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Politik unter Sachzwängen — Gibt es noch politische Alternativen? | APuZ 32-33/1976 | bpb.de

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APuZ 32-33/1976 Auftrag und Ethos der CDU Parteipolitik zwischen Machtstreben und Gemeinwohl Politik unter Sachzwängen — Gibt es noch politische Alternativen? Das Verhältnis von Programm und Pragmatismus in der politischen Praxis Artikel 1

Politik unter Sachzwängen — Gibt es noch politische Alternativen?

Otto Graf Lambsdorff

/ 19 Minuten zu lesen

J Die Frage, die ich gern mit Ihnen erörtern t möchte, ist die Frage nach dem „Wie" auf H, dem Gebiete der Sozialpolitik und dann auf f dem Gebiete der Wirtschaftsund Wettbe-I werbspolitik. Die Frage nach dem „Was", was I wir erreichen wollen, was in politische Pro-

[gramme aufgenommen wird, ist verhältnismä-

j Big leicht zu beantworten. Darüber werden I Ihnen in den nächsten Wochen ganze Katalo-

f ge vorgelegt werden. Die Frage, wie dies er-I reicht werden kann, wie dies unter den gege; benen Umständen und Möglichkeiten und Einschränkungen durchgesetzt werden kann, I scheint mir dagegen gerade in der gegenwärtigen Läge viel schwieriger zu sein. Lassen Sie mich ein paar grundsätzliche An-i merkungen zu der Sicht machen, die die Libe. ralen vom Sozialstaat haben. Es ist in den vergangenen 25 Jahren für uns nie ein einfa-

ches Thema gewesen, und wir haben in den f letzten sechs bis acht'Jahren einen weiten : Weg von dem gemacht. -, womit wir vor etwa [25 Jahren angetreten sind. Aber zunächst ein-Wie ist die verfassungsrechtliche Lage, I was bedeutet eigentlich der Auftrag vom Sozialstaat? Das Grundgesetz spricht vom sozia* len Bundesstaat und vom sozialen Rechts[s. taat. Es enthält jedoch kaum ins einzelne gehende sozialpolitische Bestimmungen. Das hatte nach meiner Überzeugung im wesentlichen praktische Gründe. Es herrschte im Jahr . 1949, als das Grundgesetz verfaßt wurde, kaum Klarheit über die Priorität einzelner so-I zialer Leistungen, und es bestand sicher die Gefahr, daß überholtes festgeschrieben wor-

den wäre. Doch die Folge: Das Sozialstaats postulat, von dem wir heute allgemein spre-I eben, wurde nicht nachhaltig konkretisiert.

Gerhard Müller schreibt in seinem Zehn-Jahres-Rückblick aus seiner Tätigkeit als Präsident des Bundesarbeitsgerichts: „Seine Verfassungsfestigkeit gibt dem Sozialstaatsgedan: ken eine besondere Weihe und einen besonderen Rang, wie sie in gleicher Art dem Urgrundrecht von der Menschenwürde zukommt." Als Politiker für praktische Entscheidungen kann man mit diesen Ausführungen verhältnismäßig wenig anfangen. Ein wenig praktikabler scheint mir der Satz von Böckenförde zu sein: „Der Sozialstaat kann —• soll die rechtsstaatliche Freiheit nicht rückgängig gemacht oder abgebaut werden — nur die Bedeutung haben, die sozialen Voraussetzungen zür Verwirklichung, der rechtsstaatlichen Freiheit für alle zu schaffen, d. h. insbesondere die soziale Ungleichheit abzubauen." Insofern gilt etwa die Besteuerung-nach der Leistungsfähigkeit, insbesondere auch die progressive Einkommensbesteuerung, als sozial-

staatliches Gebot. Eine der ausführlichsten Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts zum Wesen des Sozialstaates und seine Abgrenzung gegenüber anderen Gesellschaftsordnungen findet sich interessanterweise im KPD-Urteil. Aus den Darlegungen des Bundesverfassungsgerichts und aus den Erkenntnissen der Verfassungsrechtler ergibt sich, daß das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit zwar weithin erkannt worden ist, aber weder definiert und erst recht nicht gelöst werden konnte. Der Rechtsstaat gilt, und dies ist ganz sicherlich unsere Überzeugung, als unabdingbar freiheitsbezogen, während das Wort „sozial" auf radikal-egalitäre Vorstellungen verweist. Leibholz z. B. sieht gute Gründe, das Spannungsverhältnis bewußt in Kauf zu nehmen, denn es besage nichts anderes, als daß der auf Freiheit gegründete Rechtsstaat durch das auf Gleichheit gegründete Sozialstaatsprinzip temperiert, d. h., daß die Freiheit durch die Gleichheit begrenzt werden soll.

Die-bisherigen Beiträge der Liberalen reichen natürlich weit in die Zeit vor der Bundesrepublik zurück; ursprünglich verstanden sich die Liberalen als jener Teil des Bürgertums, der maßgeblich die Bürger-und Menschenrechte gegen den Obrigstaat erkämpft hat, später haben sich die politischen Liberalen des 19. Jahrhunderts auch gegen die Abhängigkeit des sogenannten neuen „vierten Staudes" von einem in sozialer Hinsicht oft genug skrupellosen Unternehmertum . gewandt-Vor allem die Genossenschaftsidee, die auch heute noch unsere Unterstützung, wo nur irgend möglich, erfährt, ist liberalen Ursprungs; diese Genossenschaftsidee — diesen praktischen Hinweis darf ich vielleicht machen — ist uns heute außerordentlich hilfreich bei den Projekten in den Ländern der Dritten und Vierten Welt, wo wir auf diese Anfänge liberaler wirtschaftspolitischer Arbeit, gesellschaftspolitischer Arbeit, oft und erfolgreich zurückgreifen. Dieses Instrument stößt dort nicht auf Mißtrauen und Ablehnung, weil die genossenschaftliche Idee von den Menschen in den Ländern der Dritten und Vierten Welt verstanden wird.

Ein weiteres Beispiel liberaler Politik, auf das sich die Freien Demokraten heute berufen und berufen können, ist sicherlich Max Webers berühmte Studie über die soziale Lage ostelbischer, im wesentlichen polnischer Landarbeiter, die einem Teil der Großgrundbesitzer als billige Saison-Arbeiter dienten und weidlich ausgenutzt wurden. Ich selber erinnere mich noch an die Schnitterkasernen in Ostdeutschland während des Krieges. Max Webers Studie lag weit vor dieser Zeit; Weber und Naumann sind nach unserer heutigen Auffassung die beiden wichtigsten Vorläufer einer artikulierten liberalen Gesellschaftspolitik, die sich vor allem gegen Abhängigkeit, politische wie wirtschaftliche, wendet und für eine möglichst freie Lebensgestaltung des einzelnen eintritt. Naumann hat in seiner berühmten Rede „Das Prinzip des Liberalismus"

1905 den Liberalen als die neue Aufgabe zugewiesen: An Stelle des Staates sei eine neue Allmacht aus dem wirtschaftlichen Leben hervorgegangen, die Gewalt der großen Unternehmen. Gegenüber dieser neuen Macht gelte der klassische Grundsatz des Liberalismus für den Staat: „Der Staat sind wir alle, und der Staat darf nicht alles." Nun in abgewandelter Form: „Der Betrieb sind wir alle, und der Betrieb darf nicht alles." Das war, wie wir es in den Freiburger Thesen der FDP wieder entwickelt haben, ein Frühbekenntnis zur Mitwirkung und Mitbestimmung, als viele Konservative der Sozialpolitik eine ausschließliche Korrektivfunktion zudachten — Sozialpolitik als Fürsorge —, als die Sozialisten die sozialen Konflikte durch Klassenkampf zu lösen hofften.

Sozialpolitik wurde seit den 50er Jahren weitgehend mit der Gewährung sozialer Leistungen gleichgesetzt. Das hatte zur Folge, daß wir in allen drei Bereichen der Sozialversicherung — bei der Rentenversicherung, bei der Kranken-und bei der Arbeitslosenversicherung — die Grenzen der Finanzierbarkeit erreicht haben. Diese materielle Belastung öffnet — und dies sehe ich jedenfalls als eine Chance an — den Weg für eine grundsätzliche Neubesinnung der Sozialpolitik. Unsere gesetzliche Sozialversicherung entspricht zwar formal dem Prinzip der Subsidiarität, denn die Träger unterliegen der Regie der Selbstverwaltung. In ihrem tatsächlichen Ansehen bei den Versicherten jedoch gilt sie weithin als obrigkeitliche Institution. Der einzelne Versicherte hat selten das Gefühl, es hier mit einer Selbstverwaltung, also einer durch ihn selbst mitverwalteten, Einrichtung zu tun zu haben. Die Versicherten haben eben keinen Einfluß auf die Preise, die Beiträge, weil die Träger in kameralistischer Weise die Einnahmen an den Ausgaben orientieren und die Beiträge bis vor kurzem fast widerspruchslos erhöhen konnten, wenn die Ausgaben stiegen. Ein großer Teil ihrer Ausgaben wird zudem durch das Diktat des Gesetzgebers, etwa die Befreiung der Rentner von der Krankenversicherungspflicht oder durch eine extensive Rechtssprechung, z. B. die berühmten und vieldiskutierten Kosten des Zahnersatzes, bestimmt.

Der dem klassischen liberalen Verständnis entsprechenden Versicherungsgedanken wird in der Sozialversicherung nicht mehr entsprochen. Liberalem Verständnis entspräche es, die Ausgaben der Sozialversicherung künftig an den Einnahmen zu orientieren und dadurch zu zügeln. Und weiter: keine neuen versicherungsfremden Lasten per Gesetz zu oktroyieren bzw. bestehende (ich nenne wieder als Beispiel den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner) abzubauen. Mit anderen Worten: Leistung und Gegenleistung müssen jedem Beteiligten klar sein, und dies ist gegenwärtig nicht oder nicht mehr der Fall. Wenn soziale Sicherung als politisches Geschenk angesehen wird und weniger als eine Leistung, die man sich, so weit möglich und zumutbar (auf diesen einschränkenden Hinweis muß man Wert legen), verdienen muß, erzeugt sie, wie wir gesehen haben, Verantwortungslosigkeit. Auch hierfür gibt es viele in der letzten Zeit diskutierte Beispiele. Sicher gehört dazu ein Teil der Kuren, die berühmte „Oma auf Krankenschein", und nach nun bald 15 Jahren meiner Tätigkeit als stellvertretender Kurator eines freien gemeinnützigen Krankenhauses im Ruhrgebiet mache ich Jahr für Jahr die miserable Erfahrung, daß die Großeltern in der Ferienzeit mit Krankenschein im Krankenhaus abgeliefert und nach Rückkehr der Kinder aus dem Urlaub wieder abgeholt werden. Dies eben ist verantwortungslose Ausnutzung einer Gemeinschaftseinrichtung. Wir haben das auch bei der beruflichen Umschulung gesehen, wo bei den Umgeschulten vielfach von vornherein der ernsthafte Wille fehlt, den neu erlernten Beruf überhaupt auszuüben. Der klassische Versicherungs-und Genossenschaftsgedanke „einer für alle und alle für einen" wird pervertiert durch die Einstellung: „Alles für mich und herausholen, was sich herausholen läßt!" Dem kann nach meiner Überzeugung nur beB gegnet werden, wenn, so weit wie möglich — und wieder lege ich auf diese Einschränkung Wert —, Selbstbeteiligung gefordert wird: sei es in der gesetzlichen Krankenversicherung, sei es im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes, wo wir einige Schritte zur Besserung gemacht haben (erstaunlicherweise immer noch gegen den Widerstand derjenigen, die das Arbeitsförderungsgesetz einmal erfunden haben), oder auch beim Bundesausbildungsförderungsgesetz. Selbstbeteiligung schärft das Bewußtsein für die Kosten der sozialen Sicherung, und ich halte das unter den gegebenen Umständen für unvermeidlich. Dazu eine Zwischenbemerkung: Man kann dies alles vergessen, wenn man keine Stabilitätspolitik mehr betreiben und die bestehenden Zustände wieder mit Inflation zuschütten möchte. Dann kann alles so weiterlaufen, wie es gewesen ist. Wenn wir aber diese Voraussetzung nicht wollen, dann werden die Fragen, die hier angeschnitten sind, zu lösen sein.

Für die Krankenversicherung will ich versuchen, ein plastisches Beispiel zu geben: Einschließlich des Arbeitgeberanteils zahlt heute der Versicherte pro Jahr 11/2 Monatsgehälter. Wundert es eigentlich noch irgend jemanden, daß ein solcher Beitrag dazu führt, daß jedermann sich auch die kleinste Leistung über ärztliche Verschreibung, Krankenschein, Apotheke besorgt, ohne daran zu denken, daß für eine Leistung in Höhe von vielleicht 5 DM ein Verwaltungsaufwand vom zigfachen Wert erzeugt wird. Das kann bei solchen Beitrags-sätzen doch eigentlich nicht verwundern, übertriebene Sicherung macht mitunter satt und unbeweglich. Und sie schränkt damit den Freiheitsraum der Begünstigten ein, ohne daß diese es zunächst merken. Z. B. überzogene Mieterschutzgesetze, die den vermeintlich sozial Schwächeren zum Stärkeren und den vermeintlich Stärkeren zum Schwächeren machen, u. a. auch mit der Folge, daß weniger Mietwohnungen gebaut werden. Oder: überzogene Arbeitsförderungsbestimmungen, die manchen Arbeitslosen daran hindern, dorthin zu gehen, wo er Arbeit bekommen könnte. Mit anderen Worten: Es ist sicherlich ein Erfordernis liberaler Politik, daß soziale Sicherung weder die soziale noch die regionale Mobilität in der Weise einengen sollte, wie sie es heute zum Teil tut.

Hier möchte ich wieder zwei Beispiele nennen: Jeder wird es für richtig gehalten haben und auch heute noch für richtig halten, daß die Bundesrepublik seit 25 Jahren mit Hilfe des § 7 b des Einkommensteuergesetzes den Eigenheimbau erheblich gefördert hat. Aber das hat zur Folge, daß die Mobilität von solchen, die sich nach einer neuen Beschäftigung umsehen, herabgesetzt wird und diese Gruppe auch nicht so schnell in der Lage ist, Bewegungen zu folgen, die sich im Zuge struktureller Veränderungen in unserem wirtschaftlichen Aufbau ergeben. Und ein weiteres Thema, zu dem ich einen Satz zitieren möchte, den ich vor zehn Tagen im Bundestag gesagt habe: „Wer die vielgerühmten Sozial-gesetze immer wieder zitiert, wer z. B.den Sozialplan gewollt hat (im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes), der muß in einer solchen Zeit sehen — wie er das würdigt und welche Konseguenzen er zieht, ist eine ganz andere Frage —, daß der Sozialplan in vielen Fällen Vergleiche oder Zwangsvergleiche verhindert und zum Konkurs gezwungen hat, mit der Folge, daß die Arbeitsplätze, die wir durch einen Vergleich vielleicht wieder flott machen können, völlig verloren gegangen sind."

Ich sage nicht, wir wollen von Sozialplänen weg und möchte auch nicht mißverstanden werden. Aber die Folge der Sozialgesetzgebung kann man nicht einfach unter den Tisch bügeln, sie kommt in Zeiten wie den jetzigen hoch. Das sind keine sehr bequemen Überlegungen, aber ich glaube, wir müssen sie, da sie uns jetzt in Zeiten der Rezession bewußt geworden sind, sehen und versuchen, Antworten darauf zu geben. Hier geht es natürlich um Alternativen. Die soziale Sicherung darf sich nicht selbst gefährden. Das ist aber der Fall, wenn die Zahlenden am Sinn ihrer Leistungen zu zweifeln beginnen. Wenn etwa immer weniger Rentenversicherungsbeitragszahler immer mehr Rentner unterhalten und zugleich mit ansehen müssen, daß diese weder Steuer-noch Versicherungsbeiträge bezahlen, könnte die für unsere Sozialordnung entscheidende Rentenversicherung scheitern. Und ähnliches gilt auch für alle anderen Zweige der Sozialversicherung.

Ich behaupte, daß das von Staats wegen am höchsten dotierte Netz der sozialen Sicherung auf längere Sicht zugleich auch das politische anfälligste ist. Und das sicherste ist dasjenige, das am wenigsten auf staatliche Zuschüsse und staatliche Hilfen angewiesen ist. Unser Netz der sozialen Sicherung, von dem jetzt so häutig gesprochen wird, ist sichel-sorgfältig geknüpft und muß auch in seinem Kern erhalten und stabilisiert werden. Soziale Demontage findet nicht statt und kann nicht stattfinden. Aber langfristig müssen wir prüfen, ob dieses Netz nicht die Gefahr in sich birgt, daß sich unsere soziale Sicherung eher darin verfängt und damit viel von ihrer Wirksamkeit einbüßt. Es gibt ja nicht nur, um in dem Bilde zu bleiben, Sprungnetze, die einen auffangen, es gibt auch die Netze der römischen Gladiatoren, die dem Gegner übers Haupt gestülpt wurden, damit er bewegungsunfähig wurde.

Wir müssen darum heute die Grundlage dafür schaffen, daß der Generationenvertrag, den wir zu Lasten Dritter im Jahre 1957 mit der Rentenversicherung abgeschlossen haben, auch in Zukunft eingehalten werden kann, und zwar eingehalten werden kann von denen, die nach uns kommen. Die Zahlung der Renten im Jahre 1978 ist nicht gefährdet, aber es gilt Anstrengungen zu machen, daß wir alle glaubhaft davon überzeugt werden können, daß diese Feststellungen und Behauptungen auch für das Jahr 2000 gelten. 1978 halte ich für beinahe uninteressant. Aber das Jahr 2000, das ist wichtig. Und es ist vor allem dann wichtig, wenn, wie ich glaube, die dynamische Altersrente der völlig unverzichtbare Kern des sozialen Sicherungssystems in der Bundesrepublik ist. Dies ist für mich der entscheidende und unter allen Umständen zu verteidigende, aufrecht zu erhaltende Kern des sozialen Sicherungssystems. Aber wir müssen höllisch aufpassen, daß wir ihn nicht überfordern und überlasten und ihn damit nicht nur an den Rändern, sondern im Kern selbst gefährden.

Das war auch der Grund, warum die FDP 1957 bei der Einführung der dynamisierten Rente gegen eine automatische Anpassung votiert und sich mit diesen Forderungen durchgesetzt hat. Es ist heute nicht mehr so ganz klar, daß die automatische Anpassung, die im Bundestag jedesmal erfolgt, ursprünglich 1957 gar nicht geplant war. Das sollte einfach durch Dekret, auf der Grundlage volkswirtschaftlicher Zahlen, festgesetzt werden. Es ist praktisch in der Zwischenzeit auch so gelaufen. Ich halte das unkritische und einfache Hinnehmen und dann das Entscheiden des Parlaments etwa in dieser Frage, wie auch z. B. in der Frage, daß die Beamtengehälter automatisch, ohne jedes Nachdenken, ohne ein Wort der Diskussion so erhöht werden wie die Tarifverträge zwischen OTV und öffentlichem Arbeitgeber, für keine glückliche Handhabung und gehe auch davon aus, daß wir in den nächsten Jahren diese Fragen nicht mehr ohne (ich will nicht sagen: Nachdenken) Erörterung passieren lassen werden. Die Politiker bleiben nach meiner Überzeugung weiter in der Verantwortung, die Rentenerhöhungen an die langfristigen Erfordernisse anzupassen. Und ganz sicher können wir uns Diskussionen, Ereignisse und Entscheidungen, wie eben im Sommer 1972 mit der Vorziehung des Anpassungszeitraums und ähnlichen Dingen — mit massiven Belastungen und Erhöhungen der Staats-quote —, nicht mehr leisten. Sozialpolitik ist nach all dem weder Korrektiv einer ansonsten sich selbst überlassenen Wirtschaftsordnung noch Kompensationsmittel für beliebige Schäden. Sie ist nach liberalem Verständnis konstitutiver Bestandteil der Gesellschaftspolitik im weitesten Sinne. Allerdings, Ziel dieser Gesellschaftspolitik ist nicht der versorgte, sondern der möglichst frei entscheidende Mensch: nicht der Bevormundete, sondern der Eigenständige; nicht, um es deutlich zu sagen, der schlitzohrige Nassauer, der an möglichst vielen sozialen Segnungen partizipieren möchte, sondern der verantwortliche Bürger. Sozialpolitik soll Chancengleichheit anstreben ohne gleichmacherisch zu wirken.

Lassen Sie mich bitte zu dem Arbeitsgebiet, mit dem ich es täglich zu tun habe, nämlich zu Fragen der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs, eine kurze Untersuchung anstellen, ob es denn hier eigentlich noch Alternativen gibt. Es gibt einen allgemeinen Konsens in der Bundesrepublik, und den werden wir im Wahlkampf nun wieder bestätigt finden: Marktwirtschaft, soziale Marktwirtschaft wird akzeptiert, jeder ist dafür! Die Frage nach einer Alternative zum wirtschaftlichen System und damit auch zum gesellschaftspolitischen System der sozialen Marktwirtschaft wird kaum gestellt, und wenn sie gestellt wird, dann von politischen Randgruppen, die auf die unmittelbaren Entscheidungen keinen oder nur sehr geringen Einfluß haben. Ich will hier nicht der Frage nach der Verfassungsqualität dieses Wirtschaftssystems nachgehen; darüber hat es eine lange Diskussion gegeben. Im Ergebnis komme ich dazu, daß das Grundgesetz uns auch andere Wirtschaftssysteme durchaus erlaubt und ermöglicht und daß es keine verfassungsrechtlich abgesicherte Bestimmung und Verordnung der sozialen Marktwirtschaft für die Bundesrepublik gibt. Wenn wir aber alle — alle politischen Parteien, alle maßgeblichen politischen Kräfte in diesem Land — übereinstimmend den Sachzwang sozialer Marktwirtschaft akzeptieren, kann die Frage nur lauten: Wie sichern wir dieses System, wie bauen wir es aus? Hat es hier Alternativen in der Vergangenheit gegeben und gibt es zukünftig welche? Die Antwort darauf ist nach meiner Meinung eindeutig: Ja!

Natürlich gibt es hier Alternativen. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings in den letzten Monaten — und das wird sich fortsetzen — eine hochinteressante Diskussion gerade auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik über die Frage aufgekommen, ob nicht die soge-nannte diskretionäre Politik durch mehr Regelmechanismen ersetzt werden sollte. Auf deutsch heißt das: Ob nicht die Entscheidungsmöglichkeit der verantwortlichen Wirtschaftspolitiker dadurch ersetzt werden sollte, daß man Gesetze schafft, in denen Aufgreifkriterien, Anknüpfungspunkte, festgeschrieben werden, bei deren Eintreten Maßnahmen zwangsläufig zu treffen sind und praktisch automatisch eintreten. Auch dies ist eine Frage, auf die ich nur die Antwort geben kann: Erstens funktionieren die Regelmechanismen nicht, sie funktionieren nicht einmal im Gesetz über Stabilität und Wachstum, wo wir uns ja selbst schon einiges verordnet hdben, und zum zweiten betreibt man nicht dafür Politik und bemüht sich nicht darum, unabhängige und freie Entscheidungen zu treffen, daß man sich solchen selbstgesetzten Regelmechanismen unterwirft. Nein, ich bin schon der Auffassung, daß es bei der Durchsetzung und Durchführung der Marktwirtschaft ganz wesentliche Alternativen und Entscheidungsspielräume gibt. Die Marktwirtschaft hat in meiner Sicht zwei unerläßliche Voraussetzungen: die eine — sicherlich von niemanden bestritten — heißt Wettbewerb, die zweite Geldwertstabilität = Inflationsfreiheit.

Diese beiden Prinzipien sind von unterschiedlicher Wertigkeit. Der Wettbewerb ist die völlig unverzichtbare Grundlage dieser Wirtschaftsordnung, und in diesem System ist natürlich das Privateigentum ein Motor des Wettbewerbs, weil es die für den Wettbewerb notwendigen, teilweise auch durchaus egoistischen und gar nicht immer positiven Kräfte des Menschen freisetzt. Privateigentum ist deswegen unerläßlich für eine marktwirtschaftliche Ordnung, aber noch unverzichtbarer — und das kann man im übrigen bei den Anhängern der Neoliberalen Schule, auch bei Eucken, finden und nachlesen — ist für mich das Aufrechterhalten und Verteidigen der Gewerbefreiheit. Sie können auch ohne Gewerbefreiheit Privateigentum haben, aber Sie haben eben ohne Gewerbefreiheit keinen Wettbewerb und ohne Wettbewerb keine leistungsfähige Marktwirtschaft und keine gesellschaftliche Ordnung, in der es sich, wie ich meine, zu leben lohnt.

Und bei den Wettbewerbsentscheidungen der vergangenen zwanzig Jahre, nicht nur der vergangenen vier Jahre, hat es ganz entscheidende Alternativen und Weichenstellungen gegeben. Es gibt natürlich immer auch die Alternative: nichts zu tun und zu blockieren.

Ich stelle hier nur zwei Fragen: Wie lange ist Ludwig Erhard mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen blockiert worden? Auch von solchen, die immer erklären, die Marktwirtschaft zu akzeptieren. Und wie lange ist die dringend notwendige Verbesserung des Kartellgesetzes aufgehalten, blockiert und gebremst worden? Viele Legislaturperioden lang, von denen, die laut verkünden, daß sie die Marktwirtschaft für ein unersetzliches und unerläßliches Gesellschafts-und Wirtschaftssystem in unserem Staate halten. Und es gibt auch heute noch immer wieder Kritik an der Handhabung des Wettbewerbsrechts, es gibt immer wieder die Fragen, ob denn eigentlich ein scharfes Kartellrecht, ob denn eigentlich eine starke Kartellbehörde notwendig sei, ob sie überhaupt mit dem System einer freien Wirtschaftsordnung verträglich sei. Hier allerdings haben die Liberalen von Anfang an eine — wie ich glaube — richtige und sehr entschlossen vertretene Alternative gewählt.

Wir brauchen nach unserer Überzeugung einen auf dem Wettbewerbsgebiet starken Staat. Wer sich den liberalen Staat gerade auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, gerade auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik als einen Nachtwächterstaat vorstellt, den können wir nur enttäuschen. Der Nachtwächterstaat ist nicht gefragt. Der Staat ist verpflichtet, die Wettbewerbsordnung a) aufzustellen und b) dann für ihre Einhaltung zu sorgen. Ohne Staat, ohne Kartellamt, ohne Wettbewerbsrecht ist eine Wirtschaftsordnung, die sich letztlich zu Gunsten des Verbrauchers auswirken soll, nicht denkbar. Natürlich gibt es auch hier eine Grenze. Die Grenze liegt dort, wo sich das Bundeskartellamt, die Aufsichtsbehörde, zum Preiskontrolleur aufschwingt, wo sie in Bereiche eindringt, die nach unserer Überzeugung von diesem Wirtschaftssystem in die unternehmerische Entscheidung hineingehören und nicht vom Staate kontrolliert und nicht vom Staat ersetzt werden dürfen.

Gibt es zukünftige Alternativen? Nach meiner Überzeugung in Hülle und Fülle, auch auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts. Wer. will die Fragen entscheiden und wie muß die Frage entschieden werden, ob wir nicht ein grenzüberschreitendes Kartellrecht zur Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen durch multinationale Unternehmen brauchen. Es wird in der nächsten Legislaturperiode darüber eine heiße Debatte geben — sie zeichnet sich schon heute ab —, ob es ein allgemeines Diskriminierungsverbot im Wettbewerbsrecht geben soll oder ob die Selbsthilfemaßnahmen ausreichen, die das Bundeswirtschaftsministerium jetzt mit der betroffenen Wirtschaft einleitet, ferner über die Frage, ob man große Handelszusammenschlüsse wegen der dadurch entstehenden Gefahren von Abhängigkeitsverhältnissen eigentlich gesetzgeberisch regeln muß. Kann man der Einzelhandelskonzentration solchen Lauf lassen?

Ein anderes Beispiel, das in diesen Tagen zu entscheiden ist: Wir haben vor sechs oder acht Monaten im Rahmen der internationalen Verpflichtungen, Mineralölbevorratung zu betreiben — Folge der Energiekrise — ein Bevorratungsgesetz verabschiedet; nun stellt sich heraus, daß angeblich die Wettbewerbs-verschiebungen wegen unterschiedlicher Belastungen durch die Vorratshaltungspflicht zwischen großen Unternehmen und mittelständischen Händlern und Importeuren so evident seien zu Lasten der Großen, so daß man Gesetze ändern müsse. Ein Streit, der bis heute nicht entschieden ist und der für Abgeordnete auch ungewöhnlich schwer zu entscheiden ist, weil man die Sachzusammenhänge und Sachvoraussetzungen eigentlich gar nicht kontrollieren kann. Alle Beteiligten gehen davon aus, daß ein Höchstmaß an Wettbewerb aufrecht erhalten werden muß. Die Frage nach der Alternative heißt: Wie macht man das?

Nun kann man zwar sagen, dies alles seien kleine Beispiele, und ich gebe zu, daß der Raum für alternative Weichenstellungen außerordentlich schmal ist. Jede Einzelentscheidung ist vielleicht gar nicht tragisch, auch wenn sie einmal in einer nicht ganz zu vertretenden Richtung getroffen wird. Aber die Summe dieser Entscheidungen addiert sich gelegentlich in gefährlicher und bedenklicher Weise.

Das ist im übrigen bei der Stabilitätspolitik, dem zweiten Punkt, den ich als Grundlage für Marktwirtschaft nannte, gar nicht anders. Ich erinnere an die geradezu dramatische Debatte über die Alternativen Aufwertung oder Nichtaufwertung in den Jahren 1968 bis 1973. Wir wissen heute, daß ohne die Entscheidungen im Mai 1973, das Abkoppeln der Bundesbank von der Ankaufspflicht für amerikanische Dollars und andere Devisen, Geldmengenpolitik in der Bundesrepublik nicht betrieben werden konnte. Ohne Geldmengenpolitik und Steuerung der Geldmenge kann man keine Stabilitätspolitik betreiben. Diese Erkenntnis ist nun heute, wie mir scheint, allgemein.

Wir wissen heute, und auch da gibt es natürlich Alternativen, daß ohne eine unabhängige Notenbank, ohne die verfassungsrechtlich geB sicherte Unabhängigkeit unserer Notenbank, eine solche Politik nicht betrieben werden kann, und deswegen entscheiden wir uns gegen die Zwei-Schlüssel-Theorie und den Zugriff auf die Währungsreserven. Das bedeutet nicht — und auch darauf möchte ich gerne hinweisen —, daß nun eine Bundesregierung mit einer unabhängigen Notenbank auf dem Gebiete der Stabilitätspolitik, insbesondere im Zusammenhang mit Interventionen in ausländischen Devisenmärkten, keine Entscheidung, etwa keine Alternativen mehr hätte, weil sie sich selber einen Sachzwang gesetzt hat, der ihr keine Bewegung mehr ließe. Weit gefehlt. Alle internationalen Vereinbarungen über Interventionen an den Devisenmärkten, im Rahmen des internationalen Währungsfonds oder auch im Rahmen der Europäischen Schlange, für die wir zehn Milliarden DM aufgewandt haben (vielzuviel unter dem Gesichtspunkt unserer Stabilitätspolitik und unserer Geldmenge) — alle diese Interventionsverpflichtungen geht die Bundesregierung ein. Sie hat die Alternativen zu entscheiden. Sie ist auch hier keinen Sachzwängen und schon gar nicht Sachzwängen allein und ausschließlich ausgesetzt.

Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, daß es jedenfalls aus meiner Sicht Alternativen gibt. Und hier sehe ich eine der Hauptaufgaben meiner Partei. Jeder von uns weiß, und die Kritik daran ist ja gar nicht zu überhören, daß die FDP im Spiel der drei Parteien, die im Bundestag vertreten sind, eine besondere Position hat. Ich will nicht mißverstanden werden, ich will mir diesen Ausspruch nicht zu eigen machen, aber er karikiert und macht damit mit Überzeichnung sichtbar, was ich meine: Es hat einmal jemand gesagt: „Es gibt zwei große Parteien und eine wichtige."

Und daraus folgt natürlich eine besondere Verantwortung. Es folgt daraus 1. die Pflicht zu einer besonnenen Handhabung der uns zugefallenen politischen Macht;

2. die Verantwortung, den Mut zu haben, die Probleme aufzuzeigen, auch wenn sie unpopulär sind und Lösungen anzubieten, mindestens zur Diskussion zu stellen.

Sie werden verstehen, wenn ich sage, wir sind alle nur Menschen, oder wir sind alle nur Parteien und dies insbesondere vor Wahlen. Aber dennoch, ich habe mir die Mühe gemacht, einmal die Wahlplattformen, soweit sie jetzt vorliegen, miteinander zu vergleichen. Und da noch einmal zu untersuchen, wer fordert was, in wieviel Fällen und an wie vielen Stellen und mit welchen Zielset-zungen und wer sagt zu den gleichen Stellen wie oft, wie er denn dieses Was erreichen will.

Und da bin ich nicht zufrieden mit dem, was wir in unserer eigenen Wahlplattform zustande bringen. Da geht es mir ein bißchen so wie bei der Beurteilung der Stabilität in der Bundesrepublik. Absolut bin ich nicht zufrieden. Vergleichsweise bin ich recht zufrieden. Aber das reicht natürlich nicht, um alle diese Probleme, alle diese Fragen, die sich uns stellen, zu lösen. Wir müssen uns den alternativen Entscheidungsmöglichkeiten stellen. Wir werden dies versuchen, das wird von Fall zu Fall ungeheuer schwierig sein. Aber es ist überhaupt viel schwieriger, Einzelentscheidungen zu treffen, zu Einzelentscheidungen zu stehen, die Einzelentscheidung in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen, als nur das große Gemälde des Gesamtzusammenhanges zu malen, an die Wand zu werfen und zu sagen’: Wie schön 'wäre es doch, hätten wir es. Sicher wäre es schön, aber der Weg dahin führt nur über Einzelentscheidungen, führt nur darüber, daß man sich dem Sachzwang stellt und dennoch die Alternativen, die einem gegeben sind, nicht übersieht.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Otto Graf Lambsdorff, Dr. jur., geb. 1926 in Aachen; 1944— 1946 Wehrdienst und Gefangenschaft; seit 1960 Rechtsanwalt; 1955— 1971 tätig im Kreditgewerbe, zuletzt Generalbevollmächtigter einer Privatbank; Vorstandsmitglied von Versicherungsunternehmen. Seit 1951 Mitglied der FDP; Vorsitzender des Bezirksverbandes Aachen; Mitglied des Landesvorstandes bis 1953; seit 1968 Landesschatzmeister; seit 1972 Mitglied des Bundesvorstandes.