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Parteipolitik zwischen Machtstreben und Gemeinwohl | APuZ 32-33/1976 | bpb.de

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APuZ 32-33/1976 Auftrag und Ethos der CDU Parteipolitik zwischen Machtstreben und Gemeinwohl Politik unter Sachzwängen — Gibt es noch politische Alternativen? Das Verhältnis von Programm und Pragmatismus in der politischen Praxis Artikel 1

Parteipolitik zwischen Machtstreben und Gemeinwohl

Erhard Eppler

/ 18 Minuten zu lesen

„Es wird höchste Zeit, daß unsere Parteien ihre Interessen dem Gemeinwohl unterordnen, sich weniger zanken, sich vertragen und gemeinsam, in Einigkeit, dem Gemeinwohl dienen."

So simpel ließe sich Ihr Thema behandeln, wenn man sich in jener a-politischen, vor-demokratischen Tradition bewegt, die in der deutschen Gesellschaft im allgemeinen und im evangelisch-lutherischen Bereich im besonderen auch heute noch lebendig ist, lebendiger, als diesem Staat gut tut.

Natürlich liegen die Dinge komplizierter. Natürlich wären Parteien nicht Parteien, wenn sich ihre Vorstellungen von Gemeinwohl nicht unterschieden. Gäbe es einen vollen Konsens über das, was Gemeinwohl ist, gäbe es keine Parteien.

Parteien haben ihren Part zu spielen, ihre Forderungen und Vorstellungen durchzusetzen, Mehrheiten zu suchen, sich zu streiten, um Macht zu kämpfen, den anderen in die Minderheit zu drängen. Parteien sind keine wissenschaftlichen und keine karitativen Einrichtungen, sie sind immer auch Organisationen, die auf Erringung und Verteidigung von Macht angelegt sind, also auch auf Machtstreben.

Allerdings kann dies kein absolutes Machtstreben sein. Jede Partei hat das Recht und die Aufgabe, die stärkste, bestimmende Partei sein zu wollen, aber wenn wir unser Grundgesetz ernst nehmen, hat keine das Recht, die anderen so schwach zu wünschen, daß sie ihrer Kontrollfunktion nicht mehr gewachsen sind und — im Falle des eigenen Versagens — auch als Alternative ausfallen. Demokratisches Machtstreben will den Gegner in die Minderheit drängen, nicht aber ihm die Chance der Mehrheit für immer nehmen.

Auch dann bleibt die Spannung zwischen Machtstreben und Gemeinwohl erhalten. Es ist die Spannung, die jedem politischen Tun innewohnt oder doch innewohnen muß, wenn es fruchtbar sein soll. Politik ist immer beides: Dienst am Nächsten, am Gemeinwohl,

I.

und Kampf um Macht. Wer dem Nächsten in der praktischen Politik dienen will, muß am Kampf um die Macht teilnehmen; wer dies nicht über sich bringt, kann zwar dem Nächsten dienen, aber nicht im politischen Alltag. Umgekehrt: wo der Kampf um Macht zum Selbstzweck wird, kann solches politische Tun nur noch Unheil stiften.

Diese Spannung wird nicht getroffen durch die Unterscheidung Max Webers zwischen Gesinnungsund Verantwortungsethik. Diese Unterscheidung ist heute eher geeignet, den Blick auf die wirkliche ethische Problematik zu verstellen.

Was Weber als Gesinnungsethik mehr denunziert als beschreibt, wäre für Dietrich Bonhoeffer gar keine Ethik gewesen. Selbstbezogenes Kreisen um das eigene Seelenheil, der ängstliche Versuch, das eigene Gewissen unbefleckt zu halten, mag eine besonders fragwürdige Form religiösen oder ethischen Egozentrismus sein, den Rang einer Ethik hat dies nicht. Jede Ethik ist letztlich auf den Nächsten bezogen, also Verantwortungsethik, wobei es nur einen graduellen Unterschied ausmacht, ob die Verantwortung einer Familie, einer Gemeinde oder einem Nationalstaat gilt. Die Frage ist nicht, ob ich Verantwortung durch Gesinnung ersetzen kann — dies geht im privaten Bereich so wenig wie im politischen — sondern wofür ich Verantwortung trage und wie ich dieser Verantwortung gerecht werden kann.

Die besondere ethische Problematik unserer Tage entsteht aus der Tatsache, daß sich unser Verantwortungsbereich weder räumlich noch zeitlich deckt mit der demokratischen Legitimation, die wir zur Ausübung von Verantwortung brauchen. Während die Bedrohung humanen überlebens global ist und nur global angegangen werden kann, richtet sich das Bewußtsein unserer Wähler fast ausschließlich auf nationale, regionale oder lokale Interessen. Während nur langfristig angelegte Konzepte noch Aussicht auf Erfolg haben, wird der Volksvertreter gezwungen, von Wahltermin zu Wahltermin zu planen und zu denken.

II.

Daß Parteien überzeugt sind, sie könnten dem Gemeinwohl besser dienen als andere, ist selbstverständlich. Aus welcher Überzeugung, wenn nicht aus dieser heraus, wird man einer Partei beitreten? Aber hier lauert schon auch schon der Kurzschluß: wo eine Partei ihre Macht, ihren Wahlerfolg, ihre Regierungsmehrheit mit dem Gemeinwohl gleichsetzt, wo sie glaubt, sie diene dem Gemeinwohl schon allein damit, daß sie und keine andere Partei regiere, und also seien vom Zweck des Gemeinwohls her die Mittel zur Erringung ihrer Macht geheiligt, da ist Demokratie in Gefahr. Entweder ist eine solche Überzeugung begründbar, dann gibt es keine demokratische Alternative und also bald auch keine Demokratie mehr. Oder sie ist nicht begründbar, dann wird auf diese Weise die Basis und der Grundkonsens zerstört, auf die eine Demokratie unseres Typs angewiesen ist. Denn damit wird den anderen Parteien die demokratische Legitimität aberkannt, ohne die es demokratischen Machtkampf nicht geben kann.

Streit darüber, was im Interesse des Gemeinwohls geschehen soll, gibt es zwischen und innerhalb der Parteien. Das Ergebnis wird nicht nur vom jeweiligen Gesellschaftsbild, von der jeweiligen Zielsetzung bestimmt, sondern auch von der jeweiligen Analyse der Wirklichkeit. Beispiel: wer die Vorgänge in der Weltwirtschaft seit Herbst 1973 als vermeidbaren Betriebsunfall versteht, mutwillig verschuldet von einigen Öl-Potentaten, wird im Interesse des Gemeinwohls andere Schritte für nötig halten als jemand, der in diesen Ereignissen Signale für Veränderungen in der Weltwirtschaft sieht, die eine neue Epoche ankündigen. Und dies gilt auch dann, wenn beide von denselben Grundwerten und Zielvorstellungen ausgehen.

Sie wissen vielleicht, daß ich der Meinung bin, in die erste Hälfte der 70er Jahre falle eine welthistorische Zäsur, deren Tiefe erst in einigem Abstand voll sichtbar werde. Alle Prognosen aus dem Beginn der siebziger Jahre sind heute Makulatur, während die Prognosen für das Jahrzehnt zuvor in der Mitte der sechziger Jahre noch einigermaßen stimmten.

Stellte sich die Zukunft für uns in den sechziger Jahren als reine Fortschreibung der feststellbaren Wachstumstrends dar, so sehen wir heute, daß dies das einzig Undenkbare ist: die einfache Fortschreibung bestehender Trends. Sie führen alle ins Undenkbare, ins Unerträgliche, ins Unmenschliche: Ob es die Trends der Bevölkerungsvermehrung oder der Boden-erosion, der Ausdehnung der Wüsten oder der Verschmutzung und Überfischung der Meere, ob es die Ausdehnung der Elendsquartiere in den städtischen Ballungszentren der Entwicklungsländer oder die Entleerung der Stadtkerne in den Industrieländern ist, ob es der Verbrauch an fossilen Energieträgern oder die Erschöpfung einiger Nichteisenmetalle, ob es die Ziffern der Kriminalität oder die Kosten eines technisch perfektionierten Gesundheitswesens sind: wo immer wir die Trends der letzten zehn Jahre einfach fort-schreiben — und ich könnte Beispiele fortsetzen —, kommen wir rasch an den Punkt, wo von einem humanen überleben nicht mehr die Rede sein kann. Diese Punkte liegen keineswegs in weiter Ferne, sondern innerhalb der Lebenszeit der Kinder, die heute aufwachsen, teilweise sogar der Fünfzigjährigen, die noch das nächste Jahrtausend anbrechen sehen möchten. Alle diese Krisen-erscheinungen haben die fatale Neigung, sich gegenseitig zu verflechten zu einem Knäuel, bei dem wir oft nicht wissen, ob er noch entwirrbar ist.

III.

Es ist hier nicht der Ort, dies im einzelnen darzustellen, zumal ich dies an anderer Stelle versucht habe. Aber aus dieser Analyse ergeben sich Folgerungen für das, was im Interesse des Gemeinwohls zu tun ist, wenn unsere Kinder die Chance eines humanen überlebens haben sollen. Die folgende Liste gibt nur einige wichtige Beispiele: 1. Wir brauchen eine Außenpolitik, die alles tut, um eine nächste Drehung der Rüstungsspirale zu verhindern, weil die nächste Drehung sogar dann tödlich werden könnte, wenn die neuen Waffen — was heute noch unsicherer ist als vor fünf Jahren — nie eingesetzt werden. Wenn noch mehr Ressourcen durch den Rüstungswettlauf aufgesogen wer-den, sinkt die Chance, den Wettlauf mit Hunger, Umweltzerstörung oder Kriminalität zu gewinnen. 2. Wir brauchen eine Entwicklungspolitik, die konsequent darauf verzichtet, Entwicklungsländern unsere Form kapitalintensiver Produktion und technischer Zivilisation aufzudrängen und sich primär an den Grundbedürfnissen der überwiegend kleinbäuerlichen Massen orientiert: Wasser, optimale Werkzeuge, einfache Maschinen, Dünger, Schutz vor Erosion, Aufforstung, Chancen für Kooperation und billigen Kredit. 3. Wir brauchen eine vorausschauende Strukturpolitik, die einerseits den Entwicklungsländern eine Chance auf unseren Märkten gibt und andererseits bei uns das Recht auf Arbeit durchsetzt.

Diese Aufgabe geht weit über eine angemessene Konjunktursteuerung hinaus.

Wir müssen den Prozeß der Umwandlung steuern von einer Gesellschaft, die überwiegend durch industrielle Produktion geprägt ist, in eine Gesellschaft, in der Dienstleistungen rasch an Gewicht zunehmen. Es wäre also zu klären, welche Dienstleistungen besonders dringend gebraucht werden, wie sie zu finanzieren sind und wie die nötigen Kräfte dafür ausgebildet werden. 4. Wir brauchen eine Bildungspolitik, die unsere Kinder auf diese veränderte Gesellschaft vorbereitet, die z. B. Rücksichtnahme und solidarische Kooperation freier Menschen einübt. Eine solche Bildungspolitik muß damit rechnen, daß die Zahl der Arbeitsplätze für ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter rasch abnimmt. Sie wird sich also vor Unterqualifikation mehr hüten müssen als vor Überqualifikation. 5. Wir brauchen eine Einkommenspolitik, die aufreizend krasse Unterschiede zwischen den durchschnittlichen Arbeitereinkommen und den durchschnitlichen Einkommen einiger Gruppen von Akademikern und Selbständigen reduziert, weil nur dadurch das allmähliche Auslaufen allgemeiner realer Einkommenszuwächse ohne inflatorischen Druck und ohne politische Verkrampfungen durchzustehen ist. Nur dadurch läßt sich auch der Konkurrenzdruck in unseren Schulen auf ein humanes Maß zurückschrauben. Solange in unseren Schulen entschieden werden soll, ob der junge Mensch Aussicht auf ein Einkommen von 25 000 oder 250 000 DM hat, wird es keine humane Schule geben.

6. Wir brauchen eine Sozialpolitik, die das Netz sozialer Sicherung dadurch unzerreißbar macht, daß sie die Chancen jedes einzelnen erhöht, weniger häufig in dieses Netz zu fallen oder rascher wieder herauszuklettern: ihn also weniger Unfallgefahren aussetzt, gegen Suchtgefahren widerstandsfähiger macht, ihn seltener arbeitslos und weniger krank werden, ihn eher die Altersgrenze in arbeitsfähigem Zustand erreichen läßt. Es geht darum, Solidarität nicht nur zu verstehen als den — sicherlich notwendigen — Unfallwagen, der alle abschleppt, die in einer totalen Konkurrenzgesellschaft schon unter die Räder gekommen sind, sondern soviel Solidarität in die Strukturen unserer Gesellschaft einzuprägen, daß weniger Menschen unter die Räder kommen.

7. Dazu gehört auch eine Verkehrspolitik, die der Schonung Priorität gibt, der Schonung der Energiequellen, der Landschaft, der Stadtbilder, vor allem aber der menschlichen Gesundheit und des menschlichen Lebens.

8. Wir brauchen eine Gesundheitspolitik, die Abschied nimmt von der — unabhängig vom sozialen Sicherungssystem — unbezahlbaren Illusion, es lasse sich alles, was wir in dieser Gesellschaft mutwillig und fahrlässig an Gesundheit zerstören, in unseren Schulen und Betrieben bis hin zum Straßenverkehr, durch einen technisch perfektionierten Gesundheitsapparat wieder reparieren. Dies bedeutet die Verlegung des Schwerpunkts auf Verhütung von Berufs-und Zivilisationskrankheiten, auf Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsaufklärung, auf Humanisierung von Arbeitsplatz und Schule.

IV.

Diese acht Punkte erschöpfen nicht annähernd das Thema. Es wäre da über For-schungs-und Energiepolitik zu sprechen, über das Verhältnis des Bürgers zu seiner Verwaltung und der Verwaltung zum Bürger. Aber auch darüber, wie verhindert werden kann, daß sich die Bundesrepublik Deutschland durch eine anderswo unverständliche Form des Antikommunismus aus der Gemeinschaft der Völker Westeuropas entfernt. An Aufgaben jedenfalls fehlt es uns nicht.

Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Der beginnende Wahlkampf wird von den Parteien mit Grundthesen geführt, die an Simplizität nichts zu wünschen übrig lassen.

Die CDU/CSU versucht den Wählern klar zu machen, wie schön und heil die Welt wäre und wie gut es ihnen doch ginge, wenn es nur die bösen Sozialisten nicht gäbe, diesseits und jenseits des Stacheldrahts.

Und die Sozialdemokraten setzen dem entgegen, wie gut es uns gehe, eben weil es die Sozialdemokraten gibt.

Nun mag man beide Grundthesen nicht eben für berauschend halten. Dies ändert nichts daran, daß die zweite These wesentlich näher an der Wirklichkeit ist als die erste. Für die zweite spricht die internationale Statistik von den Realeinkommen über die Inflationsraten und die Devisenreserven bis zu den Sozialleistungen. Für sie spricht das, was man den Aufschwung nennt. Kein Zweifel: im konventionellen Krisenmanagement war niemand auf der Welt entschlossener und erfolreicher als Helmut Schmidt. Man mag mit ihm darüber streiten, ob dies ausreiche oder ob für die nächsten vier Jahre ganz anderes zu tun sei. Aber eben darüber streitet die Opposition nicht mit ihm. Daß sie es nicht tut, gefährdet das Funktionieren unseres Systems.

Nun weiß ich sehr wohl, daß gelernte Wahl-strategen von der Wirklichkeit wenig halten, dafür um so mehr von dem Bild der Wirklichkeit, das sie entwerfen und dem Wähler suggerieren können. Aber das Bild von einer eigentlich ganz glücklichen, harmonischen und heilen Welt, die nur in der Bundesrepublik durch ein paar Sozis gestört und bedroht werde, hat den Kontakt mit der Wirklichkeit so hoffnungslos und endgültig verloren, daß es nur noch Unheil stiften kann. Man mag zu diesem Unheil schon den Zwang für die Regierung rechnen, den Wahlkampf überwiegend mit einer Leistungsbilanz zu führen, auch wenn diese Bilanz immerhin den Vorzug hat, daß sie Wirklichkeit beschreibt, daß sie stimmt.

V.

Auf jeden Fall wird der Wahlkampf nicht geprägt sein von den Themen, mit denen wir in den nächsten vier oder gar acht Jahren zu tun bekommen. Der Wahlkampf wird nicht geführt als Wettbewerb um die besseren Konzepte mittelfristiger Krisenbewältigung, sondern um eine im Grunde verrückte Scheinfrage: ob die sozialliberale Koalition schuld sei an dem, womit wir uns seit knapp drei Jahren herumschlagen.

Dies führt übrigens auch dazu, daß zwischen den großen Blöcken bisher kein greifbares und damit begreifbares Konfliktthema sichtbar wäre, das den kommenden Wahlkampf beherrschen könnte. Da keine Alternativen gezeigt werden, gibt es auch keine Konflikte, an denen der Wähler sich orientieren könnte. Nicht in der Wirtschaftspolitik, nicht in der Außen-oder Entwicklungspolitik, nicht einmal in der Sozialpolitik. Das Pro und Kontra Mehrwertsteuer ist schon deshalb ein Schein-konflikt, weil nach der Verfassung keine Regierung das Recht hat, laufende Ausgaben in Zeiten wirtschaftlichen Gleichgewichts durch Kredite zu finanzieren, also jede Regierung durch die Verfassung entweder zu Steuererhöhungen oder zu radikalem Abbau von Leistungen im Bereich der militärischen oder sozialen Sicherheit gezwungen sein wird. Wer heute Steuervergünstigungen für alle möglichen Gruppen und gleichzeitig die Erhöhung des Kindergeldes oder gar noch ein Erziehungsgeld verlangt, dürfte des Kopfrechnens unkundig oder der Ehrlichkeit unfähig sein.

Obwohl dramatische Konfliktthemen auf der Straße liegen, dürften wir also einen Wahlkampf ohne beherrschendes Konfliktthema bekommen. Trotzdem oder gerade deshalb könnte uns der übelste Wahlkampf bevorstehen, den wir bisher erlebt haben.

Gerade weil die Regierung durch keine für den Wähler erkennbaren Konfliktthemen herausgefordert wird, bietet sich ein Ausweichen in sogenannte Grundsatzfragen an. Gerade weil wir uns nicht streiten werden über die Aufgaben der nächsten vier oder acht Jahre, müssen wir uns mit den Gespenstern der Vergangenheit herumschlagen.

Welch irreale, gespenstische Züge unsere politische Diskussion annimmt, läßt sich an einem Beispiel der vergangenen Woche, also der Woche vom 24. bis 30. Mai 1976 zeigen. Da zieht die Bundesregierung bei der Welt-handelskonferenz in Nairobi den Zorn und wohl auch den Haß von über hundert Entwicklungsländern auf sich, weil sie allen Wünschen der Dritten und Vierten Welt nicht viel mehr entgegenzusetzen hat als ein beinahe dogmatisches Bekenntnis zu jenen marktwirtschaftlichen Prinzipien, die im Süden dieser Erde eher als ein Mechanismus zur Aus-B beutung der armen Völker empfunden werden. Und diese selbe Regierung wird zuhause, genau gesagt auf dem CDU-Parteitag in Hannover, mit dem Slogan Freiheit statt Sozialismus konfrontiert. Dort, in Hannover spielt die Zuspitzung zwischen Nord und Süd nicht die geringste Rolle, dafür wird die Einigung Westeuropas beschworen, und zwar ebenfalls mit der Alternative „Freiheit oder Sozialismus", obwohl sich jeder an den Fingern abzählen kann, daß Westeuropa nie zusammenfinden wird, wenn zu allen bestehenden Differenzen hinzu die demokratischen Sozialisten Europas den Eindruck gewinnen sollten, dieses Europa solle gegen sie gebaut werden. Man will bestehende Spaltungen überwinden, indem man neue, gefährlichere schafft.

Es gibt kein Vakuum in der öffentlichen Diskussion. Beschäftigen wir die Menschen nicht damit, wie wir — mühsam genug — in den kommenden Jahren das Notwendige machbar machen, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn wieder die Ängste und Ressentiments der fünfziger Jahre die Diskussion beherrschen. Wir leben in einer Zeit, in der einen gelegentlich Angst überfallen kann, wenn man die Wirklichkeit der siebziger Jahre und die Wahrscheinlichkeiten der achtziger-und neunziger Jahre überdenkt. Aber gerade dann empfindet man es als gespenstisch, wenn Menschen Angst eingejagt wird vor der Enteignung ihres Häuschens, vor ein paar Dutzend kommunistischer Lehrer, vor den Maschinenpistolen der DDR-Volksarmee.

Dies alles mag in der Tat dem Machtstreben einer Partei dienen, dem Gemeinwohl dient es schon deshalb nicht, weil solches Hochpeitschen von alten Ängsten uns unfähig macht, die neuen Herausforderungen auch nur in den Blick, geschweige denn in den Griff zu bekommen.

Wer die Gefahren der achtziger Jahre glaubt abschätzen zu können, dem möge man abnehmen, daß ihn ein Wahlkampf um die Ängste der fünfziger Jahre hart an den Rand der Verzweiflung bringt, Verzweiflung nicht im Sinne parteipolitischen Erfolgs, sondern Verzweiflung an der Chance unserer Demokratie, mit dem fertigzuwerden, was unsere ganze Energie verlangt; Verzweiflung auch, weil schon jetzt sichtbar wird, worin unsere Kinder und unsere Enkel unser historisches Versagen sehen und wie teuer sie es bezahlen werden.

VI.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang die Slogans der Union aufgreifen, die Freiheit und Sozialismus als Alternativen darstellen.

Es ist nicht ganz einfach, diesen Slogans eine neue Seite abzugewinnen, zuviel ist darüber schon gesagt worden.

Zuerst: Hier handelt es sich um eine ehrwürdige Tradition der deutschen Rechten. Vor fünfzig Jahren versprach die Deutsche Volkspartei den deutschen Wählern, sie werde sie von der Knechtschaft des Marxismus befreien. Wenige Jahre später halfen Reste dieser Partei in der Harzburger Front tüchtig mit, die Deutschen von ihrer Demokratie zu befreien.

Hier wird, wie immer die eher peinlichen Interpretationsversuche für intellektuell Anspruchsvollere lauten mögen, an Schichten des deutschen Bewußtseins appelliert, die schon vor dem Nationalsozialismus ansprechbar waren, die am schamlosesten von den Nationalsozialisten mobilisiert wurden und die nicht mit dem Nationalsozialismus verdorrten. Wir haben 1957 von Konrad Adenauer erfahren, alle Wege des Marxismus führten nach Moskau, auf einem Plakat, das dann eineinhalb Jahrzehnte später von der NPD imitiert wurde. Der Slogan „Freiheit statt Sozialismus" bedeutet also zuerst, daß man entschlossen ist, den Wahlkampf mit den Ressentiments der Vergangenheit zu führen, nicht mit den Aufgaben der Zukunft.

Was die Sache vollends gespenstisch macht, ist die Tatsache, daß diese ideologische Polarisierung keineswegs das Ergebnis einer Polarisierung in der Sache ist. In keinem Parlament wurde weniger um Alternativen gerungen als im 7. Deutschen Bundestag. Während im Parlament die meisten Gesetze schließlich einstimmig verabschiedet wurden, soll jetzt an fiktiven ideologischen Fronten gekämpft werden. Oder schärfer: die ideologische Polarisierung entspringt nicht der sachlichen, sie ersetzt sie. Die ideologische Polarisierung, die wir erleben, ist nicht Ausdruck, sondern Ersatz für Sachalternativen. Wir haben nicht Weimar, aber hier wird Weimar gespielt, möglicherweise solange, bis wir es haben. Hier wird Weimar herbeigeredet. In das Vakuum der Sachalternativen dringen Parolen der Vergangenheit, deren fatale Wirkung in diesem Lande längst ausprobiert wurde. Weil die Aufgaben der achtziger Jahre tabuisiert sind, zerfleischen wir uns an den Parolen der zwanziger-oder fünfziger Jahre.

VII.

Für eine bestimmte Sorte von Wahlstrategen ist Sprache nicht mehr die einzigartige humane Fähigkeit zum Ergreifen und Begreifen von Wirklichkeit, sondern eine politische Waffe zur Lähmung des Gegners oder, wie Eduard Heußen es formuliert, „ein Instrumentarium, Wählermehrheiten zu finden, ohne offen und nachgreifbar zu sagen, wofür."

In der Fachsprache redet man vom Besetzen von Begriffen. Schon in Kommunalwahlkämpfen sprechen heute Gemeinderäte davon, welche Begriffe zu besetzen seien. Und Herr Biedenkopf verkündet auf Parteitagen im Stile eines Wehrmachtsberichts, welche Begriffe seit dem letzten Parteitag neu besetzt wurden.

Dieses Besetzen wird von Leuten besorgt, die meist wenig oder gar keinen Einfluß auf die praktische Politik haben. Es läuft völlig separat. Man besetzt, indem ein Spitzenpolitiker eine Grundsatzrede hält, indem man eine Tagung abhält, indem ein Programm, möglichst in zehn inhaltsleeren Punkten, formuliert wird, über das die Praktiker leise lächeln.

Dieser alberne Begriffsimperialismus zielt nicht auf Information, sondern auf Verwirrung, auf eine parteipolitisch nützliche Verwirrung der Sprache, ohne deren Intaktheit Gemeinwohl nicht denkbar ist.

Dieser imperialistische Feldzug hat nun eine neue Phase erreicht. Die Union will nicht nur den Begriff Freiheit für sich besetzen, sie will alle anderen von diesem Begriff aussperren, den Begriff für sich monopolisieren. Ein durchaus logischer Schritt für die Büchsenspanner im Adenauer-Haus. Ein fataler Schritt für unsere Demokratie. Moralisch — falls da moralische Kategorien überhaupt Platz haben — wird er gerechtfertigt mit der Überzeugung, daß die Macht der Partei doch wohl zusammenfalle mit dem Gemeinwohl. Weil das Gemeinwohl identisch ist mit dem Sieg der CDU, darf sie auch Slogans benützen, die den entscheidenden Grundbegriff der gemeinsamen Verfassung für sie monopolisieren soll. Umgekehrt: weil die Union für die Freiheit kämpft, darf sie ihren Sieg mit dem Gemeinwohl gleichsetzen. Ein Teufelskreis im exakten Sinne des Wortes.

VIII.

Daß die Demokratie des Bonner Grundgesetzes stabiler ist als die von Weimar, läßt sich darauf zurückführen, daß es in der Bundesrepublik — im Gegensatz zur Weimarer Republik — einen Grundkonsens der großen Parteien gibt, der sich im Grundgesetz niedergeschlagen hat. Kein Wunder, daß nach 12 Jahren Diktatur der Grundwert der Freiheit der wichtigste unseres Grundgesetzes geworden ist. Was in der Verfassung von allen festgeschrieben wurde, kann und muß außerhalb parteipolitischer Alternativen bleiben.

Statt daß wir Gott jeden Morgen dafür danken, daß wir in einem der wenigen Länder leben dürfen, in denen es einen unbestrittenen, tragenden Grundkonsens für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat gibt, wird nun dieser Grundkonsens, der erste, den es in der deutschen Geschichte gab, mutwillig zerstört. Wenn die Bürger eines Häuserblocks Jahrzehnte auf ein Telefonhäuschen gewartet haben, dann sind sie empört, wenn alsbald die Wählscheibe demontiert oder der Hörer abgerissen wird. Was hier mit dem tragenden Wert unseres Grundgesetzes geschieht, ohne jeden Grund in der Sache, ist von derselben moralischen Qualität, nur daß hier nicht die Kommunikation für einen Häuserblock erschwert, sondern für eine ganze Gesellschaft zerstört wird.

Was soll ein junger Sozialdemokrat in der Bundeswehr denken, wenn er eine Freiheit verteidigen soll, als deren Feind er sich im Parteienstreit denunziert sieht? Was hier geschieht, ist die mutwillige Demontage der Basis, auf der unsere Demokratie ruht.

Daß die Ordnung des Grundgesetzes im Interesse des Gemeinwohls liegt, dürfte nur von wenigen Außenseitern bestritten werden. Wer, um seiner Partei zur Macht zu verhelfen, die Grundlage dieser Ordnung zum Gegenstand eines imaginären Parteienstreits macht, überschreitet eine Grenze, hinter der letztlich etwas anderes liegen muß als das, was wir haben: eine andere Republik.

„Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" gilt bislang als Wahlspruch einer wehrhaften Demokratie. Lautet die Alternative wirklich „Freiheit oder/statt Sozialismus", dann ist der Tag abzusehen, wo das ganze Pathos solcher Reden die Sozialdemokraten trifft. Und Ansätze dazu gibt es bereits. Wo es aber zur moralischen Pflicht der selbsternannten Freiheitshelden wird, um der Freiheit willen eine Partei niederzuringen, die unsere Freiheit mitbegründet, mitverteidigt, mit Leben erfüllt und in zäher Alltagsarbeit für die Mehrzahl der Bürger erlebbar gemacht hat, sind wir nicht mehr in der Republik, die Kurt Schumacher, Theodor Heuß, Jakob Kaiser oder Carlo Schmid gewollt haben. Wir sind dann in einer anderen Republik. Anders gesagt: Wenn der Slogan „Freiheit oder Sozialismus" einen Sinn haben soll, dann nur den, daß nun die Systemveränderung von rechts versucht werden soll.

IX.

Daß Parteien sich gegenseitig vorwerfen, ihre Politik gefährde die Sicherheit des Landes, gehört noch zur demokratischen Auseinandersetzung. Im Zusammenhang mit der Ostpolitik haben wir diesen Vorwurf tausendmal von der Union gehört, und wenn Willy Brandt einen ähnlichen Vorwurf gegen die CDU/CSU erhob, so war daran allenfalls ein Wort außergewöhnlich und zunächst mißverständlich. Die Alternative „Freiheit oder Sozialismus" ist kein Ausrutscher, keiner der ärgerlichen, aber eben doch geläufigen Vorwürfe. Diese Alternative markiert eine neue Qualität der inneren Auseinandersetzung, an deren Ende entweder eine ernüchterte, durch den Mißerfolg dieser Parole ernüchterte Union oder eine pervertierte, durch den Erfolg dieser Parole in ihrer Substanz veränderte Republik stehen wird, eine Republik, in der es, wie im Kaiserreich, zwei Gruppen von Bürgern gibt, gutgesinnte, die für die Freiheit sind, und potentielle Verfassungsfeinde.

Es gehört zu den schlimmsten Hypotheken der deutschen Geschichte, daß unmittelbar nach Gründung des Reiches seine Bürger eingeteilt wurden in Nationalgesinnte und Reichsfeinde, wobei immer die Leute sich für die guten Deutschen halten wollten, die möglichst viele Deutsche für schlechte Deutsche halten durften. Die Gründer" des Reiches haben die Nation gespalten. Die Parole „Freiheit statt Sozialismus" spaltet das gespaltene Deutschland noch einmal, in solche, die sich für gute Demokraten — und Deutsche — halten wollen, weil sie die anderen für schlechte Demokraten — und Deutsche — halten dürfen. Und all dies, wie vor 100 Jahren, aus Liebe zu Deutschland. Der Kampf gegen die Sozialisten, Deutschland zuliebe, das konnte man sich 1876 noch’leisten, 1976 nicht mehr, jedenfalls nicht mehr ohne schlimme Folgen für uns alle.

X.

Es gibt also viele Gründe, warum heute parteipolitisches Machtstreben und Gemeinwohl härter aufeinanderprallen als zu irgendeiner Zeit der letzten dreißig Jahre. Wir stehen vor einem Wahlkampf, der, wenn kein Wunder geschieht, auf Kosten des Gemeinwohls geführt werden dürfte, und zwar in mindestens fünf Punkten:

Erstens dadurch, daß dem Bürger ein so groteskes Bild der Wirklichkeit unserer Welt vermittelt wird, daß bei der unvermeidlichen Konfrontation mit den Realitäten der späten siebziger-und früher achtziger Jahre psycho19 logische und damit politische Kurzschlüsse unvermeidlich werden.

Zweitens dadurch, daß aufgrund eines verrückten Weltbildes das Stroh der fünfziger Jahre noch einmal gedroschen wird. Anstelle der Realität von heute und morgen werden die Ressentiments von gestern, vorgestern und vorvorgestern den Wahlkampf beherrschen.

Drittens dadurch, daß die Aufgaben der nächsten Jahre dem Wähler gar nicht ins Blickfeld geraten und damit jede künftige Regierung es unerhört schwer haben wird, diese Aufgaben anzupacken. Dieser Wahlkampf erschwert in jedem Fall zukunftsorientiertes Regieren.

Viertens dadurch, daß das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie leiden muß. Es gibt ohnehin beträchtliche Zweifel, ob unser Typ parlamentarischer Demokratie zur Bewältigung dramatischer Zukunftsaufgaben tauge. Ein Wahlkampf im Stil der fünfziger Jahre angesichts der Aufgaben der achtziger Jahre könnte aus Zweifeln Verzweiflung machen.

Fünftens dadurch, daß das Aussparen zukunftsgerichteter Sachkonflikte Raum schafft für eine pseudo-ideologische Auseinandersetzung, die in jedem Fall an'der Substanz jener freiheitlichen Ordnung zehren muß, um deretwillen sie angeblich geführt wird.

Ich weiß, die Weichen sind gestellt. Aber es 1 soll nachher niemand behaupten, man habe vorher nicht gewußt, wer sie gestellt hat, wie und warum sie so gestellt wurden und wohin die Schienen führten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

1 Erhard Eppler, Dr. phil., geb. 1926 in Ulm; 1943— 1945 Kriegsund Wehrdienst. Studium der Fächer Englisch, Deutsch und Geschichte; 1957 Studienrat. Im Bundestag seit 1961. Seit 1970 Mitglied des Bundesparteivorstandes der SPD, seit 1973 des Präsidiums der SPD sowie Vorsitzender der SPD in Baden-Württemberg. Mitglied der Synode der EKD; 1968— 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.