Bei den beiden ersten Beiträgen dieser Ausgabe handelt es sich um überarbeitete Fassungen der am 7. Februar 1976 in der Evangelischen Akademie in Tutzing gehaltenen Vorträge zum Thema „Brasilien auf dem Weg zur Großmacht?".
Als vor gut zwei Jahren Ernesto Geisel der vierte Militärpräsident Brasiliens nach dem Putsch von 1964 wurde, waren innerhalb und außerhalb Brasiliens die Hoffnungen groß, daß er das verhärtete Militärregime einer Liberalisierung entgegenführen würde. Inzwischen ist deutlich geworden, daß diese Hoffnungen enttäuscht worden sind. Um so wichtiger ist es, nach Gründen zu suchen, die die komplexe politische Entwicklung Brasiliens nach 1964 erklären. Dabei gilt es, sich von jenen Vorurteilen freizumachen, die alle Militärregierungen von vornherein als negativ klassifizieren. Nachdem in Lateinamerika militärische Regierungsund Herrschaftsformen keine Ausnahme mehr, sondern zur Regel geworden sind, ist die Frage zu stellen, inwieweit die Militärs — zumeist in Zusammenarbeit mit zivilen Technokraten — in der Lage sind, den Entwicklungsanspruch dieser Länder besser als die politischen Parteien zu erfüllen. Bei der Analyse politischer Systeme in Lateinamerika sind europäische bzw. „westliche" Interpretationsschemata, Gesellschafts-und Staatsvorstellungen nur partiell hilfreich. Es soll im folgenden auch nicht darum gehen, die innenpolitische Entwicklung Brasiliens chronologisch nachzuverfolgen. Vielmehr soll versucht werden, besonders typische Merkmale des brasilianischen Militärregimes herauszuarbeiten und seine Stabilität bzw. Instabilität zu analysieren. Dabei werden die Grundlagen der „Revolution" von 1964 aufgezeigt, die Rolle des Militärs als Garant für „Sicherheit und Entwicklung" beschrieben, das politische System des brasilianischen „Modells" vorgestellt, die Außenpolitik einer „Großmacht" dargelegt und die Paralyse der Politik in Brasilien definiert.
I. Die „Revolution" von 1964
Es ist müßig, danach zu fragen, ob die „Revolution" von 1964 wirklich eine gewesen sei oder nicht. Nach allgemeinem Konsens spricht man bisher lediglich von drei Revolutionen in Lateinamerika: der mexikanischen von 1910, der bolivianischen von 1952 und der kubanischen von 1959. Als Gradmesser für diese Beurteilung gilt die grundsätzliche, strukturelle Veränderung der jeweiligen Gesellschaft. Sowohl in Brasilien 1964 als auch in Argentinien 1966 und in Peru 1968 haben die Militärs bei ihrer Machtübernahme darauf bestanden, daß es sich um eine Revolution handele. Mit diesem Begriff erhoben die Militärs den Anspruch, die Gesellschaften ihres Landes grundsätzlich und strukturell verändern zu wollen. Wenn hier für die brasilianische „Revolution" von 1964 dieser Ausdruck also bewußt gebraucht wird, dann nur, um damit das Selbstverständnis ihrer Protagonisten - nämlich der Militärs - zu verdeutlichen. Dieses Selbstverständnis läßt sich zum Teil bereits in der berühmten Flaggeninschrift „ordem e progresso" (Ordnung und Fortschritt) zusammenfassen. Die Militärs haben nach 1964 diesen Begriff modernisiert durch ihren Wahlspruch „segurana e desenvolvimento" (Sicherheit und Entwicklung). Die alte brasilianische Vorstellung von Ordnung und Fortschritt wird damit nach der Machtübernahme der Militärs eingeengt auf Sicherheit und Entwicklung. Zwischen diesen Polen ruht das ganze brasilianische innenpolitische System. Fortschrittsglaube und Entwicklungsfaszination haben die brasilianische Ober-und Mittelklasse seit 1964 in besonderem Maße geprägt und ihre Vorstellung vom unaufhaltsamen Aufstieg zur Großmacht beflügelt. Mit Ordnung und Sicherheit ist allein die innenpolitische Sicherheit gemeint. Das liegt nicht zuletzt daran, daß es einen äußeren Feind für Brasilien praktisch nicht gibt, und auch seit seiner Staatsgründung nie gegeben hat. Eine Gefahr für den Bestand der Nation kann für die brasilianischen Militärs nur von innen kommen. Ordnung und Sicherheit sind für sie nicht nur Begriffe, sondern fast Zwangsvorstellungen. Sie sind überzeugt davon, daß es unchristliche, nicht-abendländische, kommunistische Mächte gibt, die Brasilien von innen heraus bedrohen und aushöhlen wollen. In das gesamte politische System Brasiliens ha-ben die Militärs Kontroll-und Abwehrmechanismen gegen jene politischen Kräfte eingebaut, die ihrer Meinung nach für Ordnung und Sicherheit ein Risiko darstellen. Auf diese Weise wollen die Militärs das Chaos vom eigenen Land abwenden. Das Chaos, das sind die anderen — also all jene, die kritisieren und die andere Vorstellungen von der Ordnung oder vom Zusammenspiel der Gesellschaft haben als sie selbst. In diesen inneren Sicherheitsbegriff wird jede Art von Kritik mit eingeschlossen: Wer also kritisiert, ist für die brasilianischen Militärs automatisch ein Sicherheitsrisiko.
Bis 1964 hatte sich das brasilianische Militär insofern als Nachfolger des brasilianischen Kaisers verstanden, als es — über den politischen Kräften des Landes stehend — die Funktion einer moderierenden Macht hatte. Es hat immer dann eingegriffen, wenn die Regierung versagte bzw. die Verfassung verletzte. Die Richtschnur für Versagen und Erfolg, für übertreten und Einhalten der Verfassung wurde dabei vom Selbstverständnis der Militärs bestimmt.
Nach einer langen Tradition direkter und indirekter militärischer Interventionen in der Politik war 1964 für die brasilianischen Militärs der Zeitpunkt gekommen, nicht mehr das bestehende System zu moderieren, sondern es als Ganzes zu übernehmen. Nach ihrer eigenen Aussage wollten sie damit die Parteien-unfähigkeit und die Korruption der Politiker beenden, dem Wirtschaftschaos und der Inflation Einhalt gebieten und der „linken" Politik des Präsidenten Joäo Goulart (1961 — 1964) einen Riegel vorschieben. Innerhalb des Modernisierungsprozesses eines lateinamerikanischen Landes bilden diese Rechtfertigungsgründe den typischen Wendepunkt, an dem die Militärs in sich selbst die einzige Kraft sehen, die den Fortbestand der Nation erhalten kann. Die Angst der Militärs vor dem Chaos, vor dem Zerfall, vor der Gefährdung der militärischen Hierarchie ist in Brasilien aufgrund der geographischen und strukturellen Heterogenität des Landes besonders ausgeprägt. Gerade während der Jahre 1945 bis 1964, als die einzelnen Bundesstaaten der föderativen Republik Brasilien über eine starke Autonomie verfügten, ließen sich Ansätze für einen solchen Zerfall erkennen. Dies zeigte sich auch in einer Reihe politisch motivierter Meutereien verschiedener Militärverbände.
Aus dieser historischen Erfahrung haben die Militärs den Staat nach 1964 außerordentlich zentralisiert und von dem Föderalismus nur noch die Fassade erhalten.
Unter dem Motto, an der kranken Nation eine schmerzhafte Operation vornehmen zu müssen, um sie am Leben erhalten zu können, begann die brasilianische „Revolution" 1964 ihr Werk. Mit der Politik als Befehl, der Regierung per Dekret, der Zentralisierung der Autorität kam auch die Entpolitisierung als Programm. In allen offiziellen Publikationen des brasilianischen Regimes — und dazu muß man wohl auch die Schulbücher zählen — wird Politik als etwas Niederes, etwas Unnationales, etwas Fragwürdiges dargestellt, dem der entpolitisierte Bürger, der sich nur um seine Arbeit und Familie kümmert, als der wahrhaft gute Bürger gegenübergestellt wird. Diese Vorstellung ist eine notwendige ‘‘o. uussetzung zum Verständnis des brasilianischen Systems, denn nach Aussagen der Militärs ist das brasilianische Volk für Freiheit und Demokratie nicht reif. Es müsse daher -— und hier werden die Parallelen zu anderen Militärregimen Lateinamerikas sehr deutlich — durch eine Periode der Umerziehung gehen, um später wieder in eine neue Demokratie entlassen werden zu können. Wie diese Demokratie aussehen soll, darüber sind sich freilich die Militärs selbst keineswegs einig. Die zwölf Jahre Militärherrschaft in Brasilien haben offenbart, daß der von den Militärs als so verwerflich bezeichnete Parteienhader nun innerhalb ihrer eigenen Institution sichtbar geworden ist. Diese Auseinandersetzungen sind zwar nicht ganz so deutlich wie in demokratischen Systemen Lateinamerikas, aber keineswegs weniger entscheidend in bezug auf ihre politischen Ergebnisse. Daraus läßt sich oft unschwer ablesen, welche „Partei" innerhalb der Militärs sich durchzusetzen vermochte. über die verschiedenen Richtungen innerhalb des brasilianischen Militärs gibt es eine Vielzahl von Thesen, die hier kurz zusammengefaßt werden sollen. Demnach haben sich bereits zwischen 1960 und 1964 politische Spaltungen quer durch die Reihen der Offiziere vollzogen. Diese wurden anläßlich des Putsches zunächst relativ leicht überwunden, weil vor einem Putsch der Konsensus der meisten Offiziere angesichts des zivilen Gegners am leichtesten herzustellen ist und die unterschiedlichen politischen Überlegungen der einzelnen Gruppen in den Hintergrund treten. 1964 war die gemeinsame Basis für alle militärischen Gruppierungen die Bewahrung des Landes vor dem Kommunismus — der kommunistische Aufstand von 1932 war vielen Militärs noch allzu deutlich in Erinnerung — und dem wirtschaftlichen Chaos. Ziemlich bald nach dem Putsch wurden drei sehr unterschiedliche Gruppierungen innerhalb der Militärs erkennbar.
Die erste bestand aus sogenannten Nationalisten, also Offizieren, die aus der heutigen Sicht — nach den Erfahrungen, die Lateinamerika inzwischen gemacht hat — als Militärs auf der Suche nach einem eigenen Entwicklungsweg bezeichnet werden würden. Die Anhänger dieser Gruppe kamen zumeist aus dem mittleren und unteren Offizierskorps und waren geprägt durch die Erfahrungen, die sie auf oft abgelegenen Inlandsposten mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes gemacht hatten. Sie standen in der Tradition des „tenentismo" — der Leutnantsbewegung der dreißiger Jahre —, der erstmals die Modernisierungswünsche der aufstrebenden Mittelschichten Brasiliens gegenüber einem erstarrten oligarchischen System artikulierte. Da die Nationalisten sich mit dem notwendigen Wandel in Brasilien identifizierten, unterstützten sie vor 1964 Goulart weitgehend in seiner Politik des eigenen Entwicklungsweges. Diese Offiziere sind zum großen Teil gleich nach dem Putsch von den Schaltstellen des militärischen Apparats entfernt worden, ohne daß ihr Gedankengut aus der innermilitärischen Diskussion der letzten zwölf Jahre ganz verschwunden wäre.
Der zweiten Gruppe gehören die sogenannten Gemäßigten an, in Brasilien „linha blanda" genannt. Ihre Kader rekrutieren sich zumeist direkt aus dem Expeditionskorps der Brasilianer im Zweiten Weltkrieg in Italien, der „Fora Expedicionäria Brasileira" (FEB). Ihre Kriegserfahrung und ihre Zusammenarbeit mit US-Offizieren haben sie zum eigentlichen Katalysator der Modernisierung und Professionalisierung des brasilianischen Militärs werden lassen. Sie haben auch nach dem Krieg enge Beziehungen zu den USA unterhalten, dort Offiziersschulen besucht und in den Ausbildungsprogrammen der USA eine prominente Rolle gespielt. Ihre „westliche" Prägung hat sie demokratischer werden lassen und ihnen eine gewisse Einsicht in die Notwendigkeit der Wahrung der Menschenrechte in Brasilien gegeben. Sie waren es auch, die besonders nach 1968 immer noch etwas bremsend gegen die organisierte Repression und gegen die totale Unterdrückung Andersdenkender angegangen sind. Unter den Militärpräsidenten müssen Castelo Branco und Geisel eindeutig dieser Gruppe zugerechnet werden. Die Vertreter der „linha blanda" sind auch diejenigen, die sich als Modernisierungskader einer Weltmacht im Wartestand verstehen und ihre gute Ausbildung dafür einsetzen, daß Brasilien — nicht zuletzt aufgrund seiner militärischen Führung — noch vor Ende des Jahrhunderts zu einer führenden Macht werden soll.
Die Angehörigen der dritten Gruppe sind die sogenannten Konservativen, in Brasilien als „linha dura" bekannt. Obwohl vermutlich nicht zur größten Gruppe zählend, haben sie während der Militärherrschaft ihre Vetomacht sehr deutlich artikulieren können. Aus ihren Reihen rekrutieren sich die meisten Mitglieder der militärischen Geheimdienste, und sie haben auch zwei Präsidenten — Costa e Silva und Medici — durchsetzen können. Sie kommen oft, aber keineswegs immer, aus der Oberklasse, sind besonders antikommunistisch und davon überzeugt, daß wirtschaftlicher Fortschritt notwendigerweise eine starke Repression bedinge. Ihr Staatsbild ist eindeutig antidemokratisch und eher von korporativistischen Ideen geprägt, in denen jeder seinen Platz im Staate zugewiesen bekommt — der eine unten, der andere oben.
Wenn im folgenden die Rolle des Militärs als Garant lür „Sicherheit und Entwicklung" untersucht werden soll, ist es unerläßlich, diese drei Gruppen oder Fraktionen der brasilianischen Militärs mit ihrer unterschiedlichen Herkunft und ihren auseinanderstrebenden Zielvorstellungen nicht aus dem Auge zu verlieren. Wenn daher von der einen oder anderen Ausprägung des brasilianischen Systems die Rede ist, dann spiegelt sich darin fast immer das Ergebnis innermilitärischer Auseinandersetzungen um die jeweilige politische Linie wider — eine Tatsache, die zumindest teilweise den Zickzackkurs des brasilianischen Militärs, insbesondere unter der Präsidentschaft Geisel, zu erklären vermag.
II. Das Militär als Garant für „Sicherheit und Entwicklung"
Der Stellenwert der Militärs in Brasilien läßt sich durch einen Blick zurück in die Geschichte des Landes und auf die politische Kultur Lateinamerikas erkennen. In diesem Kontinent haben die Militärs nahezu immer die entscheidende Kolle in der Politik gespielt — wenn nicht vor, dann hinter den Kulissen. Lateinamerikanische Historiker haben den politischen Einfluß des Militärs bis in die Unabhängigkeitskriege zurückverfolgen können. Nur wenige der sogenannten zivilen Regime sind in der Lage gewesen, ohne Zustimmung der Militärs an die Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten.
In Brasilien wurde dieser Tatbestand dadurch verstärkt, daß die regionalen Auseinandersetzungen dieses Riesenstaates einen starken Vermittler geradezu notwendig machten. Wohin das militärische Gewicht sich neigte, dahin gingen auch die politischen und wirtschaftlichen Vorteile entweder an die betreffende Region oder Gruppe — eine Entwicklung, die in abgemilderter Form durchaus bis heute angehalten hat.
Ihre Herrschaft verstehen die Militärs als technokratisch und unpolitisch. Sie sind sich völlig bewußt, daß ihr Waffenarsenal und ihre Drohkapazität jeden Überzeugungswillen unnötig machen und jede Überzeugungsnotwendigkeit ersetzen. Dort, wo der Konsensus für ein Gesellschaftssystem verordnet werden kann, ist nach Meinung der brasilianischen Militärs — und sie haben darin viele Nachahmer gefunden — die Politik unnötig geworden.
Seit 1964 verstehen sich die brasilianischen Militärs bewußt als Entwicklungspolitiker. Sie rechtfertigen und legitimieren ihre Machtübernahme im Staat damit, daß sie sagen: „Wir sind die einzigen, die über eine vernünftige Organisation in diesem Staat verfügen, die unparteiisch sind und die die Nation zusammenhalten — wir müssen deshalb die Akzente für die Entwicklung setzen." Das ist um so gerechtfertigter — so argumentieren zumindest viele Befürworter der Militärherrschaft —, als andere Militärs in anderen Ländern mit der gleichen Herrschaftsform andere Akzente setzen. Gerade weil in einer wirtschaftlichen und sozial derartig polarisierten Gesellschaft wie Brasilien nur sehr schwer ein Konsensus über die zukünftige Politik herbeigeführt werden kann, bleibt nach Meinung der Militärs für die Entwicklung nur die Politik als Befehl. Für die Wirtschaft ist die Militärherrschaft eine vorzügliche Stabilitätsgarantie, solange sich absehen läßt, daß sich innerhalb der Militärs nicht allzu unterschiedliche Vorstellungen über die einzuschlagende Wirtschaftspolitik bemerkbar machen. Dort, wo die Arbeiterschaft jederzeit diszipliniert werden kann, wo kein Streikrecht besteht und politische Ausgleichsmechanismen zwischen den Interessen verschiedener sozialer Gruppierungen unbekannt sind, kann sich oifensichtlich — und dafür ist Brasilien ein in den letzten Jahren vielgerühmtes Beispiel gewesen — die Wirtschaft blendend entwickeln.
Daß diese Entwicklung freilich von den Militärs nicht unkritisch gesehen wird, beweist der denkwürdige Ausspruch des Präsidenten Medici: „Der Wirtschaft geht's gut, dem Volk aber schlecht!"
Gerade Präsident Geisel ist offensichtlich bemüht, eine soziale und wirtschaftliche Besser-stellung für die Mehrheit des Volkes einzuleiten. Er stößt dabei keineswegs nur auf seifen der Wirtschaft, sondern auch bei Teilen des Militärs auf Widestand. Ihre Argumente sind, daß je weiter sich das brasilianische „Modell" sozial und ökonomisch öffne und je stärker die bisher unteren Schichten an dem Fortschritt des Landes teilhaben könnten, desto lauter werde auch der Wunsch nach politischer Partizipation. Auch befürchten viele Militärs, daß bei einer stärkeren Umverteilung jene konsumverwöhnte Mittel-und Oberschicht, die bisher von dem Wirtschaftswunder überproportonal profitiert und daher mit den Militärs kooperiert, als politischer Bündnispartner verlorengehen würde. In dem Dilemma, einerseits durch eine Verbreiterung ihrer Basis das System ihrer Herrschaft zu stabilisieren, andererseits aber dadurch die Unterstützung der Oberschicht und oberen Mittelschicht aufs Spiel zu setzen, scheiden sich die Geister innerhalb der Militärs. Wenn es darum geht, eine sichere politische Basis gegen eine unsichere zu vertauschen, erweisen sich die Militärs trotz ihrer uneingeschränkten Machtposition ebenso unfähig, politisch notwendige Entscheidungen zu treffen, wie andere politische Herrschaftsträger — z. B. Parteien — vor ihnen.
Weil die brasilianischen Militärs, einmal an der Macht, sich nicht an Regeln zu halten brauchen, haben sie die Verfassung zunächst ignoriert bzw. zeitweilig außer Kraft gesetzt, dann abgeändert und durch eigene soge-nannte „Institutionelle Akte" ergänzt. Die nach den Erfahrungen der ersten drei Regierungsjahre neu geschaffene Verfassung, die mit dem Amtsantritt von Costa e Silva am 15. März 1967 in Kratt trat und eigentlich alle vom Militär erwünschten Sicherungen hätte enthalten sollen, erwies sich als unzureichend. Erst der berühmte „Institutioneile Akt Nr. 5" vom 13. Dezember 1968 schuf die Voraussetzung für eine dauerhafte Herrschaft der Militärs. Er hebt wesentliche Bestimmungen der Verfassung von 1967 wieder auf und gibt dem Präsidenten das Recht, Wahlmandate und politische Rechte auf zehn Jahre abzuerkennen sowie Grundrechte einzuschränken oder sie nach Belieben außer Kraft zu setzen. Mit dieser Maßnahme haben die Militärs sicherstellen wollen, daß eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor 1964 ausgeschlossen ist. Durch diesen „Institutioneilen Akt Nr. 5" kann der Präsident alle politischen Aktivitä-B ten mit Leichtigkeit kontrollieren bzw. einschränken. Gerade Präsident Geisel hat trotz aller Bekenntnisse zur Öffnung des Systems wiederholt von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Alle Diskussionen über eine mögliche Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen in Brasilien werden von dieser Erfahrung mit der sehr rasch eingeschränkten Verfassung von 1967 bestimmt. Die Hoffnungen der politischen Kräfte, die Willkür der Militärs in einem neuen Verfassungssystem stärker einzuschränken, werden nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn sie sich gleichzeitig dazu bereit finden, auf jede Alternative zu den jetzigen politischen Zielen auf Dauer zu verzichten.
Die Regime der Vier-Sterne-Generäle waren, mit brasilianischen Augen betrachtet, durchaus unterschiedlicher Natur. Während der erste Präsident, Castelo Branco, seine Amtszeit zunächst als vorübergehende Notwendigkeit ansah und eigentlich nur drei Jahre Militärherrschaft als notwendige Stabilisierungsperiode für das Land ins Auge gefaßt hatte, gehörte sein Nachfolger, Costa e Silva, zu jener Gruppe der Militärs, die als Vertreter der „linha dura" sich in den Machtstellen des Staates auf lange Zeit einzurichten begannen. General Medici schließlich verstärkte noch den autoritären und repressiven Charakter des Regimes und bezeichnete es gleichzeitig als Demokratie. Der amtierende Präsident, Ernesto Geisel, machte schon vor Regierungsantritt kein Hehl aus seinem persönlichen Engagement, das verhärtete autoritäre Regime zu öffnen. Sein politischer Zickzackkurs der letzten beiden Jahre — in Brasilien auch Doppelstrategie genannt — hat jedoch keineswegs das Endziel, die Demokratie wieder einzuführen, sondern will die militärische Kontrolle des Staates dort reformieren, wo sie durch ihre Methoden ihre angestrebten politischen Ziele selbst gefährdet.
Zur Beurteilung des Militärregimes in Brasilien sind vor allem drei Faktoren von Bedeutung. Einmal die spezifische Regierungsform der Militärs, zum andern die Veränderung, die sie bewirkt haben, und zum dritten die Zielvorstellungen, die ihnen vorschweben. Da zwölf Jahre Militärherrschaft mit vier verschiedenen Präsidenten schon eine vorsichtige Bilanz zulassen, sollen diese Faktoren hier näher untersucht werden.
Wie alle Militärs an der Macht sind auch die brasilianischen Militärs, unabhängig von ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit, in ihrem Auftreten paternalistisch. Es wird oben angeordnet und unten ausgeführt — eine andere Vorstellung von Machtausübung ist ihnen fremd bzw. erscheint ihnen geradezu als sicherheitsgefährdend. Sie sind darüber hinaus außerordentlich kritikempfindlich und unterscheiden kaum zwischen inhaltlicher und formaler Kritik an ihrem Regime. Aus dieser Kritikempfindlichkeit resultiert eine hochgradige Unfähigkeit zum Kompromiß, da jede einmal getroffene Entscheidung unter militärischen Gesichtspunkten gesehen wird, also unter keinen Umständen zurückgenommen werden darf, selbst wenn nachträgliche Ereignisse eine veränderte Entscheidung erfordern würden. Diese Entscheidungskriterien prägen das militärische Verständnis von der Politik und schaffen dadurch, trotz der Beibehaltung des traditionellen Staatsapparats, einen Regierungsstil sui generis.
Das Selbstverständnis von der eigenen Autorität im Staate erlaubt den zivilen Kadern nur eine begrenzte Einflußnahme auf die Formulierung der Politik. Durch die starke Abneigung der Militärs gegenüber allen Mechanismen der alten „vormilitärischen" Politik werden nur sogenannte „unpolitische" Technokraten als Mitarbeiter im Regime akzeptiert.
Die lange Zusammenarbeit und die gemeinsamen Interessen haben dazu geführt, daß sich — und gerade dafür ist Brasilien ein gutes Beispiel — einerseits die Militärs technokratisiert und andererseits die Technokraten in ihrem Denken militarisiert haben. Denn nichts ist für einen planenden Technokraten angenehmer als die Gewißheit, daß seine Vorstellungen kraft militärischer Autorität weitgehend unabhängig von den Vorstellungen der Betroffenen durchsetzbar sind. Die Kader-schmiede der brasilianischen Militärs, die „Escola Superior de Guerra" (ESG) in Rio, hat diese Vernunftehe zwischen Militärs und Technokraten auf allerhöchster Ebene institutionalisiert. Um sich von zivilem Sachverstand in der Staatsführung weitgehend unabhängig zu machen bzw. ihm dort, wo er unbedingt notwendig ist, den militärischen Stempel aufzudrücken, hat die ESG seit 1964 etwa 3 000 Offiziere und Zivilisten zu Staatsmanagern ausgebildet, die auf das militärische „Modell" Brasiliens eingeschworen sind. Gerade diese Philosophie der ESG läßt darauf schließen, daß die brasilianischen Militärs keineswegs willens sind, relativ kurzfristig den Staat wieder in zivile Hände zu legen. Eher scheinen sie bereit — sollten es die wirtschaftlichen Verhältnisse erfordern — auch noch jene Bereiche des Staates stärker an sich zu ziehen, die bisher weitgehend eine Domäne der Zivilisten gewesen sind.
Die Veränderungen, die das brasilianische Militär erreicht hat, sind relativ leicht aufzu-zahlen. An erster Stelle steht das in dem Beitrag von Manfred Nitsch („Das brasilianische Modell: Ende eines Wirtschaftswunders?") ausführlich dargestellte Wirtschaftsmodell, dessen pro-kapitalistische Grundstruktur auch nach den in der jüngsten Zeit aufgrund der weltwirtschaftlichen Situation notwendig werdenden Änderungen erhalten bleiben dürfte. Die Erfolge dieses Modells werden durch internationale Kreditfähigkeit und externe Märkte bestimmt. Seine Anfälligkeit gegenüber externen Pressionen dürften daher einem Teil der Militärs auch weiterhin ein Dorn im Auge sein. An zweiter Stelle steht, die nationale Integration, die zumindest auf dem Gebiet der Infrastruktur weitgehend erreicht worden ist. Hier hat das militärische Denken organisatorische Leistungen vollbracht, deren Modernisierungseffekt ohne Zweifel sehr beachtlich ist. Neben diesen vornehmlich nationalen Effekten haben die Militärs auch international Brasilien einen neuen Stellenwert gegeben. Sowohl wirtschaftlich als auch militärisch hat Brasilien Argentinien als regionale Vormacht abgelöst. Darüber hinaus hat sein Entwicklungsmodell einer ganzen Reihe von lateinamerikanischen Eliten anderer Staaten als Vorbild gedient, wenn auch seine beherrschende Rolle in der Region mit gemischten Gefühlen betrachtet wird. Im internationalen System ist Brasilien bereits weitgehend als Großmacht im Wartestand anerkannt —j ein Phänomen, das den Militärs auch von vielen innenpolitischen Gegnern als großer Erfolg angerechnet wird.
Diese Leistungsbilanz des Militärregimes entspricht in vielerlei Hinsicht, den Zielvorstellungen, unter denen die Militärs angetreten sind. Darunter steht an erster Stelle die wirtschaftliche Größe, die ihnen nur durch abhängige und an den westlichen Kapitalismus assoziierte Entwicklung erreichbar schien. Sie waren weitgehend bereit, in Kauf zu nehmen, daß dabei die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer wurden. Ein Teil der Militärs hat jedoch den weiteren Nachteil dieser Zielvorstellung, daß nämlich der erwünschte Großmachtstatus nur durch eine strukturelle Abhängigkeit von dem „Westen" zu erreichen sei, noch nicht völlig akzeptiert. Korrekturen an dieser Politik lassen sich bereits erkennen. Unabhängig von dem einzuschlagenden Weg wollen die brasilianischen Militärs den Großmachtstatus noch vor Ende dieses Jahrhunderts für ihr Land erreichen. Sollte dies mit der Unterstützung des „Westens" nicht rasch genug möglich sein, dann sind andere Alternativen — z. B. Brasilien als Führungsmacht der Dritten Welt — samt ihren innen-und wirtschaftspolitischen Konsequenzen für viele Militärs durchaus denkbar.
III. Das politische System des brasilianischen „Modells"
Die Schlüsselfigur eines jeden politischen Systems in Brasilien ist immer der Präsident. Dies gilt besonders für das militärische „Modell" seit 1964. In diesem Modell ist der Präsident Angelpunkt und Verbindungsglied zwischen zwei von einander völlig unabhängigen politischen Strukturen. Die eine ist die beibehaltene Fassade der Verfassung, gekennzeichnet durch Parteien, Kongreß und Gewaltenteilung. Die andere Struktur bildet parallel dazu das Militär als Institution, an deren Spitze die zehn Vier-Sterne-Generäle bzw. Admiräle der drei Waffengattungen stehen. Aus der Mitte dieser Gruppe rekrutiert sich jeweils der neue Präsident, der dann sozusagen der Delegierte der Militärs in der Spitzenfunktion der zivilen Hierarchie ist. Der Präsident muß auf diese Gruppe, die gewissermaßen seinen „Wahlkreis" darstellt, sehr starke Rücksicht nehmen. Während also die zivile politische Struktur weitgehend einen Fassadencharakter trägt, weil der Präsident nicht auf sie angewiesen ist, Parteien und Kongreß aber auf ihn, ist das Machtverhältnis bei der militärischen Struktur geradezu umgekehrt.
Solange also die Militärs den Präsidenten de facto aus ihrer Mitte stellen, bleibt sein Amt — also die oberste Autorität im Staat — ein Instrument dieser Gruppe. Dieses Amt findet auch durch die nachträgliche bzw. zusätzliche Legitimierung durch den Kongreß keine Verankerung in der zivilen politischen Struktur. Der Präsident muß einzig und allein darauf bedacht sein, in der Gruppe der zehn Vier-Sterne-Generäle Zustimmung für seine Politik zu finden; er muß so gewissermaßen mit wechselnden Mehrheiten regieren.
Diese Konstellation hat es den bisherigen Präsidenten der brasilianischen „Revolution" ermöglicht, einen gewissen demokratischen Schein zu wahren. Den beiden künstlich geschaffenen Parteien — die regierende Staatspartei „Aliana Renovadora Nacional" (ARENA) und die offizielle Oppositionspartei „Movimento Democrätico Brasileiro" (MDB) — wurde somit ein gewisser Spielraum samt relativ freien Wahlen gestattet. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sowohl die ARENA als auch die MDB in sich gespalten sind zwischen den Anhängern des jetzigen Systems und jenen Politikern, die hoffen, zu einem echten Parteiensystem mit höchstens indirektem Militäreinfluß zurückkehren zu können. Beide Parteien verfügen über keine wirksamen Möglichkeiten zur Kontrolle der Regierung, und die Opposition ist schon per Definition keine Alternative von morgen. Ihr Potential für eine politische Mobilisierung ist ebenso eingeschränkt wie ihre Ausstrahlung auf den vorparlamentarischen Raum, da die Militärs an politischer Partizipation und breiter politischer Willensbildung ja gerade nicht interessiert sind.
Die Drohkapazität der Militärs, insbesondere in Form des „Institutionellen Aktes Nr. 5", gibt den „Garanten der politischen Stabilität" immer wieder die Möglichkeit, allzu kritische Abgeordnete — oft ohne Angabe von Gründen — zu „kassieren" („cassaes“). In einem System, in dem Andersdenken generell als Ungehorsam abgestempelt wird — besonders dann, wenn es sich um alternative Gesellschaftsmodelle handelt —, ist der Raum für die politische Meinungsbildung außerordentlich eingeschränkt. Direkte und indirekte Pressezensur trägt dazu bei, daß ein kritisches Bild des brasilianischen Systems in Brasilien selbst kaum entstehen, geschweige denn Verbreitung finden kann. Durch den institutionalisierten Terror, der sich zeitweilig in Brasilien verselbständigt hat und in systematischer Repression und Folterung seinen Ausdruck findet, werden unliebsame Entwicklungen bereits im Keim erstickt. Auf die Dauer führt eine solche Entwicklung bei dem politisch bewußten Teil der Bevölkerung entweder zur Resignation oder aber zur völligen Entpolitisierung. Viele Militärs, ebenso wie eine ganze Reihe von Unternehmern und Wirtschaftspolitikern, machen aber keinen Hehl daraus, daß sie einen notwendigen Zusammenhang zwischen Repression und wirtschaftlicher Entwicklung sehen. Fortschritt und Stabilität, politische Ruhe und wirtschaftliche Sicherheit sind jedoch den Ober-und Mittel-schichten offensichtlich durchaus das „Opfer" der politischen Freiheit wert.
Nur diejenigen, die von der Militärherrschaft weder eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Situation noch Möglichkeiten der Einflußnahme auf die Regierung zu erwarten haben, gehören zu den wirklich Unzufriedenen im brasilianischen „Modell". Bei einer möglichen Öffnung des Systems muß sich ihr Nachholbedarf an wirtschaftlicher und politischer Beteiligung als enorm herausstellen. Weil die Ober-und Mittel-schichten genau dies befürchten, sind sie bisher mit der Militärherrschaft durchaus einverstanden. Die Militärs geraten aber in dem Moment in Zugzwang, wo sie den wirtschaftlichen Fortschritt für die Ober-und Mittel-klasse nicht mehr im bisherigen Rahmen garantieren können, so daß bei dieser dann der Ruf nach verstärkter politischer Beteiligung am Schicksal des Landes lauter wird. Die Zustimmung aus Wohlstandsgründen — also die Legitimation der Militärherrschaft durch Leistung — ist besonders dann gefährdet, wenn durch externe wirtschaftliche Einflüsse das Entwicklungsmodell des Landes nicht mehr funktionieren sollte.
Auch hier läßt sich bereits erkennen, warum ein Teil der Militärs unter Führung des jetzigen Präsidenten nach Möglichkeiten sucht, das Wirtschaftsmodell zu modifizieren. Andernfalls setzen sie sich der Gefahr aus, aufgrund wirtschaftlicher Mißerfolge ihr gesamtes Herrschaftssystem revidieren zu müssen. Einerseits die Einsicht in die Notwendigkeit zur Veränderung des „Modells", also zu einem gewissen Wandel, und andererseits die Zwangsvorstellung von Sicherheit als Garantie des Status quo kennzeichnen die Widersprüchlichkeit, mit der das politische System der brasilianischen Militärs leben muß. Denn gerade weil das Herrschaftssystem gewahrt werden soll, müssen gewisse wirtschaftspolitische und sozialpolitische Änderungen durchgeführt werden. Diese bringen in einem Land so extremer sozialer Gegensätze wie Brasilien leicht politisch explosive Verteilungskämpfe mit sich, die dann die Stabilität bedrohen, die von den Militärs als höchstes Gut gepriesen und von der Wirtschaft hoch geschätzt wird.
Die nahezu panische Angst vor der Gefährdung der Stabilität spielt auch bei der Diskussion um die in diesem Jahr anstehenden Gemeindewahlen die entscheidende Rolle. Nachdem bei den letzten Wahlen vom 15. November 1974 die Oppositionspartei MDB ihren Anteil der Abgeordnetensitze von 28% auf 44 % und den der Senatorensitze von 11 % auf 33 % erhöhen konnte, hat die innermilitärische Diskussion darüber zugenommen, in welchem Rahmen Wahlen überhaupt sinnvoll seien. Dabei geht es vor allem der „linha dura" nur in zweiter Linie um die Prozentzahlen, die die Opposition gewinnen könnte. Primär ist sie darüber besorgt, daß durch die Wahlvorbereitungen ein Klima politischer Agitation geschaffen würde, das ihre Sicherheitsvorstellungen gefährden könnte. Andererseits haben die Militärgouverneure Macht genug, um unliebsame Wahlkandidaten gleich im Gefängnis verschwinden zu lassen. Denn ähnlich wie auf höchster Ebene gibt es auch auf regionaler und kommunaler Ebene eine doppelte politische Machtstruktur, bei der die militärischen Institutionen immer das Übergewicht über die zivilen haben. Das gilt auch für die Gerichtsbarkeit, deren Unabhängigkeit durch die militärische Gerichtsbarkeit mit eigenen Strafverfolgungsinstanzen bereits weitgehend eingeschränkt worden ist.
Selbst dieser flüchtige Blick auf die verschiedenen politischen Strukturen Brasiliens läßt erkennen, daß es sich beim Militär um ein Machtkartell handelt, das mit Ausnahme der gelegentlichen internen Selbstkontrolle durch die Rivalität der verschiedenen Gruppierungen keinerlei Einschränkungen unterworfen ist. Das Militär bildet so eine Art „Einheitspartei", in der alle Entscheidungen politischer Art getroffen werden und in der sich auch alle Auseinandersetzungen um den jeweils einzuschlagenden Kurs abspielen. Da die militärische Einigkeit besonders hoch bewertet wird, werden politische Ratschläge von außen, selbst wenn sie von befreundeten Gruppen oder Politikern kommen, oft als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Militärs betrachtet. Gerade weil das Militär als Institution in gewissem Maße die Zerrissenheit der Gesamtgesellschaft reflektiert, versucht dennoch die eine oder andere Gruppe im Militär ihre politischen Vorstellungen mit Hilfe ziviler Partner durchzusetzen. Die zeitweilig sich daraus ergebende öffentliche Diskussion ist die einzige Partizipation an der Politik der Militärs im brasilianischen Modell.
Diese geringe Kommunikationsmöglichkeit, die zwischen der öffentlichen oder veröffentlichten Meinung und der Regierung in Brasilien besteht, macht das Korrigieren einer einmal getroffenen politischen Entscheidung außerordentlich schwierig. Hierbei zeigt sich aber andererseits — z. B. bei der Haltung gegenüber den transnationalen Unternehmen, bei der Vergabe von Erdölkontrakten an ausländische Firmen und bei der Außenpolitik —, daß innerhalb des militärischen Systems gewisse politische Alternativen noch zur Diskussion stehen.
Diese Schwerfälligkeit der Kontrolle und die mangelnde Anpassungsfähigkeit an veränderte politische Situationen ist sicherlich eine Hauptsystemschwäche des brasilianischen Modells. Eine andere liegt in der generellen Verweigerung legaler Oppositionsmöglichkeiten, wenn man einmal von den eng begrenzten Rahmenbedingungen für die MDB absehen will. Die Unterdrückung alternativer Gesellschaftsmodelle hat im Laufe der zwölfjährigen Geschichte der brasilianischen „Revolution" zu einer Radikalisierung ihrer ideologisch oft sehr verschiedenen Gegner und damit direkt zu der bekannten Eskalation des Terrors geführt. Legale politische Entfaltungsmöglichkeiten werden, gerade auch im vor-parlamentarischen Raum, unterbunden. So bleibt all denen, die eine Entpolitisierung oder die Integration in das militärische politische System ablehnen, nur der Weg in den Untergrund. Es besteht heute kein Zweifel mehr daran, daß die Militärs in Brasilien diesen Terror von unten in den Griff bekommen haben. Unter welchen Opfern, vor allem für die politische Entwicklung der eigenen Gesellschaft, wird sich allerdings erst dann absehen lassen, wenn das politische System sich doch einmal öffnen sollte.
IV. Die Außenpolitik einer „Großmacht“
Zu den Bestimmungsmerkmalen militärischer Regime gehört, daß sie besonderes Gewicht auf die Rolle ihrer Nation im internationalen System legen. Die brasilianischen Militärs haben aufgrund der natürlichen Voraussetzungen Brasiliens dafür eine besonders gute Ausgangsbasis vorgefunden. Als fünftgrößtes Land der Erde mit der siebtgrößten Bevölkerung und dem zwölftgrößten Bruttosozialprodukt fühlt sich Brasilien berechtigt, an den Privilegien der Großmächte teilzuhaben. Aul dieses Recht pochen die Militärs, nicht zuletzt, deshalb, weil sie sich dabei auch in der außenpolitischen Tradition vorangegangener politischer Systeme in Brasilien sehen. Bestärkt fühlen sie sich darin auch durch ihr bisher erfolgreiches Entwicklungsmodell, ihre relativ starke wirtschaftliche Position, ihr beachtliches militärisches Potential und ihre Vormachtstellung in Lateinamerika. Von außen freilich wird diese Haltung entweder als Subimperialismus (so von einigen der Anrainerstaaten in Lateinamerika) oder als Wirtschaftsimperialismus (so von einigen Staaten Afrikas, zu denen Brasilien besonders enge Beziehungen hat) oder als Größenwahn (so zum Teil von den etablierten Großmächten) betrachtet.
Bei der Evaluierung der Außenpolitik der brasilianischen Militärs gilt es zu berücksichtigen, daß die historischen Klientel-Erfahrungen Lateinamerikas mit Europa und den USA so-genannte „normale" Beziehungen in dieser Region verhindern. Brasilien erscheint also seinen Nachbarn automatisch als neue Hegemonialmacht. Sicherlich ist es aber viel stärker an einer bedeutenden Rolle im internationalen System interessiert, so daß es sich nicht leisten kann, durch Schwierigkeiten mit seinen lateinamerikanischen Nachbarn diese Rolle zu gefährden.
Die engen Beziehungen, die Brasilien bisher zu den USA unterhalten hat, spiegeln sich auch darin wider, daß es den eigenen Aufstieg in seinen Vorstellungen mit dem der USA vergleicht. Ähnlich wie im Falle der USA hat die pionierhafte Entstehungsgeschichte, der Drang nach Westen und die regional verstandene Integration nach innen zu einer Vormachtstellung in der Region — also in diesem Fall Lateinamerika — geführt. Zudem sieht Brasilien den Südatlantik als „Mare Nostrum" an, wobei die Verbindung zur Gegenküste, also das westliche Afrika, schon lange vor 1964 eine wesentliche Rolle in der brasilianischen Außenpolitik gespielt hat. Brasilien betrachtet ganz offen die Westküste Afrikas als die eigene Ostgrenze. Es geht dabei davon aus, daß gerade die ehemals portugiesischen Kolonien in Afrika sich die brasilianische Entwicklung und die multirassische Gesellschaft zum Vorbild nehmen könnten. Diese Modellwirkung des eigenen Systems sieht Brasilien als vorteilhaft für seine Außenbeziehungen an. Gerade die Militärregierungen haben es immer wieder verstanden, für den direkten Einfluß ihre bilateralen und für den indirekten Einfluß ihre multilateralen Verbindungen zu nutzen.
Auf dem Weg zur Großmacht hat sich Brasilien gleichzeitig oder abwechselnd verschiedener Mittel und Möglichkeiten bedient. Einerseits sah es die enge Verbindung zu den USA gleichsam als Möglichkeit, als Juniorpartner des Westens vermehrten Einfluß zu gewinnen. Andererseits hat sich Brasilien immer dann als Entwicklungsland mit der Haltung der Dritten Welt zu identifizieren gewußt, wenn dies eine Verbesserung seiner wirtschaftlichen Position oder aber seiner „bar-gaining power" gegenüber den Industrieländern bedeutet hat. Besonders als sich nach dem Olschock von 1973 herausstellte, daß der Westen allein die Entwicklung des brasilianischen Wirtschaftsmodells nicht zu garantieren in der Lage war, hat das brasilianische Regime sich sehr flexibel gezeigt und seine Beziehungen zu den Staatshandelsländern ebenso wie zu den OPEC-Staaten erheblich ausgebaut. Gerade die starke innen-und wirtschaftspolitische Abhängigkeit von den USA hat die Militärs dazu gebracht, sich außenpolitisch zu diversifizieren, wobei dies keineswegs ihnen allein als Verdienst angerechnet werden darf. Denn auch das brasilianische Außenministerium — genannt Itamaraty — verfügt über einen ganz erheblichen Spielraum in der Gestaltung der Außenpolitik und sucht dort die langfristigen Zielvorstellungen Brasiliens unabhängig von dem jeweils herrschenden politischen System zu verwirklichen.
Innenpolitisch ist freilich der Kurs des Itamaraty unter seinem jetzigen Außenminister Azeredo da Silveira außerordentlich umstritten. Nachdem 1964 die Militärs als ersten außenpolitischen Akt die Beziehungen zu Castros Kuba abbrachen, mutet es in der Tat überraschend an, daß Brasilien im November 1975 das erste „westliche" Land war, das Angolas MPLA anerkannte. Mit dieser aktiven Afrikapolitik hat Brasilien die wegen seiner engen Verbindungen zum ehemaligen Mutterland Portugal ehemals prokolonialistische Politik in den Vereinten Nationen wettmachen wollen.
Innerhalb der portugiesisch-sprechenden Welt sieht sich Brasilien nun als Nachfolger Portugals in Afrika und gewissermaßen als dritte Kraft bei all jenen Entwicklungsländern, die sich weder dem Osten noch dem Westen zugeneigt fühlen, Diese Vorstellung von seiner Rolle zwischen den ideologischen Blöcken ist vornehmlich auf den ideologischen Konflikt der Zukunft — nämlich den Nord-Süd-Konflikt — zugeschnitten. Hier fühlt sich Brasilien als Bindeglied zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern, weil es sich zwar keiner Gruppe ganz, jedoch beiden ein wenig zurechnet. Die brasilianischen Militärs reagierten deswegen auch erstaunlich kühl auf Kissingers Vorschlag, regelmäßige Konsultationen über alle internationalen Probleme zwischen den USA und Brasilien abzuhalten. Brasilien hatte schon beim Abschluß des Nuklearvertrages mit der Bundesrepublik erkennen lassen, daß es sich keineswegs als Juniorpartner der USA fühlt, sondern seine Außenpolitik einzig und allein seinen nationalen Interessen unterordnet, zu denen es auch die Souveränität über die eigene technologische Entwicklung zählt. Dieses wohlverstandene nationale Interesse, in Brasilien als „verantwortlicher Pragmatismus" (pragmatismo responsävel) bezeichnet, läßt sich am besten als ein Offenhalten aller Optionen im internationalen System kennzeichnen. Gerade aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihres „Modells" und der damit in Frage gestellten Uberlebensfähigkeit ihres politischen Systems sind die brasilianischen Militärs bereit, eine Außenpolitik zu betreiben, die einzig und allein ihren eigenen Interessen dient und die sich nicht an überkommenen ideologischen Mustern orientiert.
V. Die Paralyse der Politik
Die zwei Jahre der Präsidentschaft Ernesto Geisels haben zwar in unterschiedlicher Weise, aber keineswegs weniger deutlich als die zehn Jahre seiner Vorgänger die Paralyse der Politik in Brasilien erkennen lassen. Schon bei seinem Amtsantritt war er mit vielen Vorschußlorbeeren bedacht worden, und in den Jahren 1974 und 1975 wurde sein Regime mit so schönen Namen wie „abertura", descompresso“, „distenso“ belegt. So wurde eine Öffnung des verhärteten und an vielen Fronten festgefahrenen politischen Systems erwartet. Die stilistische und teilweise auch inhaltliche Veränderung der Regierungsweise unter Geisel, dem als protestantischem Lehrerssohn besonders viel Gerechtigkeitssinn nachgesagt wird, schien zeitweilig eine solche Euphorie zu rechtfertigen. Inzwischen ist es müßig darüber zu diskutieren, welche Gründe Geisel zum Rückzug von seinen Plänen gezwungen haben. Es können die Auswirkungen der weltweiten Rezession auf das brasilianische „Modell", die starken Unterschiede innerhalb der wichtigsten Gruppierungen der Militärs, die allzu optimistische Reaktion der Oppositionspartei MDB oder aber eine Kombination all dieser Faktoren gewesen sein. Vieles spricht auch dafür, daß Geisel seine Äußerungen über die Öffnung des Systems gar nicht so umfassend verstanden wissen wollte. So hat er selbst von einem „Prozeß einer langsamen, graduellen und abgesicherten Öffnung" gesprochen. Und um alle Mißverständnisse auszuräumen, betonte er außerdem, die „descompressäo" sei sozial und nicht politisch zu verstehen.
Geisel hat einen deutlichen Zickzackkurs zwischen Entspannung und Verhärtung des Regimes gesteuert. Die immanenten Unterschiede zwischen der „linha blanda" und der „linha dura" und die offene Kritik innerhalb des Militärs an seiner Politik lassen vermuten, daß er vielleicht auf diesen Kurs gesteuert wurde. Nachdem Geisel durch eine zeitweilig gelok-kerte Pressezensur von einer dankbaren Opposition als „Vater der Entspannung" gefeiert wurde, schlug das politische Pendel — wie so oft in Brasilien — schon bald in die andere Richtung aus, und eine Reihe von Abgeordnetenmandaten wurde von dem gleichen Präsidenten rücksichtslos „kassiert". Aus dem Präsidentenpalast verlautete dazu unter der Hand, daß mit derlei Maßnahmen auch weiterhin zu rechnen wäre, wenn die Oppositionspartei MDB nicht selbst dafür sorgen würde, daß alle Kritik an der „Revolution" aus ihren Reihen unterbleibe. Denn eine Diskussion über die Alternativen zu dem jetzigen politischen „Modell" muß auf jeden Fall unterbunden werden, solange innerhalb der Militärs keine Übereinstimmung über eine eventuelle Modifizierung ihrer Herrschaftsform erzielt worden ist.
Geisel ist sich durchaus bewußt, daß seinem Regime nicht nur Gefahren von links drohen. Polizeiwillkür, Geheimdienst-Selbst-herrlichkeit und die immer wieder zur Schau getragene Bereitschaft der „linha dura", sich mit Gewalt gegen unliebsame Kurskorrekturen am politischen System der „Revolution" zu wehren, spielen im Kalkül Geisels eine wesentliche Rolle. Aus diesem Grunde muß der Präsident auch auf jeden Fall zu verhindern suchen, daß die relativ unwichtigen Gemeindewählen im Herbst 1976 zu erneuten großen Gewinnen der Oppositionspartei MDB führen. Eine zweite „Wahlschelte" wie 1974 würde die „linha dura" kaum hinzunehmen gewillt sein. Die Parlamentswahlen 1978 würden mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit durch einen weiteren „Institutioneilen Akt" oder andere Eingriffe verboten bzw. verschoben werden. Um diesem Dilemma zu entgehen, wird in Brasilia bereits von Plänen für ein neues Parteiensystem und eine neue Verfassung gesprochen. Dieses neue brasilianische „Modell" soll — soweit es bisher bekanntgeworden ist — nach der Auflösung der beiden jetzigen Parteien die Neugründung von etwa vier Parteien beinhalten. Die Sicherheits-und Ausnahmebestimmungen der bisherigen sogenannten „Institutioneilen Akte" sollen in eine neue Verfassung eingearbeitet werden. Damit glaubt Geisel, die politischen Vorstellungen der brasilianischen „Revolution" mit den formalen Ansprüchen der Opposition verbinden zu können, so daß beide Lager einer solchen Institutionalisierung ihre Zustimmung geben könnten. Darüber hinaus — und das ist ein durchaus erwünschter Nebeneffekt — könnte ein solches straff geführtes und dann vom Militär nur noch indirekt kontrolliertes Mehrparteiensystem Brasilien auch nach außen ein völlig neues Image verleihen.
Eine solche Korrektur zur Stabilisierung des politischen Systems in Brasilien bietet aber keine Gewähr für eine stabilere Entwicklung, weil es sich dabei eigentlich nur um Schönheitsoperationen der politischen Fassade handelt. Die interne Machtverteilung bliebe davon relativ unberührt und die Abhängigkeit von außen ebenfalls. Seine stärkste Stütze findet das brasilianische System in einer AlB lianz zwischen Militärs und Technokraten mit weitgehender Absicherung einheimischer und vor allem ausländischer Wirtschaftseliten. Das Interesse des Auslandes hat sich nicht nur in der bereitwilligen Unterstützung Brasiliens während der allgemeinen Wirtschaftsre-Zession von 1973 gezeigt, sondern läßt sich auch an seiner mehr oder weniger direkten Beteiligung an der innerbrasilianischen — und damit zum Teil innermilitärischen — Diskussion um mögliche Veränderungen des Wirtschaftsmodells ablesen.
Dieser Tatbestand macht das Funktionieren des brasilianischen Systems, zumindest bis zu einem gewissen Grade, von externen Entscheidungen abhängig. Hierin sieht ein Teil des Militärs das „Sicherheitsrisiko" des bisherigen „Modells" und versucht, durch entsprechende Korrekturen in der Wirtschaftspolitik — etwa durch stärkeren Einfluß der Staatsbetriebe — oder in der Außenpolitik — durch die stärkere Abstützung auf die Länder der Dritten Welt — dieses Maß an Außensteuerung abzubauen. Während also ein Teil der Militärs — und hier verlaufen die Fronten mitten durch die verschiedenen Gruppierungen — eine Destabilisierung ihres Systems von außen befürchtet, sieht ein anderer die größere Gefahr in einer Öffnung nach innen. Dieser innermilitärische Konflikt überschattet bei weitem die Auseinandersetzung zwischen Militärs und zivilen Politikern bzw. zwischen Regierung und Opposition. Wie eine unausgesprochene Drohung steht dahinter für die jetzt regierenden Militärs die Angst vor einer „portugiesischen Lösung".
Wie schon bei anderen autoritären Regimen werden an dieser Entwicklung, die hier nur in ganz groben Umrissen aufgezeigt worden ist, die Schwierigkeiten der Rückkehr von einem militärischen zu einem zivilen System sichtbar. Dabei ist es keineswegs so, daß eine möglichst lange und aus militärischer Sicht möglichst erfolgreiche Regierungszeit diese Rückkehr erleichtern würde. Eher ist damit zu rechnen, daß nach langer Militärherrschaft der Zerfall der politischen Infrastruktur so weit fortgeschritten ist, daß ein relativ konfliktfreier Übergang zur demokratischen Regierungsform fast ausgeschlossen erscheint. Für Brasilien würde dies bedeuten, daß die von Geisel beabsichtigte Öffnung des Systems entweder zu einer verstärkten Politisierung von unten oder aber zu unvorhersehbaren Reaktionen innerhalb der Militärs führen würde. In beiden Fällen würde dies erhebliche Rückwirkungen auf das brasilianische „Modell" haben.
Das Problem, einen raschen Wandel vom Entwicklungsland zur Großmacht ohne die Veränderung bestimmter politischer und sozialer Strukturen durchzuführen, ähnelt der Quadratur des Kreises. Die partiellen Einzelerfolge in gewissen Bereichen, die ein militärisches Modell aufgrund ganz bestimmter Machtmittel erzielen kann, sollten nicht über die generelle Anfälligkeit eines solchen politischen Systems hinwegtäuschen. Denn gerade diese Einzelerfolge tragen in einem so heterogenen Land wie Brasilien nicht zu seiner Homogenisierung bei, sondern reißen, da sie nur bestimmten Sektoren zugute kommen, die bestehende Kluft nur weiter auf. Diese Fehlentwicklung und die daraus resultierenden Probleme der brasilianischen Militärs lassen sich abschließend am besten durch das Beispiel von vier geöffneten Scheren veranschaulichen: — Besonders eindrucksvoll ist die „Einkommens-Schere": Das brasilianische „Modell" hat einen geringen Teil der Bevölkerung immer reicher, die Mehrheit aber relativ ärmer gemacht, so daß der wirtschaftliche Aufstieg des Landes zumindest zum Teil mit dem sozialen Abstieg eines großen Prozentsatzes seiner Bürger erkauft worden ist. — An zweiter Stelle steht die „Stadt-Land-Schere": Extreme Ungleichheit und interner Kolonialismus sind die bestimmenden Faktoren der Regionalentwicklung, deren Ergebnisse sich an der Auseinanderentwicklung von Nord und Süd, Küste und Hinterland Brasiliens ablesen lassen.
— Noch gravierender ist die „Wirtschaft-Politik-Schere": Während die Wirtschaft von innen und außen unterstützt und gefördert wird, werden politisches Bewußtsein und politische Partizipation so gebremst und unterdrückt, daß sie langfristig verkümmern müssen.
— Schließlich gibt es noch die „Innen-Außen-Schere": Das Auseinanderklaffen zwischen Brasiliens interner Politik und seiner Position in der Welt treibt die Militärs immer wieder in Rechtfertigungssituationen hinein. Gegenüber ihren westlichen Partnern müssen sie ihr Repressionssystem verantworten, gegenüber der Dritten Welt müssen sie ihre Rolle als Lieblingskind der transnationalen Unternehmen verteidigen.
Die brasilianischen Militärs müssen zwar — wie wohl die meisten anderen politischen Systeme auch — mit der Existenz einer oder mehrerer Scheren leben, sie können es sich aber auf die Dauer nicht leisten, diese Scheren wie bisher immer weiter aufzumachen.