „echte Sondermodelle" das Bremer und das (nicht verwirklichte) Hessische Modell.

  23. „Die alte Universität der Einheit von Forschung und Lehre erhält als praxisrelevante Strategie der Zusammenarbeit von Lehrenden und Lernenden ihre Funktion zurück" (Rinken, a. a. O., S. 23). Die Anklänge an Humboldtsche Ideen sind im Bremer Modell auch sonst verblüffend häufig, stehen allerdings — ohne daß man sich des Widerspruchs offenbar bewußt wurde — neben ganz anderen, geradezu antinomischen Vorstellungen. Solange eine juristische Einheitsausbildung betrieben wird, schließen sich beispielsweise die Forderungen nach Spezialisierung (auch das Verlangen nach dem methodischen Werkzeug des Projektstudiums) und das Postulat von der „Integration der Sozialwissenschaften" in der bremischen Bedeutung gänzlich aus. Curricula sind eben — eine vielleicht betrübliche, aber zutreffende didaktische Einsicht — nicht kompromißfähig.

  24. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (Vereinte Nationen UNESCO Menschenrechte. Deutsche UNESCO-Kommission, Köln 1968) ist dabei nicht vergessen. Vgl. dazu: J. Piaget, Das Recht auf Erziehung, dt. München 1975,

  25. H. v. Hentig, Magier oder Magister? über die Einheit der Wissenschaft im Verständigungsprozeß, Stuttgart 1972.

  26. Vgl. zu diesem „Problem der Didaktik" (Klafki): D. C. Kochan (Hrg.), Allgemeine Didaktik, Fachdidaktik, Fachwissenschaft. Ausgewählte Beiträge aus den Jahren 1953 bis 1969, Darmstadt 1970. „Didaktik ist ja schließlich nicht die Lehre davon, wie man etwas lehrt, wovon man nichts weiß" (M. Wagen-schein).

  27. Gerade diesen grundsätzlich falschen Weg geht das Bremer Modell. Rinken verdeckt diesen Sachverhalt, indem er einen „weiteren (sc. erweiterten) Praxisbegriff" einführt (a. a. O., Anm. 9, S. 19). Nach meiner Meinung ist „Praxis" aber kein Begriff und also kein möglicher Gegenstand begriffstheoretischer Bemühungen, sondern ein Sachverhalt und deshalb notwendiger Gegenstand systematischer Beobachtung.

  28. Ich möchte damit nicht sagen, daß ich einen solchen Zustand wünschte oder für zweckmäßig hielte, aber doch betonen, daß ich die wissenschaftlichen Versuche, unsere Verfassung auf das gegenwärtige Justizsystem festzulegen, für untauglich halte. Das gilt m. E. sogar für die ausführliche Darstellung des Problems durch Herzog bei: Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 92 RdN 77 ff.: Seine Versuche, der Verfassung gar das Gebot eines an einer Universität ausgebildeten Richters zu entnehmen, dürfen mindestens als mühsam bezeichnet werden. Vgl. dazu meinen Beitrag in: Rechtspflegerblatt 1976, S. 12 ff.

  29. Diese Forderung ist eben unter einem spezifisch justizpraktischen Gesichtspunkt erneuert worden von Ostermeyer in: Recht und Politik, 1976, S. 19.

  30. Auch für dieses Gebiet ist die Frage erst jüngst wieder in die Diskussion gekommen; vgl. Probst, Bausachverständige heute (Analyse einer Situation), DRiZ 1975, 359, dazu: Franzki, DRiZ 1976, S. 97 ff. /98); siehe auch: J. Blomeyer, ZRP 1970, 153; Pieper, ZZP, Bd 84, S. 30, 38 ff.

  31. Die Diskussion um die Familiengerichte ist unterdessen auch in der Bundesrepublik so alt, daß das z. Zt. aktuelle „konzeptionelle Versagen" des Gesetzgebers nur melanchonisch stimmen kann. Im Falle der Familiengerichte sprechen sich die Berufsrichter selbst — im allgemeinen skeptisch gegen „Laienrichter" — am ehesten für die Besetzung der Richterbank auch mit anderen als juristischen Rich-tern aus; vgl. dazu meinen Bericht über eine Umfrage in FamRZ 1967, 314 f.

  32. Allerdings wohl in der Tat eine „Theorie sozialer Stabilität" (Wiethölter, a. a. O. [Anm. 9], S. 232), nur daß doch (in aller Naivität sei’s angemerkt) soziale Stabilität nicht von vornherein etwas sozial und politisch Unerwünschtes und Negatives sein muß.

  33. Vgl. z. B. Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, in: Lautmann/Maihofer/Schelsky, Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft = Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechts-theorie, Bd I, Bielefeld 1970.

  34. Meinetwegen mag in diesem Zusammenhang auch von „konkretem Naturrecht" die Rede sein. Diese Vokabel achtet immerhin die Geschichte des Gedankens, erhebt ihn freilich allzu leicht auf eine vom täglichen Rechtspraktiker nur ungern bewanderte Hochebene. Vgl. dazu: W. Maihofer, Die Natur der Sache, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, Darmstadt 1965, S. 52 ff. Ich meine jedenfalls — wie gesagt — eine empirisch verfahrende, keineswegs nur lücken-ausfüllende praktische Arbeitsweise, nicht also rechtsphilosophische Spekulation. Eine sich aus der Vielfalt solcher Praxis erhebende Theorie dieser Rechtspraxis könnte freilich hernach auch Rechts-philosophie genannt werden. Rechtsphilosophie lieferte dann (vielleicht) ein Schema, das es ermöglicht, rechtsbewährte Fakten, Theorien, Alternativen, Ideale gegeneinander abzuwägen: in einer geordneten Beziehung zueinander zu sehen, wenn rechtspraktische Aktionen (etwa: richterliche Entscheidungen) zu veranlassen und auszuführen sind. Statt auf Maihofer und die Ontologie sollte ich mich daher lieber auf Fontane berufen: „Alle Dinge haben ihr Gesetz," sagt er. „Wer zu einer Parforcejagd geladen ist, muß in einem roten Frack kommen oder wegbleiben".

  35. Vgl. meinen Aufsatz: Das Gesetz und die Motive des Rechtsspruchs, SchlHAnz. 1967, 61 ff.

  36. Rinken, a. a. O. (Anm. 9), S. 11 ff. Vgl. auch D. Hart, Artikel: Juristische Ausbildung, in: Görlitz (Hrg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft.

  37. Daß solche konkreten Reformversuche möglich sind, ist, glaube ich, durch das sog. Nordmodell einer reformierten Rechtspflegerausbildung bewiesen. Vgl. dazu die Beiträge von Bengsch, Behr, Gustavus, Huhn, Lappe, v. Schuckmann, Winter, in: Huhn/v. Schuckmann (Hrsg.), Theorie und Praxis (Veröffentlichungen d. Fachhochschule f. Verw. u. Rechtspflege Berlin, Bd. 4, Berlin 1976), außerdem Huhn (Hrsg.), Das Nordmodell. Studienpläne für die Rechtspflegerausbildung, aufgestellt von der gemeinsamen Arbeitsgruppe der Länder Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zur Reform der Rechtspflegerausbildung, Berlin 1973. Für eine Beurteilung der Übertragbarkeit dieser curricularen Bemühungen auf die Volljuristenausbildung ist die Tatsache hervorzuheben, daß diese Rechtspflegerausbildung nicht weniger Unterrichtsstunden umfaßt als die Volljuristenausbildung.

  38. Rene Marcic, Erkenntnisse, Bekenntnisse, Wege ins Freie, in: A. Massiczek (Hrg.), Antisemitismus. Die permanente Herausforderung, Wien — Ffm — Zürich 1968, S. 27; vgl. auch E. Weinzierl, ... Und nur deshalb, weil es Juden sind, in: Fischer/Jakob/Mock/Schreiner (Hrsg.), Dimensionen des Rechts. Gedächtnisschrift für Rene Marcic, Bd. 2, Berlin 1974, S. 1179 (1190).

Weitere Inhalte

Diether Huhn, geb. 1935 in Sonneberg/Thüringen, seit 1962 Richter im Dienste des Landes Berlin und seit 1973 als Vorsitzender Richter am Landgericht Berlin, zugleich Professor für Allgemeines Bürgerliches, Sachen-und Familienrecht; 1975 berufen auf den Lehrstuhl für Rechtsdidaktik an der Fakultät für Rechtswissenschaften der TU Hannover. Buchveröffentlichungen u. a.: Rasehorn/Hasse/Huhn/Ostermeyer, Im Namen des Volkes? 1968; Mitarbeit bei Vahlens Rechtsbüchern, Bd. 1 und 3; Grundlagen des Vertrags-und Schuldrechts, 1972; Vertragsschuldverhältnisse, 1974; Höfer/Huhn, Allgemeines Urkundenrecht, 1968; Höfer/Huhn/v. Schuckmann, Beurkundungsgesetz, Kommentar, 1972; Huhn (Hrsg), Das Nordmodell. Studienpläne für die Rechtspflegerausbildung, 1973.