Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

„Historischer Kompromiß" oder Volksfront? Die Kommunistische Partei Italiens auf dem Wege zur Regierungsbeteiligung | APuZ 17/1976 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 17/1976 Artikel 1 Wandlungen im französischen Kommunismus? Der 22. Parteitag der Kommunistischen Partei Frankreichs „Historischer Kompromiß" oder Volksfront? Die Kommunistische Partei Italiens auf dem Wege zur Regierungsbeteiligung

„Historischer Kompromiß" oder Volksfront? Die Kommunistische Partei Italiens auf dem Wege zur Regierungsbeteiligung

Heinz Timmermann

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Bei den italienischen Regional-, Provinzial-und Kommunalwahlen vom Juni 1975 konnten die Kommunisten das Kräfteverhältnis zwischen den Parteien, das sich seit Kriegsende als bemerkenswert stabil erwiesen hatte, zu ihren Gunsten verändern. Insgesamt gewannen sie 5, 5 Prozent hinzu und verringerten damit den Abstand zu den Christdemokraten auf 1, 9 Prozent (33, 4 zu 35, 3 Prozent). Dennoch will die KPI an ihrer Generallinie, die den „historischen Kompromiß" als breites Bündnis zwischen Kommunisten, Sozialisten und Christdemokraten anstrebt, auch in Zukunft festhalten (und nicht etwa an einer kommunistisch-sozialistischen Alternativlösung). Das bedeutet nicht, daß die KPI auf eine rasche Regierungsbeteiligung im römischen Zentrum drängt. Ein solcher Schritt wäre für die Partei selbst gegenwärtig noch problematisch. Aktuelles Zwischenziel der Kommunisten ist vielmehr, die Christdemokraten endgültig zur Aufgabe ihrer Politik der prinzipiellen Abgrenzung gegenüber den Kommunisten zu zwingen. Erst in einem zweiten Schritt wäre aus ihrer Sicht an eine Beteiligung an der Regierungsverantwortung zu denken — eventuell über die Zwischenstufe der parlamentarischen Unterstützung einer christdemokratisch-sozialistischen Zweier-koalition von außen.

I. Ein doppelter Schock aus Italien

Abbildung 1

Zweimal innerhalb kurzer Zeit schockierte die Kommunistische Partei Italiens (KPI) weite Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit: Das erste Mal, als sie im Herbst 1973 zum „historischen 'Kompromiß" zwischen den demokratischen Kräften des Landes aufrief; dies wurde in der Bundesrepublik mit Sorge als qualitativ neue Entwicklung des innenpolitischen Kräfte-spiels Italiens mit unabsehbaren Folgen für das Atlantische Bündnis und für das europäische Einigungswerk angesehen. Das zweite Mal, als die Kommunisten bei den kombinierten Kommunal-, Provinzial -und Regionalwahlen vom Juni 1975 das Kräfteverhältnis zwischen den Parteien, das sich seit Kriegsende als bemerkenswert stabil erwiesen hatte, radikal zu ihren Gunsten veränderten und damit unübersehbar ihren Anspruch auf Beteiligung an der Führung des Landes unterstrichen.

Niemand sollte sich über das erwähnte negative Echo in der Bundesrepublik auf diese politische Entwicklung bei unserem südlichen Nachbarn wundern: Der Mangel an fundierten Informationen über die politische, wirtschaftliche und soziale Lage des Landes muß zu unangemessenen Reaktionen führen. Um so notwendiger scheint es, den Hintergrund dessen auszuleuchten, was das Schlagwort vom „historischen Kompromiß" inhaltlich bedeutet und wie dessen politische Perspektiven zu bewerten sind. Soviel sei hier schon vorweggenommen: Ohne Zweifel ist die politische Szene Italiens nach einem Jahrzehnt der Stagnation im Zeichen der christdemokra-tisch geführten Mitte-Links-Koalitionen jetzt in Bewegung geraten. Die Möglichkeit einer direkten Regierungsbeteiligung der Kommunisten im römischen Zentrum ist in greifbare Nähe gerückt. Noch aber sperren sich die Christdemokraten (Democrazia Cristiana = DC) gegen eine solche Lösung, und auch die Kommunisten haben es aus verschiedenen Gründen mit dem „historischen Kompromiß" keineswegs eilig.

Bevor jedoch näher auf Charakter und Perspektiven des „historischen Kompromisses" eingegangen werden soll, müssen zunächst einige Angaben zu den politischen und sozialen Einflußzonen der italienischen Kommunisten nach den Juni-Wahlen gemacht werden. Freilich wird man zu einer fundierten Einschätzung der Änderungen der Kräfteverhältnisse in Italien nur dann kommen, wenn diese auch als Ausdruck der wirtschaftlichen Wandlungsprozesse verstanden werden und wenn über die parlamentarische Ebene hinaus die übrigen Einflußfeldei’ in die Analyse mit einbezogen und dabei die beiden stärksten Parteien des Landes, die Christdemokraten und die Kommunisten, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dann nämlich zeigt sich, daß die Kommunisten auf dem besten Wege sind, die ein Vierteljahrhundert unangefochtene Hegemonie der Christdemokraten in Staat und Gesellschaft auf allen Feldern zu brechen und selbst zur stärksten Partei des Landes zu werden.

II. Politische und soziale Einflußzonen

Abbildung 2

Was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, so hatte Italien bis weit in die sechziger Jahre hinein einen stürmischen Aufschwung er-, lebt. Dieser Aufschwung, der nicht zuletzt auf dem relativ niedrigen Lohnniveau aufbaute und später durch die außenwirtschaftliche Expansion im Rahmen des Gemeinsamen Mark-tes weiter verstärkt wurde, vollzog sich freilich weitgehend ungeordnet und war daher, wie sich später zeigen sollte, mit schwerwiegenden Strukturmängeln behaftet.

Hier ist vor allem die einseitig auf den Norden konzentrierte Expansion der Industrie zu nennen, die die Bevölkerung des agrarischen Südens als unerschöpfliches Arbeitskräftereservoir ansah. Diese einzelwirtschaftlich gewiß richtige, gesamtgesellschaftlich jedoch verhängnisvolle Entwicklung, die einen Exodus der südlichen Aktivbevölkerung in den Norden zur Folge hatte, schlägt jetzt auf die Gesellschaft zurück und stellt die Regierung vor Probleme, die mit den traditionellen Mitteln kaum noch lösbar sind. Zum einen schuf sie ungeheure infrastrukturelle Probleme in den industriellen Ballungsgebieten des Nordens. Turin beispielsweise wuchs innerhalb der letzten 25 Jahre von 720 000 auf 1 202 000 Einwohner, ohne daß der Wohnungsbau sowie das Gesundheits-, Bildungs-und das öffentliche Verkehrswesen damit auch nur einigermaßen hätten Schritt halten können. Zum anderen führte diese Entwicklung zu einem weiteren wirtschaftlichen Ausbluten des ohnehin zurückgebliebenen Südens mit allen negativen politischen und sozialen Konsequenzen. Selbst der Agrarbereich verfiel zusehends — mit der Folge, daß Italien heute für die verteuerten Nahrungsmittel mehr Devisen ausgeben muß als beispielsweise für die Erdölkäufe.

Diese Strukturkrise wurde dadurch verschärft, daß es nicht gelang, den veralteten staatlichen Verwaltungsapparat den Erfordernissen eines modernen Industriestaates anzupassen. Hier wie später auch im umfangreichen staatlichen Wirtschaftsbereich erwies sich die Praxis des italienischen Klientel-und Patronagewesens, das die DC immer mehr perfektionierte, als unüberwindbares Hindernis für eine moderne Verwaltung und für rationales Wirtschaften.

Für all dies wurde die DC, die die Geschicke des Landes seit 1945 bestimmt, verantwortlich gemacht, und die Leute begannen, sich zunehmend auf diejenigen Gruppierungen umzuorientieren, die sich glaubwürdig als Kräfte der Ordnung, der Erneuerung und des Fortschritts mit Augenmaß präsentierten. Als eine solche Kraft erscheint vielen heute die KPI — daher ihre Erfolge bei dem Versuch, die jahrzehntelange Vorherrschaft der DC auf allen Feldern zu brechen.

Dieser Trend beginnt bereits im organisationspolitischen Bereich. Zwar verfügt die DC mit über 2 MdL Mitgliedern gegenüber 1, 72 Mill, der KPI noch immer über einen gewissen Vorsprung. Dieser quantitative Vorsprung wird jedoch dadurch mehr als aufgewogen, daß die KP von der Führung bis zur Basis weitaus geschlossener auftritt (und damit mehr politische Schlagkraft entwickelt) als die DC — eine DC, die im Laufe der Jahre zu einem vielfach in sich zersplitterten Aggregat widerstreitender Interessengruppen degenerierte, der nur noch durch schiere Machtausübung zusammengehalten wurde. So gesehen mußte der Machtverfall an der Peripherie die DC fast automatisch in die schwere Identitäts-und Existenzkrise führen, die die Partei gegenwärtig durchmacht.

Der Trend setzt sich fort, wenn man einen Blick auf die sozialen Einflußzonen wirft. Hier zeigte bereits die eindeutige Niederlage der DC im Scheidungsreferendum von 1974, daß die Ideologie der Partei — der christliche Glaube mit seinen ins Politische gewendeten moralischen Werten — an Ausstrahlung verloren hat: Selbst viele christliche Stammwählerinnen im Norden, Nordosten und Süden, den traditionellen Hochburgen der Partei, ließen die DC im Stich. Die KPI hingegen ist auch von ihrer Programmatik her so attraktiv geworden, daß sie den Rahmen ihrer traditionellen Wählergefolgschaft in der Industriearbeiterschaft sowie unter den Genossenschaftsbauern und Handwerkern in Nordmittelitalien sprengen und jetzt auch tiefe Einbrüche im Dienstleistungsbereich, unter der wissenschaftlich-technischen Intelligenz und sogar unter kleinen und mittleren Industriellen erzielen konnte.

Ein weiteres kommt hinzu: Während sich die Verbindungen der ehemals christlichen Gewerkschaften zu ihrer Mutterpartei immer mehr lockerten, konnten die Kommunisten im Zuge des gewerkschaftlichen Einigungsprozesses ihren Einfluß auf die Gewerkschaftsbewegung über die von ihnen kontrollierte CGIL-Gewerkschaft, die stärkste des Landes, hinaus weiter ausdehnen. Das ist insofern außerordentlich wichtig, als die Gewerkschaften im Italien nicht nur im Hinblick auf tarifpolitische, sondern auf wirtschaftspolitische Probleme überhaupt zu einem wichtigen Verhandlungspartner der Regierung geworden sind.

Schließlich beginnt selbst die letzte Säule christdemokratischer Machtausübung und Hegemonie, das Management der privaten und öffentlichen Wirtschaft, zu wanken: Einflußreiche Industrielle sehen in der Patronageund Klientelwirtschaft der DC mehr und mehr ein Hindernis für ein modernes, rationales Wirtschaften und orientieren sich vorsichtig auf die Kommunisten, die für sie bei allen Vorbehalten doch Ordnung, Disziplin und Rationalität symbolisieren. Der wichtigste Indikator für den steigenden kommunistischen Einfluß liegt aber zweifellos im politischen Bereich, nämlich in den Ergebnissen der Juni-Wahlen, die für italienische Verhältnisse einem wahren Erdrutsch gleichkommen. Die Democrazia Cristiana, seit fast 30 Jahren die „Partei der relativen Mehrheit“, mußte Einbußen von 5 Prozent hinnehmen und konnte damit ihre führende Position nur knapp behaupten. Die KPI dagegen gewann 5, 5 Prozent hinzu und verringerte den Abstand zu den Christdemokraten auf 1, 9 Prozent. Insgesamt ist die KPI jetzt in siebe Prozent hinnehmen und konnte damit ihre führende Position nur knapp behaupten. Die KPI dagegen gewann 5, 5 Prozent hinzu und verringerte den Abstand zu den Christdemokraten auf 1, 9 Prozent. Insgesamt ist die KPI jetzt in sieben (von 20) Regionen und in 34 (von 95) Provinzen stärkste Partei. 2)

Ihren dramatischen Akzent erhalten diese globalen Ziffern freilich erst dann, wenn man sie nach Regionen aufschlüsselt. Dann nämlich zeigt sich, daß die Kommunisten ihre größten Einbrüche in den mehr oder minder industrialisierten Regionen Nord-und Mittel-italiens sowie in den urbanen Ballungszonen zu verzeichnen hatten, während die Christdemokraten gerade hier die stärksten Verluste hinnehmen mußten. Im einzelnen sieht das in den Regionen so aus (Angaben für die Stärke der Kommunisten, die Gewinne der KP und die Verluste der DC): Ligurien (38, 4; + 7, 1; — 1, 7), Piemont (33, 9; + 8; — 4, 6), Lombardei (30, 4; + 7, 3; — 3, 4), Venezien (22, 8; + 6; — 3, 9), Latium (33, 5; + 7; — 1, 7), Abruzzen (30, 3; + 7, 5; — 5, 7). Ähnlich in den Großstädten: Rom (34, 8; + 8, 9; -2), Turin (37, 8; + 8, 9; -3, 6), Mailand (30, 4; + 7, 4; + 0, 3), Venedig (34, 3; + 6, 8; -2), Genua (39, 1; + 8; — 1), Florenz (41, 5; + 6, 5; -0, 7) und Neapel (32, 0; + 6; -5, 6) 8).

Nimmt man hinzu, daß sich die Wählerbasis der DC weiter nach rechts verschob 3) und daß die Jungwähler, deren Zahl durch die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre ungewöhnlich hoch war, überwiegend links wählten, so zeichnet sich eine bemerkenswerte Tendenz ab: Während die DC befürchten muß, daß ihr die Arbeitnehmermassen mehr und mehr davonlaufen und daß sich ihr sozial ursprünglich breites Einzugsfeld auf die konservativen Schichten und die Bevölkerung des Südens reduziert, entwickelt sich die KPI zunehmend zu einer auch für breite Schichten des Angestellten-und Dienstleistungsbereichs wählbaren linken Volkspartei. 4)

Hier zahlt sich aus, daß die Kommunisten unter starkem Einfluß Togliattis die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben: Mit ihrer Selbstdarstellung als Partei der Ordnung, der Mäßigung und des Verantwortungsbewußtseins gelang es ihnen, große Teile der alten und. neuen Mittelschichten, die besonders in Krisenperioden die Massenbasis für faschistische Bewegungen abzugeben pflegten, zu sich herüberzuziehen und den sich Anfang der siebziger Jahre abzeichnenden Rechtstrend nach links umzubiegen. Gewiß nicht repräsentativ, aber bezeichnend für diese Entwicklung, die vom Grundsätzlichen her über Italien hinaus alle Aufmerksamkeit verdient, ist das Wahlverhalten der 671 Wähler bei der Bereitschaftspolizei von Mailand-Bicocca 5):

Sicher ist nicht jede Stimme, die bei den Juni-Wahlen für die Kommunisten abgegeben wurde, als ein Votum für den Sozialismus marxistischer oder marxistisch-leninistischer Prägung zu werten. Für viele KP-Wähler war es eine Entscheidung gegen die Mißwirtschaft der DC, aber (noch) kein Votum für das Programm der KPI. Das kommunistische Wähler-potential von rund 33 Prozent ist also keines-wegs stabil. Andererseits sind die kommunistischen Neuwähler aber auch nicht einfach als zuiälliger Flugsand anzusehen. Zu Recht weist KPI-Generalsekretär Berlinguer darauf hin, daß Bewegungen nach links in Zeiten wirtschaftlicher, politischer und moralischer Krise keineswegs selbstverständlich sind. Das geschieht nur dann, folgert er mit einiger Überzeugung, „wenn die Linkskräfte sich nicht mit Schimpfen und Kritisieren zufriedengeben, sondern Vorschläge machen und sich einsetzen, um die Probleme zu lösen"

Angesichts der spekulatären Verschiebung des innenpolitischen Kräfteverhältnisses in Italien stellen jetzt viele Beobachter die Frage, ob denn die Kommunisten an einem „historischen Kompromiß" mit einer solchen DC überhaupt noch interessiert sind. Wäre es für die KPI nicht politisch sinnvoller und konsequenter, solange weiter zuzuwarten, bis die Bildung einer rein linken kommunistisch-sozialistischen Alternativregierung möglich ist, in der der KPI aufgrund ihrer überragenden Stärke die Führung fast automatisch zufiele?

III. Zum Charakter des „historischen Kompromisses"

Solche Auffassungen, die von linksextremen Gruppen vorgebracht werden und auch an der Parteibasis einigen Anklang finden, werden von der Führung einmal deshalb abgelehnt, weil die Partei nicht plötzlich die politische Linie ändern kann und will, mit der sie vor den Wähler getreten ist. Sie werden auch deshalb nicht geteilt, weil ein kommunistischer Regierungseintritt im Ausland (und vor allem in den USA) noch am ehesten akzeptiert wird, wenn er in Form eines breiten Bündnisses erfolgt. Und sie werden schließlich deshalb verworfen, weil die Parteiführung den historischen Grundkonsens, der Christdemokraten, Sozialisten und Kommunisten seit den Resistenza-Zeiten verbindet, nicht leichtfertig aufs Spiel setzen will. Die Ansätze dessen, was heute als „historischer Kompromiß" bezeichnet wird, lassen sich nämlich bis in die Kriegs-und Nachkriegszeit zurückverfolgen: Damals legte Togliatti die KPI gegen nicht geringe Widerstände insbesondere seitens der kommunistischen Partisanengruppen auf den Kurs fest, in gleichberechtigter Zusammenarbeit mit den Sozialisten und den politischen Kräften des Katholizismus den Wiederaufbau eines demokratischen, antifaschistischen Italien in die Wege zu leiten. Noch heute gültiger Ausdruck dieser Zusammenarbeit ist die Verfassung vom Januar 1948.

An diesem traditionellen Grundkonsens konnte die KPI 1968/69 anknüpfen, als sie Sozialisten und Christdemokraten den Vorschlag machte, die drängenden Probleme des Landes gemeinsam zu bewältigen. So gesehen signalisierte der Aufruf zum „historischen Kompromiß" vom Herbst 1973 entgegen landläufiger Ansicht in der Bundesrepublik keine qualitativ neue Entwicklung und keine nur taktisch bedingte dramatische Wende, sondern lag in der Kontinuität der historischen Bündnispolitik der KP und war Konsequenz ihrer seit Ende der sechziger Jahre verfolgten strategischen Generallinie.

Freilich sah sich die Partei nicht zufällig Ende 1973 veranlaßt, mit der Aufforderung zum „historischen Kompromiß" diese Generallinie noch präziser herauszuarbeiten und zu motivieren. Inzwischen nämlich hatten sich vor allem durch die Olpreiskrise die ökonomischen Schwierigkeiten so zugespitzt, daß sie das gesamte politische System und seine Institutionen in eine tiefe Krise stürzten. Hier sahen die Kommunisten zwar die Chance, durch ein überzeugendes Konzept tiefgreifender Strukturreformen größeren Einfluß zu gewinnen. Gleichzeitig war ihnen aber durchaus bewußt, daß sie mit den Sozialisten allein zu schwach wären, um Italien aus seiner Krise herauszuführen, ja daß eine solche Lösung die Frontalopposition eines um die DC gruppierten starken Rechtsblocks provozieren und das Land politisch in zwei Teile spalten würde.

Aus dieser Sicht machte insbesondere das tragische Scheitern der Volksfrontregierung in Chile, das bei allen Unterschieden der Ausgangsbedingungen doch insbesondere in parteipolitischer Hinsicht manche Ähnlichkeiten mit der Situation in Italien aufwies, auf die KPI einen starken Eindruck. Die Partei zog aus den chilenischen Erfahrungen die Lehre, „daß die Einheit der Arbeiterparteien und der Linkskräfte für eine Verteidigung und den Fortschritt der Demokratie nicht ausreicht, wenn dieser Einheit ein von der Mitte bis zur extremen Rechten reichenden Parteienblock gegenübertritt". Mit 51 Prozent der Stimmen sei „keine Garantie für das überleben und die Arbeitsfähigkeit einer Regierung gegeben, die Ausdruck jener 51 Prozent wäre". Für die Kommunisten bedeutete das, verstärkt den Kampf um die politische Mitte zu führen und ihre politischen Repräsentanten für eine Erneuerung des Landes zu gewinnen, denn „die Ernsthaftigkeit der Probleme des Landes, die immer bedrohlicheren Gefahren reaktionärer Abenteuer und die Notwendigkeit, der Nation schließlich doch einen sicheren Weg wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Erneuerung und demokratischen Fortschritts zu öffnen: All dies bedeutet, daß die Zeit immer mehr drängt und reif ist, um das anzustreben, was als der neue große . historische Kompromiß'zwischen den Kräften bezeichnet werden kann, die die überwältigende Mehrheit des italienischen Volkes in sich vereinen und repräsentieren."

Diese Generallinie wurde auf dem 14. KPI-Kongreß vom März 1975 fast einmütig gebilligt und seither mehrfach bestätigt — auch nach den Wahlen vom Juni. Ausdrücklich verurteilt wurden Positionen wie die es persönlich hoch angesehenen, politisch aber einflußlosen Parteimitbegründers Terracini, der schon 1921 Lenin zu widersprechen gewagt hatte und jetzt erneut gegen den Strom schwamm, indem er den „historischen Kompromiß" mit der Begründung verwarf, die DC sei eine „Partei der Klasse der Großbourgeoisie" und damit als Partner für einen Kompromiß mit den politischen Organisationen der Arbeiterklasse ungeeignet

Eine solche Position bezeichnete Berlinguer schon 1973 und erneut auf dem Parteitag als unmarxistisch, da sie die Vielfalt sozialer und wirtschaftlicher Interessen innerhalb der DC und damit die Tatsache übersehe, daß diese Partei eine vielschichtige, damit aber auch veränderbare Realität sei In der Tat wurde ja die ursprüngliche Stärke ihres „interclassismo" — das Nebeneinander unterschiedlicher Kräfte und Interessen innerhalb der Partei — mit den sich zuspitzenden Klassenauseinandersetzungen zu ihrem empfindlichen Schwachpunkt. Die Krise der Gesellschaft führte zwangsläufig zur Krise auch der DC als der politischen Exponentin dieser Gesellschaft. Genau hier knüpft die Politik des „historischen Kompromisses" an, genau hier beginnen für die KPI aber auch die Probleme. Denn so eindeutig die überwältigende Mehrheit des 14. Parteitages, der ganz von der Problematik des „historischen Kompromisses" beherrscht war, mit Berlinguer und gegen Terracini die DC für veränderbar und damit für grundsätzlich bündnisfähig hielt, so dringend stellte sich — mit den Worten der KPI-nahen Tageszeitung Paese Sera — doch die Frage: „Historischer Kompromiß ja — aber mit welcher DC, Genossen?"

In jedem Falle war die entscheidende Frage die nach dem Charakter der DC als dem wichtigsten Gesprächspartner für den „historischen Kompromiß". Damit spitzten sich die Differenzen auf die Frage zu, ob der „historische Kompromiß" als ein „politisches Angebot" oder als eine „strategische Linie" zu verstehen sei. Wer ihn als ein politisches Angebot verstand, akzeptierte die DC als Gesprächspartner in ihrem gegenwärtigen Zustand und zielte auf seine relativ kurzfristige Verwirklichung. Wer ihn hingegen als eine strategische Linie ansah, setzte auf längere Fristen, in deren Verlauf mit einer weiteren Verschärfung der Krise innerhalb der DC gerechnet werden konnte.

Auf dem Parteitag selbst interpretierte nur eine Minderheit um den Europaexperten Amendola (darunter mit Einschränkungen auch Luciano Lama, der Chef der kommunistisch kontrollierten CGIL-Gewerkschaft) den „historischen Kompromiß" im Sinne eines kurzfristig zu realisierenden „politischen Angebots". Angesichts der schweren Krise, in der sich das Land befindet, hielt Amendola ein weiteres Zuwarten für gefährlich. Er spottete über jene, die die KPI „rein, unbefleckt und glänzend in der Isolierung" (splendidi nel nostro isolamento) halten wollten und ihr Ziel darin sähen, „die proletarische Revolution für das Jahr 2000 vorzubereiten". Für ihn ist der „historische Kompromiß" mit der DC — und das heißt: mit der heute vorhandenen DC — ein aktuelles Problem

Eine andere Richtung um Vorstandsmitglied Ingrao begreift den „historischen Kompromiß" nicht als Tagesziel, sondern als eine langfristig angelegte politische Strategie (Ingrao selbst verwandte sicher nicht ohne politische Hintergedanken überhaupt nur die auf Gramsci zurückgehende traditionelle Formel „historischer Block"). Für Ingrao und seine Anhänger kann es kein Bündnis mit der DC geben, solange diese noch über relativ starke soziale Einflußzonen verfügt und solange sie die wichtigsten Pasitionen im staatlishon Wirtschaftsbereich besetzt (ConfindustriaChef Agnelli zufolge kontrolliert die DC mit 40 Prozent der Wählerstimmen 80 Prozent der staatlich kontrollierten Wirtschaft). Unter solchen Bedingungen sieht die von Ingrao vertretene Richtung für eine konsequente Reformpolitik keine Chancen. Im Gegenteil: Ein Bündnis mit einer solchen DC werde die KPI in eine subalterne Position drängen und sogar ihren Charakter als vorwärtstreibende, die Gesellschaftsstrukturen ändernde, „revolutionäre" Kraft bedrohen. Ingrao zufolge müssen die Kommunisten zunächst weiter mit aller Kraft aus der Opposition heraus auf die DC einwirken, um die Krise ihres „interclassismo" weiter zu verschärfen, „wahrhaftige und echte Brüche" innerhalb der Partei zu provozieren und vor allem ihr auf der engen Beziehung zum staatlichen Wirtschaftsbereich beruhendes Machtsystem aufzubrechen

IV. Das Problem einer kommunistischen Regierungsbeteiligung

Zweifellos hat sich die Taktik Ingraos, die im März 1975 die Zustimmung der großen Mehrheit des Parteitages gefunden hatte, bis jetzt ausgezahlt: Das politische Kräfteverhältnis hat sich beträchtlich zugunsten der Kommunisten verschoben; die politischen Gegensätze innerhalb der DC sind offen ausgebrochen, und ihre Fähigkeit zur Führung des Landes ist erstmals seit 25 Jahren ernsthaft in Frage gestellt.

All das hat die Kommunisten freilich nicht dazu verleitet, nunmehr auf eine rasche Regierungsbeteiligung im römischen Zentrum zu dringen. „Denn die italienischen Kommunisten", schreibt der Beobachter der renommierten französischen Zeitung Le Monde mit Recht, „konzentrieren ihre Anstrengungen nicht auf Wahlgewinne, sondern auf ihre . Präsenz'in der Gesellschaft. Liegt die Originalität des . italienischen Weges zum Sozialismus'nicht zuallererst, um mit Gramsci zu sprechen, in dieser . Hegemonie'? Statt die Arbeiterklasse außerhalb des Staates zu organisieren, statt sich der Regierungsgewalt zu bemächtigen, um die Gesellschaft zu verändern, will man sich in das politische System integrieren und die sozialen Gruppen durchdringen, um sie zu transformieren. Der Staat wird erst danach neue Züge annehmen."

In diesem Sinne rief Berlinguer auf der Schlußkundgebung des Nationalfestes der Unitä vom September 1975 seine 200 000 Zuhörer dazu auf, nicht ungeduldig und nervös zu werden und sich vor „voreiligen und schlecht kalkulierten politischen Initiativen"

zu hüten, die nur jenen Abenteurern dienten, die das Land in die Sackgasse treiben wollten Das vordringliche Interesse der KPI richtete sich vorerst vielmehr darauf, ihre Wahlerfolge an der Peripherie zu konsolidieren und ihren direkten politischen Einfluß in den Gemeinden, Provinzen und Regionen weiter auszubauen.

Das ist in der Tat gelungen: Während die Christdemokraten in internen Richtungskämpfen mit sich selbst beschäftigt waren, bildeten die Kommunisten gemeinsam mit den Sozialisten in einer Reihe von Metropolen (darunter in Turin, Mailand, Venedig, Florenz, Neapel) und Regionen (nach der Emilia-Romagna, der Toskana und Umbrien jetzt auch in Piemont und in Ligurien) die Regierungen. Dies geschah nicht nur unter dem Gesichtspunkt, die eigene Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen: Für die Kommunisten kommt eine Regierungsbeteiligung in Rom ernsthaft überhaupt erst dann in Frage, wenn sie sich hinreichende Machtpositionen nicht nur im sozialen Bereich (Gewerkschaften, Genossenschaften, Schulen, Universitäten etc.), sondern auch in den Regional-und Kommunalregierungen geschaffen haben. Wer gesellschaftsändernde Strukturreformen durchsetzen will — so ihr Kalkül —, muß in der Lage sein, entsprechenden Gesetzesentwürfen parlamentarischer Mehrheiten, wenn sie auf den entschiedenen parlamentarischen und außerparlamentarischen Widerstand der bislang privilegierten Gruppen stoßen, seinerseits durch Gegen-macht aus dem sozialen Bereich oder von der Peripherie her Nachdruck zu verleihen.

Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß die Kommunisten intensiv das Feld für eine Regierungsbeteiligung in Rom bestellen, und zwar in außenpolitischer wie innenpolitischer Hinsicht. Außenpolitisch gingen sie Anfang der siebziger Jahre mit großem Engagement dazu über, eine realitätsbezogene eigene „neue Westpolitik" zu entwerfen: Sie wollen sich konstruktiv am Aufbau der EG betei-* ligen und sind jetzt auch bereit, die NATO zumindest solange zu akzeptieren, bis ein neues, Sicherheitssystem die Paktsysteme von Ost und West ablöst

Konsequenterweise bemühen sich die Kommunisten daher heute intensiv um ein neues Verhältnis zu Amerika, und zwar nicht nur zu dem „anderen Amerika" (Segre) der unrepräsentierten Opposition, sondern zu den politisch entscheidenden Kräften im Kongreß und in der Administration. Vor kurzem äußerte Berlinguer sogar öffentlich den Wunsch nach einem Besuch der USA: Für ihn, meinte der IKP-Generalsekretär, gebe es dort eine Welt zu entdecken, und gern würde er den amerikanischen Politikern einmal persönlich die Leitvorstellungen der italienischen Kommunisten erklären Noch freilich stößt eine kommunistische Regierungsbeteiligung auch weiterhin auf den entscheidenden Widerstand der USA: Nach wie vor weigert sich die US-Botschaft in Rom, kommunistischen Funktionären überhaupt Einreisevisa auszustellen.

Was den innenpolitischen Bereich angeht, so sind sich die Kommunisten sehr wohl der schwierigen Probleme und der großen Risiken bewußt, die eine Regierungsbeteiligung, zumal in der gegenwärtig so kritischen Situation des Landes, für die Partei mit sich bringen würde.

Zunächst: Von ihrer Mitgliederstruktur her gesehen ist die KPI noch immer überwiegend eine Arbeiterpartei. Insgesamt macht das klassische Reservoir noch heute 80 Prozent aus — 49, 48 °/o Arbeiter (einschließlich der Rentner und Pensionäre), 14, 79 °/o Hausfrauen, 8, 44 °/o Bauern und Halbpächter, 5, 77 % Handwerker, 7, 54 °/o Landarbeiter; in den Rest teilen sich Händler und Kleinunternehmer (4, 31 %), Angestellte und technische Intelligenz-(5, 08 °/o), Studenten (1, 63%) sowie Lehrer und Intellektuelle (1, 72 %) Selbst wenn man berücksichtigt, daß sich diese Relationen in den mittleren und oberen Führungspositionen stark zugunsten der Intellektuellen und der wissenschaftlich-technischen Intelligenz verschieben haben die Kommunisten nach ihrem „zu großen Sieg" schon jetzt kaum genügend Kader, um die ihnen nach den Regional-, Provinzial-und Kommunalwahlen vom Juni zugefallenen parlamentarischen Mandate, Regierungsfunktionen und leitenden Positionen in den kommunalen Betrieben und Einrichtungen (von den Sparkassen über die Krankenhäuser bis hin zum öffentlichen Nahverkehr) qualifiziert zu besetzen. Die Zahl der Kommunisten in den Regionalparlamenten stieg mit einem Schlage von 200 auf 247, in den Provinzversammlungen von 697 auf 860, in den Kommunen über 5 000 Einwohnern, wo am 15. Juni gewählt wurde, von 8 361 auf 12 368 Allein in Turin waren nach Auskunft von Vorstandsmitglied Armando Cossutta, der für die Parteiarbeit in Regionen und Kommunen verantwortlich zeichnet, insgesamt 400 neue Stellen von der KPI zu besetzen So konnte der kommunistische Parteisekretär von Piemont zwar eine Reihe konkreter Reformvorschläge für die Entwicklung einer modernen Infrastruktur sowie für die Verbesserung der Beziehungen zwischen privater Initiative im ökonomischen Bereich (Fiat!) und staatlicher Programmierung machen; er mußte aber zugeben, daß „die Lösung dieser Probleme ein weiteres Reifen der Partei sowie den Erwerb kultureller und technischer Fähigkeiten erfordert, über die wir noch nicht verfügen"

Schon aus dieser Sicht also wäre eine zusätzliche Übernahme von Regierungsfunktionen in Rom für die KPI gegenwärtig nur schwer zu verkraften.

Und weiter: So wenig die KPI schon heute von ihrer Mitgliederstruktur her als linke Volkspartei bezeichnet werden kann — von ihrer Wählerstruktur her ist sie es spätestens mit den Juni-Wahlen geworden. Damit aber (und das gilt potentiell auch für andere kommunistische Massenparteien wie die französische KP und die KP Spaniens) wird ihr Problem wie bei allen Volksparteien zukünftig ganz wesentlich darin bestehen, die widersprüchlichen Interessen und Erwartungshaltungen ihrer zunehmend heterogenen Mitglieder-und Wählergefolgschaft auszubalancieren und da-bei eine politische Linie einzuhalten, die ihren Charakter als Partei tiefgreifender gesellschaftsändernder Strukturreformen nicht in Frage stellt. So gesehen würde eine Regierungsbeteiligung in Rom die KPI vor eine echte Zerreißprobe stellen, von der niemand voraussagen kann, wie sie ausgehen würde.

Aber auch aufgrund ihrer Erfahrungen in den roten Kommunen und Regionen muß eine Regierungsbeteiligung den Kommunisten problematisch und risikoreich erscheinen: Allein ein Blick auf die Arbeitslosenzahl der neuerdings kommunistisch geführten Metropolen Mailand (80 000) und Neapel (140 000) sowie auf deren Rekorddefizite: Neapel (1 505 Mrd. Lire), Mailand (896 Mrd. Lire), Turin (419 Mrd. Lire) und Genua (396 Mrd. Lire) zeigt, wie eng der finanzielle und damit auch der politische Gestaltungsspielraum und wie groß die Gefahr ist, die hochgeschraubten Erwartungen der Mitglieder und der Wähler nicht erfüllen zu können. Zwar kann diese Situation nicht ohne weiteres auf die gesamtnationale Ebene übertragen werden; sie macht aber deutlich, weshalb Berlinguer vor „voreiligen und schlecht kalkulierten politischen Initiativen" warnt und seinerseits Bedingungen für den „historischen Kompromiß" stellt. Umgekehrt ist es aber gerade die zunehmende Verankerung der Kommunisten in peripheren Regierungsbereichen, der den Klärungsprozeß bei ihnen beschleunigt: Sollen die roten Kommunen und Regionen keine „sozialistischen Inseln in kapitalistischer Umwelt" bleiben und der Gefahr ausgesetzt sein, von der Zentrale (auch finanziell) abgeschnürt zu werden, so müssen die Kommunisten die nationale Politik letztlich selbst mitgestalten. Tatsächlich mehren sich die Anzeichen dafür, daß die KPI einen solchen Schritt ernsthaft ins Auge faßt. Um endlich einen „fruchtbaren Meinungsaustausch" (Berlinguer) zwischen Regierung und Opposition über die Kernprobleme Italiens einzuleiten, präzisierten die Kommunisten in jüngster Zeit in auffallender Weise ihre Vorstellungen über ein mittelfristiges Programm zur Beseitigung der eingangs geschilderten Ursachen der strukturellen wirtschaftlichen Krise des Landes. Dabei wiederholten sie, daß eine zentrale Verwaltungswirtschaft östlichen Typs für sie nicht zur Diskussion stehe, „weil sie nicht nur nicht funktioniert, sondern weil sie auch mit unseren Vorstellungen von Demokratie unvereinbar ist". Die Marktmechanismen sollen beibehalten werden, „weil bisher kein besserer Mechanismus zur Messung der volkswirtschaftlichen Rentabilität und Effizienz erfunden wurde als der der Marktwirtschaft". Selbst Reprivatisierungen sollten dort vorgenommen werden, wo sie sinnvoll sind, denn „Speiseeis vom Staat ist einiach ein Wahnsinn"

Im Kern läuft das Wirtschaftskonzept der IKP, das weitgehend mit dem der Gewerkschaften identisch ist, statt dessen darauf hinaus, auf der Grundlage einer langfristigen Prognose für alle Bereiche der Volkswirtschaft eine umfassende Zielprojektion zu entwerfen und diese durch ein flexibles System staatlicher Wirtschaftsprogrammierung zu verwirklichen, das die Autonomie einzelwirtschaftlicher Entscheidung mit der zentralen Planvorgabe optimal verbindet. Dabei ist daran gedacht, den öiientlichen Wirtschaftssektor, der in den Schlüsselbereichen bereits über 50 °/o ausmacht, gezielter für eine aktive Konjunktur-und Strukturpolitik einzusetzen. Dem privatwirtschaitlichen Sektor sollen nicht von der Angebots-, sondern von der Nachfrageseite her Signale gesetzt werden — im sozialen Wohnungsbau, im Schulwesen, in der ländlichen Bewässerung, auf dem Gebiete der öffentlichen Verkehrsmittel etc. Damit könnten, meinen die Kommunisten, einmal-die verkümmerten sozialen Infrastrukturen verbessert und die Arbeitslosigkeit bekämpft werden. Zum anderen würde sich die Privat-wirtschaft von selbst auf die vom Staat aufgestellten Globalziele einrichten, wenn man ihr hier Leitlinien an die Hand gebe. In diesem Sinne heißt es in einem Beschluß der Parteileitung eine Woche nach den Wahlen: „Nur eine neue Art der Wirtschafts-und Gesellschaftsentwicklung kann den Unternehmen jene Orientierungspunkte und jene Garantien geben, die sie benötigen, um ihre eigenen Ziele zu planen und ihre eigenen Initiativen zu entwickeln."

Unterstrichen wurde die Ernsthaftigkeit dieses Konzepts dadurch, daß die Kommunisten — wiederum in engem Einvernehmen mit den Gewerkschaften — ausdrücklich die Notwendigkeit ausreichender Erträge für die Unternehmen anerkannten und der Vollbeschäftigung Vorrang vor einer Erhöhung der Effektivlöhne gaben — unter der Voraussetzung freilich, daß die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme endlich angepackt würden Ein weiteres Indiz dafür, daß. die Kommunisten grundsätzlich eine Regierungsbeteiligung ansteuern, ist schließlich ihr Versuch, die (hristdemokraten auch dort zur Bildung von Kommunal-und Regionalregierungen heranzuziehen, wo rein linke Mehrheiten möglich gewesen wären: An der Peripherie sollte das Modell für den „historischen Kompromiß" in Rom entstehen. Zwar scheiterte dieser Versuch in Mailand und Neapel an der Ablehrnung der Christdemokraten. Die Kommunisten hatten jedoch insofern einen Teilerfolg zu verzeichnen, als sich die PC damit einverstanden erklärte, daß die Programme der Regionen Latium, Kampanien (mit der Hauptstadt Neapel), Marken (Ancona), Abruzzen (L'Aquila), Basilicata (Potenza) und Kalabrien (Catanzaro) von sämtlichen Parteien, die Neofaschisten ausgenommen, getragen werden. Diese „offenen Giunten" (= Regionalregierungen) könnten sich als eine Vorstufe zum „historischen Kompromiß" erweisen.

V. Große Koalition als Übergangslösung?

Noch kann niemand sagen, ob und unter welchen Bedingungen es zum „historischen Kompromiß" zwischen den drei großen politischen Strömungen Italiens, den Christdemokraten, Sozialisten und Kommunisten, in der Zentralregierung kommen wird. Viele Italiener fürchten, daß sich DC und KPI die Macht einfach teilen. Das wäre für das Land und seihe (Demokratie sicher die schlechteste Lösung.

Denkbar ist nach den Ergebnissen der letzten Wahlen aber auch, daß es doch zu einer Linksalternative kommt, möglicherweise unter Einschluß einiger von der christdemokratischen Mutterpartei abgespaltener linkskathobischer Gruppierungen.

Schließlich ist der „historische Kompromiß"

aber auch als eine bloße Übergangslösung {vorstellbar: Eine Große Koalition, die die Kommunisten salonfähig macht und damit den „bipartitismo imperfetto" (Giorgio Galli)

letztlich in einen „bipartitismo perfetto" transformiert in ein funktionierendes Zweiparteiensystem mit einer großen konservativen und einer großen sozialistischen Partei an den Flügeln und kleineren liberalen und I: sozialdemokratischen Gruppierungen in der Mitte. Nicht zufällig wird der „historische Kompromiß" in Italien häufig mit der Bonner Großen Koalition von 1966 in Zusammenhang gebracht.

Doch all dies bleibt vorerst Spekulation. Fest steht nur eines: Die Mitte-Links-Formel ist tot, und über kurz oder lang werden die Kommunisten in die Regierungsverantwortung mit einbezogen — zunächst wahrscheinlich über die Zwischenstufe einer parlamentarischen Unterstützung der Kommunisten für eine christdemokratisch-sozialistische Zweierkoalition (dies vor allem deshalb, weil eine solche Lösung den Amerikanern und der NATO Gelegenheit geben würde, sich an ein Mitregieren der Kommunisten zu gewöhnen und sich von der Glaubwürdigkeit ihrer Zusicherungen auch im internationalen Bereich zu überzeugen). Die Sozialisten jedenfalls lehnen schon heute jedes Regierungsbündnis mit den Christdemokraten ab, das nicht eine feste Absprache mit den Kommunisten einschließt. Die Christdemokraten ihrerseits gaben die starre Abgrenzungspolitik Fanfanis gegenüber den Kommunisten jetzt auch offiziell auf zugunsten einer Politik der offenen und konstruktiven „Auseinandersetzung" (confrontö).

Dieses neue Verhältnis zwischen DC und . KP wird sicher nicht dazu führen, daß sich die Kommunisten der Mitte-Links-Koalition und ihrer Politik einfach anschließen. Sie werden die Einleitung tiefgreifender Strukturreformen im administrativen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich zur Voraussetzung ihrer Mitarbeit machen. Das wird von denjenigen, die das Land in seine heutige Krise hineingeführt haben, ein radikales Umdenken erfordern. Das Ergebnis wird aber auch die Kommunisten nicht unverändert lassen.

10 Thesen zur Ideologie, Struktur und Politik der KPI

1. Im politischen und sozialen Einflußfeld ist die KPI dabei, die DC als stärkste Partei Italiens zu überholen. Sie ist qualitativ und quan-titativ besser organisiert, ist bei den Juni-Wahlen 1975 bis auf 1, 9 Prozent an die DC herangerückt und verfügt im peripheren und sozialen Bereich (Gewerkschaften, Genossenschaften, Kommunen und Regionen) über solide flankierende Einflußzonen.

2. Die Mitgliederstruktur weist die KPI noch immer überwiegend als Partei der Arbeiter und der alten Mittelschichten aus. Von der Wählerstruktur her, die jetzt auf die Mitgliederstruktur durchzuschlagen beginnt, befindet sie sich jedoch nach den jüngsten Einbrüchen in die urbanen Schichten des Angestellten-, Bildungs-und Dienstleistungsbereichs auf dem Wege zur linken Volkspartei.

3. Damit wachsen die Integrationsprobleme der KPI. Solange sich die Partei in der Opposition befindet, lassen sich diese Probleme überdecken. Entscheidend wird sein, ob es der KPI, wenn sie an der Regierung ist, gelingt, die widersprüchlichen Interessen ihrer zunehmend heterogenen Mitglieder-und Wählergefolgschaft zu integrieren, ohne darüber den Charakter einer gesellschaftsändernden Kraft zu verlieren.

4. Ausgehend von Gramscis Hegemonie-Konzeption will die KPI den bürgerlichen Staat von innen her in einen sozialistischen transformieren. Diskussionen über eine Systemgrenze zwischen Kapitalismus und Sozialismus finden daher bei der KPI nicht statt. Der alte Gegensatz zwischen Teilerfolgen und Kampf um die Macht, zwischen Reform und Revolution ist überwunden.

5. Kernpunkt der gesellschaftsändernden Dynamik ist für die KPI ihr Programm tiefgreifender politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturreformen, wobei sie an unerfüllte Aufträge der italienischen Verfassung anknüpft: Überwindung des Nord-Süd-Gegensatzes, Umstrukturierung der Verwaltung in eine leistungsfähige Administration, Schaffung eines gerechteren Steuersystems, Wirtschaftsprogrammierung etc. Die Strukturreformen im Wirtschaftsbereich sehen keine weiteren Vergesellschaftungen vor, sondern einen Ausbau des Instrumentariums der Investitionslenkung bei gleichzeitiger Beibehaltung starker marktwirtschaftlicher Elemente.

6. Der von Togliatti forcierte Wandel der KPI von einer Kaderpartei in eine Massenpartei zielte darauf, alle politischen und gesellschaftlichen Bereiche des Landes zu durchdringen. Diese aktive Politik der Präsenz ist darauf angelegt, faschistischen Bewegungen die Massenbasis zu entziehen und dem eigenen Programm Schubkraft zu verleihen.

7. Die breit angelegte Bündnispolitik der KPI will vertikale Spaltungen in der Gesellschaft vermeiden sowie den politischen und sozialen Fortschritt in einem möglichst großen Kon sens mit den anderen demokratischen Formationen erzielen. Einen automatischen Führungsanspruch erhebt die KPI dabei nicht: Die Arbeiterklasse, die die Hegemonie in Staat und Gesellschaft übernehmen soll, umfaßt der KPI zufolge heute alle „ehrlich Arbeitenden" und wird daher von Parteien und Gruppen unterschiedlicher weltanschaulicher und politischer Ansichten repräsentiert. 8. Als Folge der kommunistischen Präsenz-und Bündnispolitik hat sich der Charakter der KPI in den vergangenen 25 Jahren stark gewandelt. Um die Integration weiter Bevölkerungsschichten zu ermöglichen und den Konsens mit anderen Gruppierungen zu erleichtern, hat die KPI das Netz ihrer Grundorganisation weitgehend von der Betriebszelle auf die Wohngebietsorganisation umgestellt. Damit hat die KPI ein wesentliches Strukturelement einer leninistischen Kampfpartei zugunsten eines traditionellen sozialistischen Organisationsprinzips in den Hintergrund treten lassen.

9. Nicht zuletzt die Fehlentwicklungen in Osteuropa haben die KPI dazu veranlaßt, für einen Pluralismus der politischen und sozialen Kräfte auch im Sozialismus zu plädieren: Widersprüche, die auch in der sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht verschwänden, müßten artikuliert, diskutiert und in demokratischem Wettstreit gelöst werden können. Aus dieser Sicht sieht die KPI die Grundwerte und die politischen Freiheiten der bürgerlichen Demokratie nicht als bloß formal, sondern als prinzipielle Werte an, die im Sozialismus wirksam bleiben müßten. 10. Die KPI repräsentiert eine Synthese von Elementen, die sich aus ihrer Verwurzelung in zwei verschiedenen politischen Systemen und Kulturen ergeben: der in Italien und derjenigen in der kommunistischen Bewegung. Ihr Wandel wird auch in Zukunft stark durch ihr Erbe und ihre Identität als kommunistische Partei konditioniert sein. Gleichwohl scheint die Entwicklung der KPI in Richtung auf den demokratischen Sozialismus unumkehrbar. Der demokratische . Zentralismus auf italienisch verbindet sich zunehmend mit einer lebendigen innerparteilichen Diskussion. Die internationalistischen Bindungen reduzieren sich auf den Oktober-Mythos und die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Diese Entwicklung hin zum demokratischen Sozialismus ist bei der KPI langfristig angelegt. Ihn rückgängig machen zu wollen hieße, den Verlust großer Teile der Wählergefolgschaft sowie eine Spaltung der Partei zu riskieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu meine Untersuchung: Zwischen „mitterechts" und „mitte-links": Das innenpolitische Kräftespiel in Italien, in: Gegenwartskunde, Nr. 2, 1973, S. 167— 180.

  2. Rinascita (Rom), Nr. 25, 20. 6. 1975, S. 5 ff.

  3. l’Unit (Mailand, 22. 6. 1975, S. 9.

  4. l’Unitä, 15. 9. 1975, S. 3.

  5. Die Zitate stammen aus einer vielbeachteten Aufsatzserie der IKP-Zeitschrift Rinascita, in der Berlinguer die Konsequenzen aus den chilenischen Ereignissen zog; hier Rinascita, Nr. 40, 12. 10. 1973, S. 3— 5.

  6. l’Unitä, 22. 3. 1975, S. 8.

  7. l’Unitä, 19. 3. 1975, S. 11.

  8. Paese Sera, 18. 3. 1975, S. 7.

  9. l’Unitä, 20. 3. 1975, S. 7.

  10. l’Unitä, 22. 3. 1973, S. 7 f.

  11. Robert Sole, Le Monde (Paris), 25. 6. 1975, S. 4.

  12. Die Rede ist abgedruckt in: l’Unitä, 15. 9. 1975, S. 3 f., hier S. 3

  13. So der IKP-Kammerabgeordnete Sergio Segre, Leiter der ZK-Auslandssektion.

  14. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die außenpolitische Dimension des historischen Kompromisses", Osteuropa (Aachen), Nr. 7, 1975, S. 455— 462.

  15. Times (New York), zitiert nach l'Unitä, 25. 6. 1975, S. 1.

  16. Dati sull’organizzazione del PCI: Dati statistici della Sezione centrale di organizzazione della Direzione del PCI, Rom 1975, S. 47.

  17. Von den Delegierten des 14. IKP-Parteitags vom März 1975 waren nach eigenen Berufsangaben 36 °/o Arbeiter und Landarbeiter, 3, 12 0/0 Bauern und

  18. So mit Blick auf diese Problematik der Mailänder Corriere della Sera vom 18. 6. 1975, S. 1.

  19. Rinascita, Nr. 29, 27. 7. 1975, S. 5.

  20. Giovanni Russo, „Die Kommunisten lernen regieren", Corriere della Sera, 5. 10. 1975, S. 3.

  21. Rinascita, Nr. 28, 11. 7. 1975, S. 6.

  22. Le Monde, 25. 9. 1975, S. 4. 100 Lire entsprechend 0, 33 DM.

  23. Interview mit IKP-Vorstandsmitglied Luciano Barea, dem Wirtschaftsspezialisten der Partei, Die Welt, 19. 7. 1975, S. 10.

  24. l'Unitä, 22. 6. 1975, S. 1.

  25. Für die IKP Barea, a. a. O., und jüngst auch Berlinguer, l’Unitä, 15. 9. 1975, S. 4.

Weitere Inhalte

Heinz Timmermann, Dr. phil., geb. 1938; Studium der Geschichts-und Politikwissenschaft in Marburg, Göttingen und Berlin; seit 1969 wiss. Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln; Spezialgebiete: Kommunistisches Parteiensystem, kommunistische und sozialistische Parteien in Westeuropa, sowjetische Westeuropapolitik. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Tendenzen und Motivationen sowjetischer Westeuropapolitik: Relative Stabilität statt Revolution, in: Sicherheitspolitik heute 2/1975; Westeuropas Kommunisten und die Politik der Entspannung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/75; Kommunisten in Westeuropa: Ihre Einflußzonen und ihre Konzeptionen, in: Beiträge zur Konfliktforschung 4/1975; Das Tauziehen um eine Konferenz der europäischen Kommunisten, in: Europa-Archiv 2/1976; Spaniens Kommunisten auf dem Wege in die Legalität, in: Osteuropa 2/1976.