Beobachtungen und Reflexionen eines „europäischen" Journalisten
Urplötzlich ist die Kritik an den Deutschen wieder in Mode gekommen. Hierzulande möchte man gerne glauben, daß diese plötzliche Wende in der Haltung zur Bundesrepublik vor allem auf die gute ökonomische Lage des Landes und ein daraus resultierendes Neidgefühl zurückzuführen sei. Aber das ist allenfalls einer unter zahlreichen anderen Gründen.
Da ist der Radikalenerlaß mit einer halben Million Überprüfungen in drei Jahren, der für viele Ausländer unverständlich bleibt. Da sind weiter die forschen, fast belehrenden Worte deutscher. Politiker und Publizisten über den einzuschlagenden Weg bei der Lösung ökonomischer Schwierigkeiten in der EG. Da sind Gerichtsurteile gegen Ausländer die jenseits unserer Grenzen oft weder für logisch noch gerecht gehalten werden, ja bisweilen auf einhellige Ablehnung stoßen. Auch die Film-und Bildberichte vom Stammheimer Prozeß mit dem festungsähnlich gesicherten Gerichtsgebäude im Hintergrund mögen wirken. nicht Da ist weiter die Haltung der deutschen Delegation bei der Welthandelskonferenz von Nairobi, in der die „reiche," Bundesrepublik nur wenig Konsens mit den übrigen EG-Ländern fand und mehr mit der Delegation der USA übereinstimmte als mit ihren europäischen Partnern. Gerade von der Bundesrepublik Deutschland, als dem Land mit den weitaus größten Devisenreserven unter den neun EG-Ländern, hätte man — so folgern zahlreiche ausländische Beobachter — mehr Entgegenkommen für die Wünsche und Nöte der Entwicklungsländer erhofft, als dort gezeigt wurde. Und da sind noch die alten Empfindlichkeiten und Vorurteile, die wieder sichtbar werden, dem Schneeballsystem folgend, wenn die Kritik an irgendeiner Stelle erstmals manifest wird.
Schließlich und vor allem aber ist da dieses enge, ja innige Verhältnis zu den USA, das bei den europäischen Partnern Unbehagen, auslöst und der Bundesrepublik den Vorwurf einträgt, sie sei „zu amerikanisch".
Der Radikalenerlaß und die unterschiedliche Sicht der Dinge
Besonders der Radikalenerlaß — im Ausland ganz allgemein als „Berufsverbot" bezeichnet — ist zu einem Stein des Anstpßes geworden und beschäftigt die Gemüter nicht nur der Kommunisten, wie hierzulande verschiedentlich zu voreilig angenommen wird. Natürlich, für moskautreue Kommunisten ist dies ein willkommenes Agitationsfeld, um die Instabilität Westeuropas virulent zu halten, und so wird immer wieder versucht, entsprechende Aktionen zu lancieren, z. B. auch in den europäischen Versammlungen, der parlamentarischen Versammlung des Europarates und im Europäischen Parlament. Als etwa anläßlich des Besuchs des Generalsekretärs der UNO, Kurt Waldheim, beim Europarät am 4. Mai 1976 der deutsche Sozialdemokrat Helmut Sieglerschmidt im Namen des Rechtsausschusses der Versammlung Bericht über den Stand des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die bürgerlichen und. politischen Rechte erstattete, wurde die Debatte dazu auf einen Antrag der drei französischen Kommunisten in dieser Versammlung flugs umfunktioniert zu einer Debatte über die „Berufsverbote" in der Bundesrepublik Deutschland. Sie legten einen Antrag vor, in dem der Rechtsausschuß der parlamentarischen Versammlung aufgefordert wird, „in kürzester Frist einen Bericht vorzulegen über die Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Bundesrepublik Deutschland bei dem Verfahren zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst"
Nach einer sehr ausführlichen Darstellung der tatsächlichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland durch verschiedene deutsche und ausländische Delegierte (vor allem des Obmanns der deutschen Delegation in der parlamentarischen Versammlung — des SPD-Abgeordneten Klaus Richter—, des CDU-Abgeordneten Günther Müller und des bekannten Schweizer Historikers Walter Hofer) und nach dem Angebot der deutschen Sprecher, dem Rechtsausschuß alle erbetenen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, wurde der Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
In einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung sagte anschließend der niederländische Sozialist Pieter Stoffelen: „Der Berichterstatter, mein Kollege und Freund Sieglerschmidt, kennt viele Bürger in meinem Lande, und nicht nur Sozialdemokraten, die sehr beunruhigt sind über den Inhalt und die Konsequenzen des Radikalenerlasses. Wir sind wirklich beunruhigt über die Konsequenzen dieser Maßnahmen für die Gedanken-und Gewissensfreiheit, die Assoziationsfreiheit und andere Freiheitsrechte. Wir verstehen auch nicht, warum ein Chauffeur oder Lokomotivführer seine Arbeit nicht ausgezeichnet ausführen kann, nur weil er ein aktiver Kommunist ist. Wir verstehen auch nicht, warum ein Zweifel an gegen guter Lehrer, der hegt der -wärtigen Funktionstüchtigkeit der demokratischen Institutionen, nicht weiter Lehrer sein kann, wenn er nicht völlig schweigt über seine politischen Überzeugungen, sogar in seinem privaten Leben. Diese Besorgnis ist auch nach der Rede von Herrn Richter nicht völlig ausgeräumt. Deshalb sind wir zufrieden über das Angebot der deutschen Mitglieder des Rechtsausschusses, uns im Ausschuß alle Unterlagen über diese Frage zur Verfügung zu stellen und die ganze Angelegenheit in einer umfassenden und sauberen Weise zu besprechen. Wir akzeptieren dieses Angebot und brauchen deshalb keine Richtlinie. Deshalb habe ich gegen den Antrag gestimmt."
Man wäre in der Bundesrepublik aber falsch beraten, würde man annehmen, die Kritik am Radikalenerlaß wäre eine rein kommunistische Angelegenheit. Wenn die Artikelüberschrift „L’ordre qui regne en Allemagne Föderale: Democratie et limitation des droits fondamentaux" (Die Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland: Demokratie und Einschränkung der Grundrechte) Formel und Schlagwort werden konnte, so ist das ein Zeichen dafür, daß nicht nur — außer den Kommunisten — einige wenige wie Franois Mitterand, Alfred Grosser und das belgische Fernsehen sich beunruhigt fühlen. Dahinter steht vor allem die Sorge, die Bundesrepublik könnte im verständlichen Versuch, sich gegenüber dem Osten abzugrenzen, zu ähnlichen Methoden greifen, wie sie dort üblich sind. Darauf hat Alfred Grosser in seinen letzten Reden und in inem Leserbrief an die FAZ hingewiesen. Er schreibt: „Wir — die Bundesrepublik, Frankreich und einige wenige andere Staaten in der weiten Welt — sind nach Osten und nach Süden Modelle der Freiheit und der Toleranz. Jedes Verletzen unserer eigenen Prinzipien, jeder Schritt zum , So sein wie die anderen'(unter anderem Privatleben unter Aufsicht stellen, Freundschaften und sogar Familienbeziehungen als Belastung anrechnen, Verhaltensnormen einführen, die besonders den kritischen Jugendlichen die geistigen Flügel stutzen) schwächt uns als Modell, schwächt uns überhaupt."
Das gesteigerte Interesse unserer Nachbarn an der Bundesrepublik
Hinzu kommt eine Entwicklung, der man bei uns bisher zu wenig Beachtung geschenkt hat. Für alle Vorgänge hierzulande besteht bei unseren westlichen, südlichen und nördlichen Nachbarn ein gesteigertes Interesse, was in der großen Presse seinen besonderen Niederschlag findet. Die einflußreiche französische Tageszeitung Le Monde zum Beispiel pflegt eine kontinuierlichere Berichterstattung über die Bundesrepublik und ihre innenpolitischen Diskussionen und Vorgänge als vergleichsweise große Zeitungen in Deutschland über Frankreich. Deutsche Politik, deutsches Kultur-und Geistesleben sowie deutsche Wirtschaft spielen — um ein anderes Beispiel zu nennen — in der Schweiz und in Österreich eine viel bedeutendere Rolle als deren Politik und Wirtschaft bei uns
An diesem Prozeß der Beobachtung Deutschlands nehmen aber nicht nur politisch interessierte Kreise teil, sondern ganze Bevölkerungsgruppen. Das erklärt sich gewiß nicht allein aus der Marktmacht der Bundesrepublik und ihrer starken ökonomischen Stellung in der EG. Die Attraktivität und die relative Liberalität des deutschen Fernsehens sowie die weite Verbreitung der deutschen Sprache machen große Teile der Grenzbevölkerung ringsum zu kontinuierlichen Fernsehzuschauern der deutschen Programme. Torjäger Müller und Franz Beckenbauer, Kuli und Peter Frankenfeld, Hans Rosenthal und Robert Lembke, Werner Höfer und Gerhard Löwenthal sind Fernsehgrößen nicht nur bei uns, sondern rundherum bei unseren Nachbarn, in Salzburg und Basel, Colmar, Straßburg und Forbach, Luxemburg, selbst Brüssel, Maastricht und Apenrade. Es ist sicherlich nicht falsch geschätzt, daß mindestens zehn Millionen Ausländer — wenn nicht mehr — an der deutschen Wirklichkeit über diesen „Bildspiegel" teilnehmen. Von hier aus fließt vieles in die öffentliche und veröffentlichte Meinung dieser Länder ein, nicht nur in die Lokalpresse. Wohl jede zweite Familie im Elsaß hat ein Multistandardgerät für die verschiedenen Zeilenzahlen, teilweise mit Pal und Secam-Einrichtung kombiniert, um alle Programme diesseits und jenseits des Rheins original empfangen zu können.
Hinzu kommt noch die nicht geringe Menge an Informationen über Deutschland, die über die Gastarbeiter in ihre Heimatländer dringt. Der Informationsstrom aus der Bundesrepublik zu unseren Nachbarn, auch über Reise-gruppen, deren typisches Urlaubsverhalten nicht immer das rechte Bild bundesdeutscher Wirklichkeit vermittelt, ist heute viel stärker als der Gegenstrom. Im Badischen beispielsweise, aber auch andernorts, fehlt — vor allem aus sprachlichen Gründen — eine gleiche Anteilnahme am Leben der Nachbarn; dies zeigt schon ein Blick auf die Antennenausrichtung oder der Versuch, ein Multistandardgerät Pal-Secam in Kehl zu kaufen.
So ist die Bundesrepublik Deutschland viel mehr im Blickpunkt des benachbarten Auslandes, als dies umgekehrt der Fall ist. Die Maßstäbe, mit denen dabei die Deutschen gemessen werden, weichen natürlich von denen ab, die im eigenen Lande gelten, und von denen, die an den deutschen historischen Gegebenheiten orientiert sind.
Einzelne Artikel in einer großen deutschen Zeitung und eine einzige Sendung im deutschen Fernsehen können deshalb bei unseren Nachbarn eine viel größere Wirkung erzielen als ein die Wirklichkeit verzerrender ausländischer Beitrag über Deutschland bei uns, da er ja in der Regel hier nicht gesehen oder gelesen wird
Kritik nach außen und ihre innenpolitischen Implikationen
Bei allen Kritiken ausländischer Politiker an der Bundesrepublik muß man überdies deren funktionellen Charakter im innenpolitischen Spiel des jeweiligen Landes im Auge behalten. Die Bundesrepublik ist ohne Zweifel mit der ökonomischen Krise der letzten Jahre besser als andere Partner der EG fertig geworden; sie wurde dadurch zum Vergleichs-objekt, an dem man die Politik des eigenen Landes und seiner Regierung mißt. Kritik mit dem . Maßstab Bundesrepublik'muß Empfindlichkeiten hervorrufen, zumal eine Prädisposition noch dafür vorhanden ist. In der französischen Opposition beispielsweise gibt es erhebliche Unterschiede in der Europapolitik. Während die Kommunisten die Rolle der großen Bewahrer der nationalen Souveränität spielen, sind die Sozialisten in ihrer Mehrheit der europäischen Integration gegenüber aufgeschlossener. Hier muß dann die Bundesrepublik manchmal als Prügelknabe herhalten, wo eigentlich der Partner gemeint ist. Die von Franpois Mitterrand angekündigte Gründung eines „Komitees für die Verteidigung der Bürger-und Berufsrechte in der Bundesrepublik Deutschland" kann auch als ein Schachzug gedeutet werden, um dem schon lange bestehenden Komitee gleicher Art der französischen Kommunisten nicht beitreten zu müssen.
Es ist übrigens bemerkenswert, daß die Debatte um die sogenannten Berufsverbote in der Bundesrepublik ihrerseits in anderen Ländern die Frage nach der Einstellungspraxis (oder auch der Versetzungspraxis) im öffentlichen Dienst ins Blickfeld der Diskussion gerückt hat. So beobachtet man heute in Frankreich eine verstärkte Diskussion über die Aufnahme-und Prütungsvertahren der Ecole Nationale d’Administration (ENA), der Schule der hohen Staatsbeamten, und über die Forderungen an die Haltung der Beamten. Es gibt zwar in Frankreich keinen Radikalenerlaß „deutscher Perfektion", wohl aber vermuten Politiker aus den Oppositionsparteien eine de facto (mindestens) ähnlich strikte Haltung der Regierung in Paris. „Die exzessiv enge Anwendung der traditionellen Regeln in der Beamtenschaft, die da sind: Loyalität, Zurückhaltung und Neutralität im öffentlichen Dienst, führt dazu, daß die Regierung volle Gefolgschaft für ihre Politik fordert. Die Verpflichtung zur Loyalität, die nichts weiter bedeutet als Ehrlichkeit in der Arbeit seinem Vorgesetzten gegenüber, wird zur Forderung nach einer unbedingten Gesinnungstreue. Die Pflicht zur Zurückhaltung verwandelt sich in eine Verpflichtung, absolut stumm zu sein über das, was in der Verwaltung vor sich geht. Und was die Neutralität des öffentlichen Dienstes betrifft, so wird ein Beamter dann als neutral angesehen, wenn er die Meinung der Regierung teilt. Er ist es nicht mehr, wenn er es wagt, eine andere Auffassung zu haben", schreibt Catherine Lalumiere, nationale Delegierte für den öffentlichen Dienst in der Sozialistischen Partei, in Le Monde . Sie schließt ihren Artikel mit einer Mahnung für die Erhaltung der Pluralität auch im öffentlichen Dienst: „Der öffentliche Dienst in Frankreich ist, was seine politischen Ideen betrifft, sehr vielfältig. Dieser Pluralismus ist gesund, denn er spiegelt die verschiedenen Strömungen des Landes wider. Ein monolithischer öffentlicher Dienst, der ängstlich nur der einseitigen Sicht der politischen Macht unterworfen ist, ist die größte Gefahr für die Demokratie."
Man muß leider auch in einzelnen Fällen vermuten, daß der Radikalenerlaß herhalten muß, um allgemeine Verärgerungen beziehungsweise Animositäten auszudrücken.
So haben deutsche Sozialdemokraten — unter ihnen der Vorsitzende des Parteirates der SPD, Karl Liedke, und der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Bruno Friedrich — am 10. Juni 1976 in Amsterdam während einer Sitzung des Büros des Bundes der Sozialdemokratischen Parteien in der EG auf der Grundlage einer von ihnen schriftlich vorgelegten Dokumentation in großer Offenheit über die aktuelle Entwicklung in diesem Bereich und die Unterschiede der Beurteilung zwischen den deutschen Parteien berichtet. Den SPD-Vertretern ist es nach Ansicht der Beteiligten und neutraler Beobachter offensichtlich gelungen, ihre europäischen Parteifreunde hinreichend zu informieren und die Bedenken gegen die Einstellungspraxis der Bundesregierung zu zerstreuen. Um so überraschter waren die deutschen Beteiligten, wenige Tage später erneut kritische Stimmen ihrer sozialistischen Parteifreunde aus den Niederlanden öffentlich zu hören, die doch gerade eben zur Zufriedenheit informiert worden waren. Beteiligte Gesprächspartner — aber auch andere — sahen darin eine grundsätzliche Kritik am Kurs der deutschen Sozialdemokraten, bei der die Argumente eher aus innenpolitischer Opportunität als aus fundiertem Wissen geschöpft zu sein schienen.
Man muß dabei aber auch feststellen, daß die gegenseitige Kenntnis der innenpolitischen Situation der verschiedenen Länder der Europäischen Gemeinschaft in der Tat in keinem Verhältnis zu dem bereits vorhandenen ökonomischen Integrationsgrad steht; dies gilt auch für handelnde Politiker und deren kommentierende Beobachter.
Der „Fall“ Spinelli und die unterschiedliche Beurteilung der kommunistischen Frage Diese letzte Bemerkung aber führt zu einem tieferen Dissens, der bei uns zu wenig Beachtung und Verständnis findet. Am „Fall" des als Unabhängigen, für die KPI kandidierenden EG-Kommissars Altiero Spinelli läßt sich dies exemplarisch schildern. Kaum war die Nachricht bekannt geworden, ging — mit wenigen Ausnahmen wie etwa Ralf Dahrendorf in der ARD 11 ) und Theo Sommer in Der Zeit — ein Schrei der Entrüstung durch die deutschen Lande. Vom , Irrealismus'Spinellis über den . nützlichen Idioten'bis zum . Verrat'waren alle „Argumente" zu hören, bis hin zu der bekannten Stereotype: „Einmal ein Kommunist, immer ein Kommunist". „Spinellis Abkehr vom Kommunismus ist nie glaubhaft gewesen", schrieb Paul Wilhelm Wenger im Rheinischen Merkur der den Kommissar im gleichen Artikel kurzerhand zum „Vizepräsidenten" und „Hochkommissar" beförderte.
Dieses Urteil ist im höchsten Maße ungerecht und zeigt die Einseitigkeit der Betrachtung. Spinelli hat für seine Überzeugung 16 Jahre hinter Gittern verbracht; er hat sich 1937 vom Kommunismus losgesagt, als er erkannte, daß unter Stalin aus der Freiheitsbewegung des Proletariats eine Unterdrückungsbewegung geworden war. Im Gefängnis erkannte er, daß es für das Nachkriegseuropa nur eine demokratische Chance geben würde — die der europäischen Föderation, und diesem Ziel hat er seither ausschließlich gedient. Im Manifest von Ventotene sprach er sich 1941 gegen die Unterdrückung der Deutschen nach deren Niederlage aus. Er war an der Seite de Gasperis, als dieser sich um die politische Einigung bemühte, und der berühmte Art. 38 des EVG-Vertrages stammt aus seiner Feder. Zusammen mit Spaak und anderen bestimmte er lange Zeit die politische Aktion der Europäischen Bewegung — zur politischen Einigung führte dies nicht. Der Versuch eines unabhängigen Kongresses des Europäischen Volkes (der zionistischen oder indischen Bewegung nachempfunden) scheiterte ebenfalls. Als er annahm, er könne in der Kommission der EG etwas „bewegen", ergriff er die Chance, die sich ihm bot, ihr Mitglied zu werden — obwohl, dies darf man nicht vergessen, er als einer der ersten davor gewarnt hatte, sich der Hoffnung hinzugeben, aus der ökonomischen Integration folge automatisch die politische. Diesem „Vulgärmarxismus" (also dem frommen Glauben, auf die wirtschaftliche Einheit folge auch der adäquate politische überbau), der zum offiziellen Credo der fünfziger und sechziger Jahre wurde, ist er stets — zu Recht — entgegengetreten.
Als er erkannte, daß er sich mit seinen Ideen für ein politisches Europa in der Kommission nicht durchsetzen konnte, wax sein Positionswechsel nur noch eine Frage der Zeit.
Anders als die Reaktion der Deutschen war zum Beispiel die Stellungnahme der italienischen Gruppe der Europäischen Föderalistischen Bewegung. Sie erinnerte „an den beispielhaften Kampf Spinellis für Europa" und drückte „den Wunsch aus, daß er in diesen endscheidenden Jahren effektiv für die europäischen Wahlen und für die europäische Verfassung kämpfen kann". Abschließend erklärten sie: „Die Europäische Föderalistische Bewegung bekräftigt noch immer ihre Politik der Einheit des Volkes, gegründet auf dem Geist der Resistenza’, die sich in einer kritischen Zusammenarbeit mit allen verfassungstragenden Parteien ausdrückt, ohne irgendeine zu bevorzugen."
Dieser Positionswechsel eines Politikers, der keiner Partei angehört und doch in Italien in der Politik tätig war und diese auch wirklich beeinflußte, ist mit dem Maßstab der Bundesrepublik nur schwer begreifbar. Die Bundesrepublik mit ihrem festgefügten und dominierenden Parteiensystem kennt zwar den — hierzulande problematischen — Parteiwechsel, nicht aber das Fließen von Parteigrenzen, ihr ständiger Umbau oder gar den Politiker ohne Parteibuch, von den wenigen Fachministern abgesehen. In Frankreich und teilweise auch in Italien ist das Parteien-system — bisher ohne die Kommunisten — ständig im Fluß. Viele französische Politiker waren schon in zahlreichen Parteiformationen; die Partei Robert Schumans, zum Beispiel, die MRP, existiert nicht mehr. Um Politik in Franreich oder Italien zu machen, bedarf es nicht so unbedingt einer Parteizugehörigkeit wie in Deutschland; hervorragende Publizisten, Professoren oder Theologen können durchaus ohne Parteibuch eine aktuelle politische Rolle spielen.
Eine solche Persönlichkeit, der es gelungen ist, ohne Parteizugehörigkeit Berater de Gas-peris in den frühen fünfziger Jahren, Berater Nennis in den sechziger Jahren und schließlich europäischer Kommissar zu werden, ist Spinelli, der sich immer durch seine scharfen politischen Analysen auszeichnete. Er ist ein unabhängiger Denker, rücksichtslos gegen sich und seine privaten Bedürfnisse — Opportunismus in jeder Form ist ihm fremd. Seine Analysen haben immer etwas Bestechendes gehabt, aber sie kamen fast immer für die aktuelle Politik „verfrüht" Hinzu kommt sein italienisches Temperament, das sich vor allem durch seine unkonventionellen Handlungen auszeichnet — ein im politischen Klima der Bundesrepublik durchaus nicht alltäglicher Vorgang. Spinelli ist also — wie es Ralph Dahrendorf am 17. Mai 197(5 in der ARD ausdrückte — im Sinne Max Webers ein Gesinnungsethiker, der auch den Schock als Mittel der Politik — wenn es ihm angemessen erscheint — durchaus einsetzt.
Ist uns also die Methode des Schrittes von Spinelli schon fremd, so muß uns erst recht die Kandidatur auf einer kommunistischen Liste höchst suspekt vorkommen, als Folge vor allem unserer Erfahrung mit dem Kommunismus und dem anderen deutschen Geschichtsverlauf, auch vor und während der Zeit der nationalsozialistischen und faschistischen Diktatur. Wir Deutschen sind durch zwei Diktaturen auf deutschem Boden von besonderer „Gründlichkeit" mehr als nur empfindlich geworden. Die Teilung Deutschlands schließlich, die in dieser Form nicht möglich gewesen wäre ohne die aktive Mitwirkung deutscher Kommunisten, hat uns besonders nachhaltig getroffen und beeinflußt.
Die Intoleranz der kommunistischen Führung im anderen Teil Deutschlands und deren Regierungspraxis schreckt auch den, der mit der Wirtschaftsordnung im westlichen Teil Deutschlands nicht einverstanden ist. Der Wunsch, Anhänger totalitärer Regierungspraktiken — mit denen man so grausame Erfahrungen gemacht hat — nicht in den öffentlichen Dienst aufzunehmen, muß daher als legitim angesehen werden.
Ganz anders sind die Erfahrungen vieler unserer westlichen, nördlichen und südlichen Nachbarn, über die Place de la Concorde läuft keine Mauer, der 9. Bezirk von Paris ist nicht Pankow. Die Volksfrontregierung in den dreißiger Jahren in Frankreich war im damaligen Europa eine der demokratischsten Regierungen, die bedeutende soziale Fortschritte durchgesetzt hat (wenn sie auch dadurch die ökonomischen Schwierigkeiten Frankreichs vergrößerte). Nicht die Kommunisten waren in Spanien die Rebellen gegen die verfassungsmäßige Ordnung, der Rebell war Franco. Nicht die Kommunisten beseitigten die verfassungsmäßige Ordnung in Italien, es waren die Faschisten. Im Kampf gegen den Faschismus und gegen die deutsche Besetzung standen in Italien und Frankreich die Kommunisten auf Seiten der Freiheit — trotz der Moskauhörigkeit weiter Teile ihrer Führung. An den Regierungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien und Frankreich waren Kommunisten beteiligt. Italienische Kommunisten regieren, durch freie Wahlen berufen, allein oder in Koalitionen in vielen Regionen und Städten, und viele Bürger sind mit dieser Regierung nicht unzufrieden die sie gewählt haben. Der marxistische Lehrer und der kommunistische Bürgermeister sind normale Erscheinungen in Frankreich.
Aus dieser unterschiedlichen historischen Erfahrung — die hier nur schlaglichtartig angedeutet werden konnte — und der Teilung unseres Landes erwächst ein grundsätzlicher Dissens in der Beurteilung des Kommunismus als eines innenpolitischen Phänomens. Nicht primär das ökonomische Gefälle ist es, das Kritik an Deutschland wachsen ließ, es ist vielmehr das auch geistig gespaltene Deutschland, das „Deutschland der Extreme", das auf Kritik stößt. Spinelli hat einmal in einer Rede in Deutschland in den sechziger Jahren gesagt: „Deutschland hat die Chance, in beiden Lagern im Sinne der Entspannung zu wirken." Aber eher das Gegenteil ist gegenwärtig der Fall — meinen jedenfalls viele Beobachter des Auslandes. De Gaulle, angesprochen auf die linken Aktivitäten Sartres, konnte gelassen erwidern: „Auch Sartre ist Frankreich." Wäre eine analoge Äußerung heute in der Bundesrepublik Deutschland vorstellbar? Auch in den Ostblockstaaten wächst die Kritik an „ihrem" Deutschland, den „Musterschülern" der KPdSU, die man deshalb als „Brüder" bezeichnet, weil man sich „Freunde" aussuchen kann, während man mit der Verwandtschaft leben muß.
Die Schwierigkeit, die Lage des Nachbarn zu verstehen
Zu den unterschiedlichen Erfahrungen mit den Kommunisten kommt eine weitere Verständnisbarriere hinzu, nämlich die Schwierigkeit, die Lage unserer Nachbarn richtig einzuschätzen. Dies führt zu verzerrten Urteilen und zu sich gegenseitig aufschaukelnden Kritiken. Das sei am Beispiel Italiens verdeutlicht. Die Bundesrepublik war in der Lage, durch das Freihandelssystem des Gemeinsamen Marktes und mit Hilfe einer modernen und beweglichen Wirtschaftsstruktur (wozu auch ein anderes Unternehmertum und andere Gewerkschaften gehören) erhebliche Vorteile aus dem sprunghaften Anstieg seines Außenhandels zu ziehen. Das System der Europäischen Gemeinschaft begünstigte augenscheinlich die bereits starken Regionen. Italien war aber bei der Gründung der EWG wirtschaftlich in weiten Teilen rückständig; seine Gesellschaft zeigte deutliche Klassen-strukturen. In den Anfangsjahren wurde Italien zwar auch vom Boom erfaßt, jedoch beschränkte sich das Wachstum auf die Produktion; die gesamten sozialen Dienste blieben weit zurück. Dies lag aber nicht nur an der Unfähigkeit der herrschenden politischen Kreise, sondern auch an dem System der wirtschaftlichen Integration, das die Starken stärker machte, ohne den Schwachen die notwendige Strukturhilfe zu geben. Um dem Konkurrenzkampf des großen freien Marktes in Europa gewachsen zu sein, mußte man in Italien mit seiner strukturellen Schwäche sowohl das Lohnniveau als auch die Steuerlasten relativ niedrig halten. Diese beiden Faktoren und die Agrarpolitik der EG ermöglichten es der Großindustrie und teilweise dem Agrarsektor „mitzuhalten" — auf Kosten der Entwicklung effektiver Staatsstrukturen Um im internationalen Handel mithalten zu können, mußten in Italien die sozialen Dienste geradezu vernachlässigt werden — und einen innergemeinschaftlichen Finanzausgleich gab es ja nicht, wenn man von der völlig unzureichenden Agrarpolitik der EWG absieht, die ihrerseits wieder stärker die Reichen als die Kleinbauern begünstigt. Dem Gemeinsamen Markt fehlt also das ausgleichende staatliche System, das, wie in jedem anderen Gemein-wesen, die Ungleichgewichte der ökonomischen Entwicklung korrigiert. Der schwache Partner trug die Folgen.
Zu dieser strukturellen Schwierigkeit, die in Italien die ökonomische Lage besonders schwer beherrschbar machte und die mithalf, die soziale Rückständigkeit zu konservieren, kam noch die spezielle Lage der Demokratie in diesem Lande.
In Italien gab es wegen der bekannten Parteienkonstellation praktisch kein „vollständiges" demokratisches System, denn es fehlte die Möglichkeit zum demokratischen Machtwechsel — ein schwerwiegender Mangel, wie sich gezeigt hat. Die Democrazia Cristiana war stets die Partei, die — Wahlen hin, Wahlen her — die Wahlen schon vor der Wahl gewonnen hatte. In den dreißig Jahren als Macht-führer ist diese Partei in großen Teilen verschlissen worden. Auch der nur etwas kritische Italienbesucher kann die veraltete Gesellschaftsstruktur in diesem Lande sehen, die Spaltung zwischen Arm und Reich, die Verteilung von Macht und Privilegien in den Händen weniger und die Ohnmacht und Armut bei vielen. Nur wenige demokratische Politiker in der Bundesrepublik würden dieses System für die Bundesrepublik akzeptieren. Da es der DC in dreißig Jahren nicht gelang, das gesellschaftliche System nachhaltig zu reformieren, und da die Sozialisten, die zudem gespalten sind, keine Gegenmacht aufbauen konnten, sondern teilweise in dieses System des „sottogoverno“ (Filzokratie) verstrickt sind, mußte folgerichtig die KPI der Nutznießer dieser rückständigen „Halbdemokratie" werden.
Gleichzeitig entstand natürlich auch die radikale Rechte, deren Sprengstoffattentate hinreichend bekannt sind und die mehrmals schon einen Staatsstreich unter Beteiligung wichtiger militärischer Kreise geplant haben soll.
Kritik an den „italienischen Zuständen" ist leicht; sie wird schnell ungerecht, bleibt oberflächlich und provoziert bittere Reaktionen, wenn sie nicht bemüht ist, die schwer zu beseitigenden Strukturdefekte der italienischen Demokratie und Ökonomie einzubeziehen.
Das Ringen um die Haltung der Kommunisten in Italien
Es war nur eine Frage der Zeit, wann der KPI der Einbruch in jene Wählerkreise gelingen würde, die bisher aus grundsätzlichen Erwägungen nicht kommunistisch wählten. Die KP 1 mußte sich also darauf einrichten, daß früher oder später die Macht auf sie zukam, besonders nachdem sie zunehmend in Regionen und Städten in die Führung eintrat. Welchen Kurs sollte sie einschlagen, wenn sie durch den Wählerwillen von der Opposition mitverantwortlich oder gar ohne Beteiligung der DC in die italienische Regierung berufen würde? Bei den letzten Parlamentswahlen am 20. /21. Juli 1976 konnten die Kommunisten ihre Position stark ausbauen; 34, 4 °/o der Stimmen erhielten sie für die Abgeordnetenkammer, 33, 8 °/o für den Senat. Noch einmal hielten die Christdemokraten ihre Stellung als stärkste Partei; aber alle kleinen Parteien verloren Wählerstimmen. Die Wahlen haben im Grunde nichts gelöst — das italienische Problem besteht weiter. Dieser Wahlausgang mag viele in der Bundesrepublik beruhigen, für Italien löst er nichts, wenn nicht ein wirklicher Neuanfang in der Politik beginnt, der nach Ansicht auch vieler Nichtkommunisten ohne Beteiligung der KPI nicht möglich sein wird, da auf beiden Seiten vor allem eine neue Disziplin gebraucht wird. Vor diesem Schritt schrecken viele — aus bekannten Gründen — heute zurück.
Es gibt sicherlich italienische Kommunisten, die den sofortigen Anschluß an den Ostblock wünschen und die Einführung der Diktatur des Proletariats. Aber wer den Kurs der KPI und die Äußerungen ihrer Führer verfolgt hat, muß feststellen, daß schon unter Togliatti — der nach dem Kriege zeitweise Justizminister unter de Gasperi war — deutliche Gegensätze zu Moskau sichtbar wurden. Nach Prag haben sich diese Gegensätze noch erheblich verstärkt. Die italienischen Kommunisten bekamen zunehmend Furcht vor einer Entwicklung und einer Doktrin, die — z. B. bei unorthodoxen Experimenten — ein Eingreifen der Roten Armee in einem kommunistisch geführten Italien möglich machen würden. Hinzu kommt, daß nach dem Ableben Titos Elemente von Instabilität in Jugoslawien zu sowjetischen Schritten führen könnten, die bei den meisten Italienern, einschließlich großer Teile der Kommunisten, Angst auslösen würden.
Solange Rußland weit und die KPI in der Opposition war, konnte man sich leicht auf die UdSSR berufen — nun aber wird das Problem durch das Zusammentreffen verschiedener Faktoren komplizierter, weil aktueller.
Keiner, auch Spinelli nicht, bestreitet, daß — mit den italienischen Kommunisten an der Macht — die Gefahr besteht, daß Italien diktatorisch regiert werden kann. Wie sollte man sonst das Wort deuten, das er in einem Interview mit der Zeit’ (vom 21. 5. 1976) nach der Bekanntgabe seiner Kandidatur als Unabhängiger auf der kommunistischen Liste sagte: „Die Christdemokraten werden dafür bürgen müssen, daß die Kommunistische Partei verfassungstreu bleibt; die Kommunisten müssen garantieren, daß die Christlichen Demokraten wieder moralisch werden."
Dieselbe Entscheidung, die Spinelli getroffen hat, als Unabhängiger auf der Liste der KPI zu kandidieren, haben auch andere getroffen, ein ehemaliger Vier-Sterne-Nato-General, ein ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtes und fünf bekannte Linkskatholiken. Einer von ihnen, Raniero La Valle, früher Direktor der christlich-demokratischen Tageszeitung , 11 Popolo'und der katholischen Zeitung , Awenire d’Italie', erklärte zu seiner Kandidatur: „Dies ist keine Konversion zum Marxismus -
keiner von uns ist Marxist —, dies bedeutet auch keine volle Zustimmung zum gesamten Parteiprogramm der KPL Unser Entschluß wurde vom Ernst der Lage diktiert. Der Ausschluß der KPI bringt die Demokratie in Gefahr. Unser Entschluß ging mit keinerlei Polemik gegen die Kirche oder gegen die Democrazia Cristiana einher. Er ist ein Bemühen um Vermittlung und nicht, ein Akt der Spaltung."
Die Lage in Italien ist ernst: Rechtsputsch, Diktatur des Proletariats mit der Folge eines Anschlusses an den Ostblock, Bürgerkrieg, amerikanische Besetzung — alles scheint heute in den Bereich des Möglichen gerückt. Auch die Kommunisten wissen dies. In der Wahl zwischen demokratischer Pluralität oder sowjetischem Satellitendasein erhält die Pluralität — besonders nach Prag — einen neuen Stellenwert So jedenfalls könnte sich erklären, daß die KPI keinesfalls allein die italienische Regierung bilden will, sondern den historischen Kompromiß oder eine Allparteienregierung fordert. Gleichzeitig öffnet sie ihre Wählerlisten für unabhängige Kandidaten, und diese unternehmen den Versuch, die Kommunisten ins demokratische Lager — und damit in das westeuropäische — zu integrieren, um die Einheit des Volkes zu erhalten, eine Einheit, die in Deutschland verloren-gegangen ist.
Auch in Frankreich ist dieser Prozeß in Gang gekommen. Die Instabilität der Vierten Republik und die Abneigung de Gaulles gegen den Parlamentarismus haben die demokratische Mitte weitgehend zerstört. Eine Ablösung der gaullistischen Herrschaft ist augenblicklich nur durch eine Linkskoalition möglich, und diesen Weg ist Mitterrand bisher gegangen. Er war nur gangbar, weil Frankreich andere Erfahrungen mit seinen Kommunisten gemacht hat als die Deutschen mit den ihren.
Die Teilung Deutschlands — kein Malistab für andere
Sich in dies alles einzufühlen, tällt in der Bundesrepublik Deutschland schwer. Der Kalte Krieg mit seiner totalen Abgrenzung hat bei uns neben der Teilung Deutschlands auch geistig seine Spuren hinterlassen, die andere Entwicklungsmöglichkeiten und Notwendigkeiten bei unseren Nachbarn nur schwer verstehen lassen. In diesen Ländern ist heute ein Ringen in Gang gekommen, das letztlich das Schicksal des demokratischen Europas überhaupt beeinilußt. Wenn man die These als richtig unterstellt, daß in unserer Zeit mit ihrer technischen, ökonomischen und politischen Interdependenz Westeuropa nur gemeinsam gute Überlebenschancen hat, dann gilt auch, daß heute vor allem in Italien dieser Kampf um den Zusammenhalt eines „europäischen Europas" geführt wird.
Bisher galten die Kommunisten allgemein als die politischen Vertreter des sowjetischen Kommunismus in Westeuropa. Hier scheint nun ein Wandel in Italien, in Spanien und mit Abstand vielleicht auch in Frankreich möglich. Die italienischen Kommunisten wissen, daß die conditio sine qua non für den europäischen Weg die Bejahung der Pluralität ist. Sie haben ihre Einstellung zur europäischen Integration geändert, sie bejahen die direkten Wahlen zum Europäischen Parlament. In Frankreich ist in dieser Frage die Lage anders: Hier überbieten sich die Linken und die Rechten in den jeweiligen Gruppierungen des Regierungslagers und der Opposition in Bekenntnissen zur nationalen Souveränität, während die Mitte die europäische Karte spielt. Aber auch hier geht es letztlich darum, das „europäische Europa" zu erhalten. An der Politik der Bundesrepublik Deutschland wird im westlichen Ausland kritisiert, daß es im Gemeinsamen Markt gut verdient, aber seine Verantwortung für Europa entsprechend seiner ökonomischen Stärke nicht voll erkennen und wahrnehmen wolle. So ist die Kritik des Auslandes auch eine Kritik aus der Enttäuschung heraus über die zu geringe aktive politische Rolle des ökonomisch stärksten Partners in der Europäischen Gemeinschaft.
Dies hatte Bundesaußenminister Genscher wohl im Auge, als er sich auf dem Freiburger Parteitag der FDP Ende Mai 1976 dagegen wandte, die Bundesrepublik als „Milchkuh" oder als „Zahlmeister" Europas zu bezeichnen, in dem er darauf hinwies, daß der Wohlstand der Bundesrepublik zu einem nicht geringen Teil darauf beruhe, daß sich ihre Wirtschaft auf dem europäischen Markt frei entfalten könne. Die wirtschaftliche Stärke lege der Bundesrepublik deshalb in Wahrheit zugleich eine Verantwortung für die Stabilität Europas auf. Deshalb sei es notwendig, für den Abbau des derzeit noch vorhandenen Wohlstandsgefälles Opfer zu bringen und eine europäische Struktur-und Regionalpolitik zu betreiben
Neue Formen der Kritik
Natürlich müssen wir unseren Partnern geduldig erklären, welche Erfahrungen wir mit zwei Diktaturen gemacht haben, von denen eine legal an die Macht kam. Unser Wunsch, anderen diese Erfahrungen zu ersparen, sollte ebenso begreiflich sein wie die Überzeugung anderer, so etwas könne in ihrem Lande nicht passieren. Wir sollten aber mehr Verständnis aufbringen für die Bemühungen in anderen Ländern, durch politische und intellektuelle Anstrengungen solchen Entwicklungen vorzubeugen. Die gegenseitige Kritik der Partner in der Europäischen Gemeinschaft muß dabei — in einem Augenblick, wo sich europäische Parteien bilden und direkte Wahlen für das Europäische Parlament im Gespräch sind — etwas völlig Normales werden. Wie sollte man denn eine gemeinsame Politik entwikkeln ohne solche neuen Kritikmöglichkeiten?
Mitterrands Kritik an Deutschland war in diesem Sinne durchaus legitim. Sie war ein Stück europäischer Innenpolitik, die von deutscher Seite immer so nachhaltig gefordert wird. Er selbst hat sie kürzlich in einer Erklärung präzisiert, in der es heißt: „Ich müßte mir Vorwürfe machen, würde ich — und sei es auch noch so wenig — zu einer anti-deutschen Kampagne beitragen, falls es eine solche geben sollte. Ich erinnere daran, daß ich als junger Mann, kaum aus dem Krieg und dem Widerstand zurückgekehrt, an den ersten Versöhnungsbemühungen mitwirkte, die dann zum europäischen Haager Kongreß 1947 führten. Meine Gefühle haben sich nicht geändert. Ich verlange aber mein Recht auf Kritik zu behalten, und ich werde davon Gebrauch machen, immer, wenn ich es für richtig halte. Die Deutschen sollen nicht aus der Vergangenheit den Schluß ziehen, daß jeder Vorbehalt gegen ihr Regierungssystem dazu dienen soll, Mißtrauen gegen sie zu wecken, als ob sie in alle Ewigkeit sich von einer Erbsünde reinwaschen müßten. Wegen der Qualitäten ihres Volkes und ihres demokratischen Engagements verdienen sie es, ehrenvoll behandelt zu werden. Auf diesem Niveau habe ich mich an sie gewandt."
Es regen sich im Ausland durchaus zahlreiche Stimmen, die die deutsche Haltung verteidigen, die allerdings hierzulande leider weniger Beachtung finden Im ganzen gesehen sollten mehr Liberalität und mehr Gelassenheit Elemente der Antwort auf die Kritik an uns sein. Die Bemühungen, die geistige Spaltung der Völker Europas zu überwinden und alle relevanten politischen Kräfte Europas — auch die Kommunisten — auf dem Boden der pluralistischen Demokratie zusammenzuführen, zum Aufbau des europäischen Europas, sollten bei uns auf mehr Verständnis stoßen. Die Erfahrungen der Deutschen mit . ihren'Kommunisten und das Trauma der tragischen Spaltung Deutschlands dürfen bei den gegenwärtig geführten Diskussionen nicht alleiniger Maßstab und Richtschnur sein.