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Militär und Gewerkschaften in Deutschland | APuZ 20-21/1976 | bpb.de

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APuZ 20-21/1976 Freimütige Kritik und demokratischer Rechtsstaat Militär und Gewerkschaften in Deutschland Das deutsche Identitätsproblem. Eine historisch-politische Provokation

Militär und Gewerkschaften in Deutschland

Bernhard Fleckenstein

/ 52 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bundeswehr beging im Spätherbst 1975 ihren 20. Geburtstag. Zwei Jahrzehnte nach der „Wiederbewaffnung" ist das Verhältnis von Bürgern und Soldaten konfliktfreier und unproblematischer als jemals zuvor in der deutschen Geschichte. Nüchternheit, Selbstverständlichkeit und Vorurteilslosigkeit kennzeichnen heute die Art und Weise, wie „Bürger in Zivil" und „Bürger in Uniform" in allen sozialen Schichten miteinander verkehren. Dies politisch und verfassungsrechtlich bewirkt zu haben, ist nach Meinung des Weißbuches 1975/1976 der Bundesregierung „in der Perspektive deutscher Wehr-geschichte eine historische Leistung". Die zutreffende Bewertung des Weißbuches ist Anlaß für eine Rückschau auf einen besonders konfliktgeladenen und letztlich verhängnisvollen Aspekt der deutschen Geschichte: auf den unversöhnlichen Gegensatz von bewaffneter Macht und organisierter Arbeiterschaft in Kaiserreich und Weimarer Republik. Die Ursachen dieses Dauerkonflikts, der fast 100 Jahre hindurch zu den Selbstverständlichkeiten deutscher Innenpolitik rechnete, gehen in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurück. Bis 1933 gelang es nicht, Armee und Arbeiterschaft miteinander zu versöhnen, der deutschen Geschichte eine andere Entwicklungsrichtung zu geben. Danach war es dann zu spät. Im Streit der fünfziger Jahre um die Wiedererrichtung deutscher Streitkräfte schien der alte Konflikt erneut aufzuleben. Die Bundeswehr entstand gegen den Willen der Gewerkschaften. Doch wandelte sich allmählich deren Einstellung, und seit 1964 ist die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transporte und Verkehr (OTV) bestrebt, auch Soldaten — die bewaffneten Angehörigen des öffentlichen Dienstes — gewerkschaftlich zu organisieren. Damit begab sich die OTV in Konkurrenz zum Deutschen BundeswehrVerband e. V. (DBwV), der seit 1956 bestehenden, berufsständisch orientierten Interessenvertretung der Soldaten. Mit ihrer Mitgliederwerbung in der Bundeswehr war die OTV bisher nicht sehr erfolgreich: weniger als 1 500 gewerkschaftlich organisierten Soldaten stehen mehr als 180 000 Soldaten im DBwV gegenüber. Die Untersuchung zeigt aber, daß ein ungebrochen fortlebender Antagonismus zwischen Militär und Gewerkschaften dafür kaum verantwortlich gemacht werden kann. Die Gründe sind weniger dramatischer Natur: gewerkschaftliche Ziele und soldatische Interessen stimmen nur partiell überein. Nicht nur hier erweist sich, daß für die Interessenartikulation professionalisierter Berufe ein homogener Berufsverband offenbar • attraktiver ist als die Einheitsgewerkschaft. Die erfolgreiche Interessenvertretung des DBwV dürfte die Soldaten nachhaltig darin bestärkt haben, in einem „Verband von Soldaten für Soldaten" besser aufgehoben zu sein.

„Die alten Formen zerstören, die Bande des Vorurteils lösen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und sie in ihrem freien Wachstum nicht hemmen." Gerhard von Scharnhorst „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen." Theodor Fontane

Der „Staatsbürger in Uniform oder: Die Geschichte wiederholt sich und ein „historischer Kompromiß" kommt endlich zustande

Am 12. November 1955 erhielten die ersten 101 freiwilligen Soldaten der Bundeswehr ihre Ernennungsurkunden aus der Hand des damaligen Verteidigungsministers Theodor Blank. Dieser Tag, der offizielle Gründungstag der neuen deutschen Streitkräfte, war zugleich der 200. Geburtstag des preußischen Heeresreformers General Gerhard von Scharnhorst. Die politische Führung der Bundesrepublik Deutschland hatte dieses historische Datum seinerzeit bewußt gewählt: Scharnhorst erschien ihr als die geeignete Symbolfigur für die neue deutsche Armee.

Der hannoversche Bauernsohn Scharnhorst war es, der die preußische Armee nach ihrer Niederlage gegen Napoleon in der Doppel-schlacht von Jena und Auerstedt (1806) von Grund auf umgestaltete und reformierte. Er gilt als geistiger Vater der 1813/14 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht und des modernen Massenheeres in Deutschland. Wichtigstes Anliegen des „königlich preußischen Revolutionärs" Scharnhorst und seiner Gehilfen Gneisenau, Boyen und Grolman in der Reorganisationskommission von 1806 war die „innige Vereinigung" von Volk und Armee. Das Idealbild der preußischen Heeresreformer war der „Bürger in Waffen". Das feudale Söldner-heer des Absolutismus sollte durch die allgemeine Wehrpflicht in ein von liberalem Geist geprägtes Bürgerheer umgewandelt werden, das sich dem König und dem Volk in gleicher Weise verbunden fühlte. Dieses Ziel brachte der Dichter Ernst Moritz Arndt in seinem „Kurzen Katechismus für deutsche Soldaten", den er 1812 im Petersburger Exil verfaßte, so zum Ausdruck: „Du sollst den Menschen nicht ausziehen, wann du die Montur anziehest." Die Schöpfer der Bundeswehr knüpften 150 Jahre später an die liberalen Bestrebungen des frühen 19. Jahrhunderts wieder an. Die Ideen der preußischen Staats-und Heeresreformer waren schon bald der bereits 1816 einsetzenden Restauration zum Opfer gefallen. Die deutsche Geschichte nahm eine andere Entwicklung und fand schließlich ihr vorläufiges Ende in der politischen und militärischen Katastrophe von 1945. Um die geistigen Grundlagen, Wertvorstellungen und Verhaltensnormen, unter denen die Bundeswehr vor zwanzig Jahren antrat und die im Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform" auf ihren Begriff gebracht sind, war das ganze 19. Jahrhundert hindurch zunächst vom liberaldemokratischen Bürgertum, dann von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft ein leidenschaftlicher, überwiegend erfolgloser Kampf geführt worden. Erst unter den mit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland gegebenen Bedingungen einer freiheitlich-demokratischen Staats-und Gesellschaftsordnung war es möglich, die neuen deutschen Streitkräfte in Staat und Gesellschaft organisch einzufügen, das für die deutsche Geschichte so verhängnisvolle Gegeneinander von bewaffneter Macht und organisierter Arbeitnehmerschaft zu beenden. So kann die Bundesregierung im Weißbuch 1975/1976 zur Entwicklung des zivil-militärischen Verhältnisses zu Recht feststellen: „Die Bundeswehr ist selbstverständlicher Bestandteil des demokratischen Staates, der Soldat Bürger wie alle anderen Bürger auch. Was heute im Verhältnis von Streitkräften und Gesellschaft als selbstverständlich erscheint und allgemein so empfunden wird, ist in der Perspektive deutscher Wehrgeschichte eine historische Leistung." Im 21. Jahr ihres Bestehens ist die Bundeswehr in Staat und Gesellschaft fester verankert als je zuvor: 74 Prozent der Bevölkerung — eine bisher nicht erreichte Zahl — bezeichneten sie 1975 als „sehr wichtig" oder „wichtig"; 14 Prozent hielten sie für „nicht so wichtig", 4 Prozent für „unwichtig" oder „überflüssig", nur 1 Prozent bewertete die Bundeswehr als „schädlich" oder „gefährlich" Prozent für „unwichtig" oder „überflüssig", nur 1 Prozent bewertete die Bundeswehr als „schädlich" oder „gefährlich" 2). Wie die Umfrageergebnisse belegen, werden die Streitkräfte von der überwiegenden Mehrheit der Bürger in allen sozialen Schichten mit großer Selbstverständlichkeit akzeptiert. Die Bundeswehr gilt als zuverlässiges Instrument des demokratischen Staates. Der preußische Kasernenhof ist für die Mehrheit der Bürger Vergangenheit. Den meisten erscheint die Bundeswehr eher vergleichbar mit einem industriellen Großbetrieb. Dazu das Weißbuch 1975/1976: „Die Situation bei uns unterscheidet sich heute nicht mehr von der in anderen Ländern, in deren nationaler Geschichte sich das Verhältnis von Bürgern und Soldaten weniger problematisch darstellt." 3)

Als „Staatsbürger in Uniform" besitzen die Soldaten der Bundeswehr das uneingeschränkte Koalitionsrecht, dazu das aktive und passive Wahlrecht. Sie können sich Parteien, Berufsverbänden und Gewerkschaften als Mitglieder anschließen, darüber hinaus Bürgermeister, Abgeordneter oder Gewerkschaftsfunktionär werden. Schon der erste Verteidigungsminister, Theodor Blank, war Gewerkschafter. Mit dem derzeitigen Bundesminister der Verteidigung, Georg Leber, der sein Amt im August 1972 übernahm, liegt die Befehls-und Kommandogewalt über die Bundeswehr in der Hand eines Mannes, der seine politische Karriere in der Gewerkschaftsbewegung begann und die über 500 000 Mitglieder zählende Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden von 1957 bis 1966 neun Jahre lang als 1. Vorsitzender führte. Auch dies verdeutlicht den Wandel, der sich in der Geschichte der Bundeswehr und der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis von Militär und Arbeiterbewegung gegenüber früheren Epochen vollzogen hat.

Unter dem Verteidigungsminister Georg Leber und seinem Vorgänger im Amt, dem jetzigen Bundeskanzler Helmut Schmidt, sind die Kontakte zu den Gewerkschaften enger geknüpft worden. Im Herbst 1971 gab es erstmals ein Spitzengespräch zwischen dem Bundesminister der Verteidigung und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), der Dachorganisation von 16 Einzelgewerkschaften mit zusammen fast 7, 5 Millionen Mitgliedern. Ebenfalls im Herbst 1971 besuchte der Gesamtvorstand der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie eine Kaserne in Unna und hielt dort eine seiner routinemäßigen Vorstandssitzungen ab. Das hatte es in der Geschichte der deutschen Gewerkschaften bisher noch nicht gegeben. Der Gewerkschaftsvorsitzende sprach darum seinerzeit auch von einem „epochalen Ereignis".

Sicher gibt es im Verhältnis von Bundeswehr und Gewerkschaften hier wie dort noch Ressentiments, sind Chancen der Verständigung bisher ungenutzt geblieben, ist das in hundertjähriger erbitterter Auseinandersetzung verfestigte Mißtrauen noch längst nicht abgetragen. Gespräche und wechselseitige Besuche der jeweiligen Führungsspitzen bewirken noch keine Einstellungsveränderungen unter den Organisationsmitgliedern. Darauf wird im einzelnen noch einzugehen sein. Doch muß festgehalten werden, daß von einer Frontstellung zwischen Militär und organisierter Arbeitnehmerschaft, wie sie in Kaiserreich und Weimarer Republik sozusagen zu den innenpolitischen Selbstverständlichkeiten zählte, heute keine Rede mehr sein kann. Das Wiederaufleben des Militarismus, die mögliche Gefährdung der jungen deutschen Demokratie durch die Bundeswehr, ist heute in der öffentlichen Meinung kein Thema mehr. Die Gewerkschaften haben sich von diesem Ur-Mißtrauen weithin freigemacht. Umgekehrt wissen die Soldaten, daß sie einen Staat sichern, der von den Gewerkschaften wesentlich mit-getragen und mitgestaltet wird.

So konnte der Bundesminister der Verteidigung am 26. Oktober 1973 vor dem Deutschen Bundestag unwidersprochen feststellen: „Wenn es jemals soweit käme, wie ich es heute nirgendwo sehe, daß es in diesem Staat einmal Kräfte gäbe, gegen die Demokraten auf die Barrikaden gehen müßten, dann — da bin ich ganz sicher, und dies sage ich sehr froh — würden die Gewerkschaften auf der anderen Seite der Barrikaden dann nicht die Bundeswehr antreffen." 4)

Und Gerhard, Schmidt, Vorstandsmitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), erklärte ein halbes Jahr später in einem Interview in der Gewerkschaftszeitung „Welt der Arbeit“ zur Frage der demokratischen Zuverlässigkeit der Bundeswehr unter anderem : „Putschende deutsche Generale? Wir sind doch keine Bananenrepublik! Im übrigen bin ich überzeugt, daß die Demokraten in der Bundeswehr wirklich eine stabile Mehrheit haben.“

Diese Äußerungen sind in ihrer Tragweite kaum richtig zu würdigen und zu verstehen ohne einen ausführlichen Rückblick in die deutsche Geschichte. Das konfliktgeladene Gegeneinander von bewaffneter Macht und Arbeiterbewegung hat die politischen Verhältnisse und die Entwicklung in Kaiserreich und Weimarer Republik bis hin zur Hitlerdiktatur entscheidend beeinflußt und mitbestimmt. Fast überflüssig ist es zu erwähnen, daß vor einem Menschenalter kein Soldat auf die Idee gekommen wäre, einer Gewerkschaft oder einer gewerkschaftsähnlichen Interessen-vereinigung beizutreten und ein derartiges Recht für sich zu fordern: Soldaten besaßen nicht einmal das Wahlrecht!

Militär und Gewerkschaften im Kaiserreich — Der Kampf der Arbeiterschaft gegen „Kaserne und Biwak, Säbel und Muskete, Schnurrbart und Kommißrock" (Karl Marx)

Die Geschichte der deutschen Gewerkschaften reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Revolutionsjahr 1848 gründet der junge Schriftsetzer Stefan Born in Berlin ein „Zentralkomitee der Arbeiter", aus dem wenig später die „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung" hervorgeht. Im Sozialprogramm des Zentralkomitees der Berliner Arbeitervereine vom 10. Juni 1848 werden bereits ein Dutzend konkreter gewerkschaftlicher Forderungen erhoben. Mit dem Scheitern der vornehmlich vom Bürgertum getragenen Revolutionsbewegung von 1848/49 enden zugleich auch die ersten Versuche, die Arbeiterschaft als selbständigen Machtfaktor zu konstituieren.

Die wenigen bisher entstandenen Arbeiterorganisationen werden verfolgt und 1854 aufgelöst, bewaffnete Volksaufstände in Baden und in der Pfalz blutig niedergeschlagen. Die Gefängnisse füllen sich mit politischen Häftlingen. Presse-, Vereins-und Versammlungsfreiheit sind abgeschafft oder werden unter staatliche Aufsicht gestellt, über alle politischen Meinungsäußerungen wacht eine scharfe Zensur. Die Reaktion siegt auf der ganzen Linie. Die „alte Ordnung" ist wiederhergestellt. Bis 1918 gilt nun die Parole: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten."

In den Überseehäfen Bremen und Hamburg beginnt erneut die große Auswanderungswelle nach Nordamerika: Waren es in den vierziger Jahren durchschnittlich etwa 100 000 Auswanderer jährlich und im Revolutionsjahr 1848 nur etwa 50 000, so stieg die Auswandererzahl nach 1849 auf mehr als 250 000 im Jahr. Zwischen 1830 und 1860 wanderten etwa 5 Millionen Deutsche aus, meist nach Amerika, darunter Carl Schurz, der an der gescheiterten Revolution ebenfalls aktiv beteiligt war.

Der Sieg der Reaktion bedeutete das Ende der Hoffnungen des bürgerlichen Liberalismus auf politische Freiheiten. In der Folgezeit arrangierte sich das Bürgertum mit dem preußischen Obrigkeitsstaat, identifizierte sich vor allem mit dessen Armee, die in drei siegreichen Kriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/1871) den alten Traum von der deutschen Einheit nun mit Waffengewalt verwirklicht. Dennoch kehrt nach der Kapitulation des bürgerlichen Liberalismus innenpolitisch keine Ruhe mehr ein. Viele bürgerlich-idealistische Ordnungsvorstellungen, die 1848 in der Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche zu endlosen Auseinandersetzungen geführt hatten, waren im Grunde schon zu dieser Zeit überholt. Neue Kräfte beginnen sich zu regen. Die Londoner Weltausstellung von 1851 präsentiert die neuen technischen Errungenschaften. Wirtschaft und Industrie nehmen in der nachrevolutionären Zeit einen enormen Aufschwung; Eisenbahnen und Dampfschiffe werden gebaut, Großbanken entstehen, die Zahl der Arbeiter wächst: 1867 gibt es 2 Millionen Fabrikarbeiter in Deutschland.

Für eine entscheidende politische Einflußnahme ist ihre Zahl noch zu gering. Aber die Forderungen nach organisiertem Zusammenschluß lassen sich nicht mehr unterdrücken. Das Verbot zur Bildung von Arbeitervereinen wird zuerst 1861 in Sachsen, dann 1869 im Norddeutschen Bund aufgehoben. Nach der Reichsgründung 1871 erhalten Arbeiter und Unternehmer im ganzen Deutschen Reich Koalitionsfreiheit. Die Freiheit zur Führung von Arbeitskämpfen bleibt aber bis 1918 eingeschränkt. Auch das politische Denken kommt nicht zum Stillstand. Alte Ideen werden weiterentwikkelt, neue kommen auf. Drei Hauptrichtungen lassen sich zu dieser Zeit unterscheiden, die alle die Lösung der sozialen Frage zum Ziel haben, ihr gemeinsames Anliegen einer gerechteren Wirtschafts-und Sozialordnung aber auf unterschiedlichen Wegen zu erreichen suchen: 1.der Staatssozialismus, 2.der wissenschaftliche Sozialismus oder Marxismus und 3. ein Sozialreformismus liberaler und christlicher Prägung Während die Staatssozialisten die spätere Bismarcksche Sozialgesetzgebung beeinflussen, wirken die Ideen des Sozialismus und des Sozialreformismus auf die sich ab 1868/69 in Parteien und Gewerkschaften organisierende Arbeiterschaft. So kommt es in der Gründungsphase der deutschen Gewerkschaften zu drei Haupt-richtungen: einer sozialistischen, einer liberalen und einer christlichen Gewerkschaftsbewegung, die bis 1933 nebeneinander existieren. Es entstehen:

a) die „Arbeiterschaften", hervorgegangen aus dem von Ferdinand Lassalle 1863 in Leipzig gegründeten „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein" und den 1868 durch August Bebel begründeten „Internationalen Gewerksgenossenschaften". Sie nannten sich später „freie" Gewerkschaften und waren die zahlenmäßig stärksten Arbeitnehmervereinigungen. Die „freien" Gewerkschaften sind die eigentlichen Kampforganisationen der Arbeiterschaft; ihr Selbstverständnis und ihre politischen Zielvorstellungen beruhen auf dem Sozialismus, der in Deutschland nach heftigen Auseinandersetzungen unter dem Einfluß von Eduard Bernstein eine revisionistisch-demokratische Richtung nimmt und zur Sozialdemokratie führt. Ihr sind die „freien" Gewerkschäften, die sich 1919 zum „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund" (ADGB) zusammenschließen, auch politisch eng verbunden; b) die von den liberalen Politikern Max Hirsch und Franz Duncker nach englischem Vorbild 1868 gegründeten freiheitlich-nationalen Gewerkvereine (sog. Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine), die den liberalen Parteien nahestehen, aber zahlenmäßig unbedeutend und politisch weitgehend einflußlos bleiben; c) die ab Anfang der neunziger Jahre in Konkurrenz zu den sozialistischen „freien" Gewerkschaften aufgebauten Christlichen Gewerkschaften, die aus der christlich-sozialen Bewegung (Bischof Ketteier) hervorgehen, eine gewisse Stärke gewinnen und politisch der überwiegend katholischen Zentrumspartei nahestehen, die im Deutschen Reichstag zur Opposition zählt.

Im Mai 1875 schließen sich die beiden Arbeiterparteien, der 1863 in Leipzig gegründete „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" und die 1869 in Eisenach entstandene „Sozialdemokratische Arbeiterpartei", zur „Sozialistischen Arbeiterpartei" zusammen; 1890 nannte sie sich dann „Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD). Der organisatorische Zusammenschluß der Arbeiterschaft war gelungen; nun betraten Arbeiterpartei und Gewerkschaften die politische Arena.

Sie treffen auf eine Staats-und Gesellschaftsordnung, in der für die wachsenden Massen der Fabrikarbeiter offenkundig kein Platz ist.

Gewerkschaften und Sozialdemokratie sehen sich in allen politischen und sozialen Forderungen einer geschlossenen Abwehrfront aus Unternehmer, Kirche, Armee, Beamtentum und Krone gegenüber. Das gehobene Bürgertum hatte sich ebenfalls schon längst auf die Seite der Obrigkeit geschlagen; sein gesellschaftliches Leitbild ist der preußische Reserveoffizier. Das Kleinbürgertum sieht seine wirtschaftliche und soziale Position vom nachrückenden Proletariat bedroht und überbietet sich nun in Beweisen national-konservativer Gesinnung. Große Teile der Intelligenz resignieren, ziehen sich aus dem politischen Leben zurück. Kennzeichnend für diese „Ohne mich" -Haltung ist der Ausspruch des Philosophen Friedrich Nietzsche: „Was die Deutschen von heute angeht, geht mich nichts an."

In dieser konservativen, antidemokratischen Militärmonarchie mußten Gewerkschaften und Sozialdemokratie im preußischen Militär einen ihrer Hauptfeinde erblicken. Die letzte bürgerliche Errungenschaft im preußischen Militärwesen, die Landwehr, war durch die „Heeresreform" des preußischen Kriegsministers von Roon ab 1860 praktisch zum Verschwinden gebracht worden. Das stehende Heer, auf die Krone eingeschworen und der parlamentarischen Verantwortlichkeit fast gänzlich entzogen, war die stärkste Stütze des verhaßten Obrigkeitsstaates, war für die unterdrückte Arbeiterschaft die Verkörperung der Reaktion schlechthin.

Schon 1848 war die „Aufhebung der stehenden Soldatenheere und Verschmelzung derselben mit der Bürgerwehr zum Behufe der Bildung einer wahren, alle waffenfähigen Männer umfassenden Volkswehr" von den Liberalen gefordert worden Diese Forderung wird nun übernommen und bleibt ein Dauer-thema der Sozialdemokraten, nachdem sie bereits 1877 fast 500 000 Stimmen gewinnen und mit 12 Mandaten in den Reichstag einziehen. Stehende Heere werden als „Werkzeug der Unterdrückung, Stütze des Unrechts, Ruin des nationalen Wohlstandes" bezeichnet und als dauernde Gefahr für den Frieden empfunden; ihre eigentliche Bestimmung hatte Wilhelm Liebknecht schon 1868 in die griffige Formel gekleidet: „Stets und überall gegen das Volk, nie und nirgends für das Volk!"

Für Krone und Armee sind Sozialdemokraten und Gewerkschafter „vaterlandslose Gesellen" und „Staatsfeinde". Wilhelm II. nennt sie in einer Rede im Jahre 1895 „eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen", obwohl die organisierte Arbeiterschaft den Wehrgedanken keineswegs ablehnt.

Die zwei-bis dreijährige Wehrdienstzeit soll zugleich ihrer national-patriotischen Rückerziehung dienen: Sozialdemokratische Wehrpflichtige werden durch eine Eintragung in ihren Personalpapieren besonders gekennzeichnet. Wichtigste Mittel der Rückerziehung sind der „vaterländische Geschichtsunterricht" und eine harte Disziplin. Das Verhältnis von Vorgesetzten und Untergebenen ähnelt den Beziehungen von Gutsherren und bäuerlichen Untertanen im alten Preußen. Die Erziehungsbemühungen der Armee bleiben so gut wie erfolglos, zumal eine geistige Auseinandersetzung mit den neuen sozialpolitischen Ideen nicht stattfindet. Statt dessen vergrößert sich die Kluft zwischen Arbeiterschaft und Militär, obwohl sich die aus der Arbeiterbewegung kommenden Wehrpflichtigen durchweg als willige und häufig besonders belobigte Soldaten erweisen.

Am 18. Oktober 1878 bringt Bismarck das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" in den Reichstag ein. Zwei fehlgeschlagene Attentate auf Wilhelm L, die er der Sozialdemokratie zuschreibt, bieten die willkommene Gelegenheit, mit dem gefährlichen politischen Gegner aufzuräumen. Das Bismarcksche „Sozialistengesetz" verbannt die Sozialdemokratie für zwölf Jahre aus dem Reichstag und zwingt die Gewerkschaften in die Illegalität: 26 Gewerkschaften werden aufgelöst, 1 500 Arbeiterführer wandern ins Gefängnis, 900 werden aus dem Deutschen Reich ausgewiesen. 1890 muß das 'Ausnahmegesetz gegen den Widerstand Bismarcks wieder aufgehoben werden. Anziehungskraft und innere Stärke der Arbeiterbewegung erweisen sich als ungebrochen. Bei den Reichstagswahlen desselben Jahres erringt die SPD 35 Mandate-, 1912 wird sie mit 110 von 397 Sitzen stärkste Fraktion im Deutschen Reichstag. Auch die Gewerkschaften erleben eine stürmische Aufwärtsentwicklung: 1891 haben die freien Gewerkschaften knapp 280 000 Mitglieder; im Jahre 1910 sind bereits 2, 4 Millionen Arbeiter gewerkschaftlich organisiert, davon 82, 2 Prozent in den freien Gewerkschaften, 12, 1 Prozent in den christlichen Gewerkschaften, der Rest in den eher unpolitischen Gewerkvereinen, die wegen ihrer strikten Ablehnung des Sozialismus die Zeit von 1878 bis 1890 relativ unbeschadet überstanden (zur Entwicklung der Mitglieder-zahlen vgl. Tabelle 1).

Nach ihrer Wiederzulassung wenden sich die Gewerkschaften vor allem der praktischen Gewerkschaftsarbeit zu und versuchen, die Arbeits-und Existenzbedingungen der Arbeiterschaft innerhalb der bestehenden Ordnung durch Verträge und Vereinbarungen mit den Unternehmern zu verbessern. Die politische Auseinandersetzung überlassen sie fast ganz der Arbeiterpartei. Darüber kommt es zu Unstimmigkeiten. In der Partei geht der gewerkschaftliche Revisionismus vielen zu weit. Den Gewerkschaften bringt indes auch das größere Wohlverhalten nicht die erstrebte Anerkennung. Erst als SPD und Gewerkschaften bei Kriegsausbruch 1914 mit dem Staat eine „burgfriedliche" Abmachung treffen, die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag für die Bewilligung der Kriegskredite stimmt und die Gewerkschaften bis Kriegsende auf das Streikrecht verzichten, wird auch der organisierten Arbeiterschaft „patriotische Zuverlässigkeit" und „nationale Gesinnung" von Staats wegen bescheinigt, kommt es zu ersten -------------------------------— Tabelle 1 Mitgliederzahlen der drei bedeutendsten deutschen Gewerkschaftsrichtungen ")

1891— 1931 Deutsche Freie Gewerkvereine Jahr Gewerkschaften Gewerkschaften (HirschDuncker)

— 1891 277 659 65 588 1900 680 427 91 661 76 744 1905 1 344 803 117 097 188 106 1910 2 017 298 122 571 295 129 1918 1 664 991 113 792 404 682 1920 7 890 102 225 998 1 076 792 1925 4 156 451 157 571 606 349 1930 4 716 569 163 302 658 707 1931 4 134 902 149 804 577 512 offiziellen Kontakten zwischen Arbeiterführern, preußischen Ministern, Polizeipräsidenten und Generalen.

Mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten hatte die SPD ihre bisherige bedingungslose Konfrontationspolitik aufgegeben, über diese überraschende Kehrtwendung ist seither viel gerätselt und diskutiert worden. Wahrscheinlich ist, daß die Partei kaum anders handeln konnte. Eine Ablehnung wäre bei der Mehrzahl der Mitglieder und Wähler auf Unverständnis gestoßen. Auch die Arbeiterschaft hatte um die Jahrhundertwende eine zunehmende nationale Begeisterung erfaßt. Die Massen fühlten sich in der Rolle des Angegriffenen, waren vom eigenen guten Recht überzeugt, weshalb die später von den Siegermächten per Diktat entschiedene Kriegsschuldfrage zu so erbitterten Reaktionen führte und einen politisch verhängnisvollen Einfluß ausübte. Im Osten ging es zudem gegen den Erzfeind der Arbeiterklasse, das zaristische Rußland, das die deutschen Grenzen bereits überschritten hatte. Schließlich war die Bewilligung der Kriegskredite auch eine Frage der Selbsterhaltung: SPD und Gewerkschaften hätten andernfalls mit ihrer Zerschlagung und Auflösung rechnen müssen. Im preußischen Kriegsministerium bestanden entsprechende Geheimpläne, die dann annulliert wurden.

So setzten sich wie vorher schon in den Gewerkschaften auch in der Arbeiterpartei die Revisionisten durch. Die international-pazifistisch orientiere Minderheit der Radikalen fügte sich vorerst der Fraktionsdisziplin. Doch schon 1915 kommt es zu internen Richtungskämpfen, die im März 1916 zur Spaltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion in Mehrheitssozialisten und Radikale führen. Daneben existiert seit 1915/16 eine noch links von den Radikalen stehende Gruppe unter der Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die sich Spartakusbund nennt und zur Keimzelle der späteren „Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) wird. Radikale und Spartakusgruppe schließen sich Ostern 1917 unter dem Namen „Unabhängige sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USPD) zu einer neuen Arbeiterpartei zusammen, die zur alten Klassenkampfideologie zurückkehrt und eine kompromißlose Oppositionspolitik mit dem Ziel einer schnellstmöglichen Beendigung des Krieges betreibt.

Die alten Gegensätze zwischen Armee und Arbeiterschaft brechen bald wieder auf. Das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst" vom 5. Dezember 1916 bringt den Gewerkschaften zwar die endgültige staatliche Anerkennung, dazu eine Reihe weiterer praktischer Verbesserungen, aber längst überfällige gesellschaftspolitische Reformen bleiben aus, darunter die Beseitigung des in Preußen noch immer geltenden Dreiklassenwahlrechts. Weitere Streitpunkte sind die eigenen Kriegsziele und die quasi-diktatorische Stellung der Obersten Heeresleitung (OHL) in den letzten Kriegsjähren.

Als sich die Lage immer mehr verschlechtert, reichen Durchhalteparolen und die Appelle an Pflichtbewußtsein und Disziplin nicht mehr aus: Im April 1917 und Januar 1918 kommt es zu großen Streiks. Ende Oktober/Anfang November 1918 meutern Teile der Hochseeflotte. Der Aufruhr breitet sich wie ein Lauffeuer aus. überall entstehen Arbeiter-und Soldatenräte. Am 9. November 1918 dankt der Kaiser ab; Philipp Scheidemann ruft die deutsche Republik aus; zwei Stunden später proklamiert Karl Liebknecht die freie sozialistische Republik nach sowjetischem Muster.

Reichswehr und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik — Eine Chance ist vertan und die Republik wird verspielt

Die Republik war nicht geplant und nicht vorbereitet. Sie ist das Resultat des Zusammenbruchs der alten Ordnung. Nun drohen Bürgerkrieg und Anarchie. Am 10. November 1918 übernimmt die SPD unter Friedrich Ebert in Berlin die Regierungsgewalt. Noch am Abend schließen Reichskanzlei und OHL, neuer Staat und alte Armee, ein Bündnis, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Armee stellt sich der Sozialdemokratie unter Ebert zur Verfügung, „um die Ausbreitung des terroristischen Bolschewismus in Deutschland zu verhindern" Die Regierung gewinnt mit diesem Bündnis die notwendige Bewegungsfreiheit, begibt sich aber der Möglichkeit, auch die Armee ihrer uneingeschränkten Autorität zu unterstellen. Die Armee tritt neben den Staat, nicht unter ihn.

Die Gewerkschaften können noch im November 1918 große sozialpolitische Erfolge verbuchen. Die Arbeitszeit wird auf acht Stunden täglich verkürzt. Von den Unternehmerverbänden werden sie als „berufene Vertreter der Arbeitnehmer" anerkannt. Löhne werden zukünftig in Tarifverträgen ausgehandelt und festgesetzt. Schlichtungsstellen, Arbeiterausschüsse in den Betrieben (später Betriebsräte genannt) und Arbeitsgerichte sollen für eine friedliche Beilegung von Konflikten sorgen.

Teile der Gewerkschaften, besonders der Metallarbeiterverband, sympathisieren mit der USPD und dem Spartakusbund. Sie wollen die Räterepublik. Im Dezember 1918 kommt es zu Unruhen in Berlin. Ebert muß zum erstenmal Truppen der alten Armee gegen revolutionäre Arbeiter einsetzen. Diesmal geht es noch ohne Blutvergießen ab, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Truppe als zu schwach und überdies als unzuverlässig erweist. Die Erregung in der Arbeiterschaft ist jedoch groß.

Im Januar/Februar 1919 kommt es in Berlin und im Ruhrgebiet zu kommunistischen Aufständen. Die sozialdemokratische Regierung setzt Militär ein und muß dabei wegen der Unzuverlässigkeit der Fronttruppe auf Frei-korps (oft abenteuerlich zusammengewürfelte Freiwilligenverbände) zurückgreifen, die von Offizieren der alten Armee rekrutiert und geführt werden. Die Versuche, regierungstreue Verbände aus republikanisch gesinnten Offizieren und Soldaten aufzustellen, scheitern bald. Zurückhaltung und Mißtrauen in Arbeiterschaft und Sozialdemokratie sind zu groß. In den folgenden Monaten müssen immer wieder kommunistische Aufstände blutig niedergeschlagen werden, so in Bremen, dann wiederum im Ruhrgebiet, in Berlin und in Bayern. Diese Existenzkrisen können nur durch den Einsatz der Freikorps, also nur mittels rechter, antidemokratischer Kräfte gemeistert werden. Die Linke nennt die Regierenden dafür „Henkersknechte" und „Bluthunde".

Der Kapp-Putsch vom März 1920 führt zum endgültigen Bruch zwischen Arbeiterschaft und Armee. Am 13. März rückt das putschen-de Freikorps Erhardt in Berlin ein. Die Reichswehr unter General von Seeckt weigert sich, den rechten Umsturzversuch gewaltsam niederzuschlagen: „Es kann doch keine Rede davon sein, daß man Reichswehr gegen Reichswehr kämpfen läßt. Truppe schießt nicht auf Truppe." Die Regierung flüchtet. Der Rechtsradikale Wolfgang Kapp wird zum Reichskanzler erklärt. Die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus, der strikt befolgt wird. Nach vier Tagen ist die Revolte gescheitert. Zurück bleiben abgrundtiefes Mißtrauen und offene Feindseligkeit in Gewerkschaften und Arbeiterschaft gegenüber der Reichswehr, die links-und rechtsradikale Umsturzversuche offenkundig mit zweierlei Maßstäben bewertet.

Diese Kluft kann nie mehr überbrückt werden, zumal in Sachsen-Thüringen und im Ruhrgebiet kurz darauf wieder kommunistische Aufstände ausbrechen, die in schweren Kämpfen niedergeworfen werden. Die Reichs-wehr verharrt in der Politik des „Attentismus", des Abwartens auf bessere Zeiten in einem anderen Staat. Unter General von Seeckt wird die „Entpolitisierung" der Reichswehr ab 1921 zum Programm. Diese politische Abstinenz bedeutet jedoch nicht die Unterordnung unter die parlamentarische Kontrolle, sondern die innere Distanzierung von der Republik, dem ungeliebten „Novemberstaat", dessen parlamentarisches System Seeckt als „Krebsschaden der Zeit" bezeichnet.

Die Gewerkschaften rufen dazu auf, sich von der reaktionären Reichswehr fernzuhalten, in diese Truppe nicht einzutreten. Der Versailler Vertrag hatte zudem eine Berufsarmee zur Auflage gemacht, ein Wehrsystem also, das die Gewerkschaften schon immer bekämpft hatten. Die Zurückhaltung der Arbeiterschaft führte dazu, daß die Reichswehr ihre Soldaten dort anwarb, „wo sie sie — bei den anderen finden konnte" (Carl Severing), nämlich in rechtsorientierten und unpolitisch-nationalen Bevölkerungskreisen.

Die regierende Sozialdemokratie muß einen zermürbenden Abwehrkampf an drei Fronten führen: gegen Inflation, wirtschaftliche Not und Arbeitslosigkeit, gegen den politischen Gegner von links und die sich immer stärker formierende Rechte, gegen die unsinnigen Reparationsforderungen und ultimativen Diktate der Siegermächte. Nach Überwindung des Krisenjahres 1923 mit Ruhrinvasion, Hitler-Putsch in Bayern, Aufständen und Separationsbewegungen im Rheinland, Wirtschaftskrise, Inflation und Währungsreform gelingt in den folgenden Jahren eine relative Stabilisierung der Verhältnisse. Außenpolitisch gewinnt das Deutsche Reich wieder Bewegungsfreiheit; die Reparationsforderungen werden revidiert. Im September 1926 wird Deutschland in den Völkerbund aufgenommen. Innenpolitisch tritt eine Beruhigung ein. 1927 werden Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung eingeführt. Die Wirtschaft nimmt einen bemerkenswerten Aufschwung.

Auf dem Parteitag im Mai 1929 in Magdeburg versucht die SPD, ihr zwiespältiges Verhältnis zur Reichswehr und zur Frage der Landesverteidigung zu klären. Julius Leber, ein führender Sozialdemokrat, der später zur deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler gehört, 1944 verhaftet und 1945 hingerichtet wird, klagt in seinem Diskussionsbeitrag: „Diese Spannung zwischen der Wehrmacht der Republik auf der einen, der Arbeiterschaft auf der anderen Seite ist ein gewaltiger Passivposten der Republik, sie ist aber auch ein Passivsaldo der deutschen Sozialdemokratischen Partei. Und zum Schluß möchte ich jetzt die Frage aufwerfen: Ist an dieser Spannung zwischen Wehrmacht und Arbeiterklasse die Wehrmacht allein schuld? Derjenige, der diese Frage mit einem glatten Ja zu beantworten wagt, muß ein sehr hartes Gewissen haben."

Trotz aller beschwörenden Appelle ändert sich am gespannten Verhältnis von Reichs-wehr und Arbeiterbewegung nichts. So muß auch der Versuch des ab Dezember 1932 als Reichskanzler amtierenden Generals von Schleicher fehlschlagen, mit einem Bündnis von Gewerkschaften, SPD und Reichswehr die Machtübernahme der Nationalsozialisten (NSDAP) in letzter Minute zu verhindern und die Republik zu retten. Abneigung und Mißtrauen gegenüber dem ehemaligen Reichswehrgeneral sind zu groß. Er gilt bis zuletzt als die größere Gefahr für die Verfassungsmäßigkeit der Republik.

Am 30. Januar 1933 kommt Hitler an die Macht. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932, die sich in Deutschland besonders verheerend auswirkte und bald zu einer Krise des gesamten parlamentarischen Systems wurde, hatte ihm den Weg bereitet. Dazu kamen Uneinsichtigkeit und politische Blindheit der etablierten Parteien, mangelndes Interesse vieler Staatsbürger an der Demokratie, wachsende Radikalisierung, eine Polarisierung der politischen Auffassungen, vor allem aber das Abschwenken des in seiner ökonomischen Existenz getroffenen Mittelstandes in den Rechtsextremismus. Zu spät kommt die Einsicht: „Mit Gewalt hätte man sie niederwerfen müssen!" (Ex-Reichswehrminister General Groener). Bereits im Mai 1933 werden die Gewerkschaften zerschlagen, ihre Häuser geschlossen. Statt dessen entsteht die „Deutsche Arbeitsfront". Die Reichswehr wird behutsamer angefaßt; aber auch sie entgeht in den nächsten Jahren dem Zugriff der neuen Machthaber nicht.

Erst im Widerstand gegen Hitler treffen sich sozialdemokratische Politiker, Gewerkschafter und Soldaten wieder, planen gemeinsam die gewaltsame Beseitigung des Diktators und die gesellschaftliche und staatliche Neugestaltung Deutschlands. Doch es gelingt nicht mehr, das Chaos abzuwenden. Das Bombenattentat vom 20. Juli 1944 schlägt fehl, über 5 000 Beteiligte, Mitwisser und Sympathisanten werden umgebracht oder zum Selbstmord gezwungen, darunter zahlreiche Arbeiterführer und Offiziere. Wenige Monate später ist der Krieg zu Ende, das Deutsche Reich zerschlagen.

Der Kampf gegen die „Re-Militarisierung" und das „Gegenprogramm" der Gewerkschaften: Soziale statt militärische Aufrüstung

Gewerkschaften und Kirchen sind die ersten Einrichtungen, die nach dem Zusammenbruch 1945 an den organisatorischen Wiederaufbau gehen können. Deutschland ist in vier Besatzungszonen geteilt. In der „Sowjetischen Besatzungszone" (SBZ) entsteht 1946 der „Freie Deutsche Gewerkschaftsbund" (FDGB), eine Einheitsgewerkschaft unter kommunistischer Führung. In den drei Westzonen sind zunächst nur Zusammenschlüsse auf lokaler und regionaler Ebene möglich. Die führenden Gewerkschaftsvertreter sind jedoch entschlossen, die organisatorische Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung während der Weimarer Republik nicht Wiederaufleben zu lassen. Ziel ist der Zusammenschluß aller abhängig Beschäftigten in einer einzigen, weltanschaulich unabhängigen und politisch neutralen Organisation.

Trotz unmittelbarer Eingriffe der Alliierten in die gewerkschaftliche Selbstorganisation, die zum Teil bis 1949 andauern, kann das Konzept der zentralistisch orientierten Einheitsgewerkschaft in der inzwischen entstandenen Bundesrepublik Deutschland weitgehend verwirklicht werden: Im Oktober 1949 vereinigen sich die Gewerkschaftsbünde der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone zum „Deutschen Gewerkschaftsbund" (DGB), einer föderativ aufgebauten Organisation aus 16 Einzelgewerkschaften 1951 sind im DGB über 5, 9 Millionen Arbeitnehmer organisiert. Daneben entstehen als weitere, zahlenmäßig bedeutsame Zusammenschlüsse die „Deutsche Angestelltengewerkschaft" (DAG) und der „Deutsche Beamtenbund" (DBB), die sich der Einheitsgewerkschaft nicht anschließen.

Auch in anderer Hinsicht unterscheiden sich die deutschen Gewerkschaften der Nachkriegszeit von den Gewerkschaften der Weimarer Republik. Bis 1933 empfanden sich die Gewerkschaften in erster Linie als ökonomische Interessenvereinigungen der Arbeitnehmer, als sozialistisch-marxistisch orientierte Kampfbünde der abhängig Arbeitenden gegen die Unternehmer. Nach 1945 sehen sich die Gewerkschaften unversehens in der Rolle eines gesellschaftlichen Ordnungsfaktors. Das allgemeine Wirtschaftschaos erlaubt keine partikulare Interessenvertretung. Die Versorgung der Bevölkerung, die Schaffung von Arbeitsplätzen, der Kampf gegen die Demontage, die Eingliederung der Flüchtlinge haben Vorrang vor Auseinandersetzungen um die Lohnhöhe. In der Gewerkschaftsbewegung vollzieht sich eine Bewußtseinsveränderung, die Hans Böckler, der spätere Vorsitzende des DGB, im April 1949 so umreißt: „Die seit 1945 neu entstandenen Gewerkschaften sind zwar im großen und ganzen ihren Vorgängern von vor 1933 nachgebildet. In einem jedoch unterscheiden sie sich wesentlich von diesen: In der stärkeren Betonung des Willens, in der Wirtschaft unserers Volkes mitzuarbeiten und mitzuverantworten."

Die Gewerkschaften rücken damit vom Primat der Interessenvertretung ab, gehen über zum Primat der Mitbestimmung und Mitverantwortung in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Für ihre Mitarbeit am wirtschaftlichen Wiederaufbau verlangt die organisierte Arbeiterschaft ein politisches Mitspracherecht. Diese Forderung ist nicht ernstlich umstritten und begründet das politische Mandat der deutschen Nachkriegs-Gewerkschaftsbewegung.

Aus diesem Selbstverständnis heraus greifen die Gewerkschaften mit öffentlichen Erklärungen in die nun beginnende Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung ein, zumal schon in den neuen Gewerkschaftssatzungen neben den traditionellen Aufgaben die „Bekämpfung von nazistischen und militaristischen Einflüssen" als wichtiger Programmpunkt gewerkschaftlicher Aktivität beschlossen und festgelegt worden war. Verlautbarungen über eine eventuelle deutsche Wiederbewaffnung drangen im November/Dezember 1949 erstmals in die deutsche Öffentlichkeit. Kein anderes Problem hat die Deutschen in der Geschichte der Bundesrepublik seither mehr-bewegt und zu so leidenschaftlichen Auseinandersetzungen geführt wie die Frage, ob es so kurz nach der größten Niederlage in der deutschen Geschichte unter den gegebenen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen schon wieder deutsche Soldaten geben sollte. Die SPD erklärte im Dezember 1949 im Bundestag: „Die sozialdemokratische Fraktion lehnt es ab, eine deut-sehe Wiederaufrüstung auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Verantwortung für die Sicherung des Gebietes der Bundesrepublik liegt bei den Besatzungsmächten." Diese Reaktion stand damals zweifellos in Einklang mit der Meinung der Bevölkerungsmehrheit.

In den folgenden Monaten waren es aber immer mehr westliche Politiker und Militärs, die eine westdeutsche Beteiligung an der gemeinsamen Verteidigung Europas forderten. Während im westlichen Teil Deutschlands der Besitz von Luftgewehren noch verboten war, wurde im östlichen Teil kräftig aufgerüstet, rollten dort schon wieder sowjetische Panzer mit deutschen Besatzungen in den Uniformen der „Volkspolizei". Der Umsturz in der Tschechoslowakei 1948 und die Berlin-Blockade vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 hatten Politikern und Militärs die wachsende Bedrohung des freien Europa verstärkt vor Augen geführt. Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich noch keineswegs beunruhigt.

Das änderte sich mit Ausbruch des Korea-Krieges am 25. Juni 1950. Dieses Ereignis machte den Deutschen in der gerade ein Jahr alten Bundesrepublik ihre eigene gefährdete Lage bewußt: Wie Deutschland war auch Korea seit Kriegsende ein geteiltes Land. Nun hatten nordkoreanische Truppen versucht, eine gewaltsame „Wiedervereinigung" unter Tabelle 2 Das militärische Kräfteverhältnis in Deutschland 1950 Bundesrepublik DDR Truppen der 4 22 Besatzungsmächte Divisionen Divisionen Eigene Streitkräfte — 70 000 Mann Grenzpolizeitruppen — 17 000 Mann Transportpolizei — 9 000 Mann Truppen des Staatssicherheitsministeriums — 6 000 Mann Allgemeine Polizei 85 000 80 000 Mann Mann (dezentralisiert) (zentralisiert)kommunistischer Herrschaft vorzunehmen. Ein Blick auf das militärische Kräfteverhältnis beiderseits des „Eisernen Vorhangs" machte nur allzu deutlich, daß auch dem freien Teil Deutschlands eine militärische Wiedervereinigungs-Aktion drohen konnte (vgl. dazu Tabelle 2).

Der Korea-Krieg bringt die Politik in Bewegung: Am 11. August 1950 fordert Winston Churchill im Europarat die sofortige Aufstellung einer Europa-Armee unter Einbeziehung Deutschlands. Der Antrag wird mit großer Mehrheit angenommen.

Bundeskanzler Konrad Adenauer richtet am 29. August 1950 ein Sicherheitsmemorandum an die Westmächte, in dem er um Verstärkung der alliierten Truppen in Westdeutschland bittet und seine Bereitschaft bekräftigt, „im Falle der Bildung einer internationalen westeuropäischen Armee einen Beitrag in Form eines deutschen Kontingents zu leisten" Die Vereinigten Staaten signalisieren ihr Einverständnis und drängen auf eine rasche Entscheidung.

Am 24. Oktober 1950 schlägt der französische Ministerpräsident Rene Pleven vor, eine Europa-Armee unter einem europäischen Verteidigungsminister zu bilden. Der Pleven-Plan sieht keine deutsche Gleichberechtigung in der künftigen Europa-Armee vor. Die sozialdemokratische Opposition im Bundestag lehnt deshalb ab, weil sie darin nicht den „Geist der Aussöhnung" zu erkennen vermag und befürchtet, die Bundesrepublik Deutschland würde „Vorfeld der Verteidigung anderer Länder". Die bürgerlichen Koalitionsparteien unter Adenauer stimmen am 8. November 1950 dem Pleven-Plan zu mit der Absicht, die volle Gleichberechtigung später zu erreichen. Die NATO-Verteidigungsminister billigen den Plan am 19. Dezember 1950. Damit beginnt eine fast vier Jahre dauernde Verhandlungsphase über die Einbeziehung deutscher Kontingente in eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG).

Der Deutsche Gewerkschaftsbund nimmt mit einer Erklärung des Bundesvorstandes am 22. Dezember 1955 zur Frage der Wiederbewaffnung erstmals öffentlich Stellung. Obwohl sich die Verlautbarung vor allem gegen die Wiedererrichtung einer selbständigen deutschen Armee richtet, eine deutsche Beteiligung an europäischen kollektiven Sicherheitsmaßnahmen aber nicht rundweg ablehnt, ist die Stellungnahme insgesamt doch eine Absage. Gleichzeitig enthält sie bereits die „soziale Gegenthese" der Gewerkschaften zum militärischen Wiederaufrüstungs-Programm der Regierung: „Eine Politik der Vollbeschäftigung, ausreichende Fürsorge für Sozialrentner, Flüchtlinge und Arbeitsunfähige und vor allem das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmerschaft und Gewerkschaften in der Wirtschaft sind bessere Garantien für Frieden und Sicherheit als Panzerdivisionen." Das entscheidende Mittel, das allein Frieden und Sicherheit gewährleisten könne, sei die Herstellung sozial gerechter und wirtschaftlich vernünftiger Zustände.

Der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher hatte bereits im Januar 1949 in einem Interview geäußert: „Westdeutschland muß politisch und sozial verteidigt werden." Dieses Wort nehmen die Gewerkschaften auf. Die Parole der nächsten Jahre lautet: Soziale statt militärische Aufrüstung! Sie findet sich in den verschiedensten Variationen in allen Entschließungen zur Wehrpolitik, die von den Gewerkschaften in den folgenden Jahren gefaßt werden. Dahinter steht die Sorge, der in mühsamen Aufbaujahren gerade wieder erreichte Lebensstandard der Arbeitnehmer könnte durch die enormen Kosten der Wiederbewaffnung drastisch gesenkt werden Die Regierung, mit der unmittelbaren politischen Verantwortung für die äußere Sicherheit betraut, kontert mit dem Alt-Liberalen Friedrich Naumann (1860— 1919): „Was hilft die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen!" Sie sieht die elementaren Sicherheitsinteressen und die politische Zukunft der Bundesrepublik Deutschland nur in einem funktionierenden westlichen Verteidigungsbündnis gewährleistet.

Die Jahre 1951 bis 1953 sind vor allem durch Bemühungen gekennzeichnet, innerhalb des DGB eine einheitliche Stellungnahme zur Wehrfrage herbeizuführen, ohne daß dies letztlich gelingt Am 23. Januar 1952 erklärt der DGB-Bundesausschuß in einer einstimmig angenommenen Entschließung, daß die Frage des deutschen Verteidigungsbeitrages von den politischen Instanzen zu entscheiden sei, mithin außerhalb gewerkschaftlicher Kompetenzen liege. Schon im Wahljahr 1953 gibt der DGB indes seine erklärte Zurückhaltung wieder auf. In einer Broschüre, die sich vor allem gegen die Verteidigungspolitik der Regierung Adenauer wendet, ruft er dazu auf, einen „besseren Bundestag" zu wählen. Das führt zu innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, die den Bestand der Einheitsgewerkschaft gefährden. 1955 kommt es in der Tat zu einer Spaltung und zur Neugründung Christlicher Gewerkschaften, die aber keinen nachhaltigen Einfluß mehr gewinnen können.

Das EVG-Vertragswerk scheitert am 31. August 1954 an der französischen Nationalversammlung, die ihre Zustimmung versagt. Eine einmalige historische Gelegenheit war damit verpaßt. In den folgenden Verhandlungen geht es nun nicht mehr um ein deutsches Kontingent in einer integrierten Europa-Armee, sondern um die Wiedererrichtung autonomer deutscher Streitkräfte. Im Oktober 1954 werden die Pariser Verträge paraphiert. Sie sehen vor, daß die Bundesrepublik Deutschland unter Wiederherstellung ihrer staatlichen Souveränität gleichberechtiges Mitglied der Westeuropäischen Union (WEU) und des Nordatlantik-Paktes (NATO) wird und als Vertragspartner eine eigenständige Streitmacht von zwölf Divisionen bzw. 500 000 Mann für die gemeinsame Verteidigung aufbaut.

Gegen diese „Wiedergeburt des preußischen Militarismus" laufen die Gewerkschaften Sturm. Mit einem integrierten deutschen Kontingent in einer übernationalen Europa-Armee hätten sie sich gerade noch einverstanden erklären können, nicht aber mit dem Aufbau eigenständiger deutscher Streitkräfte in der geplanten Größenordnung. Im Herbst 1954 startet der DGB eine Protest-und Kundgebungswelle mit Demonstrationen, Flugblattaktionen, Schweigemärschen und Kongreß-Resolutionen, die in den Monaten Januar/Februar 1955 ihren Höhepunkt erreicht. Erklärtes Ziel ist, die Ratifizierung der Pariser Verträge im Bundestag zu verhindern. Die auf dem 3. DGB-Bundeskongreß in Frankfurt im Oktober 1954 gefaßte Entschließung gegen die Errichtung einer deutschen Armee vereinigt das ältere Argument der „sozialen Aufrüstung" mit nun in den Vordergrund tretenden Befürchtungen vor den Schatten der Vergangenheit, dem Wiederaufleben von „Obrigkeitsstaat" und „Militarismus": Für die innere Entwicklung der Bundesrepublik folge aus der im Pariser Vertragswerk vereinbarten „Wiederaufrüstung und Bildung einer deutschen Armee die Gefahr der Schaffung eines militaristischen Obrigkeitsstaates, der das Ende der Anstrengungen der deutschen Arbeiterbewegung für die Schaffung einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Demokratie bedeuten würde"

Die DGB-Opposition gegen die Wiederbewaffnung erreicht ihren Höhepunkt mit der Gründungsversammlung der sog. Paulskirchen-Bewegung am 29. Januar 1955. Sie sollte der Auftakt zu einer großen Volksbewegung gegen die Wiederbewaffnung sein und fiel zeitlich mit der SPD-Kampagne gegen die Pariser Verträge zusammen. Der Kongreß in der Frankfurter Paulskirche, dem Tagungsort der ersten deutschen Nationalversammlung von 1848, faßt noch einmal alle Argumente von SPD und Gewerkschaften in einem leidenschaftlichen Appell gegen die Wiederaufrüstung zusammen. Forderungen nach einer Volksabstimmung und kommunistische Aufrufe zum Generalstreik finden indes keine Gefolgschaft.

Der deutsche Bundestag ratifiziert die Pariser Verträge in einer vier Tage dauernden Sitzung vom 24. bis 27. Februar 1955 mit 314 zu 157 Stimmen bei 2 Enthaltungen. Die Aufstellung der Bundeswehr ist damit beschlossene Sache. Die sozialdemokratische Opposition im Bundestag erklärt sich nach langem Widerstreben bereit, an der Erarbeitung der Wehr-gesetze mitzuwirken. Abweichend von der hundertjährigen Tradition der Arbeiterbewegung fordert sie nun plötzlich aus wahltaktischen Überlegungen die Freiwilligenarmee, muß jedoch im Wahljahr 1957 erleben, daß sich dieser Überzeugungswechsel nicht auszahlt. Im April 1957 rücken die ersten Wehrpflichtigen in die Kasernen ein. Bei der Bundestagswahl im Herbst 1957 erringt die Christlich Demokratische Union (CDU) unter Adenauer ihren bisher größten Wahlerfolg. In der Bundesrepublik ist man schon dabei, sich mit der Wehrpflicht auszusöhnen.

Die Gewerkschaften stehen vorerst weiter abseits. Zu lange hatte man nur über das „Ob" eines deutschen Verteidigungsbeitrages diskutiert, das „Wie" fast völlig außer acht gelassen. Nun muß sich erst die Einsicht durchsetzen, daß die Pariser Verträge nach Annahme durch die parlamentarischen Körperschaften auch für die Gewerkschaften Gesetz sind. Auf dem 4. Bundeskongreß des DGB vom 1. bis 6. Oktober 1956 in Hamburg bestimmen die Gewerkschaften ihre neue Politik gegenüber der nun Realität gewordenen Bundeswehr: „Unter den gegebenen Verhältnissen erwachsen dem DGB in der Bundesrepublik folgende dringende Aufgaben:

1. Entschiedene Abwehr aller Versuche reaktionärer und nationalistischer Elemente, die Wiederbewaffnung für politische und militärische Ziele auszunutzen.

2. Verhinderung der Entstehung eines Staates im Staate — ähnlich wie in den Tagen der Weimarer Republik — durch wirksame demokratische und parlamentarische Kontrolle der Bundeswehr.

3. Abwehr der Bestrebungen, die eine vormilitärische Erziehung der Jugend zum Ziele haben.

4. Sicherung und Erweiterung der demokratischen Rechte.

5. Soziale Konsolidierung der Bundesrepublik."

Der neue Aufgabenkatalog, auch heute noch unverändert gültig, spiegelt noch einmal das ganze historische Trauma der Arbeiterbewegung wider, Resultat geschichtlich leidvoller Erfahrungen, und ist — abgesehen vielleicht von Punkt 4 — ein rein defensives Konzept. Wie wenig sich die Gewerkschaften letztlich mit der Existenz der Bundeswehr abgefunden hatten, macht der Schlußabsatz der Erklärung deutlich, mit dem der DGB auch zukünftig alle Kräfte zu unterstützen verspricht, „die willens und fähig sind, mit demokratischen Mitteln die Wiederbewaffnung im gespaltenen Deutschland und die Wehrpflicht wieder rückgängig zu machen" Diese Absichtserklärung, obwohl nie aktuell und realpolitisch ohne Wert, hat das Verhältnis von Gewerkschaften und Bundeswehr in der Folgezeit bis in die Gegenwart hinein beeinträchtigt und die beiderseitigen Beziehungen belastet.

In den folgenden Jahren gibt es so gut wie keine Kontakte zwischen der wachsenden Bundeswehr und den Gewerkschaften. Beide stehen sich in abwartend-feindseliger Haltung gegenüber. Das gespannte Verhältnis von Arbeiterbewegung und Armee in Kaiserreich und Weimarer Republik scheint unbeschadet der Katastrophe von 1945 auch in der zweiten deutschen Demokratie seine Fortsetzung zu finden. Vorerst sind es nur Einzelgänger, die diese Gefahr erkennen und ihr zu begegnen suchen. Dafür werden sie im eigenen Lager verunglimpft. Bundeskanzler Helmut Schmidt, von 1969 bis 1972 dann selbst Verteidigungsminister, war einer der ersten SPD-Politiker, der die neuen deutschen Streitkräfte von innen kennenlernen wollte. Bereits 1958 nahm er an einer Reserveübung teil; dafür mußte er die Schelte seiner Partei und der Gewerkschaften einstecken und wurde gleichzeitig aus dem SPD-Fraktionsvorstand abgewählt.

Das hat ihn nicht daran gehindert, in einer improvisierten Rede auf einer Jugendkonferenz der Industriegewerkschaft Chemie im Jahre 1960 den Gewerkschaften mit deutlichen Worten vor Augen zu halten, welchen historischen Fehler sie schon wieder zu begehen im Begriff waren. Unter Hinweis auf den großen innenpolitischen Machtfaktor, den die Bundeswehr schon zu jener Zeit darstellte, meinte Helmut Schmidt: „Jeder, der das erkennt und glaubt, er könne diesen Machtfaktor dann richtig beeinflussen, wenn er ihn fortgesetzt in der Öffentlichkeit beschimpft, den halte ich für politisch unzurechnungsfähig." Und unter Bezugnahme auf einen reichlich merkwürdigen Gewerkschaftsbeschluß führte er weiter aus: „Ich halte eine solche Gewerkschaftsentschließung, wie sie da jüngst gefaßt worden ist, wir dürften zwar mit der Bundeswehr reden, die dürften aber keineswegs mit uns reden, für grotesk. Glaubt Ihr, daß das auf irgend jemand Eindruck macht in der Bundeswehr? Die sagen doch höchstens: Die sind wohl verrückt. Man kann die Soldaten doch nicht von vornherein zu Menschen zweiter Klasse stempeln, das ist doch völlig unmöglich, da kriegt man doch niemals eine Gesprächsbasis. .. . Derjenige jedenfalls, der meint, er würde als Demokrat seine Pflicht erfüllen, indem er kräftig auf die Bundeswehr schimpft, der ist politisch unzurechnungsfähig, das muß ich noch einmal sagen."

Die ersten konfliktgeladenen Jahre im Verhältnis von Bundeswehr und Gewerkschaften sind heute Vergangenheit, und mancher Zeitgenosse möchte das damalige Verhalten heute nicht mehr so ganz wahrhaben Doch kann nicht verschwiegen werden, wie es damals war, wenn darüber berichtet werden soll, wie es heute ist.

Vom „vaterlandslosen Gesellen“ zum „organisierten Soldaten": Die Gewerkschaften entdecken die Bundeswehr, aber die Konkurrenz hat sich schon etabliert

Ab Anfang der sechziger Jahre beginnt sich die Einstellung der Gewerkschaften gegenüber Bundeswehr und Landesverteidigung allmählich zu verändern. Die gemeinsame „AntiAtomtod-Kampagne" von 1958, die sich gegen politische Forderungen nach einer Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen richtete, war die letzte große Massenaktion von SPD und Gewerkschaften. Der Wandel vom totalen Gegeneinander zum partiellen Miteinander hat viele Ursachen. Für die Entwicklung spielen vor allem folgende Ereignisse eine maßgebliche Rolle:

1. Die SPD, mit der die Gewerkschaften trotz satzungsmäßig verankerter Neutralität politisch sympathisieren, gibt sich auf einem außerordentlichen Parteitag im November 1959 in Bad Godesberg ein neues Grundsatzprogramm. Mit dem sog. Godesberger Programm entsagt die SPD ihrer eintönigen Sozialisierungs-und Verstaatlichungsideologie, bejaht den „freien Markt" und wandelt sich von der Klassenpartei zur echten Volkspartei. Das neue Parteiprogramm enthält zugleich ein ausdrückliches Bekenntnis zur Landesverteidigung und zum Soldaten als „Staatsbürger in Uniform", dem gültigen Leitbild der Bundeswehr. Diese politische Neuorientierung der Sozialdemokratie bleibt auf die Haltung der Gewerkschaften nicht ohne Einfluß.

2. Die politischen Schlüsselereignisse jener Jahre sind der Bau der Berliner Mauer im August 1961 und die Kuba-Krise vom November 1962. Beide Vorgänge machen der Bevölkerung die anhaltende Bedrohung der äußeren Sicherheit erneut bewußt. Das führt zu einer wachsenden Zustimmung der Bürger zur Bundeswehr und veranlaßt auch die Gewerkschaften in der Frage der Landesverteidigung zu einem Kurswechsel In der Zeit zwischen den beiden weltpolitischen Krisen besteht die junge Bundeswehr ihre erste große Bewährungsprobe: Im Februar 1962 werden weite Teile der deutschen Nordseeküste von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht, die über 350 Menschenleben fordert. Mehr als 40 000 Soldaten sind über Tage hinweg ununterbrochen im Katastropheneinsatz. Sie retten 1 100 Menschen aus unmittelbarer Lebensgefahr. Bei den Hilfs-und Rettungseinsätzen für die Zivilbevölkerung kommen 9 Soldaten ums Leben. Die wirkungsvolle und selbstlose Hilfsaktion bringt der Bundeswehr Achtung und Anerkennung; in der öffentlichen Meinung wächst das Ansehen der Soldaten.

3. In Sozialdemokratie und Gewerkschaften kommt es Anfang der sechziger Jahre zu personellen Veränderungen. Die Riege der alten, sozialistisch-marxistisch geschulten Funktionäre tritt nach und nach ab, Vertreter einer jüngeren, unbefangeneren Generation rücken nach. Im Februar 1963 wird der spätere Bundeskanzler Willy Brandt zum Vorsitzenden der SPD gewählt. 1964 rückt der damals erst 39jährige Heinz Kluncker an die Spitze der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (OTV), der für die Soldaten zuständigen Einzelgewerkschaft im DGB. Für die neuen Männer im Gewerkschafts-Management sind bewaffnete Macht und organisierte Arbeitnehmerschaft nicht von vornherein unvereinbare Interessengegensätze. Statt weiterhin in der emotional bestimmten Politik der Ablehnung zu verharren, halten sie es für sinnvoller, über die gewerkschaftliche Organisation von Soldaten an der demokratischen Kontrolle und Gestaltung der Bundeswehr mitzuwirken. Dabei mag auf Gewerkschaftsseite auch das durchaus legitime Interesse eine Rolle gespielt haben, den zu jener Zeit zu verzeichnenden Mitgliederschwund durch den Zugang organisierter Soldaten auszugleichen. Dieses Motiv wird indes von der OTV bis heute in Abrede gestellt

4. Für die Annäherung ist schließlich nicht unwichtig, daß die politische Entwicklung keineswegs so verläuft, wie es die Gewerkschaften aufgrund der Wiederbewaffnung seinerzeit befürchtet und prognostiziert hatten. Von einer „Wiedergeburt des Militarismus" und einer Neuauflage des „Staates im Staate", von einer „aggressiven Außen-und Wiedervereinigungspolitik" oder einer „Senkung des sozialen Standards der Arbeitnehmerschaft" kann keine Rede sein. Auch in den Gewerkschaften setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, daß die Bundeswehr mit ihren historischen Vorgängerinnen Preußische Armee, Reichswehr und Wehrmacht wenig gemein hat. Die Begegnungen von Gewerkschaftern und Soldaten münden immer häufiger in der Erkenntnis: Die sind ja gar nicht so, wie wir dachten!

Von den innergewerkschaftlichen Lernprozessen bis hin zu der Forderung, nun auch die Soldaten — die bewaffneten Angehörigen des öffentlichen Dienstes — gewerkschaftlich zu organisieren, ist es nur noch ein kleiner Schritt: Im Februar 1964 wird die „Fachgruppe Soldaten" in der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) gegründet; im Herbst 1964 bekundet die ÖTV demonstrativ ihr Interesse an einem Gewerkschaftsbeitritt von Soldaten: Sie lädt zu einer Versammlung nach Koblenz ein, mit der „erstmals in der Geschichte der deutschen Streitkräfte Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit dokumentieren" sollen, „daß sie in der freien Gewerkschaftsbewegung auch ihre Vertretung sehen"

Die Initiative geht also nicht von den Soldaten aus, sondern von der Gewerkschaft ÖTV, die von den 16 Einzelgewerkschaften im DGB für die Beschäftigten in den Verwaltungen und Betrieben des Bundes, der Länder und der Gemeinden zuständig ist. Nachdem nun die Ablehnung überwunden scheint, verursacht die Zuwendung neue Konflikte. Die OTV trifft mit ihrem späten Angebot auf einen Mitbewerber, der schon viele Jahre früher zur Stelle war und sich organisatorisch längst etabliert und dauerhaft eingerichtet hat: den Deutschen Bundeswehr-Verband e. V. (DBwV). Dieser Verband war bereits im Juli 1956 von den damals ersten Soldaten der Bundeswehr zur Wahrnehmung ihrer beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen gegründet worden und erlebte in den folgenden Jahren einen enormen Mitgliederzuwachs. Ein Jahr nach seiner Gründung besaß der DBwV bereits 30 000 Mitglieder, 1963 schon über 100 000. Heute (1976) sind es mehr als 180 000 Mitglieder Damit repräsentiert der DBwV nach eigenen Angaben etwa 80 Prozent der längerdienenden Soldaten aller Dienstgrade — ein enorm hoher Organisationsgrad, der nicht einmal von der extrem „organisationsfreundlich" eingestellten Beamtenschaft erreicht wird

Schon im Herbst 1964, als die OTV ihre Beitrittsofferte an die Zeit-und Berufssoldaten richtete, hatte der DBwV etwa 70 Prozent des angesprochenen Personenkreises in seinen Reihen. Der OTV war damit schon rein quantitativ ihre potentielle Kundschaft größtenteils „wegorganisiert" worden, ganz abgesehen von anderen Barrieren, die insgesamt dazu geführt haben, daß gewerkschaftlich organisierte Soldaten in der Bundeswehr zahlenmäßig auch heute „nur eine Sekte"

darstellen: Ende 1975 waren 1 474 Berufs-und Zeitsoldaten Mitglieder der Gewerkschaft OTV

Die ersten Versuche der OTV, Soldaten gewerkschaftlich zu organisieren, treffen sofort auf den Widerstand des DBwV. Der Verband wirft der Gewerkschaft vor, „über den Zaun zu grasen" und sich nicht mehr an eine schon 1957 getroffene Abmachung zu halten, wonach der DGB sich auf die Zivilbediensteten der Bundeswehr beschränken, die Interessenvertretung der Soldaten aber ausschließlich Sache des DBwV sein sollte; nach zehnjährigem feindseligen Abseitsstehen drohe nunmehr die Politisierung der Bundeswehr durch die Gewerkschaften. Die OTV bestreitet demgegenüber die Existenz einer Abgrenzungsvereinbarung, bezeichnet den BundeswehrVerband als eine „überholte Standesorganisation", die weder die Rechte noch die Möglichkeiten einer Gewerkschaft besitze, statt dessen periodisch wiederkehrende Ergebenheitsadressen an die politische und militärische Führung richte, und deren Wirksamkeit im übrigen durch das Sprichwort gekennzeichnet sei: „Viel Lärm um nichts".

Auch im Bundesministerium der Verteidigung unter Minister von Hassel ist man von der Aktivität der Gewerkschaft OTV keineswegs begeistert. Im März 1965 wird der OTV praktisch untersagt, in der Kaserne Mitglieder zu werben, „da die Interessenvertretung der Soldaten durch den Deutschen Bundeswehr-Verband e. V. gewährleistet ist"; weiter ordnet von Hassel an: „Kontaktversuche von Einzel-gewerkschaften bitte ich mir mitzuteilen." Die OTV beruft sich auf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, das auch für die Soldaten gilt, und kündigt gegen diese offenkundige Ungleichbehandlung gerichtliche Schritte an. Das Ministerium will es auf die angedrohte Gerichtsentscheidung nicht ankommen lassen. In einem neuen Erlaß vom 1. August 1966 wird klargestellt, daß die Koalitionsfreiheit der Soldaten auch „den Beitritt und die Betätigung in Gewerkschaften" einschließt Gewerkschaftliche Veranstaltungen innerhalb der Kaserne werden aber grundsätzlich nicht zugelassen; die Werbung unterliegt gewissen Einschränkungen.

Obwohl der Erlaß keine volle Gleichberechtigung mit dem Bundeswehr-Verband bringt, gibt sich die OTV mit der getroffenen Regelung zunächst zufrieden. Der Konflikt scheint beigelegt, doch nur um den Preis einer neuen Betriebsstörung: Als Reaktion auf den OTV-Erlaß tritt Generalinspekteur Heinz Trettner, der ranghöchste Soldat der Bundeswehr, am 13. August 1966 von seinem Amt zurück. Der Befehlshaber im Wehrbereich III, Generalmajor Pape, schließt sich diesem Schritt an. Zum gleichen Zeitpunkt tritt auch der Inspekteur der Luftwaffe, Panitzki, von seinem Amt zurück, allerdings aus anderen Gründen. Die gleichzeitige Demission der drei hohen Offiziere ist als die sog. Generalskrise in die Geschichte der Bundeswehr eingegangen. Wenn auch Trettner in seinem Entlassungsgesuch klargemacht hatte, daß weniger der Inhalt des Erlasses, sondern vielmehr die Art und Weise des Zustandekommens für seinen Rücktrittsentschluß ausschlaggebend war so ist seine Demission doch allgemein als ein Protest gegen das Auftreten der Gewerkschaften in der Kaserne verstanden worden.

Doch der „Aufstand der Generale", wie die Sensationspresse den Rücktritt betitelt, ändert nichts: Die ÖTV kann seit 1966 auch in der Kaserne um Mitglieder werben. Bis 1969 gibt es'keinen nennenswerten Streit mehr. Aber ihre prinzipielle Forderung nach voller Gleichstellung mit dem Bundeswehr-Verband hat die OTV keineswegs aufgegeben. Die nächsten Konflikte sind bereits vorprogrammiert: Im August 1969 erreicht die OTV, daß Soldaten bei Gewerkschaftsveranstaltungen auch in Uniform auftreten dürfen. Ein bis dahin gültiger Befehl, der das Uniformtragen bei gewerkschaftlichen Veranstaltungen untersagt, wird aufgrund der Beschwerde mehrerer OTV-Soldaten aufgehoben. Nach dem Regierungswechsel im Herbst 1969, der eine Koalition aus Sozialdemokraten und Liberalen erstmals in die Regierungsverantwortung bringt, erneuert die OTV nachdrücklich ihre Forderung nach völliger Gleichbehandlung mit dem Deutschen Bundeswehr-Verband. Damit droht ein neuer Konflikt zwischen der politischen und der militärischen Führungsspitze.

Beide waren sich darüber klar, daß der Anspruch der ÖTV auf Gleichstellung mit dem DBwV nicht zurückgewiesen werden konnte. Die militärische Spitze hielt es aber im Interesse der kameradschaftlichen Geschlossenheit der Truppe für gefährlich, zwei Interessenvereinigungen mit unterschiedlichen politischen Vorstellungen innerhalb der Kaserne miteinander konkurrieren zu lassen. Sie sprach sich deshalb dafür aus, keiner Interessenorganisation irgendwelche Aktivitäten innerhalb militärischer Anlagen zu gestatten und war auch bereit, den „Hinauswurf" des Bundeswehr-Verbandes aus der Kaserne als kleineres Übel in Kauf zu nehmen. Die Alternative, beide Organisationen in der Kaserne gleichberechtigt nebeneinander arbeiten zu lassen, erschien auch aus einem anderen Grund problematisch: Es war nicht auszuschließen, daß sich neben den bestehenden Vereinigungen weitere Interessenverbände konstituieren und ebenfalls Forderungen auf Gleichbehandlung erheben würden. So fürchtete man zu dieser Zeit vor allem das Auftauchen eines linksradikalen Wehrpflichtigen-Verbandes nach niederländischem Vorbild. Bis heute sind allerdings keine weiteren Vereinigungen aufgetreten, und es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür.

Der damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt akzeptiert zunächst diese Auffassung und läßt nach den Empfehlungen der militärischen Führungsspitze einen Entwurf erarbeiten, der keinerlei gewerkschaftliche oder berufsständische Aktivität in der Kaserne mehr vorsieht. Der DBwV protestiert gegen diese „Schlechterstellung"; er hat inzwischen gelernt, daß er die Konkurrenz der OTV nicht zu fürchten braucht. Statt dessen plädiert er für die Beibehaltung der bisherigen Regelung unter gleichberechtigter Zulassung der . OTV.

Helmut Schmidt muß nun in dieser politisch brisanten Angelegenheit eine Entscheidung treffen. Er tut es mit einem politisch geschickten Schachzug: Ohne dazu verpflichtet zu sein, läßt er den Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages über den Erlaßentwurf beraten und holt sich damit politische Rückendeckung. Im Verteidigungsausschuß können sich die Militärs mit ihren Bedenken nicht durchsetzen. Alle drei Fraktionen des Deutschen Bundestages sprechen sich dafür aus, die Gewerkschaft OTV und den Deutschen Bundeswehr-Verband als gleichberechtigte Interessenvereinigungen nebeneinander zuzulassen und der ÖTV dieselben Arbeitsmöglichkeiten in der Kaserne einzuräumen, die der DBwV seit Jahren besitzt. Der anders-lautende Entwurf wird daraufhin zurückgezo23 gen. Der endgültige Erlaß vom 24. November 1971 bringt der OTV die volle Gleichberechtigung. Sie kann nun ebenfalls Veranstaltungen innerhalb der Kaserne durchführen

Einem offenen Konflikt mit der militärischen Führungsspitze, insbesondere dem drohenden zweiten Rücktritt eines Generalinspekteurs im Zusammenhang mit der Ausgestaltung des Koalitionsrechts der Soldaten, war Helmut Schmidt geschickt aus dem Wege gegangen. Wie leicht es dazu hätte kommen können, hat der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maiziere, in seinen 1974 veröffentlichten Aufzeichnungen nachträglich bestätigt. Er schreibt, daß er seinerzeit zum Rücktritt fest entschlossen war, falls der Verteidigungsminister eine gewerkschaftliche Aktivität innerhalb der Kaserne gestatte. Die Einschaltung des Verteidigungsausschusses und das einhellige Votum der Abgeordneten für eine Gleichbehandlung von DBwV und OTV hätten aber die Lage geändert: Ein Rücktritt wäre unter diesen Umständen „einer Demonstration des Generalinspekteurs gegen die einheitliche Meinung des Parlaments gleichgekommen und wäre mit Sicherheit als ein Protest gegen den Primat der Politik ausgelegt worden"

Der Rücktritt unterblieb; aber de Maiziere legte seine Bedenken gegen die getroffene Regelung in einem Schreiben an den Minister noch einmal schriftlich nieder. Dem Erlaß stimmte er nicht zu.

Alles in allem bleibt festzuhalten, daß keine andere Frage in der Geschichte der Bundeswehr zu so tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten geführt hat wie das Verhältnis zu den Gewerkschaften und das Problem der gewerkschaftlichen Betätigung der Soldaten.

Die alten Gegensätze zwischen bewaffneter Macht und organisierter Arbeiterschaft haben auch in der Bundeswehr zumindest bis Anfang der siebziger Jahre fortgewirkt, den bisher einzigen Rücktritt eines Generalinspekteurs ausgelöst und den Nachfolger die gleiche Entscheidung ernsthaft erwägen lassen.

Nach einem Jahrzehnt der Ablehnung stieß das 1964 einsetzende Interesse der Gewerkschaften bei den Soldaten auf wenig Gegenliebe. Es brauchte einige Jahre, bis die formalen Hindernisse für eine gewerkschaftliche Betätigung in der Kaserne aus dem Weg geräumt waren.

Seit 1971 stehen der OTV nun alle Möglichkeiten offen, gegenüber dem DBwV aufzuholen. Prominente Soldaten wie die Generale Graf von Baudissin und Gerd Schmückle sind schon " bald OTV-Mitglieder geworden und haben sich öffentlich für einen Gewerkschaftsbeitritt von Soldaten ausgesprochen. Mit Helmut Schmidt und dessen Nachfolger Georg Leber besteht die politische Führungsspitze der Bundeswehr seit 1969 aus Männern, die gewerkschaftsfreundlich eingestellt sind. Die freiwillig dienenden Soldaten der Bundeswehr kennen die Gewerkschaften aus vorangegangener ziviler Berufstätigkeit, sind oft selbst Gewerkschaftsmitglieder gewesen, bevor sie zur Bundeswehr kamen. Warum ist es der OTV, der mit über 1 Million Mitgliedern zweitgrößten Einzelgewerkschaft im DGB, seither dennoch nicht gelungen, mit ihrer Mitgliederwerbung in der Bundeswehr wenigstens einen Achtungserfolg zu erzielen? Wie kommt es, daß „ihre uniformierten Mitglieder ein verlorener Haufen in der Bundeswehr sind"? Dafür gibt es viele Gründe, von denen abschließend die Rede sein soll.

Berufsständische oder einheitsgewerkschaftliche Interessenvertretung? — Der militärische Professionalismus und die gewerkschaftliche „Dreieinigkeit der Arbeitnehmer"

Weniger als 1 500 Soldaten in der OTV gegenüber mehr als 180 000 im DBwV — wie ist dieses Zahlenverhältnis zu erklären, mit dem seinerzeit wohl niemand gerechnet hatte, am wenigsten die beiden Verbände selbst?

Erklärungsmuster werden viele angeboten, und Enttäuschung urteilt verständlicherweise hart: Für viele Gewerkschafter steht fest, daß die Soldaten die ausgestreckte Hand nicht ergriffen, die gebotene Chance zur Überwindung des alten Gegensatzes nicht genutzt haben, weil konservatives Bewußtsein auch in der Bundeswehr fortlebt. Die OTV betont, daß sie sich vor allem deshalb um die Soldaten bemüht, „weil mit der Vertretung der Interes-sen der Soldaten die Gewerkschaft OTV zur Stabilisierung der Demokratie beiträgt, indem sie mithilft, ein sinnlos gewordenes Spannungsverhältnis abzubauen" Um so mehr muß auf Gewerkschaftsseite der bescheidene Organisationserfolg enttäuschen.

Seitens der Soldaten wird der oberste Beweggrund gewerkschaftlichen Engagements um die Bundeswehr allerdings oft ganz anders interpretiert: Je nachdrücklicher sich die Gewerkschaften als „Hüter der Demokratie" präsentieren, desto mehr geraten sie in den Geruch selbsternannter Aufpasser und außer-parlamentarischer Kontrolleure über die Bundeswehr. Die OTV beging zudem die Ungeschicklichkeit , ihre Beitrittsofferte in den ersten Jahren vor allem an die Unteroffiziere zu richten, womit sie sich gegenüber Offizier-korps und militärischem Establishment selbst in einen vermeidbaren Gegensatz hineinmanövrierte. Sicher haben politische Vorbehalte eine Rolle gespielt und wirken, wenn auch in verminderter Weise, bis heute fort. Noch im Oktober 1975 berichtete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" über einen gewerkschaftlich engagierten Stabsoffizier, der seine Erfahrungen rückblickend so zusammenfaßte: „Innerhalb der Gewerkschaft galt ich als ganz Rechter, fast als Faschist, in der Bundeswehr war ich der rote Major." Diese drastische Äußerung ist sicherlich eine Überzeichnung und kann nicht verallgemeinert werden. Von einem ausgesprochenen Spannungsverhältnis zwischen Bundeswehr und Gewerkschaften kann heute ernsthaft keine Rede mehr sein. Unbestreitbar aber ist, daß die Gewerkschaften eher nach links tendieren und parteipolitisch mit der SPD sympathisieren, während der DBwV mehr dem bürgerlichen Lager zuneigt. Wie verschiedene Umfragen belegen (Waldman 1963, Roghmann 1966, Wilden-mann-Schatz 1969), gab es zumindest bis Ende der sechziger Jahre unter den Soldaten eine starke Präferenz für die bürgerlichen Parteien. Diese parteipolitische Präferenz hat selbstverständlich auch das Organisationsverhalten der Soldaten mitbestimmt.

Erschwerend war schließlich auch der Verspätungseffekt, mit dem die OTV in der Bundeswehr auftrat. Die Mehrheit war bereits im DBwV organisiert. Das verwies die Gewerkschaft auf das harte Geschäft der Abwerbung. Hinzu kamen Mismanagement und wenig

Phantasie bei der Werbung und Betreuung der „Kollegen in Uniform". All dies — bis hin zum wesentlich höheren OTV-Mitgliedsbeitrag — mag dazu beigetragen haben, einen größeren gewerkschaftlichen Organisationserfolg in der Bundeswehr zu verhindern.

Wichtiger aber ist, daß die Interessen der Soldaten mit den Bestrebungen der Gewerkschaften nur partiell übereinstimmen. Organisierbarkeit aber ist abhängig von Interessen-identität, von dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen zahlender Mitgliedschaft und individuellem Nutzen. Wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften ist das Aushandeln der Löhne und Gehälter sowie die Regelung der Arbeitsbedingungen. Dazu zählt auch das Streben nach der vollen Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit, wie es in der gewerkschaftlichen Forderung nach der „paritätischen Mitbestimmung" zum Ausdruck kommt. Diese Ziele sind nach der herrschenden Idee der Einheitsgewerkschaft am ehesten zu erreichen, wenn sich alle Lohnabhängigen eines Wirtschaftsbereiches, gleichgültig ob Beamte, Angestellte oder Arbeiter, in einem einzigen Verband zusammenfinden. Die Einheitsgewerkschaft soll die „Dreieinigkeit der Arbeitnehmer" verkörpern.

Für die Soldaten, Bedienstete des Staates und Angehörige einer strikt hierarchisch aufgebauten Organisation, haben diese gewerkschaftlichen Ziele nur untergeordnete Bedeutung, die gewerkschaftlichen „Dienstleistungen" nur sekundären Rang. Soldaten werden analog dem Beamtenrecht behandelt. Jede Gehaltserhöhung im öffentlichen Dienst kommt ihnen automatisch ebenfalls zugute. Deshalb haben sie es gar nicht nötig, Besoldungsforderungen anzumelden und auszuhandeln. Diese Regelung hat die Besoldung der Soldaten trotz sich verschärfender ökonomischer Verteilungskämpfe aus der öffentlichen Diskussion bislang herausgehalten. Zugleich ermöglicht das dem DBwV, sich nicht als eine vorrangig materiell orientierte Interessengruppe zu empfinden und darzustellen, sondern eher als eine „promotional group", also als ein Verband, der in erster Linie ideelle Ziele verfolgt Der DBwV versteht sich ausdrücklich nicht als Gewerkschaft und lehnt eine derartige Bezeichnung ab, weil darunter „Konfrontationskurs zum Dienstherrn, Funktionärstum und fehlende parteipolitische Neutralität" (Hermann Giesen) verstanden werden. In der Arbeitswelt kommt es zu Konfrontationen vornehmlich bei der Regelung der Löhne und Gehälter. Solange Beamte, Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes vorausmarschieren und die Soldaten analog davon profitieren, besteht für sie gar keine Notwendigkeit, in dieser Frage Auseinandersetzungen mit dem Dienstherrn heraufzubeschwören oder sich in der OTV zu exponieren

Die traditionellen gewerkschaftlichen Ziele, „Ungleichheit" zu beseitigen und „Mitbestimmung" zu erreichen, sind darüber hinaus für die längerdienenden Zeit-und Berufssoldaten einer Wehrpflichtarmee keine sonderlich erstrebenswerten Vorstellungen, bestimmt aber keine elementaren Bedürfnisse. Wer sich in der Militärhierarchie über lange Jahre mühsam hochgedient hat, will nicht „Gleichheit". Dafür steht ein anderer Mechanismus zur Verfügung: „Gleichheit" wird im Militär über die Dimension der „Kameradschaft" hergestellt. Eine „Mitbestimmung", wie sie von den Gewerkschaften im industriellen Großbetrieb angestrebt wird, kann es in der Militärorganisation nach übereinstimmender Auffassung von Soldaten und Politikern ohnehin nicht geben.

Für den einzelnen Soldaten ist damit nicht recht erkennbar, warum er Gewerkschaftsmitglied werden soll, welchen spezifischen Vorteil ihm eine OTV-Mitgliedschaft einräumt, wenn ihn nicht gerade das gesellschaftspolitische Motiv der Versöhnung von Militär und Arbeiterschaft zum Eintritt bewegt. Das wird aber kaum mehr als ein drängendes Problem empfunden und ist für die große Mehrheit kein hinreichendes Eintrittsmotiv, zumal der DBwV als berufsständische Interessengruppe das gesellschaftliche und berufliche Selbst

Verständnis der Soldaten adäquater wiederzugeben und zu vertreten scheint.

Unbestreitbar liegt dem Konzept der Einheitsgewerkschaft ein dichotomisches Gesellschaftsbild zugrunde, eine Zweiteilung der Gesellschaft in ein „Oben" und „Unten". Wie verschiedene empirische Untersuchungen über das Gesellschaftsbild der Arbeitnehmer nachgewiesen haben (Popitz, Bahrdt und andere), findet sich ein derartiges Dichotomie-Bewußtsein, die Vorstellung einer „gespaltenen" Welt, vor allem in der Industriearbeiterschaft. Arbeitnehmer mit höherer Bildung und Ausbildung deuten hingegen Gesellschaft ganz anders; sie haben ein hierarchisches Gesellschaftsbild, glauben an die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, auch wenn die meisten wissen, daß sie es bis ganz nach oben kaum schaffen werden. Je differenzierter das Gesellschaftsbild sich darstellt, je mobilitätsbewußter und aufstiegsorientierter sich der einzelne empfindet, desto weniger attraktiv wird ihm die Einheitsgewerkschaft als Anwalt seiner Interessen erscheinen, desto stärker wird das Bedürfnis nach einer eigenständigen Berufsvertretung, in der zugleich die Besonderheit der eigenen Profession zum Ausdruck kommt.

Standesorganisationen sind gerade von Gewerkschaftsseite als „Relikte der Vergangenheit" und Ausdruck „rückschrittlichen Bewußtseinszustandes" kritisiert worden. Solche Bewertungen sind nicht Aufgabe des Soziologen. Offenkundig haben Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Steuerbeamte, Fluglotsen — um nur einige zu nennen — das Bedürfnis, sich in eigenen Berufsverbänden zusammenzuschließen, ebenso wie die Soldaten im DBwV oder die Polizeibeamten in der Gewerkschaft der Polizei (GdP), die dem DGB nicht angehört und insofern eine eigenständige Interessengruppe darstellt. Mit über 125 000 Mitgliedern ist die GdP die größte Polizeigewerkschaft der Welt; entsprechend dürfte der DBwV die mitgliederstärkste soldatische Interessengruppe darstellen, wenn man von Traditionsverbänden absieht.

Das Berufsbild der Soldaten unterliegt in allen modernen Militärorganisationen einem Prozeß zunehmender Professionalisierung. Die für das moderne Militär typische „inflation of ranks" hat eine große Anzahl an Spezialisten und Technikern hervorgebracht, die auf ihre erlernten Fähigkeiten und ihre qualifizierte Arbeit stolz sind, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt haben und dies in einer eigenständigen Interessengruppe zum Ausdruck gebracht sehen wollen. Die Ein-B heitsgewerkschaft, wegen ihrer nivellierenden und egalisierenden Tendenzen gelegentlich auch als „Eintopf-Gewerkschaft" bezeichnet, erscheint dafür nicht als der rechte Ort. Anders der DBwV, der sich als ein „Verband von Soldaten für Soldaten" präsentiert und mit dieser Formel um die Soldaten wirbt.

Der Verweis der OTV auf ihre große Mitgliederzahl hat sich demgegenüber als wenig zugkräftig erwiesen, über 1 Million Mitglieder sind zwar ein beachtliches Potential, aber zahlenmäßige Größe und finanzielle Stärke sagen über das Durchsetzungsvermögen, die „door-opening-power" einer Interessengruppe, nur wenig aus. Auch kleine Verbände vermögen viel, wenn sie homogen sind und sich Zugang zu den Entscheidungsträgern sichern können. Der in vielen parlamentarischen Systemen beobachtbare Niedergang der legislativen Macht hat auch hierzulande die Exekutive zum Hauptadressaten der Interessengruppen werden lassen. Während die OTV vor allem Zugang zur Legislative hat, ist die Exekutive eine fast konkurrenzlose Domäne des DBwV. Militär-Establishment und DBwV sind eng miteinander verwoben. Das sichert vielfältige Formen der Einflußnahme und der informellen Vor-Konsultation („pre-dialogue"). Der enge Kontakt zur Exekutive ist wahrscheinlich der wichtigste Grund für die insgesamt betrachtet außerordentlich erfolgreiche Lobby des DBwV in den zwei Jahrzehnten seit seiner Gründung. Doch ist es dem Verband auch gelungen, sich „seine“ Abgeordneten zu sichern.

Offen ist noch die Frage, warum es in der Bundesrepublik Deutschland angesichts der Koalitionsfreiheit aller Soldaten nicht zu Wehrpflichtigen-Verbänden nach niederländischem Vorbild gekommen ist, warum es in der Geschichte der Bundeswehr auch keinerlei kollektive Wehrpflichtigen-Proteste gab, wie sie sich kürzlich in Frankreich ereigneten. Einen Teil der Antwort gibt das Weißbuch 1975/1976 der Bundesregierung, wo es nach einer vergleichenden Betrachtung der Wehrpflicht in Ost und West zusammenfassend heißt: „Der Wehrpflichtige der Bundeswehr kann sich bei einem internationalen Vergleich der Wehrpflicht durchaus sehen lassen. Sein Grundwehrdienst ist kürzer als der NATO-Durchschnitt, bei weitem kürzer als der Durchschnitt im Warschauer Pakt. Sein Wehrsold liegt über dem durchschnittlichen Wehrsold aller NATO-Staaten. Er erhält das höchste Entlassungsgeld, bekommt als einziger Weihnachtsgeld und Sparförderung. Der wehrpflichtige Soldat in der Bundesrepublik Deutschland ist darüber hinaus sozial so gut gesichert wie kein anderer Wehrpflichtiger in Europa."

Die vergleichsweise günstige wirtschaftliche und soziale Lage des deutschen Wehrpflichtigen ist sicher ein wichtiger Grund für das Ausbleiben kollektiver Unmutshaltungen.

Dazu besitzen die heutigen Dienstpflichtigen im Vergleich zu früherem deutschen Wehr-recht weit mehr Rechte und Freiheiten. Hinzu kommen schließlich die Bemühungen der Bundeswehr um eine zeitgemäße Menschen-führung, wie sie in den „Grundsätzen der Inneren Führung" ihren Niederschlag gefunden haben. Das alles hat dazu beigetragen, die Dienst-und Existenzbedingungen auch auf der untersten Ebene der Militärhierarchie menschlich und erträglich zu gestalten.

Eine Vielzahl von Einrichtungen zur Spannungsbewältigung und Konfliktregelung trägt dafür Sorge, daß die in einer hierarchischen Organisation unvermeidlichen sozialen Konflikte in geordnete Bahnen gelenkt und rational geregelt werden können. Neben den gesetzlich verankerten Einrichtungen des Vertrauensmannes und der Wehrbeschwerde steht dem Soldaten der Bundeswehr mit dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ebenfalls von Gesetzes wegen auch noch eine unabhängige parlamentarische Kontrollinstitution zur Verfügung, an die er sich ohne Einhaltung des Dienstweges wenden kann, falls er sich in seinen Rechten beeinträchtigt glaubt. Den Wehrbeauftragten erreichen jährlich etwa 7 000 Eingaben, in der Mehrzahl wegen wirtschaftlicher und sozialer Probleme. In der Literatur ist der Wehrbeauftragte denn auch als ein „soziales Frühwarnsystem" bezeichnet worden, das Legislative und Exekutive rechtzeitig auf vorhandene Unzuträglichkeiten hinweisen und ihre Beseitigung anregen kann.

Schließlich hat sich auch der DBwV der Interessen der wehrpflichtigen Soldaten angenommen. Wehrpflichtige können seit 1969 Mitglied werden; am Stichtag 31. Dezember 1975 waren immerhin 12 600 wehrpflichtige Soldaten im DBwV organisisiert Alles in allem vermögen diese kurzen Hinweise zu erklären, warum es in der Bundesrepublik Deutschland trotz der gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen keine Interessen-vereinigungen wehrpflichtiger Soldaten gibt. Die Bemühungen des DBwV um die Wehrpflichtigen werden sich künftig wahrscheinlich noch verstärken. Jede Organisation hat das Bedürfnis nach Wachstum. Das Potential an Zeit-und Berufssoldaten ist aber bereits weitgehend ausgeschöpft. Mitgliederzuwachs läßt sich deshalb am ehesten durch eine verstärkte Werbung unter den wehrpflichtigen Soldaten erreichen. Je mehr Wehrpflichtige aber im DBwV organisiert sind, desto weniger wahrscheinlich ist, daß es eines Tages doch zu einer eigenständigen Interessengruppe kommt.

Die Gewerkschaft OTV wird ihren Mitgliederstand an Soldaten unter den gegebenen Verhältnissen auch künftig kaum nennenswert vergrößern können. In dieser Hinsicht werden offenbar auch keine großen Anstrengungen unternommen. Mittels der kleinen Gruppe gewerkschaftlich organisierter Soldaten dürfte es der OTV vor allem auch darum gehen, ihren Anspruch auf prinzipielle Zuständigkeit für den Organisationsbereich Bundeswehr zu unterstreichen und damit das Prinzip der Einheitsgewerkschaft angesichts zentrifugaler Tendenzen weiterhin konsequent durchzuhalten. Ein paar tausend gewerkschaftlich organisierte Soldaten mehr oder weniger spielen dabei keine Rolle.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Weißbuch 1975/1976 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1976, S. 153.

  2. Deutscher Bundestag, 62. Sitzung vom 26. 10. 1973, Stenographischer Bericht, S. 3623.

  3. Welt der Arbeit vom 24. Mai 1974, S. 6.

  4. Der Staatssozialismus, dessen Vertreter (Johann Karl Rodbertus, Ferdinand Lassalle, Adolph Wagner, Gustav Schmöller) von den Marxisten als „Kathedersozialisten" verunglimpft werden, betrachtet den Staat als den entscheidenden Ordnungsfaktor und fordert ihn auf, regulierend in das Wirtschafts-und Sozialleben einzugreifen. Der Staatssozialismus befürwortet Wohlfahrtsstaat und Sozialgesetzgebung.

  5. Aufruf des demokratischen Zentralkomitees für die Wahlen zur konstituierenden Versammlung vom 4. April 1848.

  6. Zitiert nach: Otto-Ernst Schüddekopf, Das Heer und die Republik, Hannover und Frankfurt am Main 1955, S. 103.

  7. Telegramm Hindenburgs am 10. November 1918 an alle Heeresgruppen und Armee-Oberkommandos.

  8. Julius Leber, Ein Mann geht seinen Weg — Schriften, Reden und Briefe, hrsg. von seinen Freunden, Berlin-Schöneberg und Frankfurt am Main 1952, S. 148.

  9. Die Vereinigten Staaten und vor allem Großbritannien waren gegen den einheitsgewerkschaftlichen Zusammenschluß und bemühten sich, die neuentstandene deutsche Gewerkschaftsbewegung zur Übernahme der Organisationsformen und -ziele ihrer Gewerkschaften zu bewegen.

  10. Zit. nach: Hans Edgar Jahn, Für und gegen den Wehrbeitrag. Argumente und Dokumente, Köln 1957, S. 136.

  11. Zit. nach: Udo F. Löwke, Für den Fall, daß .. . Die Haltung der SPD zur Wehrfrage 1949— 1955, Hannover 1969, S. 47.

  12. Zit. nach: Jahn, a. a. O., S. 22.

  13. Zit. nach: Institut für Staatslehre und Politik e. V. Mainz (Hrsg.), Der deutsche Soldat in der Armee von morgen, München 1954, S. 181.

  14. Löwke, a. a. O., S. 39.

  15. Vgl. dazu auch die Äußerung des damaligen stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Georg Reuter am 8. Oktober 1954 im Hessischen Rundfunk: „Wenn es nach uns geht, dann soll auch in einem wiedervereinigten Deutschland keine Armee bestehen, denn wir tragen so kurz nach zwei Weltkriegen Bedenken, daß in unserem Lande, wo so viel Wiederaufbauarbeit zu leisten ist, wieder eine Armee große Teile des Volkseinkommens verschlingt." Zit. nach: Jahn, a. a. O., S. 141.

  16. In dieser Zeit gibt es zugleich eine Anzahl kommunistischer Beeinflussungsversuche, die organisierte Arbeiterschaft gegen die „von selten der anglo-amerikanischen Militaristen betriebene Remilitarisierung Westdeutschlands" zu mobilisieren.

  17. Zit. nach: Jahn, a. a. O., S. 140.

  18. Zit. nach: Karl Heinz Drenhaus, Gewerkschaften und Verteidigungsbeitrag, Beilage zu Heft 6/1963 der Information für die Truppe, S. 16.

  19. Ebenda, S. 14.

  20. Helmut Schmidt, Beiträge, Stuttgart 1967, S. 406.

  21. Ebenda, S. 411.

  22. Einstellung und Verhalten der Gewerkschaften gegenüber der Wiederbewaffnung konnten hier nur sehr global skizziert werden. Das gilt auch für die weitere Entwicklung des Verhältnisses von Gewerkschaften und Bundeswehr) worüber im nächsten Kapitel berichtet wird. Es ist selbstverständlich, daß in einer Millionenorganisation, wie sie der DGB darstellt, nicht alle Mitglieder von der Spitze bis zur Basis immer einer Meinung sind. Das erklärt, wieso es gelegentlich auch zu widerspruchsvollen Resolutionen kam. Nicht alle Einzel-gewerkschaften haben sich zudem in der Frage der deutschen Wiederbewaffnung so stark engagiert wie etwa die IG Metall, die IG Chemie und die IG Bergbau und Energie. Die DGB-Führungsspitze verhielt sich bei ihren Stellungnahmen im allgemeinen differenzierter („unter bestimmten Voraussetzungen") als die Funktionäre der Einzelgewerkschaften. Recht zwiespältig war die Rolle der DGB-Jugendorganisationen, doch überwog die Ablehnung.

  23. Auf der 5. Bundesjugendkonferenz des DGB im April 1962 in Berlin leitet Werner Hansen, Mitglied im geschäftsführenden DGB-Bundesvorstand, den Wandel ein. In seinem großangelegten Referat erklärt er unter anderem: „Angesichts eines solchen Nachbarn, der verantwortungs-und hemmungslos die Politik der Erpressung bis an den Rand der militärischen Auseinandersetzung anwendet, müssen wir uns selbstverständlich fragen, ob die Gewerkschaften ihre bisherige unklare Haltung zur Frage der Landesverteidigung noch aufrechterhalten können." Zit. nach: Drenhaus, a. a. O., S. 15.

  24. Vgl. dazu Dietmar Schössler, DBwV gegen OTV: Berufsverband und Gewerkschaft im Widerstreit, in: Bernhard Fleckenstein (Hrsg.), Bundeswehr und Industriegesellschaft, Boppard 1971, S. 174 ff. — Die Bundeswehr hatte in den Jahren 1963/64 rund 170 000 Berufs-und Zeitsoldaten (mit Verpflichtungszeiten zwischen 3 und 15 Jahren), die für eine gewerkschaftliche Organisation in Frage kamen. Das war eine durchaus beachtliche Rekrutierungsreserve.

  25. Laut Einladungsschreiben zu der Veranstaltung im November 1964 in Koblenz.

  26. Vgl. für diese sowie für alle anderen Informationen über den DBwV — sofern keine andere Quelle angegeben — die Monographie von Hermann Giesen, Der Deutsche Bundeswehr-Verband, 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, Düsseldorf 1975. — Eine englische Übersetzung ist auf Anfrage erhältlich bei: Deutscher Bundeswehr-Verband e. V., 123 Suedstraße, D-5300 Bonn-Bad Godesberg, Federal Republic of Germany.

  27. In einer Veröffentlichung des Instituts der deutschen werden Organisationsgrad über den von Beamten, Angestellten und Arbeitern folgende Zahlen angegeben: Beamte = 76, 4 Prozent, Angestellte = 21, 7 Prozent, Arbeiter = 44, 5 Prozent (Stand: Dezember 1973). — Vgl. Auf dem Weg in den Gewerkschaftsstaat?, hrsg. vom Institut der deutschen Wirtschaft, Köln 1974, S. 117.

  28. Der Spiegel, Nr. 37 vom 10. September 1973.

  29. Schriftliche Mitteilung der OTV, Bereich Verteidigung, vom 19. Dezember 1975 an den Verfasser.

  30. Der Bundesminister der Verteidigung, Fü B VII 1, Az. 01-52-02 vom 4. März 1965.

  31. Der Bundesminister der Verteidigung, VR IV 1, Az. 01-52-02 vom 1. August 1966.

  32. General a. D. Heinz Trettner hat sein Entlassungsgesuch vom 13. August 1966 kürzlich noch einmal in einer Leserzuschrift an die Zeitschrift „Wehrkunde" im Wortlaut zitiert. Der Text lautet: „Sehr geehrter Herr Minister! Wie ich aus den Zeitungen ersehe, haben Sie einen Erlaß über die Zulassung der OTV zur Werbe-und Informationstätigkeit in den Kasernen herausgegeben, der Ihrer bisherigen Einstellung widerspricht. Aus der Tat-suche, daß Sie, Herr Minister, diese die innere Führung der Streitkräfte tief berührende Entscheidung ohne meine Beteiligung gefällt haben, erkenne ich, daß Sie meine Mitarbeit nicht mehr benötigen. Ich glaube deshalb, Ihren Wünschen zu entsprechen, wenn ich Sie hiermit bitte, mich von meinen Amtspflichten als Generalinspekteur zu entbinden und meine Verabschiedung bei dem bewirken. Herrn Mit vorzüglicher zu Hochachtung, gez. Trettner." In: Wehr-kunde 12/1975, S. 641.

  33. Der Bundesminister der Verteidigung, VR IV 1, Az. 01-52-02 vom 24. November 1971, VMB 1 1971, S. 454 f. — Den Bedenken der Militärs trägt der Erlaß insofern Rechnung, als er nur auf DBwV und OTV Bezug nimmt sowie in Ziffer 8 ausdrücklich vorschreibt, „auf den kameradschaftlichen Zusammenhalt aller Soldaten der Bundeswehr zu achten".

  34. Ulrich de Maiziere, Führen im Frieden, München 1974, S. 164.

  35. Bernd C. Hesslein, Das Soldatenwunder, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 46 vom 16. November 1975.

  36. Informationen für alle Soldaten, hrsg. von der Gewerkschaft OTV, Abteilung Soldaten, Stuttgart 1973, S. 4.

  37. Der Spiegel, Nr. 43 vom 20. Oktober 1975, S. 80.

  38. Was nach übereinstimmender Auffassung der Interessengruppenforscher keineswegs ausschließt, daß auch die „promotional groups" neben ideellen Belangen in der Regel zugleich materielle Wünsche haben und diese durchzusetzen suchen. Seine Zurückhaltung bei der Regelung der Grundgehälter macht der DBwV mit Forderungen nach „Zulagen", die zum Ausgleich der berufseigentümlichen besonderen Belastungen der Soldaten dienen sollen, sowie mit dem ideell verbrämten Beharren auf der „sozialen Besitzstandswahrung" mehr als wett.

  39. Die Tatsache, daß die Beamten wie die Soldaten nicht streiken dürfen, die Durchsetzung ihrer Forderungen also nicht erzwingen können, spielt dabei so lange keine Rolle, wie die OTV nach dem Konzept des einheitsgewerkschaftlichen Zusammenschlusses für den gesamten öffentlichen Dienst zu sprechen sucht und deshalb neben dem Deutschen Beamtenbund (DBB) ihrerseits Beamte organisiert und vertritt. Die Interessen der Beamten werden dann bei Arbeitskämpfen von den streikberechtigten Angestellten und Arbeitern des öffentlichen Dienstes quasi stellvertretend wahrgenommen: Die streikende Müllabfuhr setzt letztlich auch für Universitätsprofessoren und Ministerialbeamte höhere Bezüge durch, die allen zugute kommen, ob organisiert oder nicht.

  40. Weißbuch 1975/1976, a. a. O., S. 181.

  41. Die OTV beschränkt sich auf die Zeit-und Berufssoldaten, um durch die Werbung von Wehrpflichtigen nicht in Konkurrenz zu den anderen DGB-Gewerkschaften zu geraten und sich dem Vorwurf auszusetzen, untereinander „Abwerbung" zu betreiben. Nach einer Umfrage aus dem Jahre 1972 waren von 1 856 befragten Wehrpflichtigen 20 Prozent im DGB organisiert, 4 Prozent in der Deutschen Angestelltengewerkschaft und 8 Prozent in sonstigen Gewerkschaften. — Vgl. Systemforschung, Der Wehrpflichtige 1972, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Fü S I 7, Bonn 1973, S. 17.

Weitere Inhalte

Bernhard Fleckenstein, Dipl. -Soziologe, geb. 1940; Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und Politik in Frankfurt am Main; 1969— 1972 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages; seit 1972 im Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung. Veröffentlichungen zu soziologischen und militärsoziologischen Themen.