Mit freundlicher Genehmigung von UPI entnommen aus dem Januar-Heft 1976 der Zeitschrift „Foreign Affairs". Der Aufsatz wurde leicht gekürzt.
Es besteht heute Einigkeit darüber, daß die Expansion der multinationalen Konzerne ein bedeutendes, vielleicht sogar das entscheidendste Phänomen unserer derzeitigen Wirtschaftsentwicklung darstellt. Große Konzerne mit ihren Zentralen in den Vereinigten Staaten, in anderen westlichen Industriestaaten und jetzt auch zunehmend in Japan dehnen ihre unternehmerische Tätigkeit sowohl auf die anderen Industriestaaten, einschließlich der sowjetischen Sphäre, wie auch auf die weniger entwickelten Länder der Welt aus. Diese Konzerne befaßten sich früher ganz überwiegend mit dem Bergbau und der anderweitigen Gewinnung von Bodenschätzen. Heute ist es die Tätigkeit der Multinationalen auf dem Gebiet der weiterverarbeitenden Industrie, die zunehmende Beachtung verlangt.
Die politischen Folgen dieser Entwicklung sind Gegenstand einer umfangreichen und noch anwachsenden Literatur. Wesentlich weniger Aufmerksamkeit aber wurde den Auswirkungen auf die Lage der Arbeitskräfte in den betroffenen Nationen gewidmet Im Bemühen, mit den sich rasch verändernden Produktionsformen Schritt zu halten, schwankt die organisierte Arbeiterschaft in ihrer Reaktion zwischen Versuchen, mit den Multis an deren eigenen Standorten, wo immer diese sein mögen, direkt zu verhandeln — eine, wenn man so will, transnationale Strategie —, und Ansätzen, ihr politisches Gewicht innerhalb des eigenen Staates auszunutzen, um die (Multis zu steuern, zu kontrollieren und auf diese Weise innerhalb ihres Landes die Arbeitsplätze zu schützen. Im Ergebnis, so kann man sagen, ist es der organisierten Arbeiterschaft bislang nicht gelungen, den multinationalen Konzernen mehr als eine recht verworrene, bruchstückhafte und einseitige Antwort Iauf deren Strategie zu geben. Um verstehen zu können, warum das so ist, muß man sich zunächst den Einfluß der Multis vergegenwärtigen, den diese nicht nur auf die organisierte Arbeiterschaft, sondern auf die gesamte Sozial-und Arbeitsstruktur der betroffenen Staaten haben. Erst dann läßt sich erfassen, wie drastisch und dramatisch sich die Aktivitäten der Multis auch zukünftig noch auswirken können. Dabei dürfte sich als vernünftige Schlußfolgerung ergeben, daß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Arbeiterschaft fortan die „transnationale Strategie" nicht mehr verfolgen, sondern ihre Bemühungen immer stärker darauf konzentrieren sollte, daß national und international Vorschriften in Kraft gesetzt werden, die eine umfassende Kontrolle der Arbeitsmarktpolitik der Konzerne gewährleisten. Dabei liegen die Optionen für die Arbeiterschaft heute offensichtlich darin, entweder eine, mehr egalitäre Welt zu schaffen oder aber eine Welt, die von der Sicherung erreichter Vorzugspositionen bestimmt wird.
I. Expansion der Multis — Export von Arbeitsplätzen
Das Problem „Arbeiterschaft und Multis" ist häufig so behandelt worden, als gehe es lediglich um die arbeitenden Menschen innerhalb der multinationalen Konzerne. Eine sol-che Betrachtungsweise ist jedoch viel zu eng, denn dabei werden die sozialen Folgen der Expansion der Multis verwischt, einer Expansion, die — als fundamentale Antriebskraft für eine weltweite wirtschaftliche Veränderung — die Arbeiterschaft der gesamten Welt betrifft. Bei den Multis selbst sind die wenigsten der von der Ausbreitung dieser Konzerne betroffenen Arbeiter beschäftigt; sie stellen zudem noch eine privilegierte Minderheit dar.
Von ihren Befürwortern werden die Multis oft als die entscheidende Antriebskraft für das wirtschaftliche Wachstum und die Entwicklung dargestellt. Gemeint ist damit im allgemeinen ein Wachstum, das an Produktion und Einkommen gemessen wird. Insgesamt ist diese These durchaus vertretbar, aber sie wirft die Frage auf, was denn nun Fortschritt und Entwicklung wirklich sind.
Welche Bedeutung man diesen Begriffen auch immer beilegen mag, sie werden stets eine normative Komponente haben und sich nicht auf die Dimension „Zunahme des Bruttosozialproduktes" reduzieren lassen. So ist denn auch die These von den Multis als Motoren des Fortschritts nicht unwidersprochen geblieben. Man hat schlüssig nachgewiesen, daß das von den Multis erzeugte Wachstum auch Abhängigkeit und Unterentwicklung mit sich bringt. Das aber verträgt sich nicht mit einem umfassenderen Konzept von Wachstum und Fortschritt, das ohne das Postulat der Gerechtigkeit, also einer weitgestreuten Beteiligung am Produktionsprozeß und an den Früchten dieser Produktion, nicht denkbar ist.
Um festzustellen, ob die Multis auch Motor eines so definierten Fortschritts sind, müssen die Folgen ihrer Expansion für die Arbeitsplätze und die Einkommen der Beschäftigten untersucht werden, und zwar im Hinblick auf die Arbeiterschaft insgesamt.
Der Wunsch, die Versorgung mit Rohstoffen, wie Bodenschätzen und tropischen Landwirtschaftsprodukten, zu sichern und fest in die Hand zu bekommen, war ursprünglich eine der wichtigsten Motivationen zu direkten Investitionen im Ausland. Denn darauf beruhte die Kontinuität der Produktion in den hochindustrialisierten Zentren. Aber dieser klassische Warentyp (wie z. B. Erdöl, Bauxit, Kupfer und Plantagenfrüchte) ist heute für die Tätigkeit der Multis nicht mehr so charakteristisch wie früher. Wesentlich typischer ist jetzt das Anwachsen der „internationalen Produktion", also die Herstellung von Waren in Fabriken im Ausland. Dieser Wirtschaftssektor weist im vergangenen Jahrzehnt das höchste Wachstum auf und nimmt inzwischen den führenden Platz im Welthandel ein. Zum Teil wird die internationale Produktion so praktiziert, daß man Fabriken von ausländischen Besitzern aufbauen oder übernehmen läßt. Auf diese Weise kann der binnenländische Markt ohne hinderliche Schranken versorgt werden, zugleich aber genießt man alle Vorteile der großen Gesellschaften (z. B. leichterer Zugang zu Finanzquellen, überragende Marktkenntnisse, Differenzierung des Warenangebotes) im Wettbewerb mit der nationalen Industrie. Neuerdings ist die internationale Produktion zu Investitionen in sogenannten Exportplattformen ), die sich in Gestalt der unterentwickelten Länder anbieten, übergegangen. Die Bedeutung dieser Veränderungen läßt sich an der Automobilindustrie ablesen: im Jahre 1950 entfielen 80 °/o der Weltautoproduktion auf die Vereinigten Staaten; im Jahre 1972 waren die USA nur noch mit 32 °/o vertreten, während die westeuropäische Produktion von 15 °/o auf 35 % der Weltproduktion gestiegen war und die japanische und brasilianische Produktion gemeinsam von einem Drittel eines Prozentes auf 18°/o der Gesamtweltproduktion vorrückten. In diesem Zeitraum hatte sich die Gesamtweltproduktion verdreifacht, wobei es in der Automobilproduktion der USA in absoluten Zahlen keinen Rückgang gab; aber die Verteilung der Produktionsstätten hatte sich deutlich verschoben Alle großen Automobilhersteller waren bis zum Jahre 1972 multina-tionale Produzenten geworden. Die internationalen Verschiebungen der Produktion zeigten sich in einschneidenden Verlagerungen von Produktionsstätten innerhalb der Gesellschaften. Man kann sogar die Prognose wagen, daß im Zuge der internationalen Streuung die Industrie wahrscheinlich mit immer größeren Teilen in die unterentwickelten und im industriellen Aufbau befindlichen Länder sowie in die UdSSR und andere sozialistische Staaten übersiedeln wird.
Merkmal der 'Automobilindustrie ist eine hochentwickelte Technologie bei gleichzeitig relativ großer Arbeitsintensität. In noch arbeitsintensiveren Produktionszweigen wie der Textilindustrie oder der elektronischen Teile-fertigung hat sich der Drang der Industrie in die unterentwickelten Gebiete noch deutlicher gezeigt. Die Bedeutung dieser „Exportplattformen" der in den USA ansässigen Industrien läßt sich an der Tatsache ermessen, daß alle US-Tochtergesellschaften im Ausland zusammen im Jahre 1968 genauso viel exportierten wie Deutschland und und doppelt so viel wie Japan und daß ein großer Teil dieser Ausfuhren der amerikanischen Tochtergesellschaften als Importe wieder in die Vereinigten Staaten zurückfloß. Der Umfang dieser Importe belief sich etwa auf ein Viertel der Gesamtimporte der USA Unter dem Druck der UNCTAD und der lateinamerikanischen Staaten zeigte sich die amerikanische Regierung zwar bereit, ihre ablehnende Haltung gegenüber einem System von Exportvergünstigungen für Industrieerzeugnisse aus unterentwickelten Ländern aufzugeben. Aber man kann dies kritisch auch so bewerten, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Exporte, die nun auf den amerikanischen Markt gelangen, Produkte ausländischer Tochtergesellschaften von amerikanischen Firmen sind.
Verallgemeinernd läßt sich also feststellen, daß sich hier Trends zu einer Verschiebung der industriellen Fertigung von den hochentwickelten Wirtschaftssystemen in jene Länder andeuten, die derzeit erst industrialisiert werden, wobei die Kontroll-und Leitzentren in den hochindustrialisierten Staaten bleiben. Für die entwickelten Wirtschaftssysteme hat das den Übergang zur einer „nach-industriel-len" Struktur des Produktionsfaktors Arbeit zur Folge. Der rückläufigen Tendenz im Bereich der Warenproduktion entspricht eine steigende Tendenz bei den Dienstleistungen mit höherer Qualifikation.
Für die Arbeitskräfte werden durch diesen Strukturwandel der Weltwirtschaft schwerwiegende Beschäftigungsprobleme aufgeworfen. Kann das Wachstum an Dienstleistungen den Rückgang an Arbeitsplätzen im Bereich der Produktion ausgleichen? So stellt sich die Frage in den reicheren Ländern. Für die Entwicklungsländer lautet sie dagegen: Wird das industrielle Wachstum, wenn es so rasch und intensiv ist, wie es in den Ländern des West-Pazifiks und in Brasilien war, einen wesentlichen Einbruch in die weitverbreitete Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bewirken können? Und werden die ärmsten Länder an dieser Entwicklung teilhaben können? In den weiterentwickelten Industriegesellschaften hat die organisierte Arbeiterschaft inzwischen eine Reihe von Alarmsignalen gegeben. In den Vereinigten Staaten verlangen die Gewerkschaften AFL-CIO die Überwachung der Multis durch die Regierung, damit die Tendenz zur Verlagerung der amerikanischen Produktion ins Ausland gebremst und so dem Export von Arbeitsplätzen Einhalt geboten wird. Die Multis halten dem entgegen, sie würden in Wirklichkeit mehr Arbeitsplätze im Lande schaffen. Aber viele dieser neuen Arbeitsplätze werden höchstwahrscheinlich nicht mit den entlassenen Arbeitern zu besetzen sein: Stellenangebote für Systemanalytiker dürften entlassenen Fließbandarbeitern kaum weiterhelfen. Verlorene und neu geschaffene Arbeitsplätze können sich also nicht genau die Waage halten, und in Nordamerika hat man heute auch nur wenig Vertrauen zu der Fähigkeit des Arbeitsmarktes, das Problem der notwendigen Umschulung von entlassenen Arbeitern zufriedenstellend lösen zu können.
Betrachtet man die durch die internationalen Produktionsveränderungen bewirkten Folgen für die Arbeitsplätze, so zeigt sich ein deutlicher Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und Japan einerseits und den westeuropäischen Staaten andererseits. In den Vereinigten Staaten und Japan verlagern sich die arbeitsintensiven Produktionszweige aus den Ursprungsländern in Länder, die an der ökonomischen Peripherie liegen. In den westeuropäischen Staaten hingegen sind die weniger produktiven Arbeiten den „importierten Niedriglohngruppen" von eingewanderten Arbeitskräften aus den Mittelmeerländern zugefallen.
Auf diese Weise wurde eine geographische Peripherie in eine innere, soziale transformiert. In Westeuropa schenkte man in diesem Zusammenhang den interethnischen Beziehungen und der Begegnung unterschiedlicher Kulturen die meiste Beachtung; was aber im Falle einer größeren Arbeitslosigkeit werden würde, ist dagegen bis vor kurzem kaum diskutiert worden.
Heute gibt es allerdings Anzeichen dafür, daß man dem Problem der Arbeitsplätze mehr Beachtung schenkt. Teilweise liegt dies daran, daß die letzte Rezession Westeuropa einen Stand der Arbeitslosigkeit bescherte, der zwar noch unter dem der Vereinigten Staaten liegt, der aber doch die Grenzen dessen, was noch als politisch unbedenklich bezeichnet werden kann, weit übersteigt. Zum Teil aber richtet sich das gestiegene Interesse an den Arbeitsplätzen in Europa auf Langzeitfaktoren: Es sind dies der Strom von Direktinvestitionen aus den EG-Staaten nach außen und die Furcht, Europa könne für das US-Kapital in seinem Drang zu den Gebieten mit niedrigen Arbeitskosten nur zu einer vorübergehenden Zwischenstation werden.
II. Primäre und sekundäre Arbeitsmärkte
In den unterentwickelten Ländern sind die Beschäftigungsaussichten noch wesentlich trüber. Die aus den entwickelten Industriestaaten transferierte Technologie hat die Beschäftigungslage nicht in dem Maße verbessert, wie die Zahl der Arbeitskräfte zugenommen und die der landwirtschaftlichen Arbeitsplätze zurückgegangen ist. Aufforderungen zur Entwicklung von arbeitsintensiveren Technologien verfehlten ihre Wirkung sowohl bei den Regierungen, die nach modernen industriellen Investitionen streben, als auch bei den Kapitalanlegern, die bereits weitgehend auf jene Technologie, die sie mitbringen, festgelegt sind. So besteht für jene Randgruppen in der Dritten Welt, die ihre /ländliche Erwerbstätigkeit aufgaben, ohne einen gesicherten Arbeitsplatz in der Stadt gefunden zu haben, und die heute auf nahezu ein Drittel aller Erwerbsfähigen geschätzt werden, kaum Hoffnung auf Beschäftigung. In allen genannten Regionen wirken sich also die Expansion der Multis und ihre Produktionspolitik tiefgreifend aus. Diese Tendenz wird durch die Rezession noch verschärft, ist aber letzten Endes zurückzuführen auf weitreichende und langandauernde strukturelle V eränderungen.
Wie sich versteht, sind die sozialen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit, je nach der Struktur der erwerbsfähigen Bevölkerung, sehr unterschiedlich. Zur Erklärung dieser verschiedenen Wirkungen eignet sich die Theorie von den primären und den sekundären Arbeitsmärkten, die von einigen Arbeitswissenschaftlern entwickelt wurde: Viele Arbeiter sind in „geschlossenen Arbeitsmärkten" beschäftigt, in die sie. gleich zu Beginn ihres beruflichen Werdeganges hineinkamen und wo sie auch gute berufliche Aufstiegschancen ha-* ben. Es kann sich hierbei um große staatliche oder private Firmen oder auch um bestimmte Industriezweige handeln, in denen die Arbeitsbedingungen und der Status der Arbeiter von einflußreichen Gewerkschaften geregelt werden. Diese etablierten Arbeiter befinden sich auf den primären Arbeitsmärkten. Im allgemeinen sind das zugleich jene Arbeiter, die mehr Kenntnisse und größere Fertigkeiten, also eine höhere Qualifikation, aufweisen und daher auch eine bessere Bezahlung erhalten. Der sekundäre Arbeitsmarkt entspricht wesentlich mehr dem klassischen Konzept eines Marktes, auf dem der Preis für die Arbeitskraft von Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Die Arbeitsplätze der Arbeiter auf den sekundären Arbeitsmärkten sind wesentlich unsicherer, es gibt mehr Stellenwechsel und weniger berufliche Aufstiegschancen. Die Arbeiter aut diesen Märkten sind leichter entbehrlich, weniger gut ausgebildet und gewerkschaftlich kaum geschützt. Zu diesen Nachteilen kommen häufig ethnische Diskriminierung und niedriger sozialer Status hinzu.
Es ist inzwischen nur zu deutlich geworden, daß die Arbeiter der sekundären Arbeitsmärkte unverhältnismäßig stark von der Arbeitslosigkeit getroffen werden. So sind beispielsweise in den Vereinigten Staaten Schwarze und Puertorikaner weit überproportional unter den Arbeitslosen vertreten. In Westeuropa wirkt sich anhaltende Arbeitslosigkeit bei weitem nicht so nachhaltig auf die industrialisierten Zentren aus wie auf die Peripherie — auf Portugal, Spanien, Griechenland, die Türkei und Süditalien, von wo die Arbeitskräfte der sekundären Arbeitsmärkte Westeuropas herkommen. Diese Auswirkung auf den südlichen Rand Europas verstärkt nur noch dessen politische Instabilität. Die Existenz der sekundären Arbeitsmärkte hat aber auch in anderen unterentwickelten Ländern politische Folgen.
Das explosive Potential einer großen Randgruppenbevölkerung wird heute nur noch durch zwei Faktoren daran gehindert, sich geB waltsam zu manifestieren. Erstens fehlt diesen Bevölkerungsgruppen jegliches verbindende revolutionäre Bewußtsein. Vielmehr waren ursprünglich gerade sie es, die für die von den wohlhabenden Gesellschaften exportierte Kultur des Konsums besonders empfänglich waren, wie sie auch eher verzweiflungsgeborenen messianischen Illusionen zugänglich waren als revolutionären Aktionen. Die „Verdammten dieser Erde" fanden zwar ihre Propheten von Michael Bakunin bis Frantz Fanon; revolutionäre Guerillagruppen wie die Tupamaros suchten bei der Randgruppenbevölkerung Unterschlupf und Unterstützung, und auch radikale Arbeiterbewegungen wie die Anarchosyndikalisten fanden hier zeitweise Unterstützung. Aber die „marginals“ waren nie in der Lage, sich zu einer kämpferischen gesellschaftlichen Klasse mit starkem Zusammenhalt zu entwickeln, wie das im späten 19. Jahrhundert beim städtisch-industriellen Proletariat in Zentraleuropa und Amerika der Fall war. Heute allerdings scheinen sie sich in einigen Teilen der Welt dieser Schwelle zu nähern.
Der zweite bremsende Faktor ist die Wirksamkeit repressiver Techniken zur Beherrschung und Unterdrückung ganz offenkundig Unzufriedener, über die gerade die autoritären Regierungen verfügen, die als typische Förderer einer Industrialisierung durch Investitionen aus dem Ausland aufgetreten sind. Der Zusammenhang zwischen autoritären Regierungssystemen und der Förderung wirtschaftlichen Wachstums durch Investitionen ausländischer Gesellschaften entspricht allerdings mehr volkswirtschaftlicher Logik als einer bösartigen „Verschwörung" der ausländi-schen Großindustrie mit korrupten regionalen Politikern, wenngleich es in jüngster Zeit auch nicht an Beispielen und Beweisen für solche „Verschwörungen" mangeln dürfte.
Das System, wirtschaftliches Wachstum mit Hilfe von ausländischen Investitionen zu forcieren, hat die Diskrepanz zwischen den geographischen Polen „Wachstumsregionen" und „Hinterland" — zwischen den „So-Paulos“
und den „Nordost-Gebieten" — noch verstärkt. Es hat zugleich die Ungleichheiten in der Einkommensverteilung innerhalb dieser Länder weiter verschärft, was zum Teil daran liegt, daß diese Art Wachstum nur einen sehr begrenzten Arbeitsbeschaffungseffekt hat. Regierungen, die sich hauptsächlich auf das von den Multis produzierte Wachstum stützen, haben dies ganz bewußt auf Kosten der „weniger Tauglichen" getan, unter denen sich mehr und mehr die bereits erwähnten sozialen Randgruppen befinden Dies ist politisch nur dann möglich, wenn diese weniger Tauglichen weiterhin unfähig bleiben, mit Nachdruck zu protestieren, und wenn der schwache Protest, den sie zu artikulieren vermögen, wirksam unterdrückt werden kann. Repression wird hier zur politischen Voraussetzung eines Wachstums, das soziale Rand-gruppen schafft und entsprechende gesellschaftliche Probleme mit sich bringt. (Andererseits hat aber dieser Zwangszustand seine eigenen Gesetze: die militärisch-bürokratischen Regime, die sich in einen solchen Prozeß hineinbegeben, erlangen gerade durch dessen Fortschreiten auch die Fähigkeit, größere Zugeständnisse von den ausländischen Investoren, die sie zugelassen haben, zu fordern.)
III. Eine neue Klassenstruktur und die Reaktionen der Gewerkschaften
Als Folge der Internationalisierung der Produktion entsteht somit eine weltweite Klassenstruktur, die sich merklich von jener unterscheidet, die sich unter den Produktionsverhältnissen des 19. Jahrhunderts entwickelte. Die Expansion der Multis war eine der Haupttriebkräfte für die Entstehung dieser neuen Klassenstruktur. In groben Umrissen stellt sie sich folgendermaßen dar: 1. An der Spitze dieser neuen sozialen Konstellation steht eine transnationale Manager-klasse. Zu ihr gehören auch die leitenden Angestellten der Multis, die mit ihnen zusammenarbeitenden Wirtschaftsdiplomaten sowie zahlreiche Techniker aus den Bereichen Forschung, Entwicklung und Kontrollsysteme. Von dieser Spitzengruppe mit ihrer transnationalen Mobilität wird vermutlich auch jene Art von globaler Zielsetzung entwickelt, die man als „geozentrisch" bezeichnen kann. Ein weiterer Personenkreis teilt viele der Ansichten dieser Managerklasse und schafft zugleich günstige Rahmenbedingungen für ihre Aktion. Es handelt sich hier um die vielen Beamten in den internationalen Organisationen, wie beispielsweise der Weltbank, dem Weltwährungsfonds oder dem UN-Entwicklungshilfeprogramm. Hinzu kommt das große Netz der Experten in diesen Institutionen. Weitere Unterstützung kommt vom Personal in den politischen Entscheidungsgremien der nationalen Regierungen. Trotz gewisser Rivalitäten, die auf Sonderinteressen zurückzuführen sind, läßt sich sagen, daß diese transnationale Klasse einigermaßen geschlossen ein liberales Weltwirtschaftssystem einzuführen bestrebt ist, in dem stabile und vorhersehbare Bedingungen eine relativ große internationale Freizügigkeit beim Einsatz der Produktionsfaktoren sichern sollen. Die Konturen eines diesen Zielen entsprechenden Programms sind bereits heute zu erkennen — man könnte es als einen „Transnationalismus" oder „Globalismus“ bezeichnen, der in den Multis den Motor für weltweiten Fortschritt sieht und nationalstaatliches Agieren im ökonomischen Bereich nur als störenden Ausdruck überholten Denkens betrachtet. 2. Unterhalb dieser „transnationalen Klasse“ steht die große Klasse der etablierten Arbeiterschaft, etabliert in dem Sinne, daß ihre Mitglieder verhältnismäßig gesicherte Arbeitsplätze haben und infolgedessen auch über einen sicheren Status in ihrer gesellschaftlichen Umgebung verfügen, in der sie als — mehr oder weniger — aktive und wohlhabende Bürger durchaus Ansehen genießen. Ihre Neigung zur Ortsveränderung ist dementsprechend gering. Sie stellen die Arbeitskräfte für die primären Arbeitsmärkte und sind die Hauptnutznießer der sozialen Institutionen, der Sozialgesetzgebung und der Konflikt-Institutionalisierung, kurz, aller Errungenschaften der Arbeitskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese Gruppe ist sich ihrer Bedeutung und Macht in der Gesellschaft durchaus bewußt. 3. Am Ende dieser Hierarchie steht eine dritte Gruppe: die der sozialen Randexistenzen. Sie ist in einigen Ländern sogar größer als die Klasse der etablierten Arbeiter. (Die Bezeichnung „Klasse" kann dieser Gruppe genaugenommen nicht zugestanden werden, da „Klasse" nicht nur ein spezifisches Verhältnis zu den Produktionsmitteln voraussetzt, sondern auch eine bestimmte Wachheit und ein bestimmtes Bewußtsein bezüglich der eigenen Lage). Diese Gruppe umfasst zwei Personenkreise: jene, die — besonders in den unterentwickelten Ländern — keinen Arbeitsplatz in der Industrie gefunden haben, und jene, die — besonders in den stärker industrialisierten Ländern — vorzugsweise den sekundären Arbeitsmärkten zuzurechnen sind. Die Randgruppen haben stets die höheren Belastungen zu tragen, sowohl in den Phasen des industriellen Wachstums wie auch in denen der Rezession.
Es kann nicht übersehen werden, daß diese Beschreibung der neuen Sozialstruktur, die im wesentlichen durch die Expansion der multinationalen Konzerne entstand, keineswegs mit dem historischen Muster einer Sozialstruktur übereinstimmt, auf das sich die organisierte Arbeiterbewegung der Vereinigten Staaten und anderer Industriestaaten stützt. Eines ist klar: Wenn sich neue Sozialstrukturen sehr schnell entwickeln, erhebt sich die ernste Frage, ob das klassische Verhältnis von Arbeiterschaft und Management, wie es die hochentwickelten Industriegesellschaften herausgebildet haben (ein Verhältnis fortschreitender Konfiiktinstitutionalisierung) ausreichende Voraussetzungen bietet, nun das soziale Konfliktpotential, das in dieser neuen Klassenstruktur enthalten ist, im Zaum zu halten.
Vor dem Hintergrund dieses Problems soll nun die Antwort der organisierten Arbeiterschaft auf die Herausforderung durch die multinationalen Konzerne erörtert werden. Seit dem Beginn der fünfziger Jahre hat die dramatische Ausweitung der Produktion in der Kraftfahrzeugindustrie die Gewerkschaften veranlaßt, darüber nachzudenken, wie sie den Multis wirksamer entgegentreten könnten Besonders der internationale Metallarbeiterverband (IMF) organisierte eine Reihe von Versammlungen mit Gewerkschaftlern aus Weltfirmen der Autoindustrie, wobei jeweils die für eine multinationale Gesellschaft in den verschiedenen Ländern zuständigen Gewerkschaftsvertreter miteinander berieten.
Eine andere Entwicklung, die beträchtliches Aufsehen erregt hat, war die von den Gewerkschaften initiierte Konsultation zwischen dem Management des Elektrokonzerns Philips und den Arbeitervertretern über Fragen der Produktion und der Arbeitsplatzsicherheit. Im Jahre 1969 kam es dann zu einer — in der Öffentlichkeit stark diskutierten — Konfrontation zwischen der französischen multinationalen Saint Gobain Company und einer Gruppe internationaler Gewerkschaften. Zwar hatte dieser Vorfall im Grunde keine größere Bedeutung als eine Reihe anderer Initiativen der Gewerkschaften in der Automobil-, Elektro-, Chemie-, Kautschuk-, öl-, Lufttransport-und pharmazeutischen Industrie, aber er brachte einen Durchbruch im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, und zwar durch einen weithin publizierten Kampf am Aktienmarkt um die Übernahme von Saint Gobain. Solche Vorfälle ließen vermuten, daß die fortschreitende weltweite Ausdehnung der Multis zu entsprechenden gewerkschaftlichen Kooperationsformen und zu transnationalen Tarifverhandlungen führen würde.
Diese Reaktionsweise der Gewerkschaften findet sich auch in der Entwicklung einer ganzen Reihe von Instrumenten wieder, die der Stärkung der Positionen der Gewerkschaften in ihrem Verhältnis zu den Unternehmen dienen sollten. Einen ersten Schritt stellte die Sammlung, Koordinierung und Analyse von Informationen über die Multis dar. Weitere Instrumente sind: die Unterstützung von Bemühungen zur Bildung von Gewerkschaften in Ländern, in denen sie schwach oder gar nicht entwickelt sind; Druck auf die Hauptverwaltungen der Firmen, damit diese die Gewerkschaften in anderen Ländern, in denen gleichfalls arbeiten, sie anerkennen und mit ihnen verhandeln; Verurteilung von Überstunden oder sonstigen Produktionsausweitungen in anderen Ländern für den Fall eines Streiks in einem Land, in dem die betreffende Gesellschaft ebenfalls tätig ist; Organisierung von Verbraucherboykotts gegen die Produkte bestimmter Unternehmen; Koordination der Eckdaten für gemeinsame Übereinkommen in den verschiedenen Ländern und schließlich Tarifverhandlungen auf der Ebene der Firmen.
Natürlich haben die Gewerkschaften bei der Bewertung dieses Musters für ein zukünftiges weltweites Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Konzernen die relativen Vorteile der Multis und ihre eigene relative Schwäche erkannt. Ihre Vorteile verdanken die Multis ihrer Größe und vor allem dem Umstand, daß sie durch ihr Operieren im Gebiet mehrerer nationaler Rechtsbereiche einige der Kon-trollund Ausgleichsmaßnahmen, die im nationalen Rahmen der Industriegesellschaften entwickelt worden sind, teilweise oder ganz umgehen können. Multis können auf dem Gebiet des Fiskalischen und der Arbeitsmarktbedingungen ihre Vorteile durch Jonglieren zwischen den nationalen Rechtsbereichen maximieren und durch konzerninterne Verrechnungspreise und andere Rechenmanöver entscheiden, wo sie ihre Gewinne erscheinen lassen. Dabei können sie diese Vorteile aktiv und aggressiv ausnutzen, denn sie verfügen über exakte, verfeinerte und zentralisierte Inlormations-und Entscheidungssysteme. Im Vergleich dazu befinden sich die Regierungen und noch mehr die Gewerkschaften eher in einer defensiven Position. Es fehlt ihnen an Informationen, auf die sie ihre Aktionen stützen könnten, und was die Gewerkschaften in den Gastländern der Multis betrifft: sie sind oft gar nicht in der Lage, an die wirklich entscheidenden Instanzen in den Multis heranzukommen. Die grundlegenden Schwächen der Gewerkschaften in der Konfrontation mit den Multis lassen sich leicht katalogisieren. Wie zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern, so gibt es auch in der Organisationsstärke der Gewerkschaften deutliche Unterschiede. In vielen Fällen ist das Vorhandensein einer Fülle von lernfähigen und billigen Arbeitskräften der Hauptantrieb für die Multis, in bestimmten Entwicklungsländern Produktionsstätten zu errichten. Dabei befürchten die Gewerkschaften, daß die Multis manipulative Techniken eines ausgeklügelten personellen Managements benutzen, um die Gewerkschaftsorganisation zu unterlaufen.
Ferner sind Unterschiede in der ideologischen Orientierung und der politischen Richtung zu die einigen Ländern den bitteren nennen, in Geschmack gegenseitigen Mißtrauens unter den Arbeiterführern hinterlassen und bis auf weiteres konzertierte Aktionen der Gewerkschaften verhindert haben. Hinzu kommt, daß sich die Distanz zwischen den Arbeitern an der Basis in den Fabriken und der Gewerkschaftsführung mit ihren Stäben vergrößert hat. Dies hat sich in den Industriestaaten während der vergangenen Jahre in wilden Streiks und spontanen Arbeitsniederlegungen gezeigt.
Diese Situation würde durch transnationale Verhandlungen, bei denen der Abstand zum Arbeiter noch größer sein würde, nur noch verschärft. Welche Garantien könnte eine multinationale Gewerkschaft dafür geben, daß sich ihre Mitglieder in den verschiedenen Ländern an eine zentral ausgehandelte Vereinbarung halten?
In Amerika ist die UAW (United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of Amerika) — eine Gewerkschaft der in der Automobil-, Flugzeug-und Landwirtschaftsmaschinenindustrie beschäftigten Arbeiter — fast die einzige treibende Kraft hinter dieser transnationalen Strategie gewesen, wobei deren Hauptverfechter sich inzwischen bereits außerhalb der UAW finden: Die UAW hatte einen gewichtigen Einfluß auf den Internationalen Metallarbeiterverband (IMF), der'von seiner Zentrale in Genf aus zu einem der aktivsten Befürworter des transnationalen Weges geworden ist. Und die Führung der anderen internationalen gewerkschaftlichen Körperschaft, die in dieser Richtung gewirkt hat, nämlich die International Federation of Chemical und General Workers, fühlt sich der UAW zumindest ideologisch eng verwandt. Die Tatsache, daß diese transnationale Strategie ihren Ursprung in Amerika hat, ist so offenkundig, daß man sich fragen muß, ob nicht die gewerkschaftlichen Bemühungen um multinationale Tarifverhandlungen lediglich eine Ausdehnung der Macht der US-Gewerkschaften auf das Ausland bedeuten, ebenso wie die Ausdehnung der Multis als Herausforderung Amerikas an schwächere Volkswirtschaften verstanden wird.
Es wäre jedoch eine unzulässige Vereinfachung, würde man diese transnationale Strategie für einen aggressiven Expansionismus amerikanischer Gewerkschaften und die „nationale Strategie" für die defensive Reaktion der Gewerkschaften im Ausland halten. In den Vereinigten Staaten unterstützte nur eine Minderheit der Gewerkschaften den Weg der UAW, also die transnationale Strategie, während die UAW andererseits gerade außerhalb der Vereinigten Staaten Bündnispartner fand.
IV. Gewerkschaften zwischen transnationaler und nationaler Strategie
Die Alternative zu der transnationalen Strategie ist das, was man die „nationale Strategie" nennen könnte. Dabei setzen die Gewerkschaften ihre politische Stärke als Druckmittel gegen die Regierungen ein, damit diese die Multis im Sinne der Arbeiter kontrollieren. Zugleich nutzen die Gewerkschaften aber auch ihre wirtschaftliche Stärke aus, um örtlich begrenzte Lohnverhandlungen mit den Multis zu führen. Ziel einer solchen Strategie ist es, daß durch staatliche Kontrollen die Vorteile der Multis, die sich aus der Möglichkeit ergeben, in mehreren Ländern zu operieren, aufgehoben werden. In Staaten, in denen das nationale Unternehmertum vor dem Aufkommen der Multis gut entwickelt war, können sich die staatlichen Kontrollmaßnahmen auch auf die Eindämmung von Vorteilen richten, die die Multis gegenüber den nationalen Unternehmen haben. Insoweit haben Arbeiter und nationale Unternehmen eine gemeinsame Basis zur Unterstützung der nationalen Strategie. Aber die „nationale Strategie" kann auch wesentlich radikaler und weitreichender sein, wenn sie nämlich Verstaatlichungen und eine sozialistische Wirtschaftsstruktur anstrebt.
Grundsätzlich bewegte sich die Politik der AFL-CIO in den Vereinigten Staaten auf der Linie einer nationalen Strategie im nichtradikalen Sinne. Um zu verstehen, warum die Gruppierungen der organisierten Arbeiterschaft in den einzelnen Ländern teils mehr der nationalen, teils mehr der transnationalen Strategie zuneigen, ist es hilfreich, sich bestimmte Merkmale gewerkschaftlicher Organisation zu vergegenwärtigen, die von Land zu Land und von Industrie zu Industrie be merkenswerte Unterschiede aufweisen.
Die transnationale Strategie wird sehr wahrscheinlich dort vertreten werden, wo Gewerkschaften auf der Ebene einzelner Fabriken stark und relativ unabhängig von zentralen Gewerkschaftsorganisationen auf nationaler Ebene sind. Mit anderen Worten: Die transnationale Strategie hat eine Aufsplitterung der nationalen Gewerkschaftsorganisation zur Voraussetzung. Nur dann können die für einen multinationalen Konzern oder einen von Multis beherrschten Industriezweig zuständigen gewerkschaftlichen Gruppierungen trans-national integriert werden. Das ist um so leichter möglich, wenn die Beschäftigungastruktur in einem Produktionszweig durch eine relativ kleine Zahl relativ hoch qualifizierter Arbeiter in stark technisierten Arbeitsvorgängen gekennzeichnet ist. Solche Gruppen von Arbeitern erkennen leicht den Vorteil, der ihnen aus ihrer strategischen Position in der Industrie zukommt. Selbst dort, wo es zentralisierte Gewerkschaften gibt, dürften solche herausgehobenen Gruppen dazu neigen, ihren eigenen Weg zu gehen und ihre Chancen ohne Rücksicht auf andere zu nutzen. Die mehr auf einzelne Fabriken und Unternehmen ausgerichtete Organisation der Gewerkschaften in Nordamerika und England kommt einer transnationalen Strategie wesentlich mehr entgegen als die zentralisierte Gewerkschaftsstruktur in Kontinental-Europa.
Ein weiterer Faktor bei der Wahl zwischen transnationaler und nationaler Strategie sind die Zielvorstellungen. Die Tatsache, daß nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Arbeitskräfte in Nordamerika gewerkschaftlich organisiert ist, gibt einer Auffassung Auftrieb, nach der Gewerkschaften als Instrumente innerhalb eines akzeptierten wirtschaftlichen Systems angesehen werden, um die partikularen Interessen ihrer Mitglieder zu schützen und zu erweitern. Diese speziell instrumentale Sicht ist mit transnationalen Strategien durchaus vereinbar. Bei wesentlich umfassenderer Gewerkschaftszugehörigkeit, wie sie in Skandinavien-und zu einem etwas geringeren Grad auch in anderen europäischen Ländern zu finden ist, tendiert man mehr zu der programmatischen Vorstellung, in den Gewerkschaften die Vorkämpfer einer für mehr Solidarität gerade mit den am schlechtesten gestellten Teilen der Arbeiterschaft zu sehen.
Solche Solidaritätsvorstellungen aber widersprechen der für eine transnationale Annäherung notwendigen Aufsplitterung. In Skandinavien üben die zentralen Gewerkschaften eine scharfe Kontrolle über ihre Mitglieder aus. Die dort herrschende Disziplin würde unabhängige, transnational koordinierte Verhandlungen mit Multis verhindern, die von nationalen Richtlinien abweichende Ergebnisse haben könnten. Aus ähnlichen Erwägungen hat auch die starke deutsche Metallarbei-tergewerkschaft IG-Metall sich geweigert, die Initiativen der amerikanischen UAW zu unterstützen, die darauf zielten, die IMF (= International Metalworkers Federation) in Genf als Plattform zur Verwirklichung einer trans-nationalen Strategie zu benützen.
Die Wahl zwischen transnationalen oder nationalen Strategien wird ferner durch das Ausmaß des gewerkschaftlichen Einflusses auf das allgemeine wirtschaftliche Umfeld der Arbeiter bestimmt. Die fundamentale Gegnerschaft der AFL-CIO gegen die Multis hat ihre Ursache darin, daß diese Arbeitsplätze aus den Vereinigten Staaten exportieren. Solche Kritik wird von den skandinavischen Arbeiter-organisationen nicht geäußert. Diese unterschiedliche Haltung erklärt sich aus dem Umfang des Einflusses, den die skandinavischen Gewerkschaften auf den Arbeitsmarkt haben. In den skandinavischen Ländern ist nämlich eine wirkungsvolle Anpassungshilfe für entlassene Arbeiter in Form einer aktiven Arbeitsmarktpolitik entwickelt worden, die von den Gewerkschaften weitgehend mitgeformt wurde. Das ermöglicht es der Arbeiterbewegung, der Modernisierung den Vorrang vor dem Schutz spezifischer Arbeitsplätze zu geben. Mit einem gewissen Wohlwollen haben die skandinavischen Gewerkschaften sogar'den Export von Arbeitsplätzen mit geringerer Produktivität in die ärmeren Länder verfolgt. Im Gegensatz dazu fehlt den amerikanischen Gewerkschaften ein hinreichendes Maß an Vertrauen auf die Vorschriften zur Anpassungshilfe, die sich in der amerikanischen Arbeitsgesetzgebung finden. Sie kümmern sich daher wesentlich mehr um die Erhaltung der bestehenden Arbeitsplätze, als daß sie sich auf das Prinzip der Fortbildung und Wieder-beschäftigung entlassener Arbeiter verließen.
Es muß hier angemerkt werden, daß, so unterschiedlich die Lage in dieser Hinsicht in Skandinavien und in den USA auch sein mag, sich in beiden Fällen die Wahl der nationalen Strategie anbietet, allerdings das eine Mal aus dem Geist des Vertrauens heraus, das andere Mal aus dem des Pessimismus. Der transnationalen Strategie wird man dagegen dort folgen, wo die Gewerkschaften weder einer nationalen Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik besonders verpflichtet sind noch sich durch Abzug von Arbeitsplätzen in andere Länder bedroht fühlen. Da aber die Verlagerung von Arbeitsplätzen unter veränderten ökonomischen Verhältnissen leicht zu einer Gefahr werden kann, dürfte grundsätzlich die Neigung zu einer transnationalen Strategie als eine Übergangserscheinung zu werten sein. In der jüngsten Geschichte lieferten die UAW den Testfall einer Gewerkschaft, die ursprünglich transnationale Aktionen favorisierte und hier führend war, die aber infolge massiver Arbeitsniederlegungen in der Automobilindustrie zu einer mehr defensiven und protektionistischen nationalen Strategie gezwungen wurde.
Wägt man alle diese Faktoren ab, so ergibt sich die Schlußfolgerung, daß derzeit die auf eine nationale Strategie gerichteten Momente in den Bewegungen der Arbeiterschaft überall auf der Welt vorherrschen und daß eine Entwicklung zu verstärkten transnationalen Gewerkschaftsverhandlungen mit Multis unwahrscheinlich ist — im Gegensatz zu einigen neuerdings angestellten Spekulationen. Die Anstöße zur transnationalen Strategie, die aus den Vereinigten Staaten kamen, wurden durch die Rezession zusätzlich gebremst, während die Kräfte hinter den nationalen Strategien in den Vereinigten Staaten und auch anderswo stärker geworden sind.
Diese Schlußfolgerung stimmt mit Untersuchungsergebnissen überein, nach denen zu vermuten ist, daß die relativ unkontrollierte Expansion der Multis an der Schwelle der siebziger Jahre ihren Höhepunkt erreicht hat und daß die Zukunft wahrscheinlich zunehmend nationale Kontrollen über die Multis bringen wird, sowohl durch die Gast-als auch durch die Ursprungsländer Das Konzept einer transnationalen Gegenkraft der Gewerkschaften entstand zu einer Zeit, als es schien, daß die Staaten ein gut Teil ihrer Kontroll-funktionen hatten aus der Hand gleiten lassen. Nachdem sich aber die Position der Staaten — in Ursprungs-wie in Gastländern der Multis — offensichtlich wieder gefestigt hat, werden die Gewerkschaften vermutlich ihre ökonomische wie ihre politische Macht auf die Beeinflussung staatlicher Maßnahmen konzentrieren.
Wo immer die transnationale Strategie beibehalten wird, geschieht dies wahrscheinlich durch elitäre Arbeitergruppen, die Vorteile aus ihrer engen Verzahnung mit den Multis ziehen. Soweit sie hierbei'Erfolg haben, sind die Wohlfahrtschancen für die Arbeiterschaft insgesamt rückläufig. Der Abstand zwischen denen, die innerhalb, und denen die außerhalb einer solchen Symbiose leben, würde sich vergrößern, so daß die transnationale Strategie eine Gegenbewegung bei denen, die draußen sind, provozieren könnte. Dem Transnationalismus einer neuen Arbeiteraristokratie stünde der Hang zur nationalen Strategie bei der weniger begünstigten Mehrheit der Arbeiter gegenüber.
V. Möglichkeiten für eine Kontrolle der Multis
Geht also die Hauptstoßrichtung der organisierten Arbeiterschaft dahin, wirksamere staatliche Kontrollen der Multis mit dem Ziel durchzusetzen, daß die Interessen der Arbeiterschaft geschützt und gefördert werden, dann stellen sich sofort die folgenden Fragen: Welche Möglichkeiten für derartige Kontrollen bieten sich? Und welche Kontrollart wird von der Arbeiterschaft aller Wahrscheinlichkeit nach unterstützt werden?
Zur Zeit gibt es kein internationales System von Regeln oder Vorschriften für die Multis im allgemeinen und schon gar nicht hinsichtlich der Folgen ihrer Tätigkeit für die Arbeiterschaft. Zwar sind Internationale Arbeitsrichtiinien von der ILO (International Labour Organisation) verabschiedet worden, die wegen ihres allgemeinen Charakters sowohl auf die Multis wie auf andere Arbeitgeber anwendbar sind. Die ILO-Standards haben aber lediglich die Qualität von Modellvorstellungen, die als Orientierungshilfen für die nationale Gesetzgebung oder die nationale Praxis dienen können. Sie konstituieren damit also keineswegs eine internationale Rechtsprechung, die von einer internationalen Behörde wahrgenommen würde und vor der sich die Multis zu verantworten hätten.
Da die Multis außerhalb der Rechtsprechung einzelner Staaten operieren, ist die Frage einer internationalen Kontrollinstanz aufgeworfen worden. Ein Vorschlag sieht eine supranationale Körperschaft vor, die alle Multis registrieren und ihnen den Charakter einer in-ternationalen juristischen Person verleihen sollte — „Cosmocorps" in der Terminologie von George Ball. Sie sollte allgemein akzeptierte Regeln für den Wettbewerb durchsetzen und dafür sorgen, daß es nicht zu entschädigungslosen Enteignungen kommt. Dieses Konzept läuft letztlich auf einen Schutz der Multis vor den Nationalstaaten heraus und soll ein Gegengewicht gegen die Einführung von Regelungen darstellen, die zwischen den betroffenen Staaten vereinbart werden. Man braucht diesen Plan indessen nur am Rande zu vermerken, denn er liegt jenseits der Grenzen politischer Durchführbarkeit. Legt man die heutigen Machtverhältnisse bei internationalen Organisationen zugrunde, so muß dieser Vorschlag bestenfalls als utopisch, schlimmstenfalls aber als Bauernfängerei bezeichnet werden, bei der sich die Multis nachhaltig jener einzigen Instanz, durch die sie noch überwacht werden können, entziehen würden: der nationalen Rechtsprechung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Durchsetzung des Rechts. Dieser Vorschlag würde bedeuten, daß die Multis, dem Zugriff des nationalen Rechts entzogen, hinter einer Fassade von unwirksamen Regelungen noch größere Freiheiten gewinnen würden. Interessant ist dieser Plan für eine internationale Regelung lediglich als Manifestation der Ideologie des Transnationalismus.
Etwas realistischer sind möglicherweise die Vorschläge für ein „Allgemeines Abkommen über ausländische Investitionen", analog zum Allgemeinen Zoll-und Handelsabkommen (GATT) auf dem Gebiet der Handelspolitik. Hierbei blieben Rechtsprechung und ausführende Organe in der Hand der einzelnen Staaten, die sich allerdings auf einige gemeinsame Aktionsprinzipien einigen müßten, z. B. auf dem Gebiet der Besteuerung, der Wettbewerbsregelung, der Wechselkurse, der Exportkontrollen, der Enteignungsbedingungen usw. Dieses Allgemeine Abkommen könnte durch den Aufbau einer Behörde ergänzt werden, die in der Lage sein müßte, Untersuchungen über angrenzende Probleme zu initiieren und Empfehlungen zu geben, die eine Grundlage für die Erweiterung des Umfangs und des Geltungsbereichs des Abkommens bilden könnten. Solch eine Allgemeine Vereinbarung, könnte als ein auf die Multis anwendbarer Verhaltenskodex umschrieben werden.
Die Verfechter eines Verfahrens vom Typ der GATT-Vereinbarung haben den Anliegen der Arbeiterschaft nur wenig Beachtung geschenkt, obwohl einige Arbeiterorganisationen, wie zum Beispiel der Internationale Bund Freier Gewerkschaften, einen Verhaltenskodex für die Multis auch im Bereich „Arbeit"
gefordert haben. Immerhin hat die ILO, wenngleich noch in sehr vorläufiger Form, begonnen, die Idee eines solchen Verhaltenskodex zu diskutieren Eine naheliegende Lösung wäre es, die wichtigeren ILO-Normen in ein Allgemeines Abkommen über ausländische Investitionen einzubeziehen, wie etwa die Richtlinien über die Rechte der Gewerkschaften, über Tarifverhandlungen, über bestimmte grundlegende Arbeitsbedingungen und über Sicherheitsvorkehrungen. (Gegen eine solche Idee spricht, daß in einigen Staaten diese Normen dann zwar für die Multis, nicht aber für nationale Unternehmen gelten würden.) Auch dieser Lösungsversuch beruht, ebenso wie der erstgenannte, auf einer wohlwollenden Sicht der potentiellen Rolle der Multis in der Weltwirtschaft. Wahrscheinlich würde man solche Vereinbarungen nie im weltweiten Rahmen treffen können, sondern nur zwischen jenen Regierungen, die positiv zu den Multis eingestellt sind. Anklang finden würde eine solche Regelung hauptsächlich bei jenen Teilen der Arbeiterbewegung, die sich für eine transnationale Strategie einsetzen. Auch die Vertreter eines „Allgemeinen Abkommens" beabsichtigen letztlich nur, bestimmte Garantien für Investitionen im Ausland und damit ein besser überschaubares Umfeld für die Tätigkeit der Multis zu schaffen. Der Vorschlag für ein Allgemeines Abkommen entspricht dagegen kaum den Wünschen jener Regierungen und Gewerkschaften, die in den Multis eine Bedrohung ihrer Verfügungsgewalt über jene Instrumente sehen, die für die Durchführung einer Wohlfahrtspolitik nötig sind. Solche Regierungen wären sicherlich auch nicht bereit, internationale Verpflichtungen einzugehen, die ihre Kontrollmöglichkeiten über ausländische Kapitalanleger und die Arbeitsplätze, die diese schaffen oder abziehen können,. einschränken würden. Bezeichnend ist, daß die kanadische Regierung, die zunächst die Vorstellung eines Allgemeinen Abkommens unterstützte, nun davon abgegangen ist.
Ein weiterer Einwand gegen den Plan eines Allgemeinen Abkommens liegt darin, daß es ausschließlich für Arbeiter, die direkt bei den Multis beschäftigt sind, gelten würde. Es würde die negativen Auswirkungen der Internationalisierung der Produktion auf die Menschen außerhalb des Sektors der Multis überhaupt nicht berücksichtigen.
Ein deutlicher Fortschritt in der Arbeitermitbestimmung, wie sie mit wachsendem Nachdruck von der europäischen Linken vertreten wird, könnte das derzeitige Gleichgewicht zwischen transnationalen und nationalen Strategien verändern, und zwar so oder so — je nach dem tatsächlichen Gehalt der Mitbestimmung. Für viele ist diese zu einem neuen revolutionären Mythos geworden, der die Veränderung in der Machtstruktur in der Gesellschaft ankündigt. Die historische Wirklichkeit der Beteiligung von Arbeitern am Management sieht allerdings alles andere als revolutionär aus: Nach der Einführung der Mitbestimmung sind die Arbeitereliten in die „soziale Partnerschaft" hineingewählt worden. Die Repräsentanz der Gewerkschaften in den Aufsichtsräten der Multis, die von einigen Vertretern der transnationalen Strategie befürwortet wurde, könnte sich sehr wohl als Schritt zu einer „korporativen" Verflechtung von Arbeiterschaft und Management erweisen — als einen Schritt also, der zu einer zunehmenden Vernachlässigung der sozialen Interessen der Gesamtarbeiterschaft führen würde.
Der Plan eines Informations-und Berichtssystems zur Kontrolle der Multis scheint weitgehend akzeptiert zu werden. Auch die Vereinten Nationen haben sich mit ihrer Autorität für diesen Plan eingesetzt, der den nationalen Regierungen die Hauptverantwortung für die Kontrolle der Multis beläßt, aber jenes Informationsdefizit ausgleicht, das ihre Kontrollversuche bisher oft scheitern ließ. Auch die Gewerkschaften würden einen solchen Plan unterstützen, da ihnen mehr noch als den Regierungen bewußt ist, wie sehr der Informationsmangel sie gegenüber den Multis benachteiligt.
Das Kontrollverfahren, das die größten Realisierungschancen hat, dürfte durch Verhandlungen zwischen den Regierungen zustande kommen. Dabei wird es um die Vereinbarung von Kontrollrichtlinien und ihre Anwendung sowohl durch die Ursprungs-wie die Gastlän-der der Multis gehen. Wegen der unterschiedlichen Einstellungen und Interessenlagen der einzelnen Staaten kann es sich hier nur um einen sehr komplexen Prozeß handeln,. Aus der Rückschau läßt sich sagen, daß hinsichtlich ausländischer Investitionen einige Länder — wie beispielsweise Japan — eine sehr restriktive Eialtung einnahmen, während andere Staaten — wie Kanada und einige unterentwickelte Länder — fremden Investitionen kaum Hindernisse in den Weg legten. In letzter Zeit haben sich hier allerdings die Unterschiede weitgehend verwischt. Japan — und selbst die Sowjetunion — lassen die Aktivitäten von Multis bereitwillig zu, wenn auch zu ihren eigenen Bedingungen. Andererseits stellen Kanada und eine Reihe von unterentwikkelten Ländern zunehmend die Forderung, daß ausländische Kapitalanleger besondere Vorteile mit einbringen müssen, wie beispielsweise Arbeitsplätze für die einheimische Bevölkerung, neue Technologien oder eine Steigerung des Exports. Außerdem verlangen sie, daß sich die Kapitalanleger der nationalen Industrie-und Wirtschaftspolitik anpassen. Die Ursprungsländer stehen ebenfalls unter dem Druck, die Multis zu überwachen, und zwar aus den verschiedensten Gründen, zum Beispiel um dem Export von Arbeitsplätzen vorzubeugen, die Kapitalabwanderung einzudämmen, um eigene technologische Vorteile auf Spezialgebieten gegen das Ausland abzuschirmen oder um zu verhindern, daß es zur Verlagerung von Export-quellen kommt. Die beschränkenden Bedingungen, die einerseits die Ursprungs-, anderseits die Gastländer den Multis aufzuerlegen versuchen, geraten dabei häufig miteinander in Konflikt So wird es notwendig werden, daß diese Länder immer intensiver miteinander darüber verhandeln, was bestimmte Multis tun dürfen und unter welchen Bedingun-gen sie es dürfen. Die Probleme, die hier auf dem Spiele stehen, lassen sich nicht verallgemeinernd in Normen oder Prinzipien fassen, es sind Fragen eines „mehr" oder „weniger". Der sich hieraus ergebende Komplex von Regelungen wird umfangreicher, detaillierter und wahrscheinlich auch effektiver als jeder allgemeine Verhaltenskodex sein. Auch wird er weniger günstig für die Multis ausfallen.
Aus der Sicht der Arbeiterschaft geht es um zwei Hauptpunkte: Da sie von allen diesen Vorhaben wegen ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsplätze außerordentlich stark betroffen ist, sollte die Repräsentanz der Arbeiterschaft als Pressure Group bei dem Versuch führend sein, die Ergebnisse nationaler Regelungen über die Investitionen aus dem Ausland und auch schon die Verhandlungen über solche Regelungen zu beeinflussen. Der zweite Punkt ist, daß gewerkschaftliche Aktionen im Rahmen nationaler Strategien erfolgen sollten. Konflikte dürften allerdings auch hier unvermeidlich sein. Zum Beispiel haben die kanadischen Arbeiter ein verständliches Interesse an der Unterstützung des Aufbaus einer Reifenfabrik, die in Kanada neue Arbeitsplätze schafft, einer Fabrik, die den nordamerikanischen Markt vorsorgen soll. Daher unterstützen sie auch die Vergünstigungen, die die Regierung ausländischen Investoren verspricht, wenn diese die Errichtung einer Fabrik in einem Gebiet Kanadas planen, in dem die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Die in den USA organisierten Arbeiter der Gummiindustrie hingegen sehen in dem kanadischen Vorgehen eine potentielle Gefährdung ihrer Arbeitsplätze und richten eine Petition an ihre Regierung, daß der Import von Reifen aus Kanada restriktiv gehandhabt werden soll. Solche Fälle werden sich immer häufiger ereignen.
VT. Solidarität mit den Randgruppen oder Privilegienschutz?
Die Frage bleibt: Selbst wenn die organisierte Arbeiterschaft unter Anwendung nationaler Strategien in der Lage ist, Druck auf die einzelnen Regierungen auszuüben, damit die nationalen und internationalen Kontrollen der multinationalen Gesellschaften verbessert werden — wird man auf diese Weise mit dem in der entstehenden neuen Klassenstruktur immanenten sozialen Konfliktpotential fertig werden?
Aus den bisherigen Feststellungen geht klar hervor, daß die organisierte Arbeiterschaft unfähig war und offensichtlich auch nicht fähig sein wird, im ganzen Ausmaß den sozialen Problemen, die durch die Veränderungen in der Weltwirtschaft entstanden sind und durch die Expansion der Multis noch vergrößert wurden, gerecht zu werden. Auf den ersten Blick scheint die transnationale Strategie — vielleicht die erstaunlichste Form einer Antwort der Arbeiterschaft — der Lage am meisten angemessen zu sein. Aber sie bezieht sich, wie erörtert, nur auf die bei den Multis beschäftigten Arbeiter. Diese gewerkschaftli38 Position einer Minderheit unter den Arbeitern Inoch weiter verbessern.
Die nationale Strategie kann breitere soziale Auswirkungen haben, aber die Gefahr liegt auch hier darin, daß dort, wo die organisierte Arbeiterschaft sich hauptsächlich mit den Interessen der Arbeiter des primären Arbeitsmarktes beschäftigt, die sozialen Randgruppen in Vergessenheit geraten. Aber gerade die Forderungen dieser Gruppen stehen — beurteilt nach den Kriterien sozialer Gerechtigkeit — an erster Stelle. Derzeit gibt es keine Anzeichen für eine Antwort der Arbeiterschaft an die Multis, die den Bedürfnissen der sozialen Randgruppen gerecht würde. Und da-
bei vergrößern die ökonomischen Trends diese Gruppen weiterhin und machen sie immer verwundbarer.
Das Ausmaß, in dem soziale Gerechtigkeit ein wirksames Leitprinzip für die Politik ist, hängt sehr stark von den politischen Strukturen ab, und umgekehrt haben die Trends, die hier untersucht wurden, deutliche Auswirkungen auf die politischen Strukturen. Eine bestimmte Art von erfolgreicher nationaler Strategie, betrieben durch starke Gewerk-Schaftsorganisationen in den Industriestaaten, könnte zu einer Art „korporativem Zustand" führen, in dem die Gewerkschaften zusammen mit der Geschäftswelt einen ständigen Einfluß auf die Interventionen der Regierung im binnenwirtschaftlichen Bereich und in der Außenhandelspolitik ausüben. Das würde den organisierten Interessengruppen Schutz und Sicherheit geben, die sozialen Randgruppen blieben dagegen dem Gutdünken und der Großzügigkeit staatlicher Wohlfahrt überlassen. In den unterentwickelten Ländern hat die sich verschärfende Randgruppenproblematik oft zu unverblümt repressiven, autoritären Regierungssystemen geführt.
Solche politischen Strukturen sind jedoch keine Lösung für die anstehenden Probleme. Die Aussage ist erlaubt, daß wir uns von einer Phase, in der der zunehmende wirtschaftliche Reichtum die sozialen Spannungen mildern konnte, hinbewegen zu einer Periode, in der politische Machtmittel benutzt werden, um die schwächer werdenden wirtschaftlichen Möglichkeiten zu kompensieren. Rückblickend scheint wirtschaftliches Wachstum der wesentliche Faktor dafür gewesen zu sein, daß der industrielle Konflikt institutionalisiert werden und an Intensität verlieren konnte. Das neue Konzept eines Niedrig-wachstums rechnet mit der Fortexistenz der sozialen Auseinandersetzungen ebenso wie mit einer andauernden Konfrontation der Staaten, die Helmut Schmidt treffend als den „Kampf um das Weltbruttosozialprodukt" bezeichnet hat — Die Form dieses Kampfes ist politisch, sein Objekt ist ökonomisch.
Macht und Verhandlungsstärke haben heute deutlich das klassische Modell vom Markt als dem Bestimmungsort der Verteilung ersetzt.
Die Probleme, um die es geht, sind solche der Neuverteilung sowohl unter den gesellschaftlichen Klassen wie unter den Nationen, und das keineswegs mehr nur im Sinne der Aufteilung des Mehrwertes. Die Aufgaben, die sich damit stellen, werden immer schwerer lösbar, immer konfliktgeladener, und sie belasten immer stärker — vielleicht zu stark — die nationalen und internationalen Institutionen. In dieser Lage wachsender Konflikte und institutioneller Belastungen ist die etablierte Arbeiterschaft und sind die Gewerkschaftsführer in einer Position, in der sie die zukünftige Richtung der Entwicklung entscheidend beeinflussen können. Sie können sich stillschweigend einer Bewegung fügen, die zu . „korporativen Zuständen" und zu repressivautoritären Regimen führt, sie können sich aber auch gegen diese Tendenzen zur Wehr setzen. Eigeninteresse könnte Anlaß zur Anpassung sein; es wäre illusionär, das Gegenteil zu behaupten. Aber viele etablierte Arbeiter und zumindest einige Gewerkschaftsführer orientieren sich nach wie vor an dem historischen und moralischen Appell zur Solidarität der Arbeiter, zu einer Solidarität, in der die organisierten, mächtigeren Teile der Arbeiterschaft ihre Verantwortung zur Verteidigung auch der Schwächeren demonstrieren.
Damit aber ist die etablierte Arbeiterschaft mit einer schwerwiegenden ethischen Option konfrontiert: Verflechtung oder Solidarität, also entweder „korporativer Status” mit repressiven Begleiterscheinungen oder Streben nach einer breiten und egalitären Wohlfahrt auf Kosten einiger bevorzugter Gruppen und der materiellen Ziele, die diese haben mögen. Und wenn die Arbeiterschaft solche Solidarität praktiziert, dann müssen die multinationalen Konzerne weder als Helden noch als Schurken dastehen: sie wären vielmehr als objektive Kraft in der Entwicklung der Sozialgeschichte anzusehen, als Urheber einer neuen Klassenstruktur und als Förderer des Bewußtseins der Arbeiterschaft, daß sie zu Entscheidungen über die zukünftige Ordnung der Klassen herausgefordert ist.