Den jungen Parlamentariern begegnet, zumindest in den ersten Wochen ihrer neuen Tätigkeit, häufig der verständnisinnige Blick ihrer altvorderen Kollegen, die ihnen zu Geduld raten. „Alles zu seiner Zeit" und „Kommt Zeit, kommt Rat", nicht „Frisch gewagt, ist halb gewonnen" scheinen die Generallosungen des Parlaments zu sein.
Doch gerade die oft unausgesprochene Aufforderung zur Anpassung provoziert nicht selten entgegengesetzte Absichten. Es anders zu machen als die bequem Angepaßten, gehört zu dem Bestand guter Vorsätze, die zugleich das Erkennungszeichen der Neuen sind.
Wie nicht anders zu erwarten, muß jetzt das „Aber" kommen, denn schon bald erscheint die Alternative der Parlamentspraxis nicht mehr als „Bequem oder Unbequem", sondern viel eher als Wahl zwischen „Pflicht und Neigung", wobei Pflicht für die Konventionen der parlamentarischen Arbeitsorganisation steht.
Wer beispielsweise als Mitglied des Deutschen Bundestages, wie es parlamentarischer Anstand gebietet, alle Plenarsitzungen besucht, und zwar von Beginn der Sitzung bis an ihr Ende, hat keine Zeit, sich den tausend anderen Pflichten des Parlamentsalltags zu widmen, die von nicht weniger Gewicht sind: Arbeitskreise, Ausschüsse, Vor-und Nachbesprechungen, Besucher-und andere Gruppen.
So gleicht denn ein Plenumstag auch mehr einem Schichtbetrieb. Auf die Landwirte folgen die Sozialpolitiker, die wiederum werden von den Rechtspolitikern ersetzt. Welle auf Welle folgen die Spezialisten in einem von der Tagesordnung vorgeschriebenen Rhythmus. Mit Plenum im vollen Sinne des Wortes hat das ganze im Normalfall wenig zu tun. Selbst die jeweilige Expertenschicht ist im Regelfall nicht mit voller Aufmerksamkeit auf dem Platz, sondern mehr zur akustischen Unterstützung des von ihr abgestellten Redners und erledigt rationellerweise womöglich nebenher noch Post oder gönnt sich eine längst verdiente Zeitungslektüre. Die akustische Unterstützung des Fraktionskollegen bzw.der Widerspruch zur politischen Konkurrenz wird denn auch weniger durch den Inhalt und mehr durch die rhetorischen Konventionen ausgelöst. Längere Pause nach rhetorischem Furioso bedeutet für die Anhänger Beifall. (Ich beschreibe den Parlamentsalltag und nicht die Höhepunkte der Parlamentsarbeit).
Parlamentsalltag ist ein Diskussionsmarathon, von dem das Plenum nur eine kurze Strecke ausmacht und von manchem als Verschnaufpause genossen wird.
Die Besprechungs-Beschäftigungstherapie ist jedoch nicht nur ein organisatorischer Kräfte-verschleiß, sondern auch eine Einebnung des parlamentarischen Potentials an Innovation, Kreativität und deshalb ein geräuschloser Anpassungsdruck. Zu den täglichen Erlebnissen des Abgeordneten gehören versäumte Sitzungen. Denn alle Terminpflichten lassen sich nur in seltenen Fällen unter einen Hut bringen. Selbst die Sitzungsteilnahme gerät nicht in jedem Fall zu einem befriedigenden Gefühl, weil man nicht zu allen Sitzungen gleich gut vorbereitet erscheinen kann. Das schlechte Gewissen ist also geradezu in die Parlamentspraxis eingebaut. Zu seiner Kompensation bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Eine davon ist die Tauchstation, was nur eine andere Bezeichnung für widerstandsloses Wohlverhalten ist. Eine andere Möglichkeit der Verdrängung ist die Aggressivität. Sie verdeckt Detailunkenntnis und erlaubt Ausweichen in den Schlagwortabtausch. Doch die eine wie auch die andere Ersatzbefriedigung ist nur Ausdruck einer Anpassung, die durch Überbelastung ausgelöst wird.
Die Mühlen der Vielfachbehandlung eines Themas zermahlen noch auf eine andere perfekte Weise sowohl Initiative als auch Alternative. Ein neuer, von der Fraktionsführung nicht vorgesehener Vorschlag, hat es schwer, sich in der Maschinerie der Beratungsgremien so lange am Leben zu erhalten, daß er die Fraktionsvollversammlung oder gar das Parlamentsplenum erreicht.
In der ersten Sitzung einer Ad-hoc-Kommission kann das Thema noch mit Schwung angepackt und mit originellen Gründen vertreten, womöglich über die Hürden gebracht werden. Doch das war nur die erste. Im nächsten Arbeitskreis muß der Initiator seinen Vorschlag wieder und mit demselben Argument vertreten und womöglich den gleichen Einwänden begegnen, die bereits in der ersten Diskussionsrunde vorgetragen -wurden. Doch das Ziel ist auch dann noch nicht erreicht. Mitbetroffene Ausschüsse werden zur Stellungnahme eingeladen. Bis der Vorschlag den Fraktionsvorstand erreicht hat, sind Anhänger und Gegner der Initiative schon reichlich erschöpft. So kreativ ist niemand, daß er seine Argumente in immer neue Formulierungen kleiden könnte. Die Wiederholung der gleichen Argumente mit den gleichen Formulierungen löst jedoch selbst bei den gutwilligen Zuhörern einen gewissen Abnutzungseffekt aus. Auf diesen Abnutzungseffekt, nicht auf frontale Widerstände geht ein Teil der resignativen Anpassung des Neuparlamentariers zurück. Die Maschinerie spielt sich immer besser ein und schirmt sich immer besser gegen Innovationen ab. Es entstehen Verhaltensritualien und Hackordnungen, die in Frage zu stellen nur das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Analyse sein kann, nämlich der Rechnung, ob die Sache, die quer zur Hackordnung durchgesetzt werden soll, den Aufwand lohnt.
Bei Koalitionsfraktionen wird der innerparteiliche Hürdenlauf durch den Koalitionsslalom bereichert. Die Fraktionsinitiativen werden schon im Vorbereitungsstadium mit der Meinungsbildung des Koalitionspartners abgestimmt. In der Oppösition kommt zur fraktionsinternen Meinungsbildung die Rückkoppelung an die Landesregierung gleicher Coleur, die um so wichtiger ist, wenn diese Landesregierungen im Bundesrat die Mehrheit haben. Hier wie da ist die Versuchung groß, das Auseinanderlaufen aufeinander angewiesener Meinungsbildungsbahnen durch ein Entscheidungszentrum zu ersetzen, indem die Spitzenpolitiker sich konformieren. Der Durchsetzungsweg ist auf diese Weise kürzer und die Abzweigungsmöglichkeiten geringer.
Zu den innerbetrieblichen . Anpassungszwängen, die auf Neuparlamentarier wirken, kommen die öffentlichen. Der uneingeschränkte Veröffentlichungszwang demokratischer Politik, der durch die Massenkommunikationsmittel forciert wird, könnte zunächst als Ausdruck des demokratischen Prinzips „Transparenz der Entscheidungen“ gewertet werden. Ohne die Möglichkeiten der Einsicht ist Partizipation nicht möglich. Doch was auf der hohen Abstraktionsebene als Fortschritt des Prinzips Demokratie dargestellt werden kann, entpuppt sich in den Niederungen der Praxis sehr häufig als das Ende von Politik; denn jene Öffentlichkeit, die vom Politiker geradezu Allgegenwart verlangt, degeneriert eben diese Öffentlichkeit zur Oberflächlichkeit.
Wann eigentlich soll Politik stattfinden, wenn der Politiker das Wunder der Allgegenwart nur dadurch zustande bringt, daß er gleichsam an jedem Wochenende auf mehreren Hochzeiten tanzt. Zwischen Brückeneinweihung und Bedeutsam-in-der-ersten-Reihe-Stehen, Schützenvereinsfahnenweihe und Sportvereins-Trimm-Dich-Tombola muß noch ein Parteigruß der Gewerkschafts-Kreisdelegiertenversammlung überbracht werden, und da auf dem Weg dorthin auch noch ein 90jähriges Wahlkreis-Geburtstagskind anzutreffen ist, muß ihm auch noch der übliche Präsentkorb unter den üblichen Blitzlichtern der Heimatpresse dargeboten werden. Wann also ist Zeit für Politik?
Ich bin überzeugt, daß ein Großteil der Einstellungsänderungen von Jungparlamentariern, die sie in den Anfängen ihrer Parlamentslaufbahn erleiden, nicht das Ergebnis bewußter Prozesse ist, sondern eine Form von lebenserhaltender Streßrationalisierung.
Der Nachkriegs-Parlamentarismus ist seinem Weimarer Vorgänger an öffentlichem Ansehen überlegen. Der Unterschätzung des Weimarer Parlaments und seiner Diffamierung als Quasselbude ist eine Überschätzung des Bonner Bundestages gefolgt. In einer geradezu euphorischen Kraftanstrengung ist im demokratischen Aufbruch der Nachkriegszeit der Versuch unternommen worden, mit dem Bun.destag ein Parlament zu schaffen, das als Arbeitsparlament Gesetzgebung bewerkstelligen, als Kontrollorgan die Regierung beaufsichtigen und mit der Parlamentsmehrheit gleichzeitig unterstützen und neben diesen heterogenen Funktionen auch noch als zentrales Forum der großen Aussprache fungieren sollte.
Sicher wird ein demokratisch funktionierendes Parlament alle diese Aufgaben übernehmen müssen. Aber eine Schwerpunktbildung und Konzentration scheint angesichts der zunehmenden Komplizierung der Politik unumgänglich, wenn das Parlament nicht durch Aufgabenüberlastung in seiner realen Macht unterspült werden soll.
Wir können nicht das Arbeitsparlament des amerikanischen Kongresses und das Redeparlament des englischen Unterhauses gleichzeitig sein. Für das erste fehlt uns die Gegenadministration zur regierungsamtlichen Exekutive, für das zweite die Konzentration auf die elementaren Alternativen der Politik. Die Zwitterstellung des Bonner Parlaments wurde bisher nur ungenügend reflektiert und durch Überbeschäftigung kaschiert. Der Erfolg ist eine lautlose Nivellierung der parlamentarischen Originalität des Bonner Bundestages.