Einstellungswandel bei neuen Abgeordneten im Bundestag
Zweifel an der Effektivität des Deutschen Bundestages zu äußern gehört gewissermaßen zum guten Ton politischer Unterhaltungen in der Bundesrepublik. Sie liegen im Rahmen der Bemühungen um eine ständige Modernisierung des Parlaments vor allem durch Korrekturen an seiner Geschäftsordnung. Soll es mehr Plenarsitzungen, dafür weniger Ausschußsitzungen geben?, wie lange darf ein Redner reden?, sollen die Diäten versteuert werden? — so etwa lauten die meisten Fragen zur Parlamentsreform Nur selten und bis-lang noch immer ohne Folgen werden weitreichendere Probleme wie zum Beispiel die Kandidatenaufstellung oder der hohe Anteil des öffentlichen Dienstes unter den Parlamentariern diskutiert
Das ist um so bedauerlicher, als parlamentarische Arbeitsweise und Aufgaben mittlerweile immer stärker Veränderungen unterworfen sind. Für jedermann sichtbar hat vor allem die Bürokratisierung mehr und mehr nun auch das Parlament ergriffen. Die Kennzeichnung dieses Prozesses als eines Wandels vom „Redeparlament" zum „Arbeitsparlament" sollte nicht vergessen machen, daß es vor allem seine in der Abgeordnetenwähl und in der Öffentlichkeit der Entscheidungsfindung festgelegte Bindung an das Volk sind, die dem Parlament das Lebensrecht auch gegenüber einer gewählten Regierung geben — ein möglicherweise veralteter und auch kritisierter, bisher in der Parlamentarismustheorie jedoch noch nicht revidierter Standpunkt Von ihm aus läßt sich das folgende kritische Szenario eines „bürokratischen Parlaments" entwickeln:
Im bürokratischen Parlament ist a) die vertikale Kooperation eher hierarchisch als egalitär; b) die horizontale Kooperation eher arbeitsteilig als kollektiv; c) der Tätigkeitstypus eher der des Spezialisten als der des Generalisten; d) der Entscheidungsprozeß eher unöffentlich als öffentlich; e) der Entscheidungsbeitrag des einzelnen Parlamentariers eher intern als extern bestimmt. Kritik verdienen diese Merkmale des bürokratischen Parlaments vor allen Dingen dann, wenn in ihrem Gefolge diese Zusammenhänge erkennbar werden:
— Mit der Professionalisierung von Abgeordneten vergrößert sich die Distanz zwischen Wählern und Gewählten. Der einzelne Parlamentarier hat immer größere Schwierigkeiten, dem Wähler detaillierte Entscheidungen mit dem in ihnen enthaltenen komplizierten Kompromiß widerstreitender Interessen verständlich zu machen. So zieht er in der öffentlichen Selbstdarstellung die Rolle eines Advokaten unverbindlicher Parteiparolen bzw. verbindlicher Regierungspolitik vor. Die Kontrolleure geraten seitens der Wählerschaft außer Kontrolle. — Mit der Bürokratisierung bilden sich im Parlament, wie in jeder anderen Organisation auch, immer mehr formelle und informelle Verhaltensregeln, mit denen zunächst die Ausdrucksformen der Abgeordneten reglementiert und schließlich auch ihre Einstellungen beeinflußt werden können. Hierarchische Strukturen und Ausschuß-bzw. Arbeitsgrup-pengrenzen legen fest, worüber wer wann etwas zu sagen hat; informelle Gruppenzugehörigkeit um den Preis garantierter Loyalität sichert das Erlangen wichtiger Informationen. Die Gemeinschaft derjenigen, die das ganze deutsche Volk vertreten bildet Machtstrukturen, in denen wenige viel und viele wenig zu sagen haben.
Trifft dieses Szenario einer auf effektive Bearbeitung relativ komplexer Probleme zugeschnittenen Zusammenarbeit von einem halben Tausend Menschen auf das moderne Parlament zu? Ist die skizzierte Entwicklung unvermeidlich und ist sie mit den Prinzipien unserer repräsentativen Demokratie vereinbar, wonach jeder Bürger ein gleiches Recht auf Repräsentiertheit hat? Müssen wir nicht vielmehr annehmen, daß schon der grundlegende Unterschied zwischen den Rekrutierungssystemen der parlamentarischen und der formal-bürokratischen Organisation (grundsätzliche Weisungsungebundenheit des Personals, regelmäßige und hohe Fluktuation) der Entwicklung eines bürokratischen Parlaments im Wege steht?
Eine Entscheidung in den hier aufgeworfenen Fragen setzt vor allen Dingen die Kenntnis zweier Sachverhalte voraus: Der eine betrifft die Beziehung zwischen Wählern und Gewählten. Dabei geht es um die Wirksamkeit der Wählerbindung des Abgeordneten, genauer: um den Grad, in dem seine Einstellungen für die Erfordernisse einer bürokratischen Kooperation zur Disposition stehen. Der zweite Sachverhalt betrifft den Einfluß der parlamentarischen Organisation auf den Gewählten. Hier ist vor allem danach zu fragen, ob die parlamentarische Organisation die Integration des neu gewählten Parlamentariers in eine bürokratische Kooperation notfalls auch gegen dessen Widerstand wirksam durchsetzen kann.
I. Wähler und Gewählte
Repräsentation, wie sie vom Grundgesetz gemeint ist, fällt mit dem Organ Deutscher Bundestag definitorisch zusammen und gibt deshalb keinen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Anhaltspunkt für eine kritische Bewertung oligarchischer Tendenzen innerhalb dieser Organisation. Nach den Ursachen des Mangels ist vermutlich in dem ständischen Vorbild vieler Repräsentativorgane zu suchen, d. h. in der Vorstellung, daß der Repräsentant in seinen Entscheidungen zwar formal frei, jedoch durch seine Erziehung und durch seinen gesamten sozialen Hintergrund in Denken und Handeln für den Wähler kalkulierbar sei
Infolge der überragenden Bedeutung des Klassenkonfliktes und der sozialen Schichten war die „Berechenbarkeit" eines Kandidaten (seiner Gründeinstellungen und politischen Ziele) noch zur Zeit der sogenannten Weltanschauungsparteien bis weit über die Jahrhundertwende innerhalb gewisser Grenzen gegeben. Heute nivellieren die Unterschiede von Volksparteien, die sich um die Nähe zur politischen Mitte streiten, sich in der Allgemeinheit ihrer Wahlkampfaussagen kaum noch unterscheiden und ihre Kandidaten nur noch im lokalen Bezugsrahmen so konkrete wie unstrittige Ziele nennen lassen. Der Kandidat solcher Parteien scheint schon deshalb in seinem späteren Verhalten als Repräsentant kaum vorausberechenbar, weil er mit Rücksicht auf die Partei keine konkreten individuellen Wahlkampfaussagen machen soll. Andere Faktoren wie z. B. die 50 Prozent Listenwahl im deutschen Mischwahlsystem verschärfen die genannte Tendenz, wonach der Wähler zwar über die parteimäßige Zusammensetzung des Bundestages, jedoch allenfalls noch spurenweise über die Auswahl jener Gewissen entscheidet, denen die Parlamentarier laut Grundgesetz verantwortlich sein sollen.
Auch empirische Untersuchungen bestätigen inzwischen die Ablösung des Kandidaten von seinen Wählern. Samuel H. Barnes und Barbara Farah zum Beispiel haben unmittelbar nach den Wahlen zur italienischen Deputiertenkammer im Jahre 1968 und nach der Bundestagswahl 1969 eine repräsentative Anzahl von Parlamentariern befragt und das Ergebnis mit einer Repräsentativbefragung der Wählerschaft verglichen Aus ihrer Analyse schließen sie, „was immer die Verbindung zwischen nationalen Repräsentanten und dem lokalen politischen System sei, die Ähnlichkeit von Meinungen gehört nicht dazu" Auch eine Untersuchung verschiedener Un-tergruppen von Abgeordneten hat keine anderen Resultate geliefert, so z. B. die Wählerbezogenheit von Abgeordneten, die besonders viel Zeit in ihrem Wahlkreis verbringen, von Abgeordneten mit längerer lokaler Amtserfahrung oder von Abgeordneten, die angeben, sie würden die Meinungen ihrer Wähler für besonders wichtig halten
Eine ähnliche Divergenz von Wähler-und Parlamentarierauffassungen fanden die Amerikaner James Prothro und Charles Grigg bei der Untersuchung von Einstellungen zu Grundprinzipien der Demokratie Zwar zeigte sich eine sehr hohe Übereinstimmung (etwa 90 Prozent) hinsichtlich der allgemeinsten Formulierungen zu den Prinzipien (Demokratie; Mehrheitsregel; Minderheitsrechte). In dem Maße jedoch, in dem diese Prinzipien konkretisiert wurden, gingen die Auffassungen zwischen Wählerschaft und Parlamentariern auseinander. Vor allem weniger gebildeten Schichten gelingt die konkrete Anwendung der Prinzipien auf politische Alltagsentscheidungen nicht
Die Loyalität des Parlamentariers gegenüber seinem eigenen Gewissen kann indessen selbst dann nicht beruhigen, wenn dieses Gewissen durch einen durchschnittlich höheren Bildungsstand hinsichtlich formal-demokratischer Prinzipien stärker geschärft ist als bei seinen Wählern und wenn dieser Vorteil um den Preis nahezu vollständiger Verschiedenheit auch hinsichtlich anderer politischer Grundauffassungen gegenüber der Wählerschaft erkauft werden muß. Wenn nicht nur die Wahl nach Persönlichkeiten, sondern auch die Wahl von Persönlichkeiten überhaupt einen Sinn haben soll, dann ist zumindest zu fordern, daß die Vorstellungen dieser Persönlichkeiten zu konkreten Grundlinien der Politik für die Wählerschaft erkennbar sein müssen. Gerade in dieser Beziehung hal-ten uns jedoch weitere empirische Untersuchungen zu großer Skepsis an: Gibt es diese Grundvorstellungen auf Seiten der Bevölke-rung überhaupt, werden sie auf dem langen Karriereweg des Politikers bis zur Kandidatur für das Parlament entwickelt, obgleich sie im Interesse der einheitlichen Selbstdarstellung der Parteien unterdrückt werden sollen?
Die Erforschung der politischen Sozialisation, d. h.des Erlernens politisch relevanter Einstellungen und Verhaltensweisen, stand lange Zeit unter der Annahme, daß die wichtigsten politischen Attitüden in der Kindheit und in der frühen Jugend festgelegt würden Neuere Untersuchungen scheinen jedoch eher darauf hinzudeuten, daß die Formung des politischen Menschen keineswegs in der Jugendphase abgeschlossen ist und daß selbst politische Grundorientierungen aus der Kindheit keinen nennenswerten Einfluß auf Einstellungen des Erwachsenen zu konkreten politischen Problemen haben — sofern solche überhaupt vorhanden sind Die Schlußfolgerungen hieraus müssen in besonderer Wei-se für die Prägung der Attitüden von Berufspolitikern gelten, die hinsichtlich ihres Einkommens und ihrer Karriere von der Politik — und das heißt von den politischen Machtzentren — abhängig sind Von ihnen muß angenommen werden, daß sie Politik nicht nur zur Realisierung ihrer persönlichen Zielvorstellungen betreiben, sondern daß der Kompromißcharakter der Politik auf ihre Einstellungen zurückwirkt
In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, in welchem Ausmaß die gewählten Parlamentarier überhaupt politische Grund
Orientierungen haben und wie stabil diese innerhalb der betreffenden Legislaturperiode sind. Eine kürzlich abgeschlossene Untersuchung über Einstellungsänderungen von Jungparlamentariern im VI. Deutschen Bundestag liefert hierzu einige Anhaltspunkte Zu der Frage, ob sie sich für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe einsetzen, geben von 47 Neuparlamentariern, die im Abstand von drei Jahren zweimal befragt worden sind, 40 Prozent diametral entgegengesetzte Anworten (zuerst ja, dann nein bzw. umgekehrt). Bei dem Problem, ob in bestimmten Fragen ein Volksentscheid wieder ermöglicht werden sollte, ändern 39 Prozent im Laufe ihrer ersten drei Jahre Parlamentserfahrung die Meinung. Und selbst in einer so grundlegenden Frage wie der nach der Existenz von Klassenunterschieden in der Bundesrepublik haben nur 79 Prozent der Befragten beim Eintritt in den Bundestag eine derart gesicherte Meinung, daß sie noch nach drei Jahren zu ihr stehen. Auch in anderen Einstellungsbereichen verhält es sich nicht anders: Uber alle 77 Variablen hinweg zeigt sich, daß im Durchschnitt 47 Prozent der Abgeordneten, also rund die Hälfte, ihre Meinung zwischen den beiden Befragungen ändern
Was wählen die Wähler nach all dem mit ihrer „Erststimme"? Sie wählen einen Kandidaten, der selbst zu grundlegenden politischen Problemen mit immerhin erheblicher Wahrscheinlichkeit gar keine durchdachte, sichere Meinung hat und der, wenn er sie dennoch hat, sie nicht öffentlich äußern soll. Sie wäh-len ferner einen Kandidaten, dessen zukünftige Meinungsbildung kaum noch aus seinem sozialen Hintergrund erschlossen werden kann Und sie wählen (deshalb) schließlich einen Kandidaten, dessen politische Vorstellungen allenfalls zufällig mit den ihrigen übereinstimmen, der sie mithin im engeren Sinne, d. h. durch seine soziale, psychische oder politische Individualität allein gar nicht repräsentieren kann.
Das deutsche Mischwahlsystem liefert der sozialwissenschaftlichen Analyse eine Kontrollgruppe, durch die Vergleiche zwischen „Wahlkreiskandidaten“ und „Listenkandidaten" möglich werden. Bekanntlich weicht der Stimmenanteil, den ein Wahlkreiskandidat auf sich vereinigen kann, nur geringfügig von dem Anteil ab, den seine Partei im selben Wahlkreis über die Zweitstimmen erhält. Die Wähler entscheiden also selbst dann überwiegend zwischen Parteien, wenn ihnen direkt wählbare Kandidaten vorgeführt werden Der Wahlkreiskandidat wird nicht wegen seiner persönlichen politischen Auffassungen, sondern wegen der öffentlichen Selbstdarstellung seiner Partei gewählt, und auf diese Selbstdarstellung hat er angesichts der überwiegend zentral geführten Wahlkampfpublizistik und der Unverbindlichkeit allgemeiner Wahlkampfaussagen praktisch keinen Einfluß. Nicht er präsentiert sich der Wählerschaft, sondern er repräsentiert vor der Wählerschaft die Partei.
Genau darin unterscheidet er sich nur noch wenig vom Listenkandidaten, der ebenfalls seine Chance zur Erlangung eines Mandats nur der Partei (oder einer Interessengruppe) verdankt Wie dieser kann auch der Wahlkreiskandidat seine Loyalität nahezu ausschließlich der Partei zuwenden. Aus diesem Grund müssen wir damit rechnen, daß zwischen den Gruppen der Wahlkreiskandidaten und der Listenkandidaten selbst dann keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich der Repräsentation von Wählerpräferenzen bestehen, wenn man die Gruppe der „abgesicherten" Wahlkreiskandidaten unberücksichtigt läßt. In der erwähnten Studie über die Jungparlamentarier wurde diese Vermutung bestätigt: Bei den Fragen nach 7 politischen Grundeinstellungen und nach 33 Meinungen zu verschiedenen politischen Problemen ergab sich nicht ein einziger signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen Die Analyse von 15 Daten zum sozialen Hintergrund und zur Statussicherheit der Kandidaten brachte nur zwei Unterschiede hervor: Listenkandidaten haben sich in der Parteihierarchie zumeist schon höher gedient und sie dürfen sich ihres Mandats sicherer wähnen
Die Loyalität gegenüber der Partei scheint alle möglichen Unterschiede zwischen den beiden Kandidatengruppen zu verwischen. Eine unmittelbare Loyalität der direkt gewählten Abgeordneten gegenüber der Wählerschaft — Voraussetzung für eine Repräsentation im engeren Sinne —-schlägt jedenfalls nicht auf ihre Einstellungen durch. Statt dessen wird Repräsentation durch die Partei hergestellt. Die politische Repräsentation beschränkt sich deshalb, von der parteimäßigen Zusammensetzung des Bundestages abgesehen, auch nur auf jene Parteimitglieder, die an der Kandidatenaufstellung mitwirken. Wenn dennoch in einzelnen Wahlkreisen immer wieder Kandidaten einen Sieg gegen die Zweitstimmenmehrheit einer anderen Partei erringen, so müssen die Ursachen in Faktoren wie „Prominenz" und „Appeal", jedenfalls kaum in einer Abweichung der politischen Argumentation des Kandidaten von der offiziellen Parteilinie gesucht werden.
Ungeachtet solcher gewiß nicht neuen Thesen über ihr Verhältnis zur Wählerschaft schätzen die Wahlkreisabgeordneten unter den befragten Neuparlamentariern die Bedeutung ihrer Wahlkreisarbeit sehr hoch ein. Die Frage, ob sie die Kleinarbeit im Wahlkreis als eine Belastung empfinden, weil sie sie daran hindert, in Bonn an der Lösung wichtiger Aufgaben mitzuwirken, wird von den Wahlkreisabgeordneten nahezu ausschließlich verneint 24). Sind sie deshalb unrealistisch zu nennen? Eher ist anzunehmen, daß dieser Meinung eine realistische Einschätzung des Gewichtes örtlicher Parteiorganisationen bei der Kandidatenaufstellung und/oder die festgefügte Ideologie eines engen Verhältnisses zur Wählerschaft zugrunde liegt.
Ein weiterer möglicher Grund für besondere Bemühungen um den Wahlkreis läge dann vor, wenn ein überragender Wahlsieg in einem Wahlkreis auch die Durchsetzungschancen des Kandidaten in Bonn erhöhen würde.
Daran glauben anfangs immerhin 58 Prozent der befragten Neuparlamentarier. Nach drei Jahren schrumpft diese Mehrheit jedoch auf unter 50 Prozent zusammen. Eine zunächst überwiegend optimistische Einschätzung der Wahlkreisabgeordneten, in dieser Frage (73 Prozent) erweist sich nach ihren ersten parlamentarischen Erfahrungen als korrekturbedürftig, denn nun glauben nur noch 50 Prozent daran So scheint nicht nur die einstellungsmäßige Bindung des Abgeordneten an die breite Wählerschaft, sondern auch die politische Wirkung einer in Wählerstimmen sich manifestierenden breiten Gefolgschaft nicht ohne weiteres zuzutreffen.
Es muß nun weiter danach gefragt werden, was mit diesen erstmalig gewählten Parlamentariern, was mit ihren erstaunlich ungefestigten politischen Grundeinstellungen und Meinungen während der parlamentarischen Arbeit geschieht, wenn die Partei in Gestalt des Fraktionsestablishments (und der Regierung) nach Loyalität, nach Fraktionsdisziplin verlangt und wenn die bürokratischen Rollen-perspektiven die Einstellungen des Jungparlamentariers zu prägen beginnen.
II. Mandat und Parlament
Eine umfassende quantitative Analyse des Wandels politischer Einstellungen von Jung-parlamentariern, durch die allein Art und Umfang der Wirkung interner parlamentarischer Strukturen erkennbar werden könnten, steht in der amerikanischen wie in der deutschen Parlamentsforschung bisher noch aus Immerhin kann die Studie über die Jung-parlamentarier in Bonn trotz einiger methodologischer Handicaps als eine Art Pilotstudie auf die ausstehende Einstellungsanalyse angesehen werden In ihr wird nach der Verinnerlichung einer herrschenden Lehre von den parlamentarischen Aufgaben und Arbeitsweisen bis hin zu den für ihre kontinuierliche Durchführung erforderlichen politischen Einstellungen der Organisationsmitglieder gefragt. Vergleichbar jener von Richard Fenno analysierten Stabilisierung des House Appro-priations Cominitee im amerikanischen Kongreß wird diese Lehre — so die General-hypothese der Studie — mit Hilfe eines ganzen Netzes hierarchischer Beziehungen durch das Parlament selbst gefestigt. Die Studie benennt sie deshalb parlamentarische Subkultur, die Mittel ihrer Erhaltung dagegen Sozialisationssystem.
Die parlamentarische Subkultur ist als eine Art genereller Paßform von Einstellungen zu verstehen, in die sich die Parlamentarier nicht zwingend fügen müssen. Starke Persönlichkeiten z. B. werden eine Anpassung an die Einstellungen eher als Identitätsverlust empfinden und deshalb einen längeren Zeitraum für die Anpassung in Anspruch nehmen als schwächere Persönlichkeiten. Auch gibt es Rationalisierungsstrategien sowohl für das fügsame als auch für das widerspenstige An-passungsverhalten: Die einen verstehen sich vermutlich als kooperativ, einsichtig, gelehrig, vielleicht auch als taktisch handelnd, die anderen als grundsatztreu Schon aus Gründen dieser unterschiedlichen psychischen Voraussetzungen ist die parlamentarische Subkultur, wenn man durch Befragungen eine Momentaufnahme von ihr zu machen versucht, immer nur ein Fragment, ein statistisches Phänomen
Gestützt auf eine zweimalige Befragung von 49 Mitgliedern des VI. Deutschen Bundestages entwickelt die Untersuchung über die Jungparlamentarier vier Thesen zur parlamentarischen Subkultur:
a) Mit dem Perspektivenwechsel vom Outsider zum Insider verlieren die Jungparlamentarier an Kritikfähigkeit gegenüber ihrer Organisation und ihr wachsendes Vertrauen wird für sie zum Maßstab aller Urteile über die Funktion parlamentarischer Vermittlung zwischen Regierten und Regierenden. Gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umgebung findet eine Art Introversion statt — möglicherweise Ausdruck eines Wandels vom Delegierten zum Vertrauensmann, vom Delegate zum Trustee (Eulau) Statistisch signifikante Merkmale dieser Entwicklung sind unter anderem ihr Verlust an Furcht vor dem Einfluß der Verbände; ihr abnehmendes Vertrauen in die Informiertheit der vermittelnden Instanz Presse; die Rücknahme ihrer Forderung nach Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen; ihr abnehmendes Verständnis für Klagen außerparlamentarischer Bürgergruppen über mangelnde Repräsentation. b) Mit der Zeit konzentrieren sich die Neu-Parlamentarier immer mehr auf Detailprobleme und verlieren an Willen zur umfassenden Problemsicht. Sie werden „betriebsblind". Statistisch signifikante Merkmale dafür sind unter anderem die zunehmende Überzeugung, daß die bisherige Haushaltskontrolle ausreiche; daß die generellen Kontrollmöglichkeiten des Abgeordneten genügten; daß der Zugang zu Informationen nicht schwierig sei; daß man das Recht auf Einsicht in die Akten der Ministerialbürokratie nicht brauche.
c) Die Auffassungen über die Qualität bzw. über die Bedeutung außerparlamentarischer Informationsquellen gleichen sich an; beispielsweise anfangs noch feststellbare Meinungsunterschiede zu solchen Aussagen wie: der persönliche Kontakt zur Presse sei wichtig; man müsse grundsätzlich aktiv werden, wenn die Presse auf einen Mißstand aufmerksam macht; politische Entscheidungen könnten nicht durch Sachentscheidungen ersetzt werden; sowohl Sachverstand der Ministerialbürokratie als auch andere Informationsinstanzen seien für den Parlamentarier wichtig; das Studium der Rechte und der Volkswirtschaftslehre biete besonders gute Voraussetzungen für die Tätigkeit als Parlamentarier
d) Die Neuparlamentarier drängt es zu einem konservativeren Gesellschaftsbild und zu einer loyaleren Haltung gegenüber dem Fraktionsvorstand
Thesen wie diese sind nicht gerade dazu angetan, das Vertrauen in das Parlament zu stärken. So beunruhigt insbesondere die Fülle der Anzeichen dafür, daß der Abgeordnete des Deutschen Bundestages in Einstellungsbereichen, die für seine Tätigkeit als Parlamentarier bedeutsam sind, sich überhaupt konfektionieren läßt; ferner daß die Konfektionierung nicht nur seine Einstellungen gegenüber der parlamentarischen Organisation, sondern auch seinen Begriff der politischen Umwelt (Gesellschaftsbild, Funktion der Presse, Ver-hältnis Parlament/Interessengruppen bzw. Ministerialbürokratie) umfaßt. Die politische Umwelt, die vom Stuhl des Bonner Abgeordneten anders erscheint als aus dem Schatten seines ersten Wahlkampfes, prägt den Jung-parlamentarier unerwartet schnell und stark.
Eine überragende Bedeutung des Parteienwettstreites im Deutschen Bundestag sollte eigentlich für eine Auflockerung der parlamentarischen Subkultur sorgen. Die Daten aus der Analyse der Meinungsänderungen von Jungparlamentariern sind jedoch eher dazu geeignet, auch diese Hoffnung zu dämpfen. Bei dem 69 Fragen umfassenden Interviewleitfaden konnte in nur einem einzigen Fall eine beharrliche gegensätzliche Auffassung zwischen den befragten Neuparlamentariern der SPD und denen der CDU/CSU festgestellt werden: Bei den Christdemokraten war man bei Eintritt in den Bundestag wie auch drei Jahre später überwiegend der Ansicht, daß das Bild innerer Zerstrittenheit der Fraktion keinen guten Eindruck in der Öffentlichkeit mache. Die sozialdemokratischen Jungparlamentarier vertraten bei beiden Befragungen mehrheitlich die entgegengesetzte Auffassung
Neben dieser „parteikulturellen" Variable wurde in einem einzigen anderen Fall eine krasse gegenläufige Meinungsverschiebung bei den befragten Jungparlamentariern von Opposition und Regierungsfraktionen beobachtet: Die neuen Abgeordneten der Regierungsfraktionen halten bei ihrem Eintritt ins Parlament noch überwiegend (64 Prozent) die Möglichkeit für sinnvoll, daß man alljährlich die im Vorjahr bereits festgelegten Haushaltsausgaben noch einmal überprüft (Opposition: 39 Prozent). Drei Jahre später hat sich das Bild verkehrt: Nun sind von den inzwischen nicht mehr ganz so neuen Neuparlamentariern bei den Regierungsfraktio Prozent). Drei Jahre später hat sich das Bild verkehrt: Nun sind von den inzwischen nicht mehr ganz so neuen Neuparlamentariern bei den Regierungsfraktionen nur noch 23 Prozent, von denen bei der Opposition jedoch 48 Prozent dieser Meinung. Hinter diesem erstaunlichen Umschwung verbirgt sich vermutlich insbesondere die Tatsache, daß der Haushalt in seiner Gesamtstruktur nach einem Parteienwechsel in der Regierung von Jahr zu Jahr mehr das Gesicht der neuen Regierungsfraktion(en) erhält und damit von ihnen im Grundsätzlichen für immer weniger änderungsbedürftig gehalten wird 35).
Zahlreicher sind die Belege für eine Überlagerung zweier Wirkungen: des Parteikultureffektes, der durch die unterschiedliche Soziali-sation in den Parteiorganisationen entsteht, und des Insidereffektes, der sich in der gleichförmigen Änderung vormals eingenommener Standpunkte durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu derselben parlamentarischen Organisation offenbart. So wird zum Beispiel die Existenz einer feingestuften Wertskala von Bundestagsaussohüssen anfangs'von fast allen befragten Neuparlamentariern der CDU/CSU (96 Prozent) und von der großen Mehrheit derjenigen in der SPD (89 Prozent) bestätigt. Drei Jahre später wollen von der Wert-skala in beiden, Gruppen sehr viel weniger Abgeordnete wissen (CDU/CSU: 74 Prozent;
SPD: 56 Prozent) 36).
Oder die Frage, ob die Kontrollmöglichkeiten des Abgeordneten erhöht werden sollen, wird zwar vorher wie nachher von mehr SPD-Neu-parlamentariern als von ihren Kollegen der Opposition bejaht (SPD: 86 Prozent; CDU/CSU: 56 Prozent), doch beide Gruppen geben sich nach dreijähriger Parlamentserfahrung mit den bestehenden Kontrollmöglichkeiten zufrieden (SPD: 50 Prozent; CDU/CSU: 39 Prozent) 37). Schließlich lassen sich Belege für einen Institutioneneffekt liefern, durch den anfänglich unterschiedliche Auffassungen der beiden Parteiungen von Neuparlamentariern nivellieren. Ein Beispiel dafür ist die Einstellung gegenüber der Frage, ob Ausschußberatungen öffentlich stattfinden sollten. Die Neuparlamentarier in der SPD opferten ihrem „besseren" Einblick in die parlamentarischen Gepflogenheiten die anfänglich überproportionale Wertschätzung der Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen (SPD: vorher 85 Prozent, nachher 45 Prozent; CDU/CSU: vorher 52 Prozent, nachher 48 Prozent) 38).
Wenn das alles Anzeichen einer parlamentarischen Subkultur sind, dann wird auch nachvollziehbar, daß die Anpassung von Neuparlamentariern an die vorgefundenen Arbeitsbedingungen mit teilweise erheblichem Leidensdruck verbunden sein kann. Der Protest von Neuparlamentariern z. B. gegen eine Bevormundung durch die Fraktionsspitzen gibt vielfach Zeugnis davon und, wie man weiß, dann und wann auch Anlaß zu einer „psychologischeren" Behandlung dieser Parlamentariergruppe durch die Fraktionsspitzen 39). Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Ursachen der Anpassungsschwierigkeiten in übersteigerten Erwartungen der Neuparlamentarier zu ihren zukünftigen Wirkungsmöglichkeiten oder auch darin liegen, daß es ihnen auf Grund typischer vorangegangener Karriereerfahrungen nur an den für die parlamentarische Arbeit erforderlichen Fertigkeiten mangelt Beide Annahmen sind durch bisher vorliegende Untersuchungen eher bestätigt als widerlegt worden Dennoch: Die Mehrdeutigkeit unserer Beobachtung erhellt zumindest die für die Analyse einer parlamentarischen Subkultur prinzipiell notwendige Unterscheidung zwischen legitimen und il-legitimen Lernprozessen, die einem um seine politische Wirkung bedachten Abgeordneten im Deutschen Bundestag abverlangt werden. Daß er in seinem neuen Wirkungskreis lernen soll, lernen muß, ist nicht zu bestreiten. Können wir es aber z. B. hinnehmen, wenn er seine politisch bedeutsamen Grundauffassungen revidiert, sei es als Folge selektiver Informiertheit, sei es als Folge des psychischen Drucks, den die Fraktionshierarchie oder die Fraktionsmehrheit auf ihn ausübt? Müssen wir es möglicherweise als Konsequenz des Wandels zum bürokratischen Parlament hinnehmen?
III. Das Modell eines bürokratischen Parlaments
Es bedarf offenbar nicht geringer Mühen, um einige harte Daten ausfindig zu machen, mit denen das eingangs skizzierte Szenario eines bürokratischen Parlaments geprüft werden kann. Immer noch folgt das wissenschaftliche Bemühen überwiegend dem Ziel, wenigstens das in quantitative Kategorien zu übertragen, was Insider längst wissen (und häufig nicht einmal sich selbst eingestehen wollen) Von einer Aufdeckung latenter Machtstrukturen und damit der Ursachen des Dies-und-nicht-das-, des So-und-nicht-anders-Entscheidens im Parlament kann vorläufig noch kaum die Rede sein. Immerhin wird die Annahme einer Bürokratisierung des Parlaments auch durch die quantitativen Analysen eher bestätigt als widerlegt. Insbesondere der Sozialisationsansatz scheint dabei wichtige Ergebnisse liefern zu können, weil er dazu geeignet ist, die Wirkung der parlamentarischen Kooperationsstrukturen nach innen (Stabili-sierung der Subkultur) wie nach außen (Kal-kulierbarkeit parlamentarischer Arbeitsleitung und Arbeitsergebnisse) deutlich zu machen. Beide Merkmale sind unentbehrliche Beweisstücke im Nachweis der Bürokratisierung einer Kooperation, die von der ursprünglichen Idee her egalitär sein sollte
Die folgenden Merkmale einer Bürokratisierung des Parlaments scheinen für den Deutschen Bundestag zuzutreffen a) Eine spezifische Loyalitätsbindung der Abgeordneten gegenüber der Wählerschaft, die im Sinne der Bürokratie als Befangenheit abgelehnt werden müßte, besteht nicht oder ist zumindest weit weniger begründet, als das Wahlsystem, formal betrachtet, vermuten läßt. An ihre Stelle tritt die Loyalität vor allem gegenüber der Partei, was die geforderte Subordination unter das Fraktionsestablishment erleichert; b) die zunehmende Arbeitsteilung ist im Deutschen Bundestag evident, im amerikanischen Repräsentantenhaus hat sie wahrscheinlich einen Endpunkt erreicht;
c) für die tägliche Mitarbeit wird Sachverstand in Spezialgebieten vorausgesetzt. Sofern ein Abgeordneter nicht schon als Sachverständiger für ein Spezialgebiet „gewählt" wird, d. h. einen sicheren Wahlkreis oder Listenplatz zugeteilt bekommt, hat er in der Ausschußarbeit im Laufe seiner ersten vier Parlamentsjahre Gelegenheit zur Spezialisierung; d) ein kontinuierlicher Anstaltsbetrieb, wegen der relativ hohen Fluktuation und wegen der formalen Gleichheit der Abgeordneten an und für sich kaum möglich, wird durch informelle Sozialisation (Apprenticeship) der , Neuzugänge' unter dem führenden Einfluß der Alt-parlamentarier bei gleichzeitiger Absicherung von Mandaten „bewährter" Berufsparlamentarier durch sichere Wahlkreise oder Listenplätze ermöglicht;
e) die Verlagerung politischer Entscheidungstätigkeit in die Ausschüsse, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagen, fördert den Grad der im Parlament möglichen und auch der praktizierten Geheimhaltung.
Als einziges wichtiges Merkmal bürokratischer Organisation konnte sich in der Kooperation der Parlamentarier die horizontale und vertikale Ausdifferenzierung von Entscheidungskompetenzen nicht etablieren. Gerade dieses Strukturmerkmal reicht indessen am wenigsten zur Begründung eines prinzipiellen Unterschiedes zwischen parlamentarischer und bürokratischer Kooperation, weil es auf Seiten der Bürokratie durch informelle Machtstrukturen häufig aufgeweicht ist und im Par-lament in informellen Machtstrukturen ein Äquivalent gefunden hat.
So scheint der Deutsche Bundestag schon heute genügend bürokratisiert dafür, daß man ihn als bürokratisches Parlament charakterisieren kann. Unsere Überlegungen wären freilich der Anstrengung nicht wert gewesen, wenn sie lediglich in eine Neubenennung münden würden. Tatsächlich interessiert uns der Funktionswandel, der mit der Bürokratisierung zusammenfällt. Wir vermuten ihn we-niger in dem Verhältnis zwischen Regierung und Opposition, das dem Parlament in einer Konkurrenzdemokratie immer schon eine Existenzberechtigung gibt Um so mehr vermuten wir ihn im Verhältnis zwischen den Ausschüssen respektive den in ihnen mehrheitsbildenden Regierungsfraktionen und der Ministerialbürokratie
Wie man weiß, durchzieht der gesellschaftliche Pluralismus die Spitzenebene der Regierungsbürokratie längst in ähnlicher Weise wie er auch die parlamentarische Wirklichkeit bestimmt. Die Fluktuation von Beamten in Spitzenpositionen dürfte derjenigen von Abgeordneten kaum nachstehen, und die jeweiligen Positionen werden unter dem wachsenden Einfluß von Parteien und Interessengruppen rekrutiert. In dem Maße jedoch, in dem die vormals angeblich sachgerecht verfahrende „Staats " -Verwaltung „politisiert", d. h. von den organisierten Interessen in der Gesellschaft und von den Interessen in der jeweiligen Regierung durchdrungen wird, entfällt das Erfordernis ihrer politischen Kontrolle durch das bürokratische Parlament. Dennoch werden zwei prinzipielle Unterschiede zwischen Regierungsbürokratie und Parlament bestehen bleiben: a) Die Rekrutierung der Regierungsbürokratie erfolgt im Rahmen gewisser Rechte auf Gruppenproporz kooptativ durch die jeweilige Regierung und sie ist in der Regel an Einstellungsvoraussetzungen (abgeschlossenes Studium, Vorbereitungsdienst) gebunden. Für eine Sozialisation liegen deshalb in der Ministerialorganisation viel günstigere Voraussetzungen vor als im Parlament, dessen Rekrutierung nicht an derartige Voraussetzungen gebunden ist und durch Entsendung erfolgt. Das gleiche gilt für die Art und Persistenz der organisatorischen Subkulturen
b) Die Regierungsbürokratie ist durch ihren hohen Grad an Ausdifferenzierung auf extrem spezialisierte und (dafür) segmenthafte Problemsicht und Entscheidungsvorbereitung angelegt. Sie verliert an Komplexität im Überblick und gewinnt dafür an Komplexität im Detail. Im bürokratischen Parlament ist es umgekehrt. Die begrenzte Anzahl von Abgeordneten setzt der Ausdifferenzierung Grenzen und ermöglicht dadurch einen besseren Überblick über die politischen Probleme Das Parlament kann daher einen höheren Grad der Integration von nicht konfligierenden Teilinteressen erreichen Unter dem zunehmenden Verlust des Legitimationsvorsprunges des bürokratischen Parlaments gegenüber Regierung und Ministerial-Organisation wandelt sich die Beziehung beider Organisationen von der eines Souveräns und eines Ausführenden zur Kooperation zweier faktisch teilsouveräner Organisationen, deren eine auf Entwicklung isolierter Problemlösungen bei begrenzter Interessenberücksichtigung, deren andere auf die Modifikation solcher Problemlösungen bei breiter Interessenberücksichtigung angelegt ist. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn das bürokratische Parlament die Gesetzesinitiative an die Regierungsbürokratie „abgetreten" hat und wenn es selbst damit — zumindest äußerlich — den Part (modifizierender) Vollzugsentscheidungen übernommen hat.
Die Kooperation von Parlamentariern und Ministerialbeamten in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und mehr noch in den Unterausschüssen des amerikanischen Repräsentantenhauses zeigt allerdings, daß über das bürokratische Parlament eine teilweise Verschmelzung der beiden Funktionen Entwicklung und Modifikation von Problemlösungen erreicht worden ist, in deren Verlauf die institutioneilen Akzente 'verlorengehen könnten. Das erste Kernproblem, das wir hier identifizieren, scheint denn auch angesichts der drohenden Umklammerung durch die spezialisierten und politisch versierten Fachbeamten vor allem in der Wahrung der breiten Interessenberücksichtigung zu liegen. Anders ausgedrückt: Im bürokratischen Parlament darf die Rolle des Ausschußparlamentariers niemals die Rolle des Fraktionsmitgliedes (bzw.der State-Party Delegation im amerikanischen Repräsentantenhaus) dominieren.
Die Tendenz zur Bürokratisierung der parlamentarischen Kooperation einschließlich des hier nur grob skizzierten interdependenten Funktionswandels wirft die Frage auf, ob es sich dabei um eine „unentrinnbare" (Weber) Entwicklung handelt oder ob die Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft in unserem Verfassungsstaat eine politisch unausgearbeitete Alternative zulassen würden. Von einer Beschränkung des Parlaments auf wesentliche Grundentscheidungen ist in diesem Zusammenhang die Rede, auch von Zielvorgaben und von Planungskontrolle. (Die Möglichkeit eines planenden Parlamentes wird offenbar nicht einmal von Theoretikern in Erwägung gezogen).
Aber schon die Diskussion um die Entwürfe zu Planungskontrollgesetzen, die von den Oppositionen im nordrhein-westfälischen und im rheinland-pfälzischen Landtag eingebracht worden waren ließ das Dilemma erkennen: Den eigentlichen Master-Plan, der in der Tat parlamentarischer Kontrolle bedürfte, gibt es nicht einmal auf Seiten der Regierungen. Was als Plan oder längerfristiges Programm von den Regierungen vorgelegt wird, erschöpft sich in aller Regel in unkoordinierten Absichtserklärungen, deren ökonomische, soziologische und technologische Grundannahmen weder ausreichend durchdacht noch zwischen den verschiedenen öffentlichen und privaten Planungsträgern genügend abgestimmt worden sind.
Wenn derartige Absichtserklärungen als Planung etikettiert werden, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich in Wirklichkeit häufig nur um taktische Schritte von Interessenten handelt, durch die sie ihre Ausgangspositionen für zukünftige politische Entscheidungen arondieren wollen. Die Entscheidungen selbst stehen noch bevor, keinesfalls sind sie Bestandteil oder etwa Voraussetzung gebündelter Absichtserklärungen. Es wäre deshalb verhängnisvoll, wenn das Parlament derartigen sich häufig widersprechenden „Plänen" Gesetzeskraft verleihen würde. Die Legalisierung des überzogenen Anspruchsniveaus von Teilinteressen würde den immer wiederkehrenden Prozeß der fiskalischen Abstimmung („Gesundschrumpfung") an die langwierige und aufwendige Novellierung von faktisch interdependenten Plänen binden, jedenfalls das Parlament mit unnötigem Arbeitsaufwand belasten.
Die großen außenpolitischen Entscheidungen dieses Jahrzehnts und vermutlich darüber hinaus sind in dieser Republik gefällt. Umfassende innenpolitische Entscheidungen sind kaum in Sicht. Es wird der Mangel an faszinierenden Alternativen und Kontroversen beklagt. So hätte es wohl wenig Sinn, das Parlament zur Entwicklung politisch produktiver Initiativen zu verpflichten. Selbst als das noch Sinn gehabt haben mochte, widersetzten sich die jeweiligen Machthaber erfolgreich der Lehre — die Deutschen wissen es aus ihrer leidvollen Reichstagsgeschichte. Statt dessen wird man sich in Zukunft möglicherweise zu der Einsicht durchringen müssen, daß das bürokratische Parlament in der Tat am besten den Erfordernissen einer Zeit entspricht, in der der Sachverstand immer unentbehrlicher wird.
Die Zweckmäßigkeit des bürokratischen Parlaments in der industriellen Gesellschaft unserer Zeit kann allerdings schwerlich als maßgebende Ursache seines Wandels angesehen werden; d. h., es muß bei diesem Wandel Interessierte gegeben haben, die ihren Einfluß mit der Bürokratisierung des Parlaments vergrößern konnten und sie genau deshalb vorangetrieben haben. Die Gruppe dieser Interessierten dürfte insbesondere im Fraktionsestablishment auszumachen sein. Niemand gewinnt über die Bürokratisierung des Parlaments mehr Einfluß als jene wenigen, die die Managementfunktionen ausüben und denen aus diesem Grund auch überall dort politische Teilnahmechancen eingeräumt werden, wo der Zeitdruck, die Bedeutung einer Angelegenheit oder das Erfordernis ihrer vorerst diskreten Behandlung die Anzahl der Beteiligten begrenzt. Den Fraktionsführern liegt persönlich etwas an der Hierarchisierung, an bürokratischer Spezialisierung und Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung steigert den Management-bedarf und damit die Bedeutung des Fraktionsmanagements. Vor dem erheblichen Koordinationsbedarf erscheinen Sanktionen gegen einzelne und gegen Minderheiten in der Fraktion zur Sicherung einer erfolgreich vereinheitlichenden Willensbildung unvermeidlich und deshalb legitim. So wird ein Machtinstrument geschaffen, das in den Händen erfolgreich taktierender Fraktionsvorstände auch einen Abgeordneten zur Räson bringt, der sich nicht freiwillig ins Geschirr legen lassen will. Nicht mehr von der Hand zu weisen ist die Vermutung, daß die Rolle des einzelnen Fraktionsmitgliedes über autoritäre Führungsstrukturen der Fraktion mehr und mehr zu der eines „Sachbearbeiters" degeneriert
Dabei ist die Rolle nicht einmal unattraktiv:
Jeder Abgeordnete kann zwar nur in wenigen politischen Teilbereichen, und auch da nur im Detail, dafür aber für ihn selbst spürbar, auf die Gesetzgebung Einfluß nehmen und sich so — je nach Selbstverständnis — genügend Erfolgserlebnisse sichern.
Das zweite Kernproblem des bürokratischen Parlaments kann deshalb folgendermaßen charakterisiert werden: Indem sie die Teilnahme an politischer Filigranarbeit erzwingt, absorbiert die Bürokratisierung den Teilnahmewillen der Parlamentarier an dem grundsätzlichen Teil politischer Entscheidungsprozesse, insbesondere also an der Identifikation politisch zu behandelnder Probleme (Non-Decision-Problem) und an der Entscheidung über die Reihenfolge, in der die identifizierten Probleme behandelt werden sollen — was angesichts der knappen politischen Ressource Konsensbildung häufig einer Entscheidung, zur Nicht-Behandlung gleichkommt.
Die Folgen der Entwicklung zum bürokratischen Parlament sind allenthalben spürbar. Vor allem wird immer deutlicher, daß sich das Organ Deutscher Bundestag mehr und mehr zur Institution mit zunehmender Autonomie und mit eigenen Bewegungsgesetzen verselbständigt. Seine Wurzeln reichen kaum noch direkt in die Wählerschaft, weil seine internen Strukturen für die begleitende Kontrolle von Regierung und Ministerialorganisation optimale Wirksamkeit versprechen und deshalb im Widerspruch zur Abgeordneten-rolle des Delegate gegenüber einer regionalen Wählerschaft stehen. Der politische Einfluß lokaler und regionaler Interessen wird primär durch die Selbstverwaltungsorganisationen und durch Verbände vermittelt — den bürokratisch spezialisierten Parlamentarier überfordert diese Vermittlungsrolle zunehmend. Er ist auf die Hilfestellung dieser Organisationen, aus denen er folgerichtig häufig hervorgeht, angewiesen. Auch bedarf er der Massenmedien, deren Kritikfähigkeit gegenüber diesen Organisationen für ihn ebenso unentbehrlich ist wie die Artikulation nicht-oder unterorganisierter Interessen durch die Medien. Die starke Beanspruchung der Abgeordneten durch das bürokratische Parlament hat die politischen Funktionen dieser Organisationen und Institutionen zwangsläufig gesteigert. Die Aufmerksamkeitsschwelle des bürokratischen Parlamentariers zum Volk hin wird durch sie gesetzt, nicht durch den Parlamentarier selbst. Ihre Rolle nähert sich immer mehr der einer (zweiten) informellen Öffentlichkeit, und ihre Funktionsfähigkeit wird damit zum dritten Kernproblem eines bürokratischen Parlaments.
Die Erwägungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform des VII. Deutschen Bundestages zu einer möglichen Beteiligung der Wäh-B lerschaft an der Kandidatenaufstellung erscheinen deshalb auch eher als ein kosmetisches Bemühen, das, wenn es je in Gesetzesnovellierungen münden wird, noch mehr Präsenz der Abgeordneten in ihren Wahlkreisen verlangen wird. Die empirischen Analysen zeigen, daß ein Anlaß zur Hoffnung auf eine stärkere Unmittelbarkeit der Wählerrepräsentation beim bürokratischen Parlament nicht besteht, auch nicht bei derartigen Reformen.
Vom Standpunkt des bürokratischen Parlaments betrachtet liegt es näher, sich die Frage zu stellen, ob das Direktmandat bei dem derzeitigen Stand der Bürokratisierung parlamentarischer Kooperation im Deutschen Bundestag überhaupt noch zeitgemäß ist; ob es nicht den Schein liberaler Repräsentation aufrechtzuerhalten versucht, obgleich der Funktionswandel des Parlaments diese Art von Repräsentation längst ausgehöhlt hat; ob sein politischer Nutzen in Gestalt zeitaufwendiger und überwiegend nutzloser Selbstdarstellung des Abgeordneten nicht längst die politischen Kosten unterschreitet, die durch die erzwungene Diskontinuität seiner bürokratischen Spezialistenarbeit im Bundestag entstehen. Insofern ist die Frage hier nicht, ob Responsivität geopfert werden könnte, damit sich die Bürokratisierung des Parlaments vervollkommne, sondern ob darauf verzichtet werden könnte, den Schein einer schon lange nicht mehr existierenden Responsivität aufrechtzuerhalten, damit die bürokratischen Spezialistenfunktionen im Rahmen parlamentarischer Zielsetzungen wirksamer wahrgenommen werden können. So zynisch dieser Gedanke vor dem Hintergrund einer liberal-konservativen Parlamentarismustheorie erscheinen mag, so zwingend ist er angesichts der Entwicklung zum bürokratischen Parlament. Ungleich wichtiger als diese Korrektur erscheint jedoch eine grundlegende Revision der parlamentarischen Organisationsstruktur. Als Kontrollorgan mit dem Schwerpunkt Interessenintegration müssen sich die Kooperationsmuster deutlich von denen der Ministerialorganisation abheben. Führungsfunktionen müssen auf ein Minimum beschränkt bleiben, damit eine gleichberechtigte Kooperation in Fraktionen, Ausschüssen und Arbeitskreisen möglich bleibt, in der der einzelne Abgeordnete die Interessen jener intermediären Öffentlichkeiten, denen er sich verpflichtet fühlt, voll zur Geltung bringen kann. So gilt es insbesondere, seine persönliche Bindung an die Parteiorganisation (der er sein Mandat verdankt) gegen den sanktionierenden Zugriff der Fraktionshierarchie zu schützen. Freilich: Jene Abgeordnete, die über Reformen dieser Art den vermutlich entscheidenden Einfluß ausüben, dürften das geringste Interesse an ihnen haben. Das eben ist das Dilemma der parlamentarischen Subkultur.