Der Standpunkt der sogenannten klassischen Parlamentarismustheorie wurde in der wissenschaftlichen Diskussion schon so manchem Kombattanten zum Verhängnis, und das nicht erst seit Carl Schmitt. Ich dränge mich keineswegs in diese Epigonengalerie, auch drängt mich nichts in solche Gesellschaft — zuallerletzt die Forschungsergebnisse zur parlamentarischen 1 Sozialisation. Aber was festgestellt werden muß, das ist die nahezu ungebrochene Fixierung der politischen Bildung auf eben diesen realitätsfernen Standpunkt. Die Verfassungsväter — Blüm erwähnt das ganz zu recht — haben das ihre dazu beigetragen, nicht weniger die Presse, z. B. mit ihrer Kritik des leeren Plenums, wie die drei anderen Rezensenten hervorheben. Und neuerdings sehen sich auch Länderregierungen dazu genötigt, ihre Bediensteten, also auch Lehrer und Wissenschaftler, per Unterschrift auf das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (also auch auf die Gewaltenteilung)
und auf deren Erhaltung zu verpflichten. Wird hier nicht offiziell behauptet, die über zweihundert Jahre alte Idee der Gewaltenteilung sei auch noch für das Regieren im modernen demokratischen Industriestaat verteidigungswürdig, ja sie sei mit den Staatsorganen der Bundesrepublik bereits verwirklicht?
Wenn die politische Kultur eines Landes gegen die bröckelnde Erkenntnis in dieser Weise ideologisch abgestützt wird, dann kann weder der Wissenschaftler noch der selbstkritische Politiker ohne weitere Beachtung dieser Ideologie zur Tagesordnung übergehen. Zwar beschreibt sie die Wirklichkeit nicht — darin gebe ich Sperling recht — aber sie wirkt, und sie bewirkt nach eigenem Eingeständnis nicht zuletzt die Sozialisation der Rezensenten im Wahlkreis: Der Wahlbürger darf dem Abgeordneten die Hand schütteln und ihn manchmal sogar mit Detailproblemen befassen.
Ich zweifele nicht daran, daß Abgeordnete sich von ihrem Wahlkreis in Anspruch nehmen lassen (müssen) und daß sie auch durch diese Tätigkeit sozialisiert werden. Aber hat diese Beanspruchung eine andere Wirkung für das Parlament als eben die Bestätigung der klassischen Idee von Repräsentation, und das heißt von Ideologie oder, wie Sperling es nennt, von „fremder Theorie"? Da die Dinge nun einmal so unbefriedigend liegen, glaube ich, mit meinen Überlegungen nicht über diese ideologische Praxis hinweggehen zu dürfen, sondern vielmehr daran anknüpfen und dann über sie hinausführen zu sollen.
Die Charakterisierung der internen Strukturen des Parlaments als bürokratisch und hierarchisch wird von den Rezensenten durchweg geteilt, allerdings bei unterschiedlicher Wertung und Beurteilung der Ursachen und Folgen. Im einzelnen ist dazu folgendes anzumerken:
a) Blüm und Schuchardt/Kleff sehen die internen Hierarchien der parlamentarischen Organisation, insbesondere also die der Fraktionen, als eine zwingende Folge des parlamentarischen Regierungssystems unter bestimmten Bedingungen auch des Föderalismus (unterschiedliche Parteienkonstellationen in Bundestag und Bundesrat). Es erscheint plausibel, daß der dauerhafte Konflikt zwischen Regierung und Opposition ein Freund-Feind-Denken mit einer entsprechenden Solidarisierung der Fraktionsgemeinschaften erzeugt und, da das für vereinheitlichende Willensbildung allein nicht ausreicht, auch eine hierarchische Organisation stärkt. Vielleicht lassen sich auch z. B. Arbeitnehmerinteressen als kontinuierliche Politik nur verfolgen — so Sperling —, wenn Mehrheiten und Hierarchen in einer Fraktion zur Disziplinierung von Abgeordneten gewillt und befähigt sind.
Aber daß diese Tatbestände die Etablierung bürokratisch-hierarchischer Strukturen im Parlament allein oder auch nur maßgebend erklären, scheint zumindest zweifelhaft. Erst recht sind Bedenken gegen die Auffassung anzumelden, Reformen seien vom Wandel anderer politischer Strukturen abhängig.
Bürokratie Und auch Hierarchie gelten seit Max Webers Analysen und bislang noch ohne erfolgreichen Widerspruch als eine notwendige Vorbedingung für die sachliche, kenntnisreiche und kontinuierliche Bewältigung komplizierter Probleme in Arbeitsteilung. Der Typus des komplexen politischen Problems in der modernen Industriegesellschaft steht deshalb am Anfang der Ursachenkette, die zum bürokratischen Parlament führt, danach die (ideologische) Fixierung der Parlamentarier auf eine detaillierte Einzelbeschäftigung mit den Problemen. Diese Ideologie wiederum überträgt sich als Teil der parlamentarischen Subkultur auf die nachrückenden Neuparlamentarier. Nur zu gerne hätte ich in ihr einen beeinflußbaren Faktor gesehen, doch die Resonanz der Rezensenten bekräftigt mich in meiner Skepsis.
b) Wichtiger ist und von den Rezensenten nachhaltiger kritisiert wird die Behauptung, die hierarchischen bürokratischen Strukturen sicherten die Sozialisation des Neuparlamentariers, das heißt seine Anpassung an die parlamentarische Subkultur. Der These werden andere, insbesondere außerparlamentarische Bedingungen der Abgeordnetenexistenz als wesentlichere Sozialisationsfaktoren entgegengestellt. So sprechen Blüm und Schuchardt/Kleff von Anpassung als Streßrationalisierung einer Uberbeschäftigung insbesondere im Wahlkreis, ja von einer „Zwickmühle" zwischen den Rollenerwartungen im Wahlkreis und denen im Parlament, durch die der einzelne Abgeordnete überfordert und für Fremdsteueruhg anfällig werde. Sperling geht in seiner Analyse darüber hinaus und weist sehr eindringlich darauf hin, daß sich die großen Grundlinien der Politik nicht alleine im innerparlamentarischen Spezialistentum, sondern auch — „vielleicht viel stärker" — in der oberflächlichen Allzuständigkeit für die Probleme der Menschen, die den Abgeordneten täglich ansprechen, verlieren. Im deutlichen Gleichklang finden wir die Rezensenten auch in ihrer Einschätzung von Presse, Rundfunk und Fernsehen als Instrumente der Abgeordnetensozialisation. Drastisch und einprägsam zugleich schildert Sperling die korrumpierende Macht der Veröffentlicher, die, ohne Rücksicht auf die parlamentarische Kooperation, den publizitätshungrigen Neuparlamentarier ausnehmen und ihn dadurch unter Umständen gegen dessen Willen auf die Dauer nur noch fester an die Fesseln der Fraktion schmieden.
Zweifellos werden Abgeordnete auch . durch diese Eindrücke sozialisiert, und auch ein Teil dessen, was wir als Meinungswandel in Richtung parlamentarischer Subkultur diagnostiziert haben, muß wohl mehr diesen eigenen Erfahrungen jedes einzelnen Abgeordneten zugerechnet werden als einer bloßen Anpassung des Neuparlamentariers an Urteile und Vorurteile, die sich bei den älteren Kollegen festgesetzt haben. Insofern scheint mir die Kritik an der innerparlamentarischen Orientierung einiger Erklärungsversuche der Sozialisationsstudie berechtigt, aber eben nur einiger, denn zum größeren Teil geht es in dieser Untersuchung um Meinungen und Erfahrungen, die der Abgeordnete aus der Tätigkeit innerhalb der parlamentarischen Organisationen gewinnt, c) In der Wertung der bürokratischen Strukturen gehen die Meinungen der Rezensenten auseinander. Für Blüm ist die Hierarchie vor allen Dingen ein Hemmnis aller Initiative, die auf dem Weg bis zum Fraktionsvorstand so viele Sitzungshürden der hochdifferenzierten Fraktionsorganisation zu überstehen hat, daß ihre Gegner wie Anhänger bald „reichlich erschöpft" sind.
Sperling grenzt sich gegenüber dem antibürokratischen und konservativen Vorurteil ab, das er z. B. in der Verwendung der Begriffe Fraktionsestablishment und Subordination zu erkennen glaubt. Die Abgrenzungsversuche geraten dann zu einer eindrucksvollen Verteidigung des bürokratischen Parlaments und damit auch zur Bestätigung der These vom bürokratischen Parlament: Auch Sperling stellt eine erhebliche Divergenz zwischen vorherrschender Verfassungsideologie und parlamentarischer Praxis fest; auch er bemerkt die widersprüchliche Doppelrolle des Abgeordneten, des produktiven Spezialisten im Parlament und des reproduktiven Generalisten im Wahlkreis;
auch er erkennt die erhebliche Bedeutung der intermediären Öffentlichkeit (Presse, lokale Parteiorganisation). Aber er legt daraufhin nur die alte „erbaulich sein wollende" Parlamentarismustheorie beiseite, ohne aus den Möglichkeiten und Begrenzungen moderner parlamentarischer Praxis ein neues Leitbild zu entwickeln. Daß alles mit allem zusammenhängt und deshalb eine Änderung dieses Teilsystems eine Änderung aller anderen Teilsysteme voraussetzt: diese Erkenntnis hat sich inzwischen nicht nur unter kritischen Sozialwissenschaftlern herumgesprochen. Es wäre aber bedauerlich, wenn sie nun zum Vorwand jüngerer Politiker für ihre Resignation oder für ihre Anpassung und eine hinfort risikobegrenzte Karriere würde. Ein bißchen einfallsreicher und unbequemer dürften unsere Abgeordneten ruhig sein.