Es handelt sich um ausgewählte Kapitel aus dem Buch „Führen im Frieden", Bernard & Graefe Verlag für Wehrwesen, München, die vom Autor überarbeitet, ergänzt und auf den neuesten Stand gebracht worden sind.
A. Die Grundlagen
Der Nationalsozialismus hatte das Deutsche Reich in eine totale militärische, politische und moralische Niederlage geführt. Die bedingungslose Kapitulation im Mai 1945 beendete Krieg und Diktatur. Deutschland wurde in allen seinen Teilen von den Siegermächten besetzt und von Militärregierungen in vier verschiedenen Besatzungszonen verwaltet. Die Wehrmacht wurde aufgelöst, die militärischen Anlagen zerstört oder anderer Nutzung zugeführt, die Waffen eingezogen, die militärischen Akten in den Besitz der Siegermächte überführt. Die von den Besatzungsmächten angeordnete konsequente Demilitarisierung wurde von der Mehrheit der Bevölkerung ohne Widerspruch hingenommen. Eine systematisch betriebene „reeducation", in deren Verlauf auch die soldatischen Wertvorstellungen diffamiert wurden, blieb nicht ohne Auswirkung. In der Bevölkerung verbreitete sich ein tiefes Desinteresse an militärischen Fragen. Deutsche Soldaten waren nicht nur verboten, man wollte sie auch nicht mehr.
Die neue politische Ordnung entwickelte sich schrittweise und unter strenger alliierter Kontrolle von unten her aus den Gemeinden, Städten, Kreisen und Ländern. Nachdem der Versuch, alle vier Besatzungszonen zu einem einheitlichen demokratischen Staatsgebilde zusammenzuführen, unter sowjetischem Druck gescheitert war, konstituierte sich 1949, mit Zustimmung der drei westlichen Besatzungsmächte, die Bundesrepublik Deutschland mit einer vom Parlamentarischen Rat ausgearbeiteten freiheitlichen, parlamentarisch-demokratischen Verfassung, deren provisorischer Charakter durch die Bezeichnung „Grundgesetz" (GG) zum Ausdruck gebracht werden sollte. Der Bereich der Verteidigung wurde im Grundgesetz nicht angesprochen — von ganz geringfügigen Ausnahmen abgesehen Er blieb „ausgespart". Die äußere Sicherheit des Staates gehörte in den Verantwortungsbereich der drei westlichen Alliierten (USA, Großbritannien und Frankreich), die auch weiterhin die oberste politische Gewalt ausübten.
So begann die junge Bundesrepublik Deutschland ihren Aufbau unter politischen und rechtlichen Gegebenheiten, für die es in der deutschen Geschichte kein Beispiel gibt.
Schon kurz danach veränderte die kommunistische Invasion in Korea (1950) die Weltlage. Unter der Führung der USA gewährten die Vereinten Nationen dem bedrängten Südkorea militärische Hilfe. Auch in dem militärisch noch schwachen Europa wuchs das Bedürfnis nach verstärkter Sicherheit gegen einen offensichtlich aggressiven, von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung auch so empfundenen sowjetischen Kommunismus.
So begann sich die internationale politische Diskussion — nur fünf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches — mit der Einbeziehung deutschen Potentials in die Verteidigung der Freien Welt zu beschäftigen. Das konnte in der Praxis nichts anderes als die Aufstellung von militärischen Verbänden aus Bürgern der Bundesrepublik Deutschland bedeuten.
Die Bevölkerung war auf eine so rasche Änderung der Lage psychologisch nicht vorbereitet. Die Bundesregierung dagegen verschloß sich dem Gedanken nicht. Sie war überzeugt, daß ein deutscher Verteidigungsbeitrag dem Sicherheitsbedürfnis der Bundesrepublik in gleicher Weise entsprach wie dem der westlichen Alliierten. Er war aber nur zu verwirklichen, wenn sich die Bundesrepublik fest an den freien Westen band. Die Selbst-achtung gebot es, zugleich die Ablösung des noch gültigen Besatzungsstatuts zu fordern und damit für die Bundesrepublik die volle Souveränität zu erlangen.
Es dauerte fast fünf Jahre, bis die außen-und innenpolitischen Voraussetzungen für die Neuaufstellung deutscher Streitkräfte geschaffen waren. Im Mai 1955 traten die Pariser Verträge (Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in die Nordatlantische Vertrags-organisation und in die Westeuropäische Union) und der Deutschlandvertrag (Ablösung des Besatzungsstatuts) in Kraft. Sie öffneten den Weg für die Wehrgesetzgebung und für den Aufbau der Bundeswehr entsprechend den in der „Dienststelle Blank" erarbeiteten Planungen.
Zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte sollte es eine Armee in einer parlamentarischen Demokratie geben. Betrachten wir aber jeweils die Entstehungsgeschichte von Reichswehr und Bundeswehr, so stoßen wir auf fundamentale Unterschiede.
Die Revolution 1918 hatte eine jahrhundertelange Periode der Monarchie in Deutschland beendet. Aber das Deutsche Reich war trotz Niederlage und Wechsel von Staatsform und Verfassung in seiner wesentlichen Substanz erhalten geblieben. Die aus dem Kriege zurückkehrende Armee wurde nicht völlig aufgelöst, sondern schrittweise verkleinert und in die Reichswehr umgebildet. Die junge Republik hatte also eine Armee vorgefunden, mit der sie sich zu arrangieren hatte. Ihr Offizierskorps war bereit, dem neuen Staat trotz innerer politischer Distanz zu dienen und ihn nach außen und innen zu schützen. Und in der Tat hat es in den Jahren 1919— 1923 Situationen gegeben, in denen die Weimarer Republik ohne die Hilfe der Armee kaum überlebt hätte.
Ganz anders in den fünfziger Jahren. Eine Demokratie, wenn auch noch jung, ja noch im Status eines besetzten Landes, aber eine bereits verfaßte parlamentarische Demokratie, schuf sich durch eigene politische Entscheidung und in voller Übereinstimmung mit den Besatzungsmächten eine neue Armee. Diese Entscheidung ist mit den Namen Konrad Adenauer und Theodor Blank fest verknüpft. Die Bundeswehr war die zuletzt geschaffene große Institution der Exekutive der Bundesrepublik. Sie dient dem Schutz dieser Demokratie. Ihre innere Struktur ist aus der politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung des Grundgesetzes heraus entwickelt worden. Die Bundeswehr verdankt also ihr Entstehen diesem unserem Staat, und nicht umgekehrt.
Die Bundeswehr ist eine Armee in einer Demokratie und für eine Demokratie. Diese Ausgangslage hat Auftrag, Rolle und Gesicht der Bundeswehr stärker geprägt, als manchen Politikern und Soldaten bewußt geworden ist. Das Konzept der Bundeswehr hatte sich aber auch an anderen außen-und innenpolitischen Voraussetzungen zu orientieren. Kein Verantwortlicher im freien Teil Deutschlands wünschte sich eine autarke, allen militärischen Möglichkeiten allein gerechtwerdende Armee in einer national ausgerichteten Verteidigung. Die Bundeswehr sollte und konnte kein „seif sufficient instrument" sein. Schon das personelle und materielle Potential hätte gegenüber der militärischen Stärke des einzig vorstellbaren Angreifers, der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten, nicht ausgereicht. Eine solche Vorstellung entsprach aber auch nicht den Auffassungen der deutschen Politiker — und schon gar nicht denen der ehemaligen Kriegsgegner. Die Bundesregierung sah deutsche Soldaten nur als einen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung in Mitteleuropa, eine deutsche Armee nur als Teil einer kollektiven Verteidigungsstreitmacht. Dieser Gedanke schien in der zunächst angestrebten supranationalen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit ihrer fusionierten europäischen Armee konsequent verwirklicht werden zu können. Nach dem Scheitern der EVG und dem darauf folgenden Eintritt der Bundesrepublik in die NATO und WEU wurde er durch die Unterstellung aller deutschen Kampfverbände unter die operative Planung und Führung von integrierten NATO-Kommandobehörden realisiert.
Die Bundeswehr ist eine Armee in einem Bündnis. Es war das gemeinsame Ziel der Politik aller deutschen Parteien, daß von deutschem Boden nie wieder eine militärische Aggression ausgehen sollte. Wenn es die Sicherheit der Bundesrepublik schon erforderte, den alliierten Streitkräften deutsche Truppenverbände zur Seite zu stellen, dann sollte dies ausschließlich der Verteidigung dienen, besser noch: einen Krieg überhaupt verhindern helfen. Ein militärischer Einsatz — zusammen mit den verbündeten Truppen — sollte nur denkbar sein, wenn ein Aggressor durch falsche Einschätzung der westlichen Verteidigungsmöglichkeiten und des westlichen Verteidigungswillens glaubte, politische Ziele unter Anwendung von Gewalt durchsetzen zu können. Diese deutsche Grundeinstellung stand in voller Übereinstimmung mit den politischen und militärischen Zielen des Bündnisses. Die Bundeswehr wurde als eine Defensiv-armee konzipiert.
Die starke militärische konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion und ihrer Verbündeten in Mitteleuropa ostwärts der Grenze Lübeck-Passau übte einen bestimmenden Einfluß auf den Umfang des deutschen Verteidigungsbeitrages aus. Er sollte eine substantielle Verstärkung der gemeinsamen Verteidigungskräfte in Mitteleuropa darstellen, sich aber zugleich in einem ausgewogenen und kontrollierbaren Rahmen halten. Waren doch die Erinnerungen an die Zeit, in der deutsche Truppen große Teile Europas — oft unter Bruch des Völkerrechts — militärisch besetzt hatten, noch nicht vergessen, das Mißtrauen gegenüber Deutschland noch nicht überwunden. Schon sehr früh zeichnete sich für den deutschen Verteidigungsbeitrag eine Größenordnung von etwa 500 000 Mann ab. Niemand konnte erwarten, eine so große Zahl von Soldaten ausschließlich auf der Basis der Freiwilligkeit gewinnen zu können. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht war daher unerläßlich. Ihre sachliche Notwendigkeit verband sich mit der Überzeugung, daß nur die Wehrpflicht die künftigen deutschen Streitkräfte ohne ernste Reibungen in die junge Demokratie einfügen und integrieren konnte. Schon Theodor Heuss hatte 1948 im Parlamentarischen Rat die Allgemeine Wehrpflicht als „legitimes Kind der Demokratie" bezeichnet.
Die Bundeswehr wurde auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht aufgebaut.
In allen diesen Auffassungen waren sich die politische Führung und die von ihr zur Beratung herangezogenen militärischen Fachleute von Anfang an einig. Auch die ExpertenKommission, die die Bundesregierung zur Erarbeitung eines Gutachtens einberufen hatte und die im Herbst 1950 unter dem Vorsitz des Generals der Panzertruppen a. D. von Vieting-hoff im Eifelkloster Himmerod tagte, war in ihrem Bericht zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Sie ließ darüber hinaus noch einen weiteren Gedanken anklingen, der aus schlechten Erfahrungen der Vergangenheit erwachsen war. Eine neue deutsche Armee sollte nicht als eine Summe von drei selbständigen, nebeneinander stehenden Teilstreitkräften angesehen werden, sondern im Rahmen einer „Gesamtstreitkräftelösung" mit weitgehend einheitlichen, zentral gesteuerten Regelungen für Führung, Organisation, Ausbildung, innere Ordnung, Personal, Material, Verwaltung und Haushalt aufgebaut werden. Frei von vorgegebenen Strukturen konnte der Versuch gemacht werden, dieser für richtig gehaltenen, wenn auch nicht immer unbestrittenen Tendenz gerecht zu werden. Wir haben dies als die „Bundeswehrlösung''bezeichnet. Die Bundeswehr sollte eine Gesamtstreitmacht werden.
So zeichneten sich die Grundlagen, auf denen die Bundeswehr in einer geschichtlichen Ausnahmesituation konzipiert und aufgestellt worden ist, schon in der ersten Anfangsphase deutlich ab:
— Eine neue deutsche Armee sollte nur defensiven Aufgaben dienen;
— ihre politische Einordnung und ihre innere Struktur wurden durch die parlamentarisch-demokratische, freiheitliche Verfassungs-und Rechtsordnung bestimmt;
— sie war als ein Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung in das NATO-Bündnis einzubringen; — sie erforderte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und — sie war als eine Gesamtstreitmacht zu organisieren. Diese fünf Grundprinzipien bestimmen das Wesen der Bundeswehr und beschreiben — mit Ausnahme der Wehrpflicht — zugleich ihre Unterschiede gegenüber früheren deutschen Armeen.
In diesen Wochen feiert die Bundeswehr ihren 20. Geburtstag. Sie besteht damit bereits länger als ihre beiden Vorgänger, die Reichs-wehr und die Wehrmacht. Die jungen Wehrpflichtigen, die heute ihren Grundwehrdienst ableisten, wurden im Gründungsjahr der Bundeswehr geboren. Die Frage ist daher berechtigt, wie die Bundeswehr heute zu beurteilen ist, ob die an sie gestellten Erwartungen und Hoffnungen erfüllt worden sind, und ob sich das Konzept bewährt hat.
Ich versuche die Antwort zu formulieren:
— Aus dem Nichts entwickelt, hat die Bundeswehr ihre Aufbauphase längst beendet. Sie umfaßt heute fast 500 000 Soldaten des Heeres, der Luftwaffe und der Marine, die von rd. 180 000 zivilen Mitarbeitern unterstützt werden. Ihr Haushalt liegt bei rd. 31 Mrd. DM. Die Bundeswehr ist der größte Dienstleistungsbetrieb der Bundesrepublik Deutschland. — Sie stellt ein wirksames Mittel der Politik dar. Sie gibt der Bundesrepublik Deutschland Gewicht im Bündnis und ein diesem Gewicht entsprechendes Maß an außenpolitischer Handlungsfreiheit.
— Die Bundeswehr ist eine modern ausgerüstete und personell ausgewogen zusammengesetzte Gesamtstreitmacht auf der Basis der Wehrpflicht, die in Ausrüstung, Ausbildung, B. Die Bundeswehr als Defensivarmee 1. Die rechtlichen Grundlagen Die Aufgabe der Bundeswehr ist bereits durch die Verfassung ausdrücklich auf die Verteidigung begrenzt. Das Grundgesetz legt in Art. 87 a fest: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf."
Der defensive Charakter der Bundeswehr ist damit erklärter Wille des Verfassungsgesetzgebers. Dieser wird durch den Art. 26 (1) GG erhärtet, der jeden Angriffskrieg ebenso verbietet wie „alle Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören".
Diese unmißverständlichen Formulierungen im Grundgesetz verpflichten Regierung und Parlament zu einer Politik, durch die niemand militärisch bedroht oder gar angegriffen wird.
Die Bundeswehr als Mittel der Politik dient ausschließlich dem Schutz der freiheitlichen Disziplin und Kampfkraft im Bündnis Achtung und Ansehen genießt. Sie ist der kampfkräftigste konventionelle Bündnisbeitrag zur gemeinsamen Abschreckung und Verteidigung in Europa.
— Die hohen finanziellen Ausgaben, die für Aufstellung und Unterhaltung der Bundeswehr ausgegeben worden sind und noch heute ausgegeben werden, sind dadurch gerechtfertigt, daß sie mitgeholfen haben, den Frieden in Mitteleuropa zu erhalten und den Warschauer Pakt daran zu hindern, seinen bei Kriegsende erreichten direkten Einflußbereich in Europa zu erweitern.
— Die Eingliederung der Bundeswehr in die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist gelungen. Die Bundeswehr ist in all ihren Teilen verfassungstreu. Der Primat der Politik ist unbestritten. Von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung wird sie als eine normale Institution unserer staatlichen Ordnung angesehen. Die politischen Parteien wie die Bürger haben Vertrauen in die Bundeswehr.
Die fünf Grundprinzipien haben sich also bewährt. Sie besitzen auch heute noch volle Gültigkeit. Nichts deutet darauf hin, daß sich das in absehbarer Zeit ändern könnte.
Grundordnung und des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland.
Gustav Heinemann hat diesen Grundsatz anläßlich seiner Vereidigung zum Bundespräsidenten am 1. 7. 1969 in die Worte gefaßt: „Ihre [der Bundeswehr] Aufgabe ist es, zu verhindern, daß uns Gewaltlösungen von fremder Seite aufgezwungen werden." Dieser Satz deckt in der Tat das breite Spektrum aller unter defensivem Aspekt denkbaren Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr ab. Er schließt auch den in Art. 87 a (4) GG vorgesehenen Einsatz von Streitkräften im Innern im Falle eines Notstandes ein und zeigt zugleich seine Grenzen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Sicherheit mit dem Nordatlantischen Bündnis fest verknüpft und ihre freie Verfügungsgewalt über die Kampfverbände der Bundeswehr durch die Übertragung der operativen Planung und Führung auf Organe des Bünd16 nisses eingeschränkt. Niemand wird diese Entscheidung als ein Ausweichen vor den verfassungsmäßigen Grenzen für die Verwendung der Streitkräfte auslegen können. Im Gegenteil, der Art. 24 (2) GG stellt ausdrücklich fest: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen. Er wird hierbei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauernde Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern." Damit ist auch die Beschränkung oder Übertragung von Hoheitsrechten im militärischen Bereich an die Zielsetzung einer friedlichen Ordnung in Europa und in der Welt geknüpft, die eine offensive Verwendung von Streitkräften ausschließt.
Und in der Tat ist das Verteidigungskonzept der Allianz eindeutig defensiv. Der Art. 5 des Nordatlantikvertrages läßt — ebenso wie die entsprechende Verpflichtung in der Westeuropäischen Union — die gegenseitige militärische Beistandsverpflichtung nur dann wirksam werden, wenn ein Mitgliedstaat angegriffen wird, also nur in der Abwehr eines Angriffs. Niemals würde man ja auch 15 Staaten mit durchaus differenzierten Verfassungsstrukturen und politischen Interessen zu einem Zusammenwirken auf militärischem Gebiet bewegen können, wenn dies nicht ausdrücklich auf der Basis der Verteidigung beruhte. 2. Friedenssicherung, Abschreckung, Verteidigung Die Bundeswehr erfüllt ihre defensive Aufgabe am besten, wenn sie gemeinsam mit ihren Verbündeten dazu beiträgt, den Frieden zu erhalten, wenn sie also allein durch ihre Existenz mithilft, daß es gar nicht erst zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt.
Man spricht daher von der „friedenssichernden" Aufgabe der Bundeswehr und bezeichnet den Dienst in den Streitkräften als „Friedensdienst". Ich kann dem nur voll zustimmen.
Problematisch dagegen ist der gelegentlich gebrauchte griffige Slogan „Der Frieden ist der Ernstfall." Er führt leicht zu Mißverständnissen und bedarf daher einer Erläuterung.
Die Erhaltung des Friedens, die den Widerstand gegen Drohung und Erpressung einschließt, ist in erster Linie Aufgabe der Außen-und Sicherheitspolitik. Sie bedient sich dabei der Streitkräfte als eines ihrer Instrumente. Ein Instrument aber verfehlt seinen Zweck, wenn es nicht benutzbar ist. Ein stumpfes und rostiges Messer ist unbrauchbar. Das Instrument „Bundeswehr" kann nur dann Wirkung ausüben, wenn es so gut organisiert, ausgerüstet und ausgebildet ist, daß es jederzeit eingesetzt werden kann. Nur dann kann es einem möglichen Gegner vor Augen führen, daß ein militärischer Angriff so risikoreich ist, daß der erhoffte politische Gewinn ausbleibt oder die zu erwartenden Verluste in keinem Verhältnis zum möglichen Nutzen stehen.
Das allein aber genügt nicht. Organisation, Ausrüstung und Ausbildung stellen nur einen unausgefüllten Rahmen dar, wenn die Streitkräfte nicht auch innerlich vorbereitet sind, zu verteidigen, das heißt auch zu kämpfen, wenn der Frieden gebrochen wird und die politische Führung ihren Einsatz anordnet.
Der Satz „Der Frieden ist der Ernstfall" deckt also nur einen, wenn auch wichtigen Teil modernen Soldatentums ab. In der Tat ist die gewissenhafte Erfüllung der aufgegebenen Funktion für jeden Soldaten, gleich welchen Ranges und welchen Verantwortungsbereichs, ein „ernster Fall" auch oder gerade im Frieden. Macht er doch erst dadurch die Armee zu einem Instrument der Friedenserhaltung. Aber es gibt noch andere „ernste Fälle". Kann die politische Führung eine militärische Auseinandersetzung nicht verhindern, dann muß gekämpft werden.
Sagte man nämlich, es gäbe jenseits des Friedens keine Existenz mehr, dann läge für den Gegner der Schluß nahe, man wolle von vornherein auf den Einsatz von Streitkräften verzichten; das aber machte die Abschreckung wirkungslos und das vom Steuerzahler zur Verfügung gestellte Geld wäre nutzlos vertan. Niemand wird die Schrecken eines modernen Krieges verkleinern wollen. Er kann tatsächlich zur Auslöschung der Existenz führen, wenn er sich zum weltweiten großen Nuklear-krieg ausweitet. Aber schon das Ziel, die Eskalation bis zur letzten Stufe zu verhindern, erfordert die entschlossene Demonstration des Verteidigungswillens in den unteren Stufen einer militärischen Auseinandersetzung. Dem Schlagwort „Der Frieden ist der Ernstfall" möchte ich ein anderes entgegenstellen: „Kämpfen können, um nicht zu müssen." Helmut Schmidt und ich haben es 1971 gemeinsam formuliert.
Dieser Problematik muß sich jeder Soldat der Bundeswehr stellen. Sie ist seit Jahren in der Öffentlichkeit unter dem Begriff der „Paradoxie moderner soldatischer Existenz" diskutiert worden. Und sie ist die einzige Haltung, die helfen kann, Kriege zu vermeiden, solange es Staaten und Staatengruppen gibt, deren politisches System in einem extremen Gegensatz zu unserer freiheitlichen Verfassungsordnung steht, deren langfristiges politisches und ideologisches Ziel auf die Erringung der Weltherrschaft ausgerichtet ist, und die zugleich über ein starkes militärisches Potential verfügen. Der Dienst, der den Krieg verhindern soll, ist mühsam und oft unscheinbar. Es lassen sich dabei kaum sichtbare, meßbare oder glanzvolle Erfolge vorweisen, es sei denn eben der Erfolg, daß der Frieden bewahrt worden ist. Ein solcher Erfolg aber ist es wert, daß man seine ganze Kraft dafür einsetzt. Er gibt dem Soldaten unserer Zeit seine Würde.
3. Die Risiken des defensiven Konzeptes Die Beschränkung auf ein defensives Konzept hat allerdings auch Risiken, die nicht verschwiegen werden dürfen.
Wer Waffen nur dann gebrauchen will, wenn er angegriffen wird, überläßt dem Gegner die militärische Initiative. Der Angreifer ist es, der Zeit, Raum, Kräfteeinsatz und politische Zielsetzung einer Aggression bestimmt. Ihm fällt das Element der Überraschung zu. Der Verteidiger kann nur re-agieren.
Der militärische Nachteil ist offensichtlich.
Der Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 hat dies erneut drastisch bewiesen. Man kann die Schwächen mildern, wenn auch nicht aufheben; aber die hierfür notwendigen Vorkehrungen erfordern Wachsamkeit, kosten Geld und setzen politische Entscheidungskraft voraus. Eine permanente und sorgfältige politische und militärische Beobachtung und Aufklärung lassen Angriffsvorbereitungen des Gegners rechtzeitig erkennen. Sie verschaffen der eigenen Führung eine gewisse „Vorwarnzeit".
Ein flexibles Mobilmachungssystem ermöglicht eine rasche Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte in Spannungszeiten.
Gegenüber einem überraschenden feindlichen „Angriff aus dem Stand" sichert eine ausreichende Präsenz der Kampftruppen die sofortige Reaktionsmöglichkeit. Rechtzeitige und mutige Entscheidungen der politischen Führung in der Krise machen ein solches System wirksam.
Nur starke Regierungen werden den Mut zur Entscheidung in der Krise haben.
Schwerer noch wiegt eine weitere Erkenntnis. In welcher Form auch immer sich eine militärische Auseinandersetzung abspielen würde — sei es eine örtlich begrenzte Aktion, sei es ein größerer Angriff, sei es ein konventioneller Kampf oder eine Auseinandersetzung unter Einschluß nuklearer Waffen —, immer wird sich ihre Abwehr auf dem Boden unseres Territoriums abspielen müssen. Zumindest Teile unseres Landes werden in ein Schlachtfeld verwandelt. Die Auswirkungen sind noch tiefgreifender als die zu erwartenden schweren Schäden in den Gebieten, die „nur" dem Zugriff der feindlichen Luftwaffe ausgesetzt wären. Hier Vorsorge durch ein praktikables Notstandsrecht und eine wirksame Zivilverteidigung zu treffen, ist eine wichtige Ergänzung der militärischen Verteidigung.
Mir scheint, hier gibt es noch große Lücken zu füllen.
4. Konsequenzen für Umfang und Bewaffnung der Bundeswehr Die Bundesrepublik Deutschland hat den defensiven Charakter der im Bündnis abgestimmten gemeinsamen Sicherheitspolitik in ihren Streitkräften sichtbar werden lassen. Umfang, Organisation, Ausrüstung und Ausbildung der Bundeswehr tragen dieser Zielsetzung Rechnung.
Die Bundesrepublik hat schon während der Verhandlungen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und dann erneut bei der Bildung der Westeuropäischen Union der Festlegung von Höchstgrenzen für den Umfang der deutschen Streitkräfte zugestimmt. Sie hat zugleich auf die Produktion von Waffensystemen, die einer offensiven Strategie zugeordnet werden könnten, im eigenen Lande ausdrücklich verzichtet. Dazu gehören die atomaren, chemischen und biologischen Waffen, strategische Bomber, weitreichende Raketen und größere Kriegsschiffe. Die Bundesrepublik hat sich hierzu einer noch heute praktizierten internationalen Kontrolle im Rahmen der Westeuropäischen Union unterworfen. Eine solche „Vorleistung" hat bisher noch kein anderer Staat in Ost und West erbracht.
Die Verbände der Bundeswehr auf die sind Aufgaben ausgerichtet, die ihnen innerhalb der operativen Verteidigungsplanung der Allianz zugewiesen sind.
Einem häufig zu findenden Irrtum muß allerdings entgegengetreten werden. Die defensive Zielsetzung des Bündnisses — und damit auch der Bundeswehr — ist politisch und strategisch zu verstehen. In der taktischen Kampfführung aber — nach dem Beginn von militärischen Auseinandersetzungen — wäre die Beschränkung des Gefechtes auf rein defensive Maßnahmen ein schwerer Fehler. Militärische Operationen müssen beweglich sein; man gäbe sonst eine aktive Einflußnahme auf den Ablauf des Kampfes aus der Hand. Beweglichkeit in der Operationsführung entspricht altem und bewährtem deutschen Führungsdenken. Auch der Abwehr-kampf erfordert bewegliche Kampfführung. Er setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen: Festhalten bestimmter Räume, örtliches Ausweichen, aber auch energische Gegenangriffe. Auf dem Gefechtsfeld muß also eine Truppe auch angreifen können.
Ausrüstung und Ausbildung haben dem Rechnung zu tragen. Die Truppe kann auf Panzer ebensowenig verzichten wie'auf Flugzeuge zur Erdkampfunterstützung und Abriegelung des Gefechtsfeldes, sie braucht weitreichende Aufklärungsmittel in der Luft und zur See, ja selbst Waffenträger für einen taktischen Einsatz von Atomwaffen, um nur einige Beispiele zu nennen. Es darf auch hier keinen Alleingang der Bundeswehr geben. Sie benötigt die gleiche Ausrüstung wie die mit ihr im gleichen Raum und mit gleichem Auftrag eingesetzten alliierten Streitkräfte. Die Bundeswehr nur mit sogenannten Abwehrwaffen, z. B. Panzerabwehr-und Luftabwehrwaffen, auszustatten und sie auch auf dem Gefechtsfeld auf Verteidigung zu beschränken, bedeutete die Festlegung auf eine „statische" Abwehr. Sie führt nicht zum Erfolg. Die Maginot-Linie hat dies ebenso bewiesen wie die sinnlosen „Festhalte" -Befehle Adolf Hitlers an der Rußlandfront.
Die Bundesrepublik hat bei der Formulierung der Strategie der „flexible response" konsequent auf der Vorneverteidigung bestanden, deren Ziel es ist, „die Integrität des Territo19 riums der Mitgliedstaaten zu bewahren oder wiederherzustellen". Wiederherstellung der Integrität eines Territoriums aber bedeutet auch Angriff bis an die Grenzen des eigenen Staatsgebietes, wenn es zur Rückgewinnung etwa verlorengegangenen Geländes erforderlich ist.
Weder einseitige Waffenausstattung noch statische Verteidigung, sondern nur eine ausgewogene Mischung verschiedenartiger Waffensysteme — allerdings mit Schwerpunkt auf Abwehrwaffen — und bewegliche Kampfführung befähigen die Streitkräfte, allen an sie möglicherweise herantretenden Verteidigungsaufgaben gerecht zu werden.
5. Verzicht auf nationale operative Führung
Immer wieder werden Zweifel daran geäußert, daß die Beschränkung auf ein defensives Konzept ernst gemeint sei. In Wirklichkeit sei die Bundeswehr offensiv ausgerichtet und zu selbständiger Angriffsführung fähig. Sie bereite unter der Hand eine Aggression nach Osten vor, durch die die Bündnispartner in einen Krieg hineingezogen werden sollten.
Eine solche gerade von kommunistischer Seite oft vertretene These hält einer sachlichen Prüfung nicht stand. Sie ist einfach falsch. Eine unvoreingenommene Analyse der Streitkräftestruktur zeigt ein anderes Bild. Die Kampfverbände der Bundeswehr sind für die operative Planung und ihren Einsatz der deutschen Führung entzogen. Es gibt kein zentrales nationales operatives Führungsinstrument. Die Korps des deutschen Heeres sind räumlich zwischen den alliierten Korps disloziert. Große Teile der Grenzen zur DDR und CSSR werden von nichtdeutschen Korps abgedeckt. Eine solche Einsatzplanung ist ein wesentliches Element der gemeinsamen Abschrekkung. Zu einem national isolierten Einsatz sind die deutschen Korps also gar nicht in der Lage. Ihre logistische Unterstützung ist nach Umfang, Transportkapazität und Lagerorten auf eine defensive Operationsführung abgestellt. Ein wesentlicher Teil der Verteidigungsvorräte lagert darüber hinaus außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik in den westlichen und nördlichen Nachbarländern. Die Linienführung der Fernmeldeverbindungen ist auf die NATO-Hauptquartiere hin ausgerichtet. Die Luftverteidigung — Warnsystem, Flugabwehrraketen und Abfangjäger — ist nicht nur voll integriert, sondern bereits im Frieden unter gemischt besetzten alliierten Kommandobehörden dem atlantischen Ober-befehlshaber Europa (SACEUR) unterstellt. Diese wenigen Beispiele zeigen: In Mitteleuropa können Streitkräfte einer einzelnen Nation, also auch die Bundeswehr, nicht allein C. Armee in der Demokratie Es gibt kaum geschichtliche Beispiele dafür, daß die Aufstellung einer bewaffneten Macht zur Wahrung der äußeren Sicherheit in einem konsequent demilitarisierten Staat geplant wurde, dessen freiheitliche, parlamentarisch-demokratische und rechtsstaatliche Verfassung keinerlei Bestimmungen über eine Verteidigungsorganisation, welcher Art auch immer, enthielt. Bundesregierung und Parlament mußten hierzu erst die politischen, gesetzlichen finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen schaffen. Die veränderte Ausgangstage erforderte eine Überprüfung der Vergangenheit und die Suche nach neuen Wegen.
Das Problem, das Politiker und Soldaten in gleicher Weise beschäftigte, war der nicht zu leugnende Spannungsbogen zwischen einer militärischen Organisation und den Grundsätzen einer demokratischen politischen Ordnung. In der Tat bestehen offensichtliche Unterschiede in den Prinzipien, auf denen der Aufbau einer bewaffneten Macht und der eines demokratischen Staatswesens beruhen. Der Abgeordnete Richard Jaeger (CSU) hat sie in der 93. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages am 28. Juni 1955 wie folgt dargestellt: „Die Demokratie baut sich von unten nach oben auf. Ihr Element ist die Wahl. Das Militär baut sich von oben nach unten auf. Es beruht auf Befehl und Gehorsam und wird in aller Zukunft darauf beruhen müssen."
Der Abgeordnete Adolf Arndt (SPD) meint das gleiche, wenn er am selben Tage ausführte: „Demokratie ist ihrem Wesen nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Das Gesetz des Militärs aber ist der Gehorsam in einem Verband, der durch Befehl regiert wird.
Demokratie ist Aufteilung der Macht und Gleichgewicht durch gegenseitige Kontrolle.
Militär ist Zusammenballung der Macht und Unterordnung." operieren. Gemeinsam aber können sie nui zur Abwehr einer Aggression wirksam werden. Besser kann das von allen Partnern mitgetragene defensive Konzept nicht deutlich gemacht werden.
Es galt also, anscheinend Unvereinbares zusammenzuführen und miteinander zu versöhnen, als es darum ging, eine Wehrpflichtarmee in einer parlamentarischen Demokratie zu verwirklichen.
Zwei große Bereiche waren zu ordnen:
1. Die Armee war in die bereits bestehende staatliche Ordnung so einzufügen, daß der Primat der Politik über den militärischen Bereich gewährleistet werden konnte. Das bedeutet politische Leitung und parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte. In diesen Rahmen hatte sich auch die Organisation der obersten militärischen Führung einzupassen. 2. Die innere Ordnung der Streitkräfte war so auszugestalten, daß die unverzichtbare hierarchische Ordnung und das System von Befehl und Gehorsam in ein ausgewogenes Verhältnis zu den Grundsätzen von Freiheit und Menschenwürde gebracht wurden. Befehl und Gehorsam sind dabei nicht nur als Voraussetzung für die Effizienz der Streitkräfte, sondern darüber hinaus als das entscheidende Mittel für die Durchsetzung der politischen Kontrolle bis in die unterste Ebene hin anzusehen. Das Ziel aller Bemühungen mußte darauf gerichtet sein, eine funktionsfähige Armee zu schaffen, sich dabei aber solcher Wege und Methoden zu bedienen, die den politischen, rechtlichen und sozialen Maßstäben des Grundgesetzes entsprachen. Zwei Änderungen des Grundgesetzes (1. und 2. Wehrergänzung) und zahlreiche Wehrgesetze haben den Weg dafür geöffnet, daß die Bundeswehr einen angemessenen Platz in der Reihe der staatlichen Institutionen finden konnte und inzwischen auch eingenommen hat.
1. Der Bundesminister der Verteidigung Der Primat der Politik gegenüber dem militärischen Bereich ist am deutlichsten in der In-stitution des Bundesministers der Verteidigung ausgeprägt.
Gemäß Art. 62 GG in Verbindung mit Art. 65 GG ist der Bundesminister der Verteidigung Mitglied der Bundesregierung und Ressortchef in seinem Geschäftsbereich. Er unterliegt damit der vollen parlamentarischen Kontrolle-, er darf nicht den Status eines Soldaten haben. Gemäß Art. 65 a GG hat er die Befehls-und Kommandogewalt über die Streitkräfte. Solange also die Bundesrepublik Deutschland über Streitkräfte verfügt, muß es im Kabinett einen Verteidigungsminister geben. Der Bundesminister der Verteidigung ist damit ein Verfassungsorgan.
Die Tatsache, daß die Regelung der Befehls-und Kommandogewalt einem eigenen Artikel im Grundgesetz vorbehalten ist, läßt den Schluß zu, daß diese nicht als immanenter Teil der Ressortzuständigkeit angesehen wird, sondern eine besondere Befugnis darstellt, deren Übertragung und Ausübung einer ausdrücklichen Regelung bedarf. Diese Auffassung findet m. E. ihre Bestätigung darin, daß gern. Art. 115 b GG im Verteidigungsfall die Befehls-und Kommandogewalt — und zwar nur diese — auf den Bundeskanzler übergeht. Es gibt allerdings auch gegenteilige, politisch und rechtlich begründete Auffassungen.
Die Aufgaben des Bundesministers der Verteidigung sind umfassend. Sie sind in ihrer Fülle und ihrem Gewicht kaum mit denen eines anderen Ressortministers zu vergleichen, mit Ausnahme vielleicht des Bundesministers der Finanzen. Sie lassen sich wie folgt umreißen: a) Ressortchef Der Bundesminister der Verteidigung leitet den größten Dienstleistungsbetrieb der Bundesrepublik Deutschland, wenn nicht gar Westeuropas. Sein Haushalt beträgt rd. 20 °/0 des gesamten Bundeshaushaltes. Er ist Dienstherr eines Personalkörpers von fast 500 000 Soldaten und rd. 180 000 Zivilbediensteten. Er verfügt über einen Verwaltungsapparat mit eigenem Unterbau in der Mittel-und Ortsinstanz. Durch die verteidigungsinvestiven Ausgaben des Verteidigungshaushalts — 1975 mehr als 9 Milliarden DM einschließlich Forschung und Entwicklung — übt er einen nicht unbedeutenden Einfluß auf bestimmte Zweige der Wirtschaft und Industrie aus. Umfangreiche Beschaffungen im Ausland berühren die internationalen Handelsbeziehungen mit politischen Auswirkungen. Sein Ressort ist mit zahlreichen Gesetzesinitiativen befaßt, die sich auf das öffentliche Dienstrecht ebenso auswirken wie auf die Gebiete der Gesellschaftspolitik, des Ausbildungswesens, des Straf-und Disziplinarrechts u. a. m.
b) Inhaber der Befehls-und Kommandogewait Die oft als Tautologie bezeichnete Formulierung im Grundgesetz — „Befehls-und Kommandogewalt" — läßt keine Diskussion mehr darüber zu, ob es rechtlich oder faktisch Unterschiede zwischen den Begriffen Befehlsgewalt einerseits und Kommandogewalt andererseits gibt, wie das in der Vergangenheit häufig unterstellt und begründet wurde. Der Verfassungsgeber hat deutlich machen wollen, daß es innerhalb der Streitkräfte keinen Bereich mehr geben solle, der der Verantwortung des Ministers — und damit seinem Zugriff — entzogen wäre. Der Verteidigungsminister ist damit auch verantwortlich für alle Fragen des Einsatzes, der Organisation und Ausbildung, der Bereitstellung und Erhaltung des Personals und Materials sowie der inneren Ordnung der Streitkräfte. Die militärische Führung übt ihre Befugnisse nicht aus eigenem Recht, sondern stets nur im Auftrage des Ministers oder als „Ausfluß von Befugnissen, die er delegiert hat" aus. Er ist damit auch höchster militärischer Vorgesetzter aller Soldaten der Bundeswehr im Sinne des Soldaten-gesetzes § 1 (4). Diese umfassende Regelung steht nicht im Widerspruch zu der Übertragung von Teilen seiner Befugnisse, z. B.der operativen Planung und Führung der Kampfverbände, an Organe des Bündnisses. Diese ist durch Art. 24 (2) GG abgedeckt.
c) Nlitgestalter der Sicherheitspolitik Nicht zuletzt ist der Verteidigungsminister Mitgestalter der Sicherheitspolitik der Bundesregierung. Er vertritt im nationalen Rahmen wie in internationalen Gremien die Belange der Sicherheit und der militärischen Strategie. Dazu gehört auch die Vertretung der militärpolitischen Interessen bei der Erarbeitung einer gemeinsamen Nuklearpolitik, bei den Verhandlungen über die verschiedenen Möglichkeiten von Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle wie bei der Suche nach sinnvoller Arbeitsteilung und besserer Standardisierung innerhalb des Bündnisses. Er steht in laufender enger Verbindung mit den Verteidigungsministern der übrigen NATO-Mitgliedstaaten und regelt die Zusammenarbeit mit den auf deutschem Boden stationierten verbündeten Streitkräften. Damit übt er einen starken Einfluß auch auf die Außenpolitik aus. Seine Zusammenarbeit mit dem Außenminister ist enger als je in der Vergangenheit. Wenn Außen-und Verteidigungsminister verschiedenen politischen Parteien angehören, wie das in den Koalitionen seit 1966 der Fall ist, gewinnt die gestaltende Rolle des letzteren für die Sicherheitspolitik noch an Gewicht.
Die Stellung des Bundesministers der Verteidigung hat also starkes politisches Gewicht. Er verwaltet ein großes Ressort und er allein befehligt im Frieden uneingeschränkt die Streitkräfte, die das stärkste Machtmittel des Staates darstellen.
Es hat daher Stimmen gegeben, die die parlamentarische Kontrolle gerade gegenüber diesem Minister verstärken wollten, z. B. durch die Möglichkeit eines nur auf ihn bezogenen Mißtrauensantrages. Die Mehrheit des Parlaments widersprach jedoch dieser Auffassung mit der Begründung, daß eine Sonderstellung des Verteidigungsministers den Grundprinzipien der Organisation der Bundesregierung widerspräche, weil sie die von der Verfassung gewollte starke Position des Bundeskanzlers schwäche.
In jedem Falle aber scheint es mir offensichtlich zu sein, daß der Bundesminister der Verteidigung seinem Amt nur gerecht werden kann, wenn er über große politische Erfahrungen verfügt und zugleich in seiner Partei und Bundestagsfraktion einen starken Rückhalt besitzt. Er braucht eine personale Autorität gegenüber den mehr als 200 Generalen und Admiralen der Streitkräfte mit ihrem nicht zu leugnenden fachlichen Gewicht. Er benötigt Überzeugungskraft und Durchsetzungsvermögen in den unvermeidlichen politischen Auseinandersetzungen um die Bereitstellung der Mittel für die Bundeswehr, insbesondere der Haushaltsmittel. Er braucht Verhandlungs-und diplomatisches Geschick im Verkehr mit seinen ausländischen Kollegen. Die die Regierung tragenden Parteien sind gut beraten, wenn sie das Amt des Verteidigungsministers einem ihrer profiliertesten Politiker übertragen. Bisher sind ja auch die Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland Parteiführer, stellvertretende Parteiführer oder zumindest Mitglieder des Parteipräsidiums gewesen. Bei unseren großen Verbündeten ist das übrigens nicht anders. Man denke an Männer wie McNamara und Laird in den USA, Messmer und Debre in Frankreich, Denis Healey und Lord Carrington in Großbritannien.
Für den Verteidigungsminister ist politische Erfahrung wichtiger als militärfachliches Wissen. Die Funktion als „Sicherheitsminister" hat Priorität vor der eines „Bundeswehrministers". Ideal ist es, wenn ein Politiker beide Funktionen zugleich erfüllen kann. Das aber überschreitet wohl in den meisten Fällen die Arbeitskraft eines einzelnen Mannes. Wo auch immer der Verteidigungsminister den Schwerpunkt seines Wirkens sieht, in jedem Falle erwartet man von ihm eine volle Identifikation mit den Forderungen der Sicherheit sowie Verständnis für die Eigentümlichkeit des militärischen Bereiches und die von Status und Auftrag bestimmte Mentalität des Soldaten.
2. Der Bundeskanzler
„Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik." So steht es im Artikel 65 GG. Der Bundeskanzler erläßt daher auch die Richtlinien für die Sicherheits-und Verteidigungspolitik bis hin zur militärstrategischen Zielsetzung und Bundeswehrplanung.
Im gleichen Grundgesetzartikel heißt es weiter: „Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung." Der Bundeskanzler wird sich also aller Einzel-weisungen gegenüber dem Bundesminister der Verteidigung enthalten, soweit sie nicht durch die Richtlinienkompetenz abgedeckt sind. Dies gilt vor allem für die Maßnahmen, die dem Bereich der Befehls-und Kommandogewalt zuzurechnen sind. Hier nämlich ist, wie bereits dargestellt, im Frieden der Bundesminister der Verteidigung die letzte militärische Instanz gegenüber den Streitkräften. Wünsche, die die Streitkräfte betreffen, leitet der Bundeskanzler an den Bundesminister der Verteidigung. Jedenfalls kann er keine Befehle oder Weisungen unmittelbar an die Streitkräfte erteilen.
Dazu wird auch normalerweise kein Anlaß sein. Und doch hat es während meiner Amtszeit als Generalinspekteur gerade hierüber einmal eine Auseinandersetzung zwischen Bundeskanzler und Verteidigungsminister gegeben, die zu einer Verdeutlichung der Zuständigkeiten geführt hat.
Als im Sommer 1967 im Rahmen einer neuen mittelfristigen Finanzplanung der Bundesregierung auch der finanzielle Planungsrahmen für die Bundeswehr stark beschnitten wurde, schlug der damalige Bundesminister der Verteidigung, Dr. Gerhard Schröder, in voller Übereinstimmung mit dem Generalinspekteur, dem Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger vor, das bisherige Aufstellungsziel der Bundeswehr mit einem organisatorischen Umfang von etwas über 500 000 Mann fallenzulassen. Zugleich wurden für den zukünftigen zahlenmäßigen Umfang der Streitkräfte verschiedene Alternativen angeboten, die zum Teil sogar unter dem bereits erreichten Umfang von knapp 460 000 Mann lagen. Ziel dieser Vorschläge war die Sicherstellung eines ausreichenden Anteils an Investitionsmitteln zu Lasten der Betriebsausgaben, insbesondere der Ausgaben auf dem Personalsektor.
Der Bundeskanzler fürchtete — und nicht ganz zu Unrecht — die außen-und bündnis-politischen Folgen derart einschneidender Maßnahmen. Er hielt es für richtig, Rat und Argumente von anderer Seite einzuholen, ehe er mit dem Minister und dem Generalinspekteur über die Vorschläge konferierte. Er führte hierzu Gespräche mit den Generalen a. D. Heusinger und Speidel, er ließ durch einen Beamten des Bundeskanzleramtes meinen erst ein Jahr zuvor zurückgetretenen Vorgänger, General a. D. Trettner, befragen. Dies war sicher sein gutes Recht. Er beorderte aber auch — ohne Benachrichtigung des Bundesministers der Verteidigung — die im NATO-Bereich Dienst tuenden Generale Graf Kielmansegg und Graf Baudissin zu persönlichen Rücksprachen nach Bonn. Konnte man über die Zulässigkeit dieses Schrittes vielleicht noch verschiedener Meinung sein, so erhielt das Verfahren aber ein anderes Gesicht, als der parlamentarische Staatssekretär des Bundeskanzleramtes den Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Moll, dessen Kritik an den Vorschlägen des Ministers und des Generalinspekteurs bekannt-geworden war, unter Umgehung des Ministers kurzfristig zu einem direkten Vortrag beim Bundeskanzler bestellte. Der Inspekteur des Heeres war korrekt genug, den Wunsch des Bundeskanzlers sofort dem Generalinspekteur und der politischen Leitung zu melden. Der Minister untersagte darauf den Vortrag beim Kanzler unter Hinweis auf eine am gleichen
Tage stattfindende Besprechung mit den Kommandierenden Generalen. Als der Bundeskanzler am nächsten Tag den Inspekteur des Heeres erneut unmittelbar zu einer Besprechung auffordern ließ — von Generalleutnant Moll wiederum gemeldet —, bekam die Angelegenheit einen grundsätzlichen Charakter. Minister Schröder griff den Fall persönlich auf. In einem noch am selben Tage geführten Gespräch mit dem Bundeskanzler erklärte er diesem mit Nachdruck, daß es dem Sinn der Verfassung widerspräche, wenn sich der Kanzler ohne Wissen des Inhabers der Befehls-und Kommandogewalt unmittelbar durch Generale der Bundeswehr beraten ließe. Schröder drohte sogar mit seinem Rücktritt. Nach eingehender verfassungsrechtlicher Prüfung wurde eine Übereinstimmung dahin erzielt, daß zunächst eine Beratung beim Bundeskanzler mit der politischen Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung, dem Generalinspekteur und anderen Fachleuten des Hauses stattfinden sollte. Danach werde der Kanzler im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Verteidigung den Generalinspekteur und anschließend die Inspekteure der Teilstreitkräfte zu Einzelgesprächen empfangen. Die Öffentlichkeit hat diesen „Verfassungsstreit" zwischen Bundeskanzler und Bundesminister der Verteidigung mit Interesse verfolgt. Die gefundene Lösung wurde in einer Pressemitteilung vom 20. Juli 1967 der Öffentlichkeit mitgeteilt. Sie wurde allgemein als verfassungsgemäß empfunden. So geringfügig der Anlaß an sich war, so bedeutungsvoll war doch die grundsätzliche Klärung, die sich aus diesem Streit ergeben hatte.
Die Verfassungslage ändert sich grundlegend „mit der Verkündung des Verteidigungsfalles". Dann nämlich „geht die Befehls-und Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundeskanzler über" (Art. 115 b GG). Das Grundgesetz begnügt sich mit dieser knappen Formulierung. Diese Regelung ist nicht ungewöhnlich. Sie findet ihre Parallele in den Verfassungen anderer parlamentarischer Demokratien. In vielen Ländern der freien Welt liegt der Oberbefehl schon im Frieden in der Hand des Regierungschefs. In Staaten mit einer Präsidialverfassung, wie z. B. in den USA oder in Frankreich, ist das Staatsoberhaupt der oberste Befehlshaber.
Diese Regelung ist auch konsequent und logisch. In einem Kriege sind politische Führung und strategische Entscheidungen nicht mehr voneinander zu trennen. Der Oberbefehl über die Streitkräfte wird eine hochpolitische und für den Bestand des Staates lebenswichtige Funktion. Sie kann nur durch den Chef der Regierung selbst ausgeübt werden.
Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzler wird deshalb im Verteidigungsfall richtiger-weise erweitert. Der Bundeskanzler kann nunmehr Einzelweisungen und direkte Befehle an die Streitkräfte erteilen. Der Bundesminister der Verteidigung wird insoweit weisungsabhängig. Wie aber der Übergang der Befehls-und Kommandogewalt auf den Bundeskanzler im einzelnen vor sich gehen soll und in welcher Form der Bundeskanzler seine neue Verantwortung wahrnehmen kann oder will, ist nicht geklärt. Es gibt darüber weder eine gesetzliche Bestimmung noch eine im Rahmen der Bundesregierung im voraus festgelegte Regelung. In meinen Augen ist das auch nicht zwingend. Es bedarf vielmehr einer von Fall zu Fall zu treffenden politischen Entscheidung. Ob der Bundeskanzler seine Befugnisse als Inhaber der Befehls-und Kommandogewalt über den Bundesminister der Verteidigung ausübt, diesen also de facto zu seinem Stellvertreter in der Wahrnehmung der Befehls-und Kommandogewalt macht, oder ob er andere Wege und Möglichkeiten wählt, wird in der Praxis von dem politischen Gewicht, dem persönlichen Interesse und dem gegenseitigen Vertrauensverhältnis der handelnden Personen bestimmt werden. Jede personelle Konstellation wird ihre eigenen Lösungen entwickeln.
Wie auch immer sich der Bundeskanzler im Verteidigungsfall entscheiden wird, einige grundsätzliche Überlegungen sollten dabei nicht außer acht gelassen werden: — Gerade weil sich der Übergang der Befehls-und Kommandogewalt in einem kritischen Augenblick vollzieht, der keine Zeit der Schwäche erlaubt, sollten Bundeskanzler und Bundesminister der Verteidigung schon im Frieden in ihren politischen Grundauffassungen übereinstimmen, d. h. sie sollten der gleichen politischen Partei angehören, gleichgültig, wie die jeweils regierende Koalition zusammengesetzt ist.
Die Sicherstellung der Kontinuität der politischen Leitung der Streitkräfte, gerade in einer beginnenden militärischen Auseinandersetzung, sollte daher bei jeder Regierungsbildung Vorrang vor koalitionspolitischen Erwägungen haben. Bisher ist diesen Gedanken immer Rechnung getragen worden. — Jeder Bundeskanzler wird sich gedanklich und praktisch auf die Möglichkeit der Übernahme des Oberbefehls vorbereiten müssen. Eine solche Notwendigkeit kann schnell und überraschend eintreten. Kurt Georg Kiesinger hat dies im August 1968 anläßlich der Tschechenkrise deutlich erkannt und auch ausgesprochen. Dazu gehört u. a., daß der Bundeskanzler bei der Ernennung eines neuen Generalinspekteurs seine ausdrückliche Zustimmung erteilt und daß er den Generalinspekteur schon in normalen Zeiten in regelmäßigen Abständen sieht und spricht, um ein Vertrauensverhältnis herzustellen. Durch Truppenbesuche muß er sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Geist und der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte verschaffen. Alle bisherigen Kanzler haben in diesem Sinne gehandelt — wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. — Wenn der Bundeskanzler den Oberbefehl im einzelnen nicht selbst ausüben, sondern sich auf allgemeine Weisungen und Kontrolle beschränken und die Wahrnehmung der laufenden Geschäfte einem Stellvertreter übertragen will, so darf — dem Sinn der Verfassung nach — diese Stellvertretung nicht einem Soldaten übertragen werden. Es muß ein politisch verantwortlicher Minister — in diesem Falle natürlich der Verteidigungsminister — beauftragt werden. Andererseits sollte der oberste Soldat als der ranghöchste und sicher auch erfahrenste militärische Fachmann den Bundeskanzler als den Inhaber der Befehls-und Kommandogewalt und höchsten militärischen Vorgesetzten fachlich jederzeit unmittelbar beraten können. Er muß direktes Vortragsrecht erhalten und seine militärische Beurteilung und seine Vorschläge auch dann vortragen und begründen dürfen, wenn der Verteidigungsminister anderer Meinung ist. Der Regierungschef muß den kompetenten militärfachlichen Rat unmittelbar — und nicht in politisch gefilterter Form — hören. Das schränkt eine politische Beratung mit den zuständigen Ministern und eine durch politische Überlegungen bestimmte Entscheidung in keiner Weise ein. Kein Soldat wird in einem Verteidigungsfall die Rolle des höchsten militärischen Beraters der Regierung in anderer Weise ausüben können und wollen.
3. Der Bundesverteidigungsrat/Bundessicherheitsrat (BVR/BSR)
Die Bundesregierung hatte frühzeitig erkannt, daß der vielgestaltige Komplex der Gesamt-Verteidigung nicht allein durch die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und durch den Bundesminister der Verteidigung als Ressortchef und Inhaber der Befehls-und Kommandogewalt abgedeckt werden konnte. Einfluß und Auswirkungen verteidigungspolitischer und militärfachlicher Entscheidungen reichen weit in die Verantwortung anderer Ressorts der Bundesregierung hinein. Auch bedarf der komplizierte Bereich der zivilen Verteidigung der Koordinierung und der Abstimmung mit den Planungen der militärischen Verteidigung.
Entsprechend den Erfahrungen anderer großer Demokratien und parallel zu dem schon seit 1951 bestehenden Kabinettsausschuß für Wirtschaft (Wirtschaftskabinett genannt) beschloß die Bundesregierung bereits am 6. Oktober 1955 die Bildung eines Bundesverteidigungsrates (BVR). Dieser Kabinettsausschuß fand seine Fortsetzung in allen späteren Kabinetten, zwar mit gewissen Änderungen in Zusammensetzung und Geschäftsordnung, aber doch in gleichbleibender Grundstruktur.
Den Vorsitz im Bundesverteidigungsrat führt, entsprechend der Bedeutung der Beratungsgegenstände, der Bundeskanzler selbst. Die Bundeskanzler Adenauer, Kiesinger, Brandt und Schmidt haben den Vorsitz in der Praxis immer selbst wahrgenommen, wenn sie in Bonn anwesend waren. Bundeskanzler Erhard, der den Problemen der Verteidigung distanzierter gegenüberstand, führte den Vorsitz nur selten. Mit seiner ständigen Vertretung hatte er den Bundesminister für besondere Aufgaben, Heinrich Krone, beauftragt. Diese Regelung hat sich nicht bewährt. Krone hatte sich zwar im Bundesverteidigungsrat persönlich stark engagiert, er hatte sich auch eine bemerkenswerte Sachkenntnis erworben. Aber es fehlte ihm die Autorität des Kanzlers. Wenn bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern im BVR eine Einigung nicht zustande kam, mußte der Vorgang ohne eine Vorentscheidung erneut im Gesamtkabinett eingehend behandelt werden.
Zu den ständigen Mitgliedern des Bundesverteidigungsrates gehören die Bundesminister des Auswärtigen, des Innern, der Verteidigung, der Finanzen und für Wirtschaft. Weitere Bundesminister können als ständige Teilnehmer berufen oder zu bestimmten Sitzungen eingeladen werden, insbesondere wenn ihr Verantwortungsbereich berührt ist. Am häufigsten trifft dies für die Bundesminister der Justiz, für Verkehr, für das Post-und Fernmeldewesen und für Arbeit zu.
Seit Januar 1959 ist der Generalinspekteur als der militärische Berater der Bundesregierung ständiges Mitglied des Bundesverteidigungsrates, wenn auch ohne Stimmrecht.
Außerdem nehmen in der Regel an den Sitzungen teil:
Der Chef des Bundeskanzleramtes, der Staatssekretär des Bundespräsidialamtes und der Chef des Bundespresseund Informationsamtes.
Auch die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungsund des Innenministeriums können neben ihren Ministern den Sitzungen beiwohnen; weitere Fachleute, z. B.der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, werden bei Bedarf hinzugezogen. Jedoch bedarf es dazu in der Regel einer ausdrücklichen Einladung oder Zustimmung.
In den ersten Jahren sah der BundesVerteidigungsrat seine Aufgaben in der Beratung grundsätzlicher oder konkreter Einzelfragen der Verteidigung auf militärischem, zivilem, außenpolitischem, wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet. Er sollte Meinungsverschiedenheiten klären, Vorentscheidungen treffen und damit die politischen Entscheidungen des Bundeskanzlers oder der Bundesregierung vorbereiten und erleichtern. Die Sitzungen dienten zugleich der allgemeinen Information der Minister auf dem Verteidigungssektor. Die Geschäftsführung lag beim Bundeskanzleramt. Oft bereitete ein Ausschuß aus Abteilungsleitern der betroffenen Ressorts die Sitzungen des Rates vor und sorgte für beschlußreife Vorlagen, wenn mehrere Ressorts gemeinsam beteiligt waren.
Im Laufe der Jahre verlegte der BVR den Schwerpunkt seiner Beratungen mehr und mehr auf Fragen der Sicherheitspolitik als Teil der Außenpolitik. Die sozialliberale Koalition zog daraus die Konsequenz und wandelte den Bundesverteidigungsrat im Jahre 1970 in den Bundessicherheitsrat (BSR) um. In einer erweiterten Geschäftsordnung wurden die Aufgaben des BSR neu formuliert. Fragen der Verteidigung sollten mit den Überlegungen für Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle eng verbunden werden. Die Beratungen des BSR erhielten einen stärkeren politischen Akzent. Zugleich wurde festgelegt, daß der BSR abschließend Entscheidungen treffen kann, sofern nicht der Gegenstand seiner Be-deutung wegen in das Kabinett gelangen muß.
In der Regel tagt der BSR einmal im Monat. Bei aktuellen Vorgängen werden Sitzungen in kürzeren Abständen einberufen; gelegentlich tritt auch einmal eine größere Pause ein.
Die Sitzungen sind geheim, über den Ablauf der Diskussionen und die gefaßten Beschlüsse wird nicht berichtet. Kommuniques werden nicht herausgegeben. Das ergibt sich aus den Beratungsgegenständen von selbst.
Aus den vielfältigen Tagesordnungspunkten des BVR/BSR der Jahre 1966-1972 seien einige Beispiele angeführt:
Aus dem Bereich der Militär-und Bündnispolitik — Jeweils vor Beginn von Ministerkonferenzen des NATO-Rates oder der Nuklearen Planungsgruppe eine Vorausschau über den erwarteten Konferenzablauf. Dabei wurden den Ministern in der Regel Verhandlungsrichtlinien mitgegeben.
— Probleme des Devisenausgleichs im Zusammenhang mit der Stationierung amerikanischer und britischer Truppen in der Bundesrepublik Deutschland.
— Die deutsche Haltung zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (meist Atom-Sperr-Vertrag genannt) und zu den amerikanisch-sowjetischen Gesprächen über die Begrenzung strategischer nuklearer Waffen (SALT).
— Die deutsche Haltung zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und zu den Gesprächen über beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierungen (MBFR).
Aus dem Bereich der Rüstung — Der Rüstungsplan der Bundeswehr, insbesondere die größeren bilateralen oder multilateralen Rüstungsprojekte, wie z. B. Transall, Phantom, MRCA (multirole combat aircraft), Zerstörer der Lütjens-Klasse.
— Ausfuhr von Rüstungsmaterial in NATO-und Nicht-NATO-Länder.
Aus dem Bereich der Verteidigungsfragen mit Auswirkungen auf die Innenpolitik — Dauer des Grundwehrdienstes, — Wehrgerechtigkeit, — Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst, — Zivilverteidigung und Folgemaßnahmen zur Notstandsgesetzgebung.
Auch die Weißbücher der Bundesregierung wurden vor ihrer Veröffentlichung im BSR eingehend beraten.
Diese Aufzählung kann nicht vollständig sein, sie soll nur einen Eindruck von dem weitgespannten Rahmen der Beratungsgegenstände vermitteln.
Indiskretionen sind meiner Erinnerung nach nicht vorgekommen. Der BVR/BSR ist eines der wenigen Gremien in Bonn, deren Beratungsergebnisse, soweit sie ausdrücklich als vertraulich erklärt worden sind, nicht in die Öffentlichkeit gelangt sind.
Für den Generalinspekteur hatte die Teilnahme an den Sitzungen des BVR/BSR besondere Bedeutung. Hier traf er regelmäßig mit dem Bundeskanzler zusammen. Hier erhielt er Einblick aus erster Hand in die politischen Auffassungen der wichtigsten Minister der Bundesregierung und erweiterte damit die Basis für seine eigenen Beurteilungen. Hier konnte er an höchster Stelle die militärisch-fachlichen Beiträge zu den in Beratung stehenden Problemen vortragen.
Anfang 1970 wurde die Regelung eingeführt, daß der Generalinspekteur zu Beginn jeder Sitzung des BSR einen kurzen militärischen Lagevortrag von höchstens 15 Minuten Dauer hielt. Hierzu wählte der Generalinspekteur jeweils aktuelle militärische Vorgänge in der Welt aus, stellte sie in ihrem Ablauf dar und beurteilte sie dann aus militär-politischer Sicht, insbesondere auf ihre möglichen Rückwirkungen für den mitteleuropäischen Raum hin.
Diese Vorträge waren in ihrer Wirkung auf einen Teil der Teilnehmer der Sitzungen größer als erwartet. Wurde ihnen doch deutlich, daß jeder militärische Vorgang, wo auch immer in der Welt, einen spürbaren Einfluß auf die internationale Politik ausübte und damit direkt oder indirekt auch die deutsche Politik berühte.
Der BVR/BSR hat sich als ein arbeitsfähiges Organ erwiesen, das wichtige Entscheidungen vorzubereiten oder selbst zu treffen in der Lage ist. Bei der Koordinierung der verschiedenen Auffassungen in der Sicherheitspolitik und bei der Organisation der Gesamtverteidigung innerhalb der Bundesregierung hat er gute Arbeit geleistet. Man muß aber auch seine Grenzen sehen:
Für kurzfristige Entscheidungen in aktuellen Notlagen ist er nicht vorbereitet. Er ist kein rasch reaktionsfähiges Organ zur Bewältigung einer Krise. Hierfür fehlt es ihm am nötigen Apparat. Für ein Crisis Management bedarf es eines Führungsinstruments anderer Zusammensetzung und anderer Organisation. Insoweit ist der BSR mit dem spätestens seit der Kuba-Krise 1962 allgemein bekanntgewordenen National Security Council der amerikanischen Regierung nicht vergleichbar.
4. Der Bundestag und seine Ausschüsse
Der Einordnung der Streitkräfte in unsere Verfassungsordnung als Teil der Exekutive, die die Befehls-und Kommandogewalt in der Hand eines Regierungsmitglieds einschließt, entspricht eine uneingeschränkte parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte. Zum ersten-mal in der deutschen Geschichte kann die bewaffnete Macht als eine „Parlamentsarmee" — korrekter formuliert: als eine „parlamentarisch vollständig kontrollierte Armee" — bezeichnet werden.
Dies hat das Verhältnis zwischen Parlament und Bundeswehr weitgehend geprägt. Die Beziehungen sind — im Vergleich zu früheren Zeiten — enger geworden, das gegenseitige Verständnis ist gewachsen. Das fast traditionelle Mißtrauen der Soldaten früherer Zeiten gegenüber parlamentarischen Einrichtungen ist praktisch abgebaut. Zahlreiche Abgeordnete, auch wenn sie nicht unmittelbar mit Verteidigungsfragen befaßt sind, besuchen die Truppe beim Dienst oder nehmen an ihren repräsentativen Veranstaltungen teil. Andere wieder sind Reserve-Offiziere der Bundeswehr und kennen daher die Truppe aus eigenem Erleben. Es ist keine Seltenheit mehr, daß Gruppen von Soldaten in Uniform von der Zuschauertribüne des Bundestages aus die Debatten im Plenum verfolgen. Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr haben von ihrem passiven Wahlrecht Gebrauch gemacht und sich durch die Parteien bei den Bundestagswahlen als Kandidaten aufstellen lassen. Nicht wenige von ihnen, vom Hauptfeldwebel bis zum Brigadegeneral, sind gewählt worden und in den Bundestag eingezogen. Sie haben oft über mehrere Legislaturperioden hinweg als Abgeordnete wichtige politische Arbeit geleistet. So hilfreich ihre Fachkenntnisse in der Parlamentsarbeit sind, so sollten sie sich dennoch nicht nur als Experten im Verteidi-gungsoder Haushaltsausschuß fühlen. Wenigstens einige unter ihnen sollten sich auch anderen politischen Themen widmen, für die sie aus der Führungs-und Erziehungsarbeit der Truppe Erfahrungen mitbringen, z. B.der Sozial-und Bildungspolitik.
Die politische Verantwortung gegenüber dem Parlament — das gilt für Plenum und Ausschüsse gleichermaßen — trägt der Bundesminister der Verteidigung allein. Das entspricht gutem parlamentarischem Brauch. Die Kritik an Vorgängen in den Streitkräften oder in der Bundeswehrverwaltung richtet sich daher immer an den Minister selbst, nicht an die militärischen Führer oder die zuständigen Verwaltungsbeamten. Der Soldat muß mit Dankbarkeit feststellen, daß sich das Parlament bemüht hat, die Streitkräfte selbst aus der parteipolitischen Auseinandersetzung herauszuhalten. Alle Minister haben ihrerseits parteipolitische Kritik auf ihr Amt und ihre Person bezogen und die Verantwortung auch für solche Vorgänge in Truppe und Verwaltung übernommen, die auf Fehlern des nachgeordneten Bereiches beruhten und mit Recht beanstandet wurden. Dem gleichen Ziel diente die Übereinkunft zwischen den Verteidigungsministern und den Fraktionen des Bundestages, Abgeordnetenbesuche in den Kasernen während der letzten Wochen vor einer Bundestagswahl zu unterlassen. Ausgenommen davon sind lediglich Mitglieder des Verteidigungsausschusses, wenn sie die Truppe in Ausübung ihrer Kontrollfunktion aufsuchen wollen. Sie sollten sich dann aber auch nicht von örtlichen Parteifreunden begleiten lassen, denen eine Kontrollbefugnis nicht zusteht.
Für das Plenum des Deutschen Bundestages gibt es häufig Gelegenheiten, über Verteidigungspolitik und Bundeswehr zu debattieren. In erster Linie sind es die Beratung und Verabschiedung von Gesetzen, die die Streitkräfte betreffen. Gleiche Bedeutung haben die jährlichen Debatten um den Verteidungshaushalt (Einzelplan 14). Es muß hierbei vermerkt werden, daß der Einzelplan 14 zu den wenigen Haushaltsteilen gehört, bei deren Abstimmung seit den sechziger Jahren die jeweilige Opposition häufig zugestimmt oder sich zumindest der Stimme enthalten hat. Ich halte das für eine sichtbare Bestätigung dafür, daß die im Bundestag vertretenen Parteien trotz unterschiedlicher politischer Auffassungen, die zwischen Regierung und Opposition immer bestehen, in zwei grundlegenden Fragen übereinstimmen: 1. Spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahre besteht keine Meinungsverschiedenheit mehr über die Notwendigkeit, deutsche Streitkräfte zu unterhalten, die in den Nordatlantikpakt fest einzubetten und deren Aufgaben auf Abschreckung und Verteidigung auszurichten waren. 2. Von Anfang an bestand ein Konsens über die Einordnung der Streitkräfte in unsere Verfassungsstruktur und über das Konzept des Staatsbürgers in Uniform. Aussagen aller Verteidigungsminister und zahlreicher führender Abgeordneter aller Parteien machen dies überzeugend deutlich.
Bei den ein-bis zweimal im Jahr stattfindenden großen wehrpolitischen Debatten, die meist mit einer vom Verteidigungsminister vorgetragenen Regierungserklärung begannen, bestätigte sich dieser Eindruck. Führte der überwiegend politische Charakter der Debatten oft zu scharfen Kontroversen im einzelnen, so bleib doch die Übereinstimmung im Grundsätzlichen bestehen. Diese Haltung des Bundestages hat den Soldaten der Bundeswehr, insbesondere aber der militärischen Führung, die gebotene Loyalität gegenüber der jeweiligen demokratisch legitimierten Regierung wesentlich erleichtert.
Vor Jahren hat einmal ein Parlamentarier von sehr hohem Rang an mich die Frage gestellt, ob man nicht anstreben sollte, den Generalinspekteur gelegentlich die Sache der Streitkräfte vor dem Plenum des Bundestages selbst vertreten zu lassen. Ich habe einen solchen Vorschlag mit Nachdruck abgelehnt.
Es ist bewährte parlamentarische Regel, daß vor dem Parlament die Minister selbst Rede und Antwort stehen. Sie können sich hierbei nur durch einen der Staatssekretäre, die Teil der politischen Leitung ihres Ressorts sind, vertreten lassen. Seit 1967 wird die Vertretung des Ministers vor dem Parlament meist durch die parlamentarischen Staatssekretäre wahrgenommen. Selbst Mitglied des Bundestages, können sie freier sprechen und, wenn es sein muß, auch polemisch reagieren. Der beamtete Staatssekretär ist gegenüber freigewählten Abgeordneten an eine gewisse Zurückhaltung gebunden. Minister und Staatssekretäre werden immer auf der Basis der politischen Grundauffassung ihrer die Regierung tragenden Parteien argumentieren.
Es war dagegen stets meine Auffassung, daß die militärische Führung in ihrer Arbeit parteipolitisch nicht festgelegt sein sollte. Sie gibt ihren fachlichen Rat frei von parteipolitischen Überlegungen. Nur dann kann bei einem Wechsel der politischen Verantwortung die militärische Führung im Amt verbleiben. Die Kontinuität der militärischen Führung der Streitkräfte bleibt sichergestellt, wenn nicht andere Gründe für eine Neubesetzung vorliegen sollten.
Befinden sich die Soldaten gegenüber dem Plenum des Deutschen Bundestages in einer passiven Rolle, so ist ihre aktive Mitarbeit in den verschiedenen Bundestagsausschüssen nicht nur zweckmäßig, sondern notwendig.
Unter den Ausschüssen des Deutschen Bun-, destages hat das Verteidigungsministerium in erster Linie mit dem Verteidigungsausschuß zusammenzuarbeiten. Schon am 19. Juli 1952 konstituierte sich ein „Ausschuß zur Beratung des EVG-Vertrages und der damit zusammenhängenden Abmachungen". Kurze Zeit danach, am 21. Januar 1953, änderte er seinen Namen in „Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit" und machte damit die inzwischen eingetretene Erweiterung seines Aufgabenbereiches auch in seinem Namen deutlich. Von den ordentlichen Mitgliedern dieses ersten Ausschusses sind noch heute (7. Wahlperiode) Mitglied des Parlaments: die Abgeordneten Richard Jaeger, Erich Mende, Franz-Josef Strauß und Herbert Wehner. In der 2. Wahlperiode wurde die bis heute noch gültige Bezeichnung „Verteidigungsausschuß" gewählt (Anfang 1956). Der Vorsitz des Ausschusses ist bis zum Ende der 6. Wahlperiode eine Domäne der CSU gewesen (Strauß, Jaeger, Zimmermann). In der 7. Wahlperiode fiel der Vorsitz an die SPD (zunächst Schmidt/Würgen-dorf, dann Buchstaller).
Das Grundgesetz weist dem Verteidigungsausschuß eine besondere Stellung zu. In Art. 45 a GG heißt es:
„(1) Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und einen Ausschuß für Verteidigung. Die beiden Ausschüsse werden auch zwischen zwei Wahlperioden tätig.
(2) Der Ausschuß für Verteidigung hat auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder hat er die Pflicht, eine Angelegenheit zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen." Der Verteidigungsausschuß gehört damit zu den unverzichtbaren Ausschüssen. Er ist Ver-fassungsorgan. Er hat das Recht, auch über Angelegenheiten zu beraten, die ihm nicht ausdrücklich vom Plenum überwiesen sind. Häufig werden seine Beratungen als vertraulich oder geheim erklärt.
Der Bedeutung des Verteidigungsausschusses entsprach es, daß er in den ersten Legislaturperioden personell bemerkenswert gut zusammengesetzt war. Gerade in diesen Ausschuß entsandten die Fraktionen einige ihrer Spitzenpolitiker. In den späteren Wahlperioden scheint mir der Ausschuß von den Fraktionen nicht mehr in gleicher Weise eingeschätzt worden zu sein. Jedenfalls haben die Soldaten es oft bedauert, daß führende Abgeordnete der Fraktionen sich später nur noch in Ausnahmefällen um die Mitgliedschaft im Verteidigungsausschuß bemüht haben.
Gerade in den ersten Jahren seines Bestehens hat der Verteidigungsausschuß bedeutungsvolle und umfangreiche Arbeit geleistet. Es galt, die internationalen Verträge zu beraten sowie die notwendigen Verfassungsänderungen in Wehrfragen und die wehrgesetzlichen Grundlagen für die Aufstellung der Bundeswehr zu erarbeiten. Allein vom Sommer 1955 bis zum Sommer 1958, also in einer erstaunlich kurzen Zeit, sind in diesem Zusammenhang neben einer Verfassungsänderung (2. Wehrergänzung) 19 einfache Gesetze beschlußreif beraten worden, der größte Teil von ihnen in den Jahren 1956/57. Damit wurde die Voraussetzung für die Aufstellung von Streitkräften in einem klaren verfassungsmäßigen Rahmen und auf geordneten gesetzlichen Grundlagen geschaffen.
Wer damals an den Beratungen des Verteidigungsausschusses teilgenommen hat, war beeindruckt von der konstruktiven Mitarbeit aller Ausschußmitglieder, einschließlich derer der Opposition. Auch wenn die SPD damals glaubte, der Mehrzahl der Wehrgesetze aus grundsätzlichen Erwägungen heraus im Plenum nicht zustimmen zu können, haben ihre Vertreter im Ausschuß mit manchen guten Vorschlägen die Gesetze mitgestaltet.
Es entsprach der Sorge vieler Politiker vor der zukünftigen Rolle der Bundeswehr im Staat, daß die Diskussionen stark von den Überlegungen nach einer politischen Kontrolle des neu entstehenden Machtinstrumentes bestimmt wurden. Die Erinnerung an die Vergangenheit überschattete dabei gelegentlich den Blick in die Zukunft und auf die Bedürfnisse militärischer Wirksamkeit.
Als ich 1964, nach rund siebenjähriger Tätigkeit in Truppe und Schulen, als Inspekteur des Heeres wieder nach Bonn zurückkehrte, hatte sich der Blickwinkel im Ausschuß verändert. Die Fragen der Einsatzbereitschaft, der personellen Zusammensetzung und materiellen Ausstattung der Bundeswehr, d. h. also die Probleme der Effizienz, standen nunmehr bewußter im Vordergrund der Überlegungen. Ich habe das als ein Zeichen dafür gedeutet, daß die Einordnung der Streitkräfte in den Bereich der Exekutive, die Durchsetzung des Primats der Politik und die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft weitgehend als geglückt angesehen wurden.
An den Sitzungen des Verteidigungsausschusses nehmen regelmäßig Soldaten und Beamte des Bundesverteidigungsministeriums, vom Generalinspekteur über die Abteilungsleiter bis zur Referentenebene, teil. Sie stehen zur Verfügung, um Sachauskünfte zu geben, Gesetzesentwürfe fachlich zu begründen, Rüstungsvorlagen zu erläutern, über besondere Vorfälle in den Streitkräften zu berichten, Erfahrungen aus der Praxis vorzutragen u. a. m. Der Grundsatz, daß der Verteidigungsminister die parlamentarische Verantwortung allein trägt, bleibt auch dabei erhalten. Der Minister kann bestimmen, welcher Angehörige seines Hauses zu dem jeweiligen Beratungsthema vortragen soll. Wenn die Abgeordneten der Ausschüsse bestimmte, namentlich benannte Fachleute hören wollen, wird der Minister in der Regel diesem Wunsch entsprechen. Elkann jedoch die Beantwortung von Fragen jederzeit selbst an sich ziehen.
Gegen Ende meiner Amtszeit hat es eine lebhafte Auseinandersetzung darüber gegeben, ob die Angehörigen des Ministeriums befugt sind, in den Bundestagsausschüssen eine Bewertung oder Stellungnahme abzugeben, die der von der politischen Leitung festgelegten Linie widerspricht. Ein Schreiben, in dem ich die Inspekteure gebeten hatte, in ihren Stäben erneut auf die Regel hinzuweisen, im Parlament die politischen Entscheidungen des Hauses zu vertreten, war kurz vor meinem Ausscheiden Anlaß zu heftiger Kritik im Verteidigungsausschuß und in der Öffentlichkeit geworden. Bei den Haushaltsberatungen im Winter 1971/72 war es vorgekommen, daß einzelne titelverwaltende Referenten der Versuchung erlegen waren, im Verteidigungsoder Haushaltsausschuß für den von ihnen betreuten Haushaltstitel eine Erhöhung der Geldansätze zu empfehlen, die sie bei den Beratungen innerhalb des Verteidigungsministeriums oder gegenüber dem Finanzministerium nicht hatten durchsetzen können. Eine einseitige Erhöhung einzelner Titelansätze aber hätte nur durch eine Verschiebung von Geldern innerhalb des Verteidigungshaushaltes, d. h. zuungunsten eines anderen Titels, verwirklicht werden können und hätte u. U. die Ausgewogenheit des Gesamthaushaltes gefährdet. Ein solches Verfahren ist unzulässig. Selbst wenn ein Referent mit der von der politischen Leitung getroffenen Entscheidung nicht einverstanden ist, darf er nicht den Versuch machen, vor den Ausschüssen des Parlaments eine andere Entscheidung durchzusetzen. Für die Entscheidungen des Ministers oder gar des Kabinetts ist gegenüber dem Parlament die politische Leitung allein verantwortlich. Wer die getroffene Entscheidung nicht vertreten zu können glaubt, kann durchaus darum bitten, von einem Auftreten in den Parlamentsausschüssen entbunden zu werden. Jeder Minister oder Staatssekretär wird dafür Verständnis aufbringen. Interne Meinungsverschiedenheiten der Ressorts aber gehören nicht vor das Parlament, wenn der zuständige Minister einmal eine Entscheidung getroffen hat. Ich war und bin davon überzeugt, daß die dargelegte Auffassung der Verfassung und dem Grundsatz vom Primat der Politik entspricht. Sie wurde vom Minister gedeckt. Sie war im übrigen auch gar nicht neu, denn auch die früheren Minister hatten den gleichen Standpunkt eingenommen. Mein Schreiben war lediglich eine Erinnerung an eine seit Jahren gehandhabte Regelung. Es bezog sich übrigens auf die Teilnahme von militärischen Angehörigen des BMVg an Beratungen des Verteidigungsund Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages. Nur wenn der Verteidigungsausschuß sich als parlamentarischer Untersuchungsausschuß konstitutiert, gelten andere Regelungen.
Neben dem Verteidigungsausschuß hat der Haushaltsausschuß für das Verteidigungsministerium eine entscheidende Bedeutung. Dort wird vor allem der Haushalt des Ministeriums begutachtet und vorentschieden. Neben der politischen Leitung tritt in diesem Ausschuß daher der Leiter der Haushaltsabteilung als Hauptsprecher des Ministeriums auf. Natürlich werden auch hier militärische Fachleute zu den Beratungen der verschiedenen militärischen TitEl des Einzelplans 14 herangezogen. In grundsätzlichen Fragen, vor allem wenn es sich um Probleme der Beschaffung und Erhaltung großer Waffensysteme oder um die Begründung zu wichtigen, neu beantragten Planstellen handelt, tragen die Inspekteure der Teilkräfte selbst vor. Ich bin nur selten zum Vortrag im Haushaltsausschuß gebeten worden, habe aber an zahlreichen Sitzungen teilgenommen.
Andere Fachausschüsse, wie z. B.der Rechts-oder Innenausschuß, werden zur Mitberatung von Gesetzentwürfen herangezogen, soweit ihr Bereich betroffen ist. Der Auswärtige Ausschuß diskutiert von Zeit zu Zeit in Anwesenheit von Vertretern des Verteidigungsministeriums Angelegenheiten der Sicherheitspolitik und Strategie. Auch hier steht der Generalinspekteur gelegentlich Rede und Antwort.
Eine Sonderrolle im Parlament spielt der so-genannte „Gemeinsame Ausschuß" (Art. 53 a GG). Er wurde anläßlich der Verfassungsänderung zur Notstandsregelung im Jahre 1968 als ein wichtiges Verfassungsorgan geschaffen, ist jedoch erst in der 6. Wahlperiode (1969— 1972) erstmalig zusammengetreten.
Der Gemeinsame Ausschuß ist nur im Verteidigungsfall handlungsberechtigt, wenn er nämlich mit Zwei-Drittel-Mehrheit feststellt, daß dem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen, oder daß dieser nicht beschlußfähig ist (Art. 115 GG). In normalen Zeiten kann er weder Gesetze beraten noch Gesetzesinitiativen ergreifen oder Kontrollrechte ausüben. Dies bleibt dem Bundestag und seinen planmäßigen Ausschüssen vorbehalten. Er hat aber Anspruch auf Unterrichtung durch die Bundesregierung über ihre Planungen für den Verteidigungsfall.
Der Gemeinsame Ausschuß ist mit den Spitzenpolitikern der Bundestagsfraktionen besetzt. Seitens des Bundesrates sind die zuständigen Länderminister (meist Innenminister) oder die ständigen Vertreter der Länder beim Bund Mitglieder des Ausschusses. Den Vorsitz führt der Bundestagspräsident selbst. Die Sitzungen sind geheim. Die Zahl der Teilnehmer aus den Ministerien und der Bundestags-verwaltung ist äußerst beschränkt. Das Niveau der Diskussionen ist hoch, die Diskussionsgegenstände von großer Tragweite. Ich habe an mehreren Sitzungen des Gemeinsamen Ausschusses in der 6. Wahlperiode teilgenommen, häufig auch selbst vorgetragen oder Auskünfte erteilt. Die rechtzeitige Ein-Weisung des Gemeinsamen Ausschusses liegt im gemeinsamen Interesse des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung. Sie erleichtert ein rasches Wirksamwerden des Ausschusses im Verteidigungsfall.
Von wenigen Einzelfällen abgesehen, verlief die Zusammenarbeit der militärischen Führung mit den Bundestagsausschüssen nicht nur ohne Reibung, sondern vielmehr auf der Basis offener Aussprache und gewährten Vertrauens. Dies bedarf deswegen einer besonderen Hervorhebung, weil ein ähnlich enges Verhältnis zwischen Militär und gewählten Volksvertretern in früheren deutschen Parlamenten, wie dem Reichstag der Weimarer Republik oder den Parlamenten der Monarchie vor 1918, nicht bestanden hat.
Das normalisierte, in seiner Grundtendenz positive Verhältnis des Bundestages zu den Streitkräften findet seinen deutlichsten Ausdruck in der Tatsache, daß der Deutsche Bundestag in seinen Plenarsitzungen bei verschiedenen Gelegenheiten, z. B. beim Abschluß großer Wehrdebatten, der Bundeswehr einstimmig sein Vertrauen ausgesprochen hat. Ich wüßte nicht, daß es dafür in früheren deutschen Parlamenten ein Beispiel gibt.
5. Der Staatsbürger in Uniform Der Begriff des „Staatsbürgers in Uniform" ist ein weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekanntgewordenes „Markenzeichen" der Bundeswehr geworden. Er ist das Leitbild für den neuen deutschen Soldaten, das sich aus dem Konzept der Inneren Führung ableitet.
Innere Führung und Staatsbürger in Uniform sind im Grundsätzlichen wie im Detail in zahlreichen Büchern und Schriften beschrieben, erläutert und bewertet worden. Sie sind die Hauptthemen der umfangreichen Literatur, die sich mit der Bundeswehr beschäftigt. Es wäre nur eine Wiederholung, an dieser Stelle eine erneute Definition des Staatsbürgers in Uniform oder eine Darstellung des Konzepts der Inneren Führung zu versuchen. Aber es sei doch wenigstens auf die beiden Grundgedanken hingewiesen, auf denen das Konzept aufgebaut wurde. Der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages hat sie nach Kenntnisnahme eines von mir in Hamburg gehaltenen Vortrages in einer Entschließung vom 24. April 1969 wie folgt bestätigt: 2. Das Konzept des Staatsbürgers in Uniform beruht einmal auf der Einordnung unserer Streitkräfte in unsere Verfassungsordnung als ein Teil der Exekutive. Die politische Leitung durch den Minister bzw.den Bundeskanzler als Inhaber der ungeteilten Befehls-und Kommandogewalt wird als Grundsatz uneingeschränkt bejaht. Die militärische Führung übt ihre Funktion im Auftrag der politischen Leitung aus.
3. Zum anderen beruhen Pflichten und Rechte des Soldaten auf dem Grundsatz, daß die staatsbürgerlichen Rechte des Soldaten nur insoweit eingeschränkt werden, wie es der militärische Auftrag erfordert.
4. ..."
Der in Ziffer 3 dieser Entschließung formulierte Grundsatz entspricht inhaltlich dem § 6 des Soldatengesetzes. Es heißt dort:
„Der Soldat hat die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger. Seine Rechte werden im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch seine gesetzlich begründeten Pflichten beschränkt." Wer diese beiden Grundgedanken, von mir oft „Eckpfeiler“ genannt, ganz in sich aufgenommen und innerlich bejaht hat, kann im Grunde genommen keine schwerwiegenden Fehler in der Handhabung der Inneren Führung machen, selbst wenn er in Lagen kommt, für die in Gesetzen oder Vorschriften Verhaltensrezepte nicht zu finden sind.
Das Konzept des Staatsbürgers in Uniform ist nicht das Werk eines einzelnen. Wie bei den meisten großen Neuerungen lagen seine Gedanken bereits „in der Luft“; sie entsprachen den Gegebenheiten und Notwendigkeiten der Zeit. Das Gesamtgebäude wurde in enger Zusammenarbeit von Soldaten, Juristen, Politikern, Wissenschaftlern, Jugendorganisationen, Verbänden und politischen Parteien entwickelt. Die Generale Heusinger und Speidel haben schließlich die militärische, Regierung und Parlament die politische Verantwortung für die Realisierung übernommen.
Es gibt also viele „Väter" der Inneren Führung. Und doch muß der Name des Grafen von Baudissin herausgehoben werden. Er war in der Dienststelle Blank und im Verteidigungsministerium sieben Jahre lang der verantwortliche Bearbeiter. Ein wesentlicher Teil der konzeptionellen Gedankenarbeit wurde von ihm geleistet. Er hat für die Idee gekämpft und konsequent auf ihre Realisierung gedrungen. Er hat auch Unpopularität nicht gescheut, sei es gegenüber widerstrebenden alten Kameraden, sei es gegenüber den Teilen der Öffentlichkeit, die einer Wiederbewaffnung, unter welchen Bedingungen auch immer, ablehnend gegenüberstanden.
Es mag zutreffen, daß die Bezeichnung „Staatsbürger in Uniform" nicht die glücklichste Formulierung ist, um deutlich zu machen, was gemeint ist. In der Anfangszeit hat man einmal an die Formulierung „Staatsbürger in Waffen" gedacht. Ist doch der Umgang mit Waffen das wesentliche Kennzeichen des Soldaten, bedeutungsvoller jedenfalls als das Tragen einer Uniform. Die frühen fünfziger Jahre waren für eine derartige Bezeichnung aber noch nicht reif. Der Gedanke wurde fallengelassen.
Gerhard Schröder hat in einer bemerkenswerten Rede in der Heeresoffiziersschule München am 5. Mai 1969 angeregt, die Bezeichnung „Staatsbürger als Soldat“ zu verwenden. Ich habe diesen Vorschlag begrüßt. Er verdeutlicht sprachlich in besserer Form das Prinzip, daß der Staatsbürger auch dann noch Staatsbürger bleibt, wenn er im Status eines Soldaten Dienst tut. Die Amerikaner haben den gleichen Gedanken in einem Satz ausgedrückt, der in dem Rundbogen der Gedenkstätte des Soldatenfriedhofs Arlington in Washington zu lesen ist: „When we assumed the soldier we did not lay aside the Citizen."
Der Begriff „Staatsbürger in Uniform" war aber bereits so populär geworden, daß jeder Vorschlag auf Änderung der Bezeichnung sofort das Mißtrauen hervorrief, es sei auch eine Änderung des Inhaltes beabsichtigt. Schröder hatte an eine Konzeptänderung nicht gedacht, wohl aber an eine Verdeutlichung. Trotzdem hat sich sein Vorschlag nicht durchgesetzt.
Mit Nachdruck habe ich mich stets gegen die verkürzte Formel „Bürger in Uniform" gewehrt. Hier werden allzu leicht Assoziationen an Bürgerwehr, Biedermeier, Filzpantoffeln geweckt, die dem Ernst und der Härte modernen Soldatentums nicht entsprechen.
So bleibt es also beim Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform".
6. Mißverständnisse
Wie alle neuen Konzeptionen ist auch die Innere Führung Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen geworden, wobei die kritische Beurteilung oft von sehr unterschiedlichen Einstellungen bestimmt ist.
Soweit sich die Kritik ernsthafter sachlicher Argumente bedient, ist sie hilfreich und kann zur Überprüfung beschrittener Wege ermutigen. Manche Gegner der Inneren Führung aber argumentieren nicht nur unsachlich und emotional, sondern gehen bei ihren Einwänden von grundlegenden Mißverständnissen aus. Entweder haben sie das Konzept nicht richtig verstanden oder sie schieben ihm Absichten und Zielsetzungen unter, die einer Nachprüfung nicht standhalten.
Soldaten, die noch in der Wehrmacht vor 1945 gedient haben, reduzieren die Innere Führung gern auf den Begriff einer „anständigen Behandlung" der Untergebenen. Sie weisen darauf hin, daß in bewährten Fronttruppenteilen auch früher schon eine gute Menschenführung praktiziert worden sei; die großen militärischen Leistungen während des Zweiten Weltkrieges seien der Beweis dafür. Diese Erfahrungen gelte es auf die Bundeswehr zu übertragen. Innere Führung sei daher eigentlich gar nichts Neues. Man habe sie nur so groß herausgestellt, um die weit verbreitete, wenn auch verständliche Abneigung gegenüber neuen Streitkräften abzumildern und Widerstrebenden eine Zustimmung leichter zu machen.
Eine solche Auslegung der Inneren Führung scheint mir allzu simpel. Zeitgemäße soldatische Menschenführung ist nur ein Teil des Gesamtkonzeptes der Inneren Führung, allerdings ein wichtiger und zudem auch durchaus neuer Teil. Und wenn das Neue nur darin läge, daß es nicht mehr in das freie Ermessen des jeweiligen Vorgesetzten gestellt ist, wie „anständig" er seine Untergebenen behandelt, sondern daß die Pflichten des Vorgesetzten und die Rechte des Untergebenen in konkrete gesetzliche Vorschriften gefaßt sind, die beachtet werden müssen. Im übrigen haben gerade die Kritiker, die die Innere Führung einerseits ablehnten, weil sie nichts Neues sei, ihr in fast schizophrener Unlogik bald danach vorgeworfen, sie kehre sich von allem Hergebrachten ab.
Niemand wird den guten Willen, die saubere Haltung und die Leistungen der alten Soldaten in Frage stellen. Für die Bundeswehr aber kam es darauf an, die Wege und Methoden der soldatischen Menschenführung rechtlich verbindlich so zu fixieren, daß sie sich in Übereinstimmung mit den geistigen Grundlagen unserer Verfassungsordnung und den in ihr postulierten Grundrechten befanden. Innere Führung ist eben doch etwas „Neues".
Das zweite große Mißverständnis gründet sich auf die These, die Schöpfer der Inneren Führung seien von einem utopischen, zumindest einem zu idealistisch bestimmten Menschenbild ausgegangen. Die Forderungen, die an den Soldaten gestellt würden, gingen an der Wirklichkeit vorbei. Solange die Gesellschaft nicht einen fertigen Staatsbürger am Kasernentor abliefere, könne es auch keinen Staatsbürger in Uniform geben.
Auch einer solchen Argumentation muß widersprochen werden. Unsere Verfassung macht alle Bürger gleichermaßen zu Staatsbürgern, ohne sie einer besonderen Qualifikation zu unterwerfen, ab wann sie als solche angesehen werden können. Die Grundreshte stehen jedem Bürger von Geburt an zu. Die Würde des Menschen ist für jedermann unantastbar, sie kann nicht aufgehoben werden, sie ist unveräußerlich. Staatsbürger wird man nicht, man ist es durch das Grundgesetz. Wohl aber gibt es Unterschiede darin, wie weit sich jeder einzelne seiner Rolle als Staatsbürger wirklich bewußt ist.
Nun kann nicht bestritten werden, daß das Konzept des Staatsbürgers in Uniform um so leichter zu verwirklichen ist, je besser jeder einzelne Wehrpflichtige nicht nur seine Rechte, sondern auch seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft kennt; also bewußter Staatsbürger ist. Aber darauf zu warten, daß Elternhaus, Schule, Berufsausbildung diese Voraussetzung erst erfüllen, ehe man Innere Führung in der Truppe praktiziert, ist falsch und illusionär zugleich.
Die Forderung, Staatsbürger in Uniform zu sein, richtet sich zuallererst an den Vorgesetzten. Wenn er verfassungstreu ist, seine Pflichten beachtet, täglich als Beispiel wirkt, wird er um so leichter die Untergebenen an den Staat und seine Ordnung heranführen können.
Erziehung lebt von einem vernünftigen Vorschuß an Vertrauen — was ein ebenso vernünftiges Maß an Kontrolle nicht auszuschließen braucht. Jede Erziehungsarbeit muß von einem idealistischen Impuls getragen sein. Jedes Erziehungsziel hat ideale Komponenten.
Es stellt Forderungen auf, die nicht unerfüllbar sein dürfen, denen gerecht zu werden aber nicht immer gelingt, weil es keine Menschen ohne Schwächen gibt.
Die Besorgnis, die Soldaten der Bundeswehr könnten den Belastungen einer Auseinandersetzung mit einem kommunistisch indoktrinierten Gegner nicht gewachsen sein, führt häufig zu der Forderung, die Bundeswehr müsse ihre Ausbildung und innere Ordnung an der des potentiellen Angreifers ausrichten. Die sowjetischen Verbände lebten unter härtester Disziplin; absoluter Gehorsam und strenge Disziplinarstrafen schüfen eine Truppe, die stärksten Belastungen standhalte und höchste Kampfleistung gewährleiste. Streitkräfte mit einer so „liberalisierten" inneren Ordnung wie die der westlichen Nationen wären ihnen in jedem Falle unterlegen.
Auch diese These macht es sich zu einfach. Kommunistische und demokratisch-rechtsstaatliche Systeme leben in einem unüberbrückbaren geistigen Gegensatz. In einem Wettlauf, Disziplin und Kampfbereitschaft durch Zwang und Strafen zu erreichen, wird uns der Osten immer überlegen bleiben. Unsere Vorstellung von Menschenwürde und unsere Rechtsordnung setzen uns Grenzen, die totalitäre Regime leicht überspringen können. Der Beweis, daß eine überwiegend auf äußerem Zwang und Indoktrination aufgebaute Truppe kampffähiger wäre, ist noch nicht erbracht. Im Gegenteil, Selbständigkeit und Verantwortungsbereitschaft der unteren und mittleren Führung gehen dabei meist zurück, wie es die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg gezeigt haben. Es scheint mir wichtiger, die Soldaten davon zu überzeugen, daß die Wertvorstellungen und Lebensordnung der freien Welt dem Totalitarismus überlegen und trotz der auch ihr innewohnenden Schwächen verteidigungswürdig sind.
Das „Wofür" des Einsatzes ist eine bessere Motivation als das „Wogegen". Gelingt es, diese Erkenntnis zu vermitteln, wird sich der Soldat um so leichter der Disziplin unterwerfen, die die Effzienz moderner Streitkräfte gerade im funktionalen Bereich verlangt.
Daß dies eine schwere Aufgabe ist, wird niemand bestreiten wollen. Sie kann von der Bundeswehr allein nicht gelöst werden. Die Soldaten brauchen hierzu die Zustimmung und die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit. In den fünfziger Jahren hat der aus den USA importierte Begriff der „civil control" einige Verwirrung gestiftet. Er wurde meistens allzu wörtlich mit „Ziviler Kontrolle" übersetzt. Manche glaubten, daraus folgern zu können, der militärische Bereich sei nicht nur politisch, sondern auch „zivil" zu kontrollieren, nämlich von den zivilen Teilen der Exekutive, der Verwaltung. Die bewußte Trennung der Bundeswehrverwaltung von dem Kommando-strang der Streitkräfte gemäß Art. 87 b GG wurde allzu oberflächlich als Bestätigung einer solchen Auslegung angesehen. Dies hat viele unnötige Spannungen hervorgerufen.
Nun kann nicht bestritten werden, daß die Bundeswehrverwaltung de facto ein gewisses Maß an Kontrolle gegenüber den Streitkräften ausübt, und sei es nur durch die Bewirtschaftung zahlreicher wichtiger Geldtitel des Verteidigungshaushaltes. Man kann aber auch nicht leugnen, daß in vergleichbarer Weise die Streitkräfte ihrerseits indirekt die Arbeit der Bundeswehrverwaltung kontrollieren, die ihnen ja zuarbeitet. Ich selbst habe allerdings das Verhältnis zwischen Verwaltung und Truppe niemals als ein System gegenseitiger Kontrolle, sondern immer im Sinne einer zwingenden Zusammenarbeit für eine gemeinsame Aufgabe aufgefaßt. Beide sollten schon auf unterer und mittlerer Ebene eng miteinander verknotet werden. Wenn das aus rechtlichen Gründen institutionell nicht möglich ist, sollte es wenigstens durch die praktische Handhabung des Zusammenwirkens erreicht werden.
Mit „civil control" hat das allerdings nichts zu tun. Die Amerikaner verstehen unter „civil control" in Wirklichkeit „politische" Kontrolle als ein entscheidendes Kriterium jeder Demokratie. Dieser aber unterliegen ohne Ausnahme alle Teile der Exekutive, sie gilt also für Streitkräfte und Bundeswehrverwaltung in gleicher Weise.
Auf einem Mißverständnis ganz anderer Art basiert die Kritik, es sei nicht gelungen, eine wirklich demokratische Armee aufzubauen. Die Armee sei nicht konsequent genug „demokratisiert" worden und daher ein Fremdkörper in unserer Gesellschaft geblieben.
Die Verfechter dieser These haben insofern recht, als in der Tat wesentliche Elemente einer demokratisch-politischen Ordnung in der Bundeswehr keine Anwendung finden. Die Führer werden nicht gewählt, Entscheidungen werden nicht durch Mehrheit getroffen. Der Vorgesetzte befiehlt, der Untergebene gehorcht, wenn auch in den vom Gesetz gezogenen Grenzen. Die militärische Verantwortung der Einheitsführer und Kommandeure ist weitgehend ungeteilt. Diese Regel gilt in allen Armeen der Welt. Streitkräfte können nicht wie eine pluralistische, von Interessen-gegensätzen bestimmte Industriegese! lschaft geführt werden. Natürlich gibt es verschiedene Interessen auch innerhalb einer Armee.
„Spannungen, die daraus entstehen können, werden jedoch durch gesetzlich begründete Pflichten begrenzt, insbesondere durch die Pflicht zum treuen Dienen, zum Gehorsam, zur Disziplin und Kameradschaft." (s. ZDv 10/1, Ziffer 225.) Auf dem Grundprinzip von Befehl und Gehorsam innerhalb einer hierarchischen Struktur beruht die Effizienz der Streitkräfte; ein kooperativer Führungsstil lockert die Gefahr der Einseitigkeit und Starrheit auf.
Das hierarchische Prinzip ist aber auch Voraussetzung für die Durchsetzung des Primats der Politik. Wer eine unkontrollierte, gar auf eigene Faust politisierende Armee nicht will, wer sich die Armee als ein verläßliches Instrument in der Hand der legitimen politischen Führung wünscht, der muß auch sicherstellen, daß der politische Wille ungeschmälert bis in die unterste Ebene hindurchdringt, der muß Befehl und Gehorsam bejahen. Wie anders könnte sonst der Minister seine Befehls-und Kommandogewalt durchsetzen, wie anders könnte er sonst für Vorgänge in der Truppe zur parlamentarischen Verantwortung gezogen werden.
„Es gibt keine demokratische Armee, aber es gibt eine Armee im demokratischen Staat, gebildet aus Offizieren und Soldaten, die überzeugte Träger dieses demokratischen Staates sind." So sagte es der Abgeordnete Richard Jaeger in der 93. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages schon am 28. Juni 1955.
Die Rechte und Pflichten des Soldaten richten sich an den Grundsätzen der Verfassung aus. Einschränkungen von Rechten bedürfen gesetzlicher Regelung; der Rechtsschutz des einzelnen Soldaten entspricht unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Der Primat der Politik ist gesichert. Die parlamentarische Kontrolle der Armee ist intensiver als die anderer staatlicher Einrichtungen. Dem Mißbrauch der Macht ist vorgebeugt, soweit institutionelle Regelungen das vermögen. Das sind die Kriterien einer Armee in einer Demokratie. 7. Ist die „Reform" gescheitert?
In schöner Regelmäßigkeit wird in der Öffentlichkeit die Frage gestellt: Hat sich das Konzept vom Staatsbürger in Uniform durchgesetzt — oder ist es gescheitert?
Viele Fragesteller kommen zu einer negativen Antwort. Ein hoffnungsvoller Ansatz zu einer „großen Reform" habe nicht zum Ziel geführt. Er sei in der Praxis des täglichen Dienstes der Bundeswehr mehr oder weniger „untergegangen".
Solche Urteile gehen meist von der Vorstellung aus, das Konzept des Staatsbürgers in Uniform sei als eine „Reform" von geschichtlicher Bedeutung anzusehen, im Range vergleichbar mit der preußischen Heeresreform von Scharnhorst nach dem Zusammenbruch Preußens im Jahre 1806. Dies zu beurteilen, scheint mir heute noch zu früh zu sein. Eine spätere Zeit wird darüber zu entscheiden haben. Ich persönlich glaube allerdings, daß die Scharnhorst'sche Reform eine größere Dimension aufzuweisen hat als das, was in den fünfziger Jahren konzipiert worden ist. Sie hat auch die Gemüter jener Zeit noch stärker erregt. Wir sollten bescheidener sein.
Natürlich wird niemand bestreiten wollen und können, daß in der Dienststelle Blank neue Gedanken vom Verhältnis des Soldaten zu Staat und Gesellschaft und neue Lösungen für die innere Ordnung einer Armee erarbeitet und vorgeschlagen worden sind. Aber von ihnen gingen keine eigenen politischen Impulse auf die Gestaltung des staatlichen Lebens aus; im Gegenteil, sie leiteten sich konsequent aus der nach 1945 geschaffenen politischen, verfassungsmäßigen und sozialen Ordnung ab und fügten sich in diese ein. Sie fanden die fast einhellige Zustimmung der im Bundestag vertretenen politischen Kräfte der jungen Bundesrepublik Deutschland. Das neue Konzept konnte daher auch fast ohne Abstriche in Gesetze, Vorschriften und Erlasse umgesetzt werden. Diese sind die bindende Grundlage für die Innere Führung in der Bundeswehr geworden. Sie sind von jedem Vorgesetzten und Untergebenen zu befolgen und werden auch befolgt. Der rechtlich fixierbare Teil des Konzeptes ist damit Wirklichkeit geworden. Gilt das auch für die Routine des täglichen Truppendienstes?
Jedermann weiß von Meinungsverschiedenheiten in der Bundeswehr. Wo in der Welt können sich Neuerungen ohne Widerspruch, ohne Diskussion, ohne Kritik dunrchsetzen? Auch bei den Offizieren und Unteroffizieren der Bundeswehr gab es Zweifel und Ablehnung. Manche Beobachter glaubten sogar die Offiziere schematisch in zwei sich befehdende Gruppen aufteilen zu können: Die Reformer auf der einen Seite, die Konservativen auf der anderen. Die Reformer erhielten dabei ein progressives Denken attestiert, die Konservativen — auch Traditionalisten genannt. — wurden in die Ecke der Reaktion gedrängt.
Das aber ist zu simpel gesehen. Es hat nicht zwei abgegrenzte Gruppierungen gegensätzlicher Auffassung gegeben. Der Spannungsbogen war viel differenzierter. Zwischen den beiden Polen einer vollen Zustimmung und kritischer Zurückhaltung bestand eine breite Skala der Meinungen, wie es der Pluralität einer offenen Gesellschaft nun einmal entspricht.
Die Kritik richtete sich dabei meist gegen die „Theorie" der Inneren Führung. Und man muß zugestehen, daß es gerade in der Anfangszeit bedauerlicherweise nicht gelungen ist, die theoretischen Grundlagen des neuen Konzeptes konkret und praxisnah darzustellen. Das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform hat für viele Soldaten erst mit der ZDv 10/1 vom 10. August 1972 greifbare Gestalt gewonnen. Die langjährige interne und öffentliche, mit Emotionen belastete und mit politischen,, rechtlichen und soziologischen Fachausdrük-ken durchsetzte Theoriediskussion hatte zur Folge, daß viele Truppenpraktiker das Wort „Innere Führung" nicht mehr hören wollten und damit den Anschein der Ablehnung erwecktem
Die Praxis aber sah anders aus. So paradox es klingen mag, Innere Führung wurde mehr und besser praktiziert, als man sich in Worten zu ihr bekannte. Die Gesetze und Vorschriften gaben dafür einen festen Handlungsrahmen, die komplizierte technische Ausrüstung erforderte Teamarbeit, Delegierung und Mitverantwortung, das politische und soziale Bewußtsein der jungen Mannschaft und der Umwelt beeinflußte den Stil der Menschenführung und das Arbeitsklima.
Ernste Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung sind natürlich nicht ausgeblieben. In welcher Organisation von fast 500 000 Menschen gäbe es nicht Pannen und unerfreuliche Vorgänge? Die Bundeswehr hat sich nicht gescheut, derartige Vorkommnisse öf-fentlich zu bereinigen und Konsequenzen daraus zu ziehen.
Und gerade das berechtigt zu der Feststellung: Auch in der täglichen Kleinarbeit ist die Innere Führung viel mehr Wirklichkeit, als die Kritiker zugeben möchten. Ja ich meine sogar: Wäre die Bundeswehr nicht bereits mit einem Vorsprung an zeitgemäßer — wenn auch den soldatischen Erfordernissen angepaßter — Menschenführung aufgebaut worden, wäre sie von inneren Erschütterungen nicht verschont geblieben, wie sie Universitäten, Schulen und andere Organisationen in den letzten Jahren erleben mußten.
Graf von Baudissin, der die innere Entwicklung der Bundeswehr immer kritisch beobachtet hat, sagte in seiner Rede vom 10. Februar 1965 in Hamburg anläßlich der Verleihung des Freiherr-vom-Stein-Preises:
„Stellen wir nun am Ende die Frage nach der Bewährung der Inneren Führung. Daß der Aufbau der Bundeswehr eine Achtung gebietende Leistung darstellt, wird von keiner ernst zu nehmenden Seite bestritten. Wer hierin keine Bestätigung der Konzeption sieht, kann nur von der Behauptung ausgehen, daß der Aufbau gegen sie geschah — also im bewußten Ungehorsam gegenüber dem Gesetzgeber."
In der gleichen Rede aber stellt er auch fest:
„Die Verwirklichung des Staatsbürgers in Uniform ist ein notwendiger, langer und differenzierter Verfassungs-und Führungsvorgang." Ich möchte noch weiter gehen. Die Verwirklichung wird überhaupt keinen „Abschluß" finden. Es ist völlig normal, daß die Diskussion um die Innere Führung ständig weiter geht.
Ist doch das Konzept nicht statisch, d. h. einmal fixiert und dann unveränderlich. Innere Führung kann und muß dynamisch verstanden werden. Wenn es richtig ist, daß sie die unveränderten bewährten soldatischen Pflichten und Tugenden zu einer sinnvollen Synthese mit den politischen, technischen und sozialen Gegebenheiten der Gegenwart bringen will, so wird sie von neuen Enwicklungen in Politik, Technik und Gesellschaft nicht unbeeinflußt bleiben können.
Verteidigungsminister Gerhard Schröder hat in seiner schon einmal erwähnten Rede vom 5. Mai 1969 in der Heeresoffiziersschule in München zwischen „den unverzichtbaren Grundlagen der Inneren Führung" und den Elementen, die „der Weiterentwicklung und der Anpassung an die Zeit unterworfen sind", unterschieden und beide Bereiche im einzelnen definiert.
Diese Klarstellung war Anregung und Ausgangspunkt für eine lebhafte Diskussion, ja Auseinandersetzung um eine sinnvolle Anpassung der Inneren Führung an neue Entwicklungen, über die nach dreizehnjährigem Bestehen der Bundeswehr und angesichts einer sich wandelnden politischen Lage und einer sich sprunghaft ändernden Technik auch wirklich geredet werden mußte.
Helmut Schmidt hat die angelaufene Diskussion nach seinem Amtsantritt ermutigt. So sehr die internen und öffentlichen Auseinandersetzungen um die Anpassung der Inneren Führung in den Jahren 1969 bis 1971 die Bundeswehr beunruhigt, ja zeitweise unsicher gemacht haben, so schwierig es für die militärische Führung war, die Diskussion in soldatisch angemessenem Rahmen zu halten, sie hat zur Klärung wesentlich beigetragen. Ohne sie hätte die ZDv 10/1 „Hilfen für die Innere Führung" nicht ihre konkrete Formulierung erhalten und damit einen vorläufigen Fest-punkt geben können. Aber auch diese Vor--schrift ist nichts „Endgültiges". Sie ist vielmehr zugleich ein Ausgangspunkt für eine ausgewogene Weiterentwicklung für eine sinnvolle Fortführung der Inneren Führung. Daraus ergibt sich auch die Antwort auf die als Überschrift dieses Kapitels gestellte Frage. Sie heißt weder ja noch nein. Das Konzept der Inneren Führung ist nicht gescheitert, aber auch nicht endgültig realisiert. Es ist in Bewegung und wird in Bewegung bleiben. Auf der Basis der unverzichtbaren Grundlagen mit der Zielsetzung der Effizienz der Streitkräfte wird immer wieder um zeitgemäße Lösungen in neu zu verwirklichenden Formen und Regelungen gerungen werden müssen. Eines aber hat die Innere Führung mit Sicherheit bewirkt: Alle Soldaten, die seit 1956 durch Truppenteile und Dienststellen der Bundeswehr gegangen sind, gleichgültig ob als Wehrpflichtige oder als freiwillig dienende Soldaten, sind in den Genuß einer Rechtsstellung gelangt, die die Forderung zur Erfüllung der unerläßlichen soldatischen Pflichten mit der Garantie der Erhaltung der staatsbürgerlichen Rechte verbunden und damit sichergestellt hat, daß der Soldat als Mensch und Staatsbürger zugleich ernst genommen wird.
D. Armee im Bündnis
1. 26 Jahre NATO Die Nordatlantische Vertragsorganisation (North Atlantic Treaty Organisation — NATO) besteht nun schon mehr als 26 Jahre. Von zwölf Staaten 1949 gegründet, durch den Eintritt Griechenlands und der Türkei im Jahre 1952 erweitert, erreichte sie im Frühjahr 1955 durch die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland ihre bis heute unveränderte Mitgliederzahl von 15 souveränen Staaten. Nach 20jähriger Gültigkeitsdauer (4. 4. 1969) kann jedes Mitglied mit einjähriger Kündigungszeit aus dem Vertrag ausscheiden. Kein Staat hat bisher davon Gebrauch gemacht. Dies scheint mir ein Beweis dafür zu sein, daß das Bündnis von allen Partnern als erfolgreich und ihren politischen Interessen nützlich angesehen wird und daher fortgeführt werden soll. Und in der Tat hat die Allianz seit nunmehr einem Vierteljahrhundert in Europa einen Zustand des Friedens erhalten und zugleich verhindert, daß die in ihr zusammengeschlossenen Staaten auch nur einen Fußbreit ihres Territoriums der kommunistischen Herrschaft preisgeben oder sich einer politischen Pression beugen mußten. Die Zeit des Bestehens der NATO ist schon jetzt die längste Periode in diesem Jahrhundert, in der es auf dem Boden ihrer Mitgliedstaaten keinerlei militärische Auseinandersetzungen gegeben hat.
Eine Fülle von Büchern, Schriften und Reden aus berufenem Munde hat die Öffentlichkeit über die NATO informiert; ihre Existenz und Zielsetzung sind in der deutschen Bevölkerung allgemein bekannt.
Meine Erfahrungen als die eines Soldaten, der in seiner Laufbahn durch seine verschiedenen Stellungen in der Bundeswehr lange Jahre hindurch mit den politischen und militärischen Organen der NATO eng zusammengearbeitet hat, können dem vielfältigen Bild der NATO nur einige weitere Farbtupfer hinzufügen. Ohne näher auf Geschichte und Entwicklung der NATO einzugehen, seien zunächst einige Kriterien dieser einzigartigen Allianz herausgestellt, deren Kenntnis dem Außenstehenden das Verständnis für ihre Stärken und Schwächen erleichtert.
— Die NATO vereint, wie schon der Name sagt, europäische und amerikanische Staaten beiderseits des Nordatlantiks zu einem engen Bündnis. Die Europäer — überwiegend an kontinentales Denken gewöhnt — müssen sich immer wieder bewußt machen, daß der Atlantik nicht Grenze, sondern Verbindung zum nordamerikanischen Kontinent darstellt, der den eigentlichen Rückhalt der Allianz bildet und ihr erst Basis und Kraft verleiht.
— Voraussetzung für die Solidarität von 15 Partnern so unterschiedlicher Art ist die auf Interessengleichheit beruhende Übereinstimmung in der politischen Zielsetzung. Alle Mitglieder wünschen den Frieden und wollen ihn erhalten. Alle bejahen den Grundsatz, auf Anwendung und Androhung von Gewalt zur Durchsetzung eigener politischer Ziele zu verzichten. Alle sind aber auch bereit, sich gegen jeden, der den Frieden durch Aggression verletzen sollte, zu verteidigen.
— Die NATO war und ist ein auf Defensive ausgerichtetes Bündnis. Bei ihrer Gründung fühlten sich ihre Mitglieder von der kommunistisch totalitär geführten Sowjetunion bedroht, die der alleinige territoriale Nutznießer aus dem Zweiten Weltkriege war und offensichtlich eine eigensüchtige, auf weitere Expansion ausgerichtete Gewaltpolitik betrieb. Der Aufbau eines militärischen Gleichgewichtes und einer ganz Europa und den Nordatlantik umfassenden Verteidigungsorganisation erhielt daher Priorität in den ersten Jahren des Bestehens der Allianz. Auf dieser Grundlage war es möglich, in der Mitte der sechziger Jahre den Versuch einer Entspannung mit den Warschauer Pakt-Staaten zu wagen. Verteidigungspolitik erweiterte sich zu einer Sicherheitspolitik, die beide Komponenten — Entspannung und Verteidigung — einschloß, die Verhandlungen und Kooperation suchte, ohne die erreichte Balance — ein relatives militärisches Gleichgewicht — zu gefährden, so schwierig das auch oft zu sein scheint. Europa weiß, daß ein solches Gleichgewicht ohne die USA und ihre strategischen Waffensysteme nicht denkbar ist. Die USA sind sich bewußt, daß der Verlust der Gegenküste Westeuropas mit seinem Potential an Menschen und Industrie das Gleichgewicht in entscheidender Weise zugunsten der Sowjets ändern würde. Solange diese Erkenntnisse beiderseits des Atlantiks Grundlage des politischen Denkens und Handelns bleiben, wird auch die NATO mit politischem Leben erfüllt sein. — Die NATO ist eine Koalition souveräner Staaten, die sich ohne Verzicht auf ihre nationale Entscheidungsfreiheit zu enger Zusammenarbeit zusammengeschlossen haben. Ein verhältnismäßig kurzer, die nur Grundsätze festlegender Vertrag von 14 Artikeln ist dazu die Grundlage. Man kann ihn als die „Statuten" der Allianz bezeichnen. Sie sind flexibel genug, jeder gewünschten Entwicklung geschmeidig Rechung zu tragen. Ein Rat, dem alle Mitgliedstaaten angehören, kann durch einstimmigen Beschluß alle notwendigen Entscheidungen für den organisatorischen Ausbau wie für gemeinsames Handeln treffen, solange sie sich im Rahmen der „Statuten" halten. Die politische und militärische Organisation des Bündnisses, so wie sie heute besteht, ist das Ergebnis von Beschlüssen des Rates. Sie ist ausbaufähig, aber auch einschränkbar, wie es die Lage jeweils erfordert, ohne daß es einer Vertragsänderung mit erneuter Ratifizierungsverpflichtung bedürfte. Nur so war es möglich, bei Erhaltung der nationalen Souveränität wesentliche Teile der Streitkräfte der Mitgliedstaaten für Frieden und Krieg einer gemeinsamen operativen Verteidigungsplanung und -führung zu unterstellen, d. h. sie militärisch zu integrieren.
Diese Mischung von politischer Koalition und militärischer Integration ist ein besonderes Charakteristikum der Allianz; sie ist ohne Vorgang in der Geschichte, nicht ohne Komplikation in Organisation und Arbeitsweise und doch bemerkenswert effektiv. Sie setzt allerdings die Bereitschaft zu ständiger offener und vertrauensvoller Konsultation voraus, auch über politische Vorgänge, die sich außerhalb des NATO-Gebietes abspielen, aber von besonderem Gewicht für einen der Mitgliedstaaten sind und damit mittelbar auch das Bündnis berühren. Immer dann ist es zu Krisen in der Allianz gekommen, wenn die Verpflichtung zur Konsultation vernachlässigt worden ist. — Die für die politische Entscheidungen geforderte Einstimmigkeit hat Vor-und Nachteile zugleich. Sie verhindert, daß einzelne Mitglieder überstimmt werden können. Sie sichert damit die Berücksichtigung der lebenswichtigen Interessen auch der Minderheit und zwingt zu Kompromissen, die von allen Partnern akzeptiert werden können. Solche Beschlüsse können dann auch von allen mitgetragen werden; sie haben längeren Bestand. Die Entscheidungsfindung selbst aber ist schwerfällig und langwierig. Sie bedarf oft eingehender Vorbereitung und Beratungen.
Sie erschwert kurzfristige Reaktionen.
— Es besteht Übereinstimmung zwischen den Allianzpartnern, daß Mitgliedstaat ei jeder -
nen Beitrag zu den gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen zur Verfügung zu stellen hat. Er kann nicht für alle quantitativ genau gleich sein. Von den USA erwartet man selbstverständlich mehr und anderes als von Luxemburg. Aber es muß vergleichbar sein, d. h. einen der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Mt-
gliedstaates angemessenen und dadurch mit den Partnern vergleichbaren Anteil darsteilen. Nur vergleichbare Lasten rechtfertigen die Erwartung, daß die Beistandsverpflichtung im Falle eines bewaffneten Angriffs von allen Partnern ernst genommen wird.
Die Zusammensetzung der einzelnen militärischen Beiträge wird in regelmäßigen Abständen innerhalb der Allianz gemeinsam beraten und beschlossen. Dabei legt jeder Staat seine planerischen Unterlagen über Finanzmittel, Personalumfang, Organisation und Ausrüstung der Streitkräfte in allen Einzelheiten offen. Was man früher selbst gegenüber guten Freunden streng geheim hielt, nämlich die militärischen Daten der eigenen Verteidigungsstruktur, ist heute innerhalb der Allianz allen genau bekannt. Das stärkt das Vertrauen und den Zusammenhalt innerhalb des Bündnisses. Nicht jeder Staat kann alle Arten von Waffensystemen zur gemeinsamen Verteidigung beisteuern. Er braucht es auch nicht. Sein Beitrag kann seinen legitimen nationalen Interessen und Bedingungen gerecht werden, muß aber zugleich in das Gesamtkonzept des Bündnisses eingepaßt sein. So gibt es Staaten mit eigenen nuklearen Waffen und solche ohne; über strategische Bomber, und Flugzeugträger verfügen nur wenige Mitglieder. Manche Länder legen größeres Gewicht auf ihre Marine oder die Luftwaffe, andere wiederum auf die Landstreitkräfte.
Es besteht also schon seit langem ein gewisses Maß an gewollter Arbeitsteilung innerhalb der Allianz. Die Zusammenfassung der Waffensysteme aller Partner — konventionell und nuklear — zu einer „kollektiven Verteidigungsmacht" macht die Erarbeitung und Realisierung einer gemeinsamen Strategie möglich, aber auch nötig.
Sicherlich könnte und sollte die Arbeitsteilung noch systematisch erweitert werden. Sie hilft, die zur Verfügung gestellten Haushaltsmittel mit höherer Effektivität zu verwenden. Sie schafft aber auch gegenseitige Abhängigkeiten, vor allem der kleineren Staaten gegenüber den größeren. Die Arbeitsteilung stößt daher solange noch an Grenzen durchaus legitimer nationaler Interessen, wie es nicht arbeitsfähige und bevollmächtigte Institutionen für eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik gibt. — Ein Bündnis, in dem 15 Staaten unterschiedlicher Größe, geographischer Gegebenheiten, Wirtschaftskraft und politischer Struktur vereinigt sind, kann von inneren Spannungen nicht verschont bleiben. Einige Staaten haben weltweite Verantwortlichkeiten, für andere stehen regionale Probleme im Vordergrund ihres Blickfeldes. Nicht nur sicherheitspolitische Interessen geraten in Wiederspruch. Auch Handels-und währungspolitische Probleme, selbst innenpolitische Abhängigkeiten können Ausgangspunkt ernster Meinungsverschiedenheiten sein. So hat es in der 25jährigen Geschichte des Bündnisses immer wieder große und kleine Krisen gegeben. Man erinnere sich an das selbständige Vorgehen Frankreichs und Großbritanniens gegen Ägypten im Jahre 1956, an die Entscheidung de Gaulles 1966, sich aus der militärischen Integration vollständig zurückzuziehen und die auf französischem Boden befindlichen NATO-Dienststellen zum Verlassen des Landes innerhalb Jahresfrist aufzufordern, an die Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Griechenland um Zypern, an die Forderungen Islands auf Erweiterung seiner Fischereizonen. Dies sind nur einige Beispiele. Jedesmal wurde der NATO Versagen vorgeworfen und ihr Zusammenbruch vorausgesagt.
Die Spannungen innerhalb des Bündnisses sollen nicht hinwegdiskutiert werden. Sie sind dem Bündnis durchaus immanent. Bisher aber ist es immer gelungen, derartige Schwierigkeiten zu bewältigen, sie „unter Freunden" zu Lösungen zu führen, die die Allianz letztlich unversehrt ließen und ihre politischen Ziele nicht gefährdeten. Die NATO-weite integrierte militärische Kommandostruktur hat sich dabei als ein festes Gerüst bewährt, das die Allianz in Zeiten politischer Schwächen vorübergehend zu tragen in der Lage war.
Zur Zeit ist das Bündnis in keinem guten Zustand. Einige Länder stellen nationale Interessen über die Belange der Gemeinschaft, andere kündigen die Verringerung ihrer Verteidigungsanstrengungen an und gefährden damit das sowieso schon so labile Gleichgewicht zwischen Ost und West. Das Mittelmeer bereitet ernste Sorgen. Die Spannung zwischen Griechenland und der Türkei ist noch nicht bewältigt. Italien befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise; eine Beteiligung von Kommunisten an der Regierung ist nicht mehr auszuschließen. In Portugal ist der Ausgang des revolutionären Umbruchs noch nicht abzusehen und der zukünftige Weg Spaniens ist ungewiß. Der Zusammenhalt des Bündnisses ist zumindest regional gefährdet.
Und doch gibt es keine Alternative zur atlantischen Allianz, wenn wir weiter in Freiheit und Sicherheit leben wollen. Europa bedarf des atomaren Schutzschirms der USA und eigener militärischer Anstrengungen auf dem konventionellen Gebiet. Nur so kann Europa politischen Pressionen oder gar einer militärischen Aggression aus dem Osten widerstehen. Die USA ihrerseits würden ohne Westeuropa ihre Führungsrolle in der Welt verlieren und von der Sowjetunion überflügelt werden. Keine Anstrengung darf zu gering sein, die Allianz zu stärken und die Brücke, die Europa und Amerika miteinander verbindet, zu erhalten. Der Bundesrepublik Deutschland ist bei diesen Bemühungen eine bedeutungsvolle Rolle zugefallen.
2. Zur Strategie der „flexible response“
Es ist eine der bemerkenswertesten Leistungen der Allianz, daß es ihr gelungen ist, Strategien zu entwickeln, in denen alle Partner, die sich an der integrierten militärischen Verteidigung beteiligen, ihre eigenen Interessen in ausreichender Weise berücksichtigt fanden, und denen sie daher zustimmen konnten. Strategien sind nicht statisch, sondern als Gesamtkonzept wie in Einzelfragen veränderbar. Neue politische, militärische und technische Entwicklungen können, ja müssen zu Konsequenzen für das strategische Konzept führen. Als sich die USA noch auf ihre eindeutige atomare Überlegenheit verlassen konnten, galt die Doktrin der massiven Vergeltung (massive retaliation). Sie glaubte es sich leisten zu können, die konventionelle Verteidigung zu vernachlässigen, weil sie jedem nuklear unterlegenen Angreifer einen vernichtenden atomaren Vergeltungsschlag androhen konnte, ohne den Verteidiger selbst lebensbedrohend zu gefährden. Das rasche Aufholen der Sowjetunion in der nuklearen Rüstung machte diese Strategie spätestens beim Über-gang der fünfziger in die sechziger Jahre unglaubwürdig. Die Erarbeitung einer neuen Strategie dauerte mehrere Jahre. Erst 1967 — nach dem Ausscheiden Frankreichs aus der militärischen Integration — konnte die neue Strategie der angemessenen Reaktion (flexible response) abschließend formuliert und verabschiedet werden. Das Weißbuch der Bundesregierung 1970 beschreibt sie wie folgt: „Der einseitige nukleare Akzent wurde aufgegeben. Ausgewogene Streitkräfte — konventionelle wie nukleare — sollten nun die glaubwürdige Abschreckung jeder Aggression bewirken und eine angemessene Reaktion auf jede Art von Druck oder Angriff ermöglichen . . .
Laut NATO-Definition beruht sie (die Doktrin) auf zwei Grundsätzen: Der erste Grundsatz besteht darin, jeder Aggression durch eine direkte Verteidigung auf etwa der gleichen Ebene entgegenzutreten, und der zweite darin, durch die Möglichkeit der Eskalation abschreckend zu wirken. Es ist das wesentliche Merkmal der neuen Strategie, daß ein Angreifer davon überzeugt sein muß, die NATO werde erforderlichenfalls Kernwaffen einsetzen, jedoch muß er gleichzeitig hinsichtlich des Zeitpunktes und der Umstände dieses Einsatzes im Ungewissen bleiben . . .
Die Strategie der flexiblen Reaktion kennt keinen militärischen Automatismus. Sie beläßt der politischen Führung die Möglichkeit, nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel alle von ihr für notwendig erachteten Maßnahmen zu ergreifen. Sie schreckt ab, ohne für den Fall des Versagens der Abschreckung die Verteidigung unglaubwürdig zu machen."
Es kann nicht deutlich genug herausgestellt werden, daß diese Strategie keinerlei offensive Zielsetzung kennt. Sie denkt auch nicht — wie die Operationsplanungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts — an eine totale Vernichtung des Feindes, nicht einmal in den Kategorien von Sieg und Niederlage. Sie ist ausschließlich defensiv und dient primär der Abschreckung. Wird der Frieden dennoch gebrochen, soll sie die Unversehrtheit des eigenen Gebietes wahren oder wiederherstellen.
Die Bundesregierung hatte durch ihre diplomatischen und militärischen Experten an der Erarbeitung der Strategie der „flexible response" intensiven Anteil genommen. Sie hab mitgeholfen, daß ein ausgewogener Kompromiß zwischen den zunächst nicht immer deckungsgleichen amerikanischen und europäischen Vorstellungen gefunden werden konnte. Diese Ausgewogenheit gilt es auch in Zukunft zu erhalten. Muß doch die Strategie laufend auf ihre Richtigkeit, Anwendbarkeit und Glaubwürdigkeit überprüft werden.
Für die Verteidigung Mitteleuropas sind bestimmte Elemente der gemeinsamen Strategie von lebenswichtiger Bedeutung. Sie sind von der deutschen militärischen Führung — meist in Übereinstimmung mit den führenden Militärs der Verbündeten — immer wieder nachdrücklich vertreten worden. Sie seien nachfolgend dargestellt.
Military capabilities — political intentions
In der Beurteilung der dem Warschauer Pakt (WP) zur Verfügung stehenden militärischen Kräfte — military capabilities genannt — besteht weitgehende Übereinstimmung innerhalb der Allianz.
Der militärische Kräftevergleich Ost-West gibt allen Anlaß zur Beunruhigung. Die Sowjetunion rüstet planmäßig weiter auf, und zwar in einem Tempo und in einem Ausmaß, die über ihre Sicherheitsbedürfnisse — und damit sind ihre Verteidigungsbedürfnisse gemeint — hinausgehen. Dies gilt in erster Linie für die maritime und atomare Rüstung. Die Sowjetunion hat sich in den letzten zehn Jahren zu einer großen Seemacht mit modernen Schiffen entwickelt, die auf allen Weltmeeren präsent sind. Sie benutzt ihre Flotte bereits im Frieden für politische Aufgaben. Auf dem Gebiet der Nuklearwaffen hat die Sowjetunion die mehr als zwei Jahrzehnte währende amerikanische Überlegenheit aufgeholt. Beide Weltmächte verhandeln nunmehr auf der Basis der Gleichheit (parity) über Möglichkeiten einer Begrenzung der strategischen Waffen. Eine zukünftige atomare Überlegenheit der Sowjetunion zeichnet sich bereits ab.
Ein regionaler, auf Mitteleuropa begrenzter militärischer Kräftevergleich zwischen WP und NATO zeigt bei den konventionellen Waffen ein eindeutiges zahlenmäßiges Über-gewicht des WP, insbesondere an Panzern, Artillerie und taktischen Flugzeugen. Auch die konventionellen Waffen des WP werden laufend verstärkt, während im Westen eine Tendenz zur Verminderung der eigenen Verteidigungsanstrengungen beobachtet werden muß. Die Militärs also schauen besorgt in die Zukunft. Demgegenüber wird gelegentlich in politischen Kreisen — zumindest bei einigen kleineren Nationen — argumentiert, es käme nicht so sehr darauf an, über welche militärischen Mittel der Warschauer Pakt verfüge, sondern wie seine politischen Absichten — „political intentions" — zu beurteilen seien. Diese aber seien doch wohl nicht aggressiv, sondern ausschließlich auf Abdeckung und Stabilisierung des einmal in Europa errichteten Machtbereichs ausgerichtet. Dem könnten die eigenen Verteidigungsanstrengungen angepaßt werden.
Nun mag es zutreffen, daß die Sowjetunion zur Zeit keine militärische Aggression gegen die NATO beabsichtigt. Das Eskalationsrisiko wäre immer noch zu groß. Immerhin hat aber die Invasion der CSSR im August 1968 jedem deutlich gezeigt, daß die sowjetische Führung nach wie vor bereit ist, sich militärischer Mittel zu bedienen, wenn es zur Sicherung lebenswichtiger Interessen notwendig und ein ernstes, den eigenen Bereich bedrohendes Risiko nicht zu erwarten ist. Wenn sie im eigenen Machtbereich gegenüber „Freunden" so rücksichtslos vorgeht, wieviel eher wird sie auch nach außen dazu bereit sein, falls die Umstände günstig sind.
Politische Zielsetzungen können sich gerade in totalitär regierten Staaten rasch ändern, so lange durch ausreichende militärische Mittel die Voraussetzungen dazu gegeben sind. Die militärische Führung muß sich daher verpflichtet fühlen, ihren Beurteilungen und ihren Vorschlägen über den Umfang der eigenen Verteidigungsanstrengungen in erster Linie die „capabilities" eines möglichen Gegners zugrunde zu legen. Die jeweils erkennbaren oder vermuteten politischen Absichten des Gegners werden in den militärischen Beurteilungen durchaus Berücksichtigung zu finden haben.
Abschreckung und Präsenz
Kernstück der NATO-Strategie ist die Verhinderung des Krieges und die Erhaltung des Friedens. Dieses Ziel findet seine Realisierung in dem Prinzip der Abschreckung. Ein möglicher Aggressor muß auf jede nur denkbare Form einer von ihm eingeleiteten militärischen Angriffshandlung eine angemessene militärische Antwort erhalten können, die ihm einen Erfolg versagt und damit seine Aktion mit einem im voraus nicht zu kalkulierenden Risiko belastet. Diese auf Defensive ausgerichtete Strategie legt dem Verteidiger eine schwere Last auf. Sie überläßt dem Angreifer die strategische und taktische Initiative. Der Verteidiger kann nur re-agieren. Er hat daher das volle Spektrum aller militärischen Mittel — konventionelle, taktisch-und strategisch-nukleare Streitkräfte — jederzeit sofort einsatzbereit zur Verfügung zu halten. Hohe militärische Präsenz und rasche politische Entscheidungsfähigkeit sind die konsequenten Folgerungen aus dem defensiven Konzept der Allianz.
Alliierte Streitkrälte auf deutschem Boden
Wo die stärkste Truppenkonzentration der Welt anzutreffen ist, nämlich in Mitteleuropa beiderseits der Linie Lübeck—Passau, muß auch die Abschreckung am überzeugendsten demonstriert werden. Die Anwesenheit der Streitkräfte von sechs verbündeten Staaten (USA, Großbritannien, Belgien, Niederlande, Kanada, Frankreich) auf dem Boden der Bundesrepublik findet darin ihre Begründung und Rechtfertigung. Die Verteidigungsplanung sieht vor, daß — von den Franzosen und der zahlenmäßig kleinen kanadischen Kampfgruppe abgesehen — die Verbände aller hier präsenten Nationen einen Verteidigungsabschnitt unmittelbar an der Grenze zum Warschauer Pakt zu übernehmen haben. Ein Angriff des WP trifft damit nicht nur auf die Bundeswehr, sondern von Anfang an auf Truppen der ganzen Allianz. Es liegt im deutschen wie alliierten Interesse, daß an diesem Grundatz nichts geändert wird. In ihm sehe ich das stärkste Element der Abschreckung in unserem Raum.
Die wichtigste Rolle für die Sicherheit in Europa fällt den amerikanischen Truppen zu. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, mehr als ein Vierteljahrhundert lang, haben die Vereinigten Staaten mehrere Hunderttausend Soldaten in Europa stationiert, davon z. Z. über 200 000 Mann des Heeres und der Luftwaffe allein in Mitteleuropa. Mehrere Tausend Atomsprengköpfe verschiedenen Kalibers sind auf unserem Territorium gelagert. Für die Unterhaltung dieser Streitkräfte fließt ein beträchtlicher Strom von US-Dollars in europäische Länder und wird hier in europäische Währung umgesetzt. Würde man von der Bundesrepublik eine vergleichbare Leistung verlangen, so würde das bedeuten, daß rd. 50 000 Soldaten der Bundeswehr ständig in einem anderen Kontinent stationiert und dort unterhalten werden müßten. Die deutsche Öffentlichkeit und der deutsche Bundestag würden über die Notwendigkeit einer derartigen Anstrengung und die damit entstehenden Kosten eine permanente und höchst kritische Diskussion führen.
Es kann daher nicht überraschen, ja es ist legitim, daß das auch in den Vereinigten Staaten geschieht. Man fragt sich dort, ob der Aufwand einer so großen Truppenstationierung in Europa politisch und militärisch noch gerechtfertigt sei, und ob das wirtschaftlich und militärisch erstarkte Europa nicht einen größeren Teil der Verteidigungslasten selbst übernehmen und damit die USA entlasten könnte. Eine solche Diskussion allein ist noch kein Zeichen für mangelndes Engagement oder Interesse an der gemeinsamen Verteidigung.
Auf der anderen Seite müssen die Europäer ihre amerikanischen Freunde immer wieder davon überzeugen, daß es für die Anwesenheit von US-Truppen auf unserem Kontinent keinen Ersatz gibt. Selbst wenn die Europäer bereit und in der Lage wären, abgezogene amerikanische Truppen durch eigene zusätzliche Verbände zu ersetzen, selbst wenn die Amerikaner ihren Luft-und Schiffstransportraum noch weiter vervollkommnen und dies mit der festen Zusage verbinden würden, amerikanische Truppen im Falle einer Krise frühzeitig nach Europa zurückzuführen, wäre die politische Wirkung einer drastischen Reduzierung oder gar eines vollen Abzugs amerikanischer Truppen katastrophal. Amerikanische Truppen in Europa sind das entscheidende Mittel, Abschreckung und Solidarität in der Allianz sichtbar zu machen. Der Angreifer aus dem Osten muß wissen, daß er bei jedem Angriff, selbst bei dem Versuch, überraschend ein „fait accompli“ zu schaffen, immer auch auf amerikanische Streitkräfte stoßen und damit die militärische Konfrontation mit den USA riskieren würde.
Gleich gefährlich wäre der Verzicht auf die Stationierung von taktischen Atomköpfen auf europäischem Boden. Sie sind das unerläßliche Zwischenglied zwischen den konventionellen Streitkräften in Europa und den strategischen Nuklearwaffen der USA. Sie garantieren die Lückenlosigkeit der Abschreckung und die Möglichkeit zur stufenweisen Eskalation im Rahmen der Strategie der „flexible response".
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Hinweis auf die strategische Bedeutung von Berlin. Ein größerer Angriff gegen die mitteleuropäische Front der NATO kann West-Berlin mit seinen alliierten Garnisonen nicht unbehelligt im Rücken der Angriffsfront liegen-lassen. Schon seine Einschließung oder Isolierung unterbricht die vertraglich vereinbarten Verbindungswege zu Lande und in der Luft. Eine Wegnahme Berlins aber hätte einen hohen Eskalationswert. Sie verpflichtete die USA schon in einem sehr frühen Stadium einer militärischen Auseinandersetzung zur Einlösung ihrer von allen Präsidenten persönlich abgegebenen politischen Garantieerklärung. West-Berlin mit seinen alliierten Garnisonen bedeutet daher einen der wirkungsvollsten Abschreckungsfaktoren für den ganzen Westen. Nicht umsonst richtet Moskau immer wieder seine Bemühungen auf eine Veränderung des politischen und militärischen Status'von West-Berlin.
Die Vereinigten Staaten sind und bleiben unser wichtigster Verbündeter. Die fast zur Routine gewordenen Zweifel an der vollen Bereitschaft der USA zum konventionellen und nuklearen Engagement für Europa sind nicht berechtigt, ja sogar gefährlich. Man kann auch nachlassende Bereitschaft „herbeireden". Die USA haben ein derartiges Mißtrauen nicht verdient. Sie wissen wie wir, daß die USA auch in Europa verteidigt werden. Würde Europa mit seinen Menschen, seinem Industriepotential und seiner geistigen Kapazität unter sowjetische Kontrolle geraten, wären nicht nur die Führungsrolle der USA, sondern auch ihre eigene Sicherheit lebensgefährlich bedroht. Aber auch die Europäer haben ihren Anteil zu tragen. Ihre Verteidigungsbemühungen dürfen nicht hinter dem amerikanischen Engagement Zurückbleiben.
Politischen Antiamerikanismus zu betreiben, hieße unsere Sicherheit aufs Spiel zu setzen.
VorneVerteidigung Keine deutsche Bundesregierung hätte sich für eine Aufstellung von Streitkräften und ihre Eingliederung in das Bündnis einsetzen können, wenn damit nicht sichergestellt worden wäre, daß das eigene Territorium so weit vorne, also ostwärts, wie möglich verteidigt wird. In der NATO-Strategie hat diese Forderung, die selbstverständlich auch von ande42 ren grenznahen Bündnispartnern erhoben wird, in dem Prinzip der „forward defence" ihren Niederschlag gefunden.
Die zutreffendste Übersetzung hierfür ist „Vorneverteidigung". Diese Bezeichnung gibt unmißverständlich wieder, was wirklich gemeint ist. Vorneverteidigung nämlich bedeutet eine defensive Operationsführung, bei der der Abwehrkampf unmittelbar an der Grenze beginnt und kein Territorium kampflos aufgegeben wird. Vorneverteidigung also ist nicht Verteidigung „nach vorwärts", sondern Verteidigung „von vorne".
Es hat Jahre gedauert, bis eine solche Operationsplanung in Mitteleuropa realisiert werden konnte. Als im Mai 1955 die Bundesrepublik Deutschland Mitglied der Allianz wurde, war eine nachhaltige Verteidigung erst tief im Westen der Bundesrepublik vorgesehen. Weiter vorwärts sollte es nur Verzögerungskämpfe geben, ja für Teile des Bundesgebietes war eine kampflose Räumung vorgesehen. Die äußerst geringe Zahl der damals zur Verfügung stehenden militärischen Kräfte ließ eine andere Lösung wohl auch kaum zu.
Im Sommer 1957, etwa zum Zeitpunkt der Assignierung der ersten drei Divisionen der Bundeswehr unter NATO-Kommando, forderte General Heusinger in einem Schreiben an den damaligen SACEUR, General Lauris Norstad, die schrittweise Durchsetzung des Grundsatzes der Vorneverteidigung in Mitteleuropa. Norstad sagte dies zu. Als ersten Schritt ordnete er daß deutsches an, Territorium nicht mehr kampflos preisgegeben werden dürfte. Der konsequenten Einflußnahme es verdanken, daß deutscher Generale ist zu schließlich im Jahre 1963 zum erstenmal ein Operationsplan in Kraft gesetzt werden konnte, dem eine deutschen Vorstellungen gerecht werdende Vorneverteidigung zugrunde lag.
Gerade wir Deutschen sollten hieran mit allem Nachdruck festhalten. Die Zustimmung der deutschen Öffentlichkeit zu den geforderten Verteidigungsanstrengungen ist mit der Vorneverteidigung auf das engste verknüpft. Ich habe es daher immer für einen Fehler gehalten, wenn von militärischen Fachleuten wie von Politikern argumentiert wurde, man werde die Vorneverteidigung nicht aufrechterhalten können, falls bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt würden, falls z. B. die Truppen verringert, -der Verteidigungshaushalt gekürzt oder eine Modernisierung von Material verweigert würde. Für den Fall nämlich, daß die befürchteten Mängel trotz der Warnung doch eintre43 ten, besteht nur allzu leicht die Gefahr, daß die Verteidigungsplanung dann auch tatsächlich geändert wird.
Der Erfolg einer Vorneverteidigung hängt von verschiedenen Elementen ab, nämlich von der politischen und militärischen Zielsetzung des Angreifers, der Zahl und Qualität der zum Angriff angesetzten Streitkräfte, schließlich der Zahl und Qualität der für die Verteidigung verfügbaren Verbände. Je stärker der Angreifer und je schwächer der Verteidiger, um so geringer wird die Chance, bereits vorne einen Erfolg im Abwehrkampf zu erzielen.
Niemand wird daher die Augen davor verschließen, daß eine Minderung der eigenen Mittel einen nachteiligen Einfluß auf die Erfolgsaussicht der Vorneverteidigung haben muß. Man sollte aber nicht zulassen, daraus die Folgerung zu ziehen, nicht mehr mit einem ernst gemeinten Abwehrkampf unmittelbar an der Grenze beginnen zu wollen. Unzureichende Verteidigungskräfte gefährden einen Abwehrerfolg weiter rückwärts ebenso wie weiter vorne. Bleibt doch das Kräfteverhältnis Feind-Freund in beiden Fällen gleich. Je früher und nachhaltiger aber einem Angreifer, selbst mit unterlegenen Kräften, entgegengetreten wird, um so deutlicher wird die Entschlossenheit des ganzen Bündnisses demonstriert, einer Aggression zu widerstehen, um so deutlicher wird auch dem Aggressor das Eskalationsrisiko vor Augen geführt. Die Vorneverteidigung daher auch Ele ist ein -ment der Abschreckung. Für die Bundesrepublik Deutschland ist sie schlechthin unverzichtbar. Um ihr allerdings auch Erfolgschancen zu geben, bedarf es eines ständigen Bemühens um ein ausreichendes Maß an militärischen Kräften konventioneller und nuklearer Art.
Integration
Das allgemein benutzte Fremdwort Integration wird meist mit dem Ausdruck „Verschmelzung" übersetzt. Dies deckt auch den Sachverhalt am zutreffendsten. Es verschleiert aber, daß der Begriff Integration verbindlich nicht definiert ist. So gibt es, zumindest im militärischen Bereich, durchaus Verschiedene Stufen der Integration. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft z. B. sah seinerzeit einen hohen Grad an Verschmelzung der europäischen Streitkräfte vor. Der Vertragstext sprach von „Fusionierung". Sie war die logische Konsequenz aus der beabsichtigten Schaffung einer supranationalen Streitmacht unter einem europäischen Verteidigungskommissariat.
Atlantische Allianz als eine Koalition Die souveräner Staaten kann so weit nicht gehen. Die Streitkräfte ihrer Mitglieder bleiben als nationale Streitkräfte grundsätzlich dem nationalen Oberbefehl unterworfen. Durch freiwillige — im übrigen widerrufbare — Entscheidungen haben sich die Regierungen der meisten Mitgliedstaaten verpflichtet, die Gesamtheit oder Teile ihrer bewaffneten Macht für die gemeinsame Verteidigung der NATO zur Verfügung zu stellen und sie hierzu von einem bestimmten Zeitpunkt an und für bestimmte Aufgaben gemischt zusammengesetzten NATO-Kommandobehörden zu unterstellen. Die Bundesrepublik Deutschland ist immer ein überzeugter Verfechter der Integration gewesen. Politische und militärfachliche Gründe sprechen gleichermaßen dafür. Wie könnten Streitkräfte von sieben verbündeten Nationen (einschließlich der Bundeswehr) auf dem engen Boden der Bundesrepublik zu gemeinsamem Handeln zusammengeführt werden, wenn nicht durch integrierte operative Planung und Führung? Wie anders könnte in der Gesamtverteidigung der Zusammenhang von konventioneller und nuklearer Abschrekkung, Eskalation und Kampfführung glaubhaft deutlich gemacht werden? Wird nicht die durchaus vage formulierte Beistandsverpflichtung des Art. 5 des Nortatlantikvertrages präziser, verpflichtender und für die dem WP unmittelbar benachbarten Staaten politisch bedeutungsvoller durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für ihre Streitkräfte eine gemeinsame Verteidigungsplanung zu akzeptieren und damit schon im Frieden den Mindestrahmen ihres militärischen Beistandes festzulegen?
Ich habe immer bedauert, daß die Integration Gebiete soll nicht noch weitere umfaßt. Zwar -ten das Personalwesen und die innere Ordnung der Armee unter nationaler Verantwortung bleiben. Sie erwachsen aus den Wurzeln der Nation und werden von dort her gespeist. Sie entziehen sich noch auf lange Sicht einer Integration. Dagegen halte ich es für eine ernste Lücke, daß die Erhaltung der materiellen Kampfkraft der Streitkräfte, das weite Gebiet der Logistik also, der integrierten Führung entzogen bleibt. Es gibt gewichtige Gründe dafür. Integrierte Logistik ist ohne gemeinsame Finanzierung nur schwer vorstellB bar. Die EVG wollte den Schritt zum gemeinsamen Verteidigungshaushalt wagen. In der NATO sind die nationalen Widerstände noch zu groß. Nichtintegrierte Logistik aber engt die Flexibilität der operativen Führung ein. Sie erschwert die freie operative Verwendung der unterstellten Kontingente; sie kann den Abwehrerfolg gefährden.
Gegner der Integration wehren sich gerade gegen den Kern des Vorgangs. Sie kritisieren, daß sich die Regierungen eines Teils der Verfügungsgewalt über ihr wichtigstes staatliches Machtinstrument begäben. Die nationale Sicherheit geriete in die Abhängigkeit von Entscheidungen internationaler Gremien, sie sei möglicherweise einem verhängnisvollen militärischen Automatismus unterworfen.
Diese Ablehnungsgründe können nicht überzeugen, auch nicht, wenn sie von den Franzosen vorgetragen werden, die durch ihre geographische Lage begünstigt sind. Wenn es richtig ist, daß nur noch die USA und die Sowjetunion ihre Sicherheit aus eigener Kraft gewährleisten können, dann befinden sich bereits alle mittleren und kleinen Mächte in einem sicherheitspolitischen Abhängigkeitsverhältnis. Sie müssen sich zusammenschließen und an einen großen Partner anlehnen. Das Sicherheitsbedürfnis des großen Verbündeten muß dann mit dem der kleineren abgestimmt und ausbalanciert werden. Und gerade das geschieht über die Integration, jedenfalls soweit es die Verteidigungsplanung angeht. Operative Planung spielt sich ja nicht im luft-leeren Raum ab. Die Oberbefehlshaber der planenden und im Verteidigungsfall führenden Kommandobehörden können nur im Rahmen von militärischen Aufträgen handeln, die ihnen vom NATO-Rat und Military Committee erteilt werden, die also durch einstimmigen Beschluß zustande gekommen sind. Die Ergebnisse der Planungen werden den betroffenen Regierungen zur Kenntnis gebracht. Damit kann auch in einer integrierten Militärorganisation jede Regierung rechtzeitig ihre Stimme erheben, ihre nationalen Interessen vorbringen und auf Berücksichtigung dringen. Die Bundesregierung hat davon erst zögernd, dann vermehrt Gebrauch gemacht. Die Durchsetzung der Vorneverteidigung ist dafür ein überzeugendes Beispiel.
Die Strategie der „flexible response" enspricht unseren Interessen und Notwendigkeiten. Es gibt für sie keine Alternative, solange der Osten über ein weites Spektrum verschiedener Angriffsmöglichkeiten verfügt. Es wäre daher falsch, den Stimmen zu folgen, die für NATO oder gar für Europa allein eine neue Militärstrategie fordern. Das schließt eine der politischen und technischen Entwicklung folgende laufende Überprüfung der Interpretation und Anwendung der Strategie der flexible response nicht aus. Gerade die Bundesrepublik Deutschland als das in einer militärischen Auseinandersetzung zuerst und am meisten betroffene Land wird dazu einen wichtigen Beitrag zu leisten haben.
Wie aber sollte nun die Strategie in Mitteleuropa angewendet werden, um unserem Sicherheitsbedürfnis am besten gerecht zu werden? — Wir brauchen das volle Spektrum der Abschreckung auf allen Ebenen; sie umfaßt den konventionellen, taktisch-nuklearen und strategisch-nuklearen Bereich in gleicher Weise. Der Gegner muß wissen, daß die Allianz lükkenlos abschrecken kann.
— Wir brauchen die unmißverständliche Bekundung des gemeinsamen politischen Willens, die zur Verfügung stehenden Mittel wirklich einzusetzen, wenn der Frieden gebrochen werden sollte.
Der Gegner muß wissen, daß die Allianz zum Verteidigungskampi auf allen Ebenen auch bereit ist.
— Wir brauchen die feste Verkoppelung Europas mit den USA in Abschreckung und Verteidigung.
Der Gegner darf nicht daran zweifeln können, daß jeder Angriff — wo auch immer — die ganze Allianz, einschließlich der USA, trifft. — Sollte der Gegner dennoch den Frieden brechen, kommt es zunächst darauf an, den Angriff zu identifizieren, d. h. das politische Ziel und den Umfang der eingesetzten Mittel aufzuklären. Dem Angriff ist. sofort mit angemessenen Mitteln so weit ostwärts wie möglich energisch entgegenzutreten, etwa verlorenes Territorium ist wiederzugewinnen.
Der Gegner muß die Entschlossenheit der Allianz, sich zu verteidigen, notfalls auch im Kampf erfahren.
— Setzt der Gegner seinen Angriff fort und zeichnet sich die Gefahr ab, daß lebenswichtige Teile des eigenen Landes verloren zu ge45 hen drohen, ist die Abschreckung durch schrittweise Anwendung der Eskalation zu verstärken; damit ist der Zeitpunkt für den ersten, allerdings sehr begrenzten Einsatz von Atomwaffen im taktisch-defensiven Bereich gekommen. Er muß mit einer politischen Erklärung verbunden sein, die die Entschlossenheit der Allianz zur Verteidigung mit allen Kräften, einschließlich der atomaren Mittel, deutlich macht.
Der Gegner muß mit der Gefahr der vollen Eskalation konfrontiert werden.
— Verfehlt auch diese Drohung ihre Wirkung, ist es für alle offensichtlich, daß der Angreifer ein weitreichendes politisches Ziel, d. h. mindestens die Eroberung von ganz Mitteleuropa verfolgt. Eine die letzten Tiefen auslotende politische Entscheidung, die den strategischen Atomschlag einschließen kann, ist dann unvermeidlich.
Ich bin allerdings fest überzeugt, daß diese äußerste Entscheidung gar nicht erst getroffen zu werden braucht, wenn die ersten Schritte, wie eben entwickelt, mit Entschlossenheit und in voller Solidarität gegangen werden. An dem Erfolg der Abschreckung braucht nicht gezweifelt zu werden, solange sie im Frieden, in der Krise und auch noch nach Beginn militärischer Auseinandersetzungen so glaubwürdig gehandhabt wird, daß der Angreifer von dem Kämpfenkönnen und dem Kämpfenwollen des Verteidigers überzeugt wird und daher die letzten Schritte nicht geht.
Um den genannten Grundsätzen auch gegenüber der wachsenden militärischen Stärke des Warschauer Paktes Wirksamkeit zu verleihen, müssen das Bündnis, und in ihm alle Mitgliedstaaten, ihre Verteidigungsstrukturen auf folgende Ziele hin ausrichten:
— Stärkung der konventionellen Kräfte; zumindest aber muß einer einseitigen Verminderung vorgebeugt werden;
— Verbesserung der konventionellen Feuer-kraft, insbesondere in der Panzer-und Luftabwehr; — intensive Vorbereitungen für Verstärkungen der Land-und Luftstreitkräfte in Spannungszeiten durch Mobilmachung und Heran-führung von Ubersee;
— bessere Nutzung der Verteidigungshaushalte durch sinnvolle Arbeitsteilung, gemein-B same Forschung und Entwicklung, mehr Standardisierung und integrierte logistische Führung-, — Beibehaltung einer bemerkenswerten Zahl von taktischen Atomwaffen in Europa;
E. Crisis Management Crisis Management ist spätestens seit der Kennedy-Periode ein bekannter und viel diskutierter Begriff geworden. In einer Zeit des atomaren Gleichgewichts, in der Kriege zwischen Großmächten und Blöcken ein nicht mehr zu kalkulierendes Risiko darstellen, hat Crisis Management zunehmend an Bedeutung gewonnen. Man hat für das politische und militärische Handeln in Zeiten hoher Spannung neue Methoden gesucht und entwickelt.
Das nachfolgende Kapital soll einen Beitrag aus militärischer Sicht zur weiteren Klärung dieses für die Politik der Friedenssicherung so wichtigen Führungsgebietes darstellen, einen Beitrag, der sich zu großen Teilen auf konkrete eigene Erfahrungen abstützen kann.
Die Bezeichnung „Krise“ im politischen Sinne ist schillernd. Sie ist gesetzlich nicht definiert. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland finden wir zwar die Begriffe „Spannungsfall" (Art. 80 a), „Verteidigungsfall" (Art. 115 a) sowie den Zustand der „drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes" (Art. 87 a (4)).
Das Wort „Krise“ findet sich im Grundgesetz richtigerweise überhaupt nicht.
Spricht man nun von einer politischen Krise im internationalen Rahmen, so erfaßt man damit ein breites Spektrum politischer und militärischer Vorgänge. Auf der untersten Ebene einer Krise handelt es sich oft nur um eine Versteifung oder Verhärtung der politischen Beziehungen zwischen Staaten. Höhere Stufen einer Krise stellen sich als deutlich erkennbare politische Spannungen dar, die von militärischen Maßnahmen begleitet sein und sich damit bis zur Androhung von Gewalt steigern können.
Es ist also in erster Linie eine Frage der jeweiligen politischen Beurteilung, von welchem Zeitpunkt an man bereits von einer Krise sprechen will. Es gibt auch keine einheitli-— enge Verklammerung des in Europa gelagerten taktischen und des in den USA bereitgehaltenen strategischen atomaren Potentials; — Bemühungen zur Intensivierung der Zusammenarbeit mit Frankreich.
ehe Meinung darüber, wieweit das Spektrum am entgegengesetzten Ende reicht, ob man z. B. auch nach dem Beginn von Gewaltanwendung noch von einer Krise sprechen kann oder ob ein solcher Zustand in jedem Fall bereits als Krieg bezeichnet werden muß.
Ich neige durchaus dazu, auch noch die ersten Stufen militärischer Gewaltanwendung in den Begriff der Krise einzubeziehen, jedenfalls solange noch die Aussicht auf eine rasche Beilegung des Konfliktes ohne Eskalation besteht, mit anderen Worten, solange die gewaltanwendende Macht nicht die klare politische Absicht zu einer größeren militärischen Auseinandersetzung mit weitreichenden politischen Zielen erkennen läßt. Spätestens natürlich nach dem Ersteinsatz einer nuklearen Waffe, und sei sie noch so kleinen Kalibers, kann man nicht mehr von einer Krise, sondern muß man von Krieg sprechen.
Das „Management" einer Krise setzt sich das Ziel, politische Spannungen zu entschärfen und zu überwinden. Es gilt dabei zu verhindern, daß sich die eigene Regierung fremden Druck beugen muß. Es darf nicht zu einer politischen Kapitulation, nicht einmal zu einer Preisgabe von wesentlichen nationalen Interessen kommen. Zugleich aber muß der Konflikt so gelöst werden, daß der Frieden erhalten oder bereits begonnene Gewaltanwendungen ohne weitere Eskalation beendet werden. Es gibt verschiedene Vorschläge dafür, wie man das Wort „Crisis Management" am besten ins Deutsche übersetzt. Ich halte die Bezeichnung „Krisenbewältigung" immer noch für die beste Formulierung. Sie beschreibt am zutreffendsten den Vorgang selbst wie das zu erreichende Ziel.
Selbstverständlich hat es Krisen schon immer gegeben. Auch in der Vergangenheit mußten Spannungszustände bewältigt werden, selbst wenn es dafür weder konkrete Bezeichnungen noch gar wissenschaftlich erarbeitete Theorien gegeben hat. Allerdings spielte sich in der Regel der Übergang von politischer Spannung zur Gewaltanwendung anders, meist schneller ab. Die Ermordung eines Gesandten, die Zerstörung einer Botschaft, eine geringfügige Verletzung fremden Territoriums oder eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Schiffen auf der offenen See konnten bereits zu Kriegen führen, vor allem, wenn eine Großmacht betroffen war.
In unserer Zeit aber ist der Entschluß zur Anwendung militärischer Mittel schwerer geworden. Strahlen doch selbst regional begrenzte Konflikte, wie z. B-Kriege im Nahen Osten, Vietnam, Bangladesh, auf andere Teile der Welt aus. Ihre Isolierung bedarf erheblicher politischer Anstrengungen. Handelt es sich gar um Konflikte zwischen Atommächten, so kann die Anwendung von Gewalt bis zur völligen Auslöschung beider Seiten führen. Heute also ist der internationale Zusammenhang vielfältiger, das Spektrum der Methoden breiter, die Notwendigkeit, Geduld und Zurückhaltung zu üben, offensichtlicher, die Bewältigung von Konflikten ohne Gewaltanwendung zwingender geworden. Von daher sind auch die in den letzten 15 Jahren zu beobachtenden Bemühungen um ein modernes Crisis Management zu verstehen, ja ihre Notwendigkeit zu begründen.
Als Grundlage der nachfolgenden Untersuchung habe ich aus der jüngsten Vergangenheit zwei Krisen von weltweiter Bedeutung ausgewählt, die Kuba-Krise im Oktober 1962 und die Besetzung der Tschechoslowakei (CSSR) im August 1968.
Es soll der Versuch gemacht werden, diese beiden Vorgänge zu analysieren und daraus Erfahrungen für die Zukunft abzuleiten.
Es erscheint zweckmäßig, zunächst den Ablauf der beiden Krisen in ein paar groben Stichworten in die Erinnerung zurückzurufen. Schon lange vor dem Oktober 1962 hatte die Sowjetunion Kuba mit Waffen, einschließlich zahlreicher Fliegerabwehrraketen, beliefert.
Die Regierung der Sowjetunion und Fidel Castro hatten wiederholt versichert, daß es sich bei diesen Lieferungen ausschließlich um Defensivwaffen handele, die Kuba die Mittel zur eigenen Verteidigung gegen einen Angriff von außen in die Hand geben sollten. Die amerikanische Regierung hatte diesen Versicherungen Glauben geschenkt und die Möglichkeit einer Lieferung von Waffen für Offensivzwecke an Kuba für höchst unwahrscheinlich gehalten. Erst am 15. Oktober 1962 mußte aus fotografischen Aufnahmen, die amerikanische U 2-Flugzeuge von Aufklärungsflügen über Kuba mitgebracht hatten, der Schluß gezogen werden, daß die Sowjetunion auf Kuba auch Mittelstreckenraketen installierte, die befähigt waren, Atomköpfe in weite Bereiche des Territoriums der USA zu tragen, die also eindeutig offensiven Zwecken dienten. Weitere Luftaufnahmen in den folgenden Tagen bestätigten diese Erkenntnis. Sie zeigten zugleich ein erstaunlich rasches Arbeitstempo beim Aufbau der Raketensysteme.
Nach Fertigstellung der Raketenstellungen wären die USA und mit ihnen die meisten Staaten Lateinamerikas innerhalb ihrer eigenen Hemisphäre von sowjetischen Nuklearwaffen unmittelbar bedroht gewesen. Die Vorwarnzeit bei einem überraschenden Raketenangriff wäre auf wenige Minuten reduziert worden.
Es war von Anfang an das unverrückbare Ziel des Präsidenten John F. Kennedy, daß die sowjetischen Offensivraketen wieder abgebaut und aus Kuba entfernt werden müßten. Dies zu erreichen, boten sich verschiedene Wege unterschiedlichen Risikos, aber auch unterschiedlicher Erfolgsaussichten an, nämlich — Beschränkung auf diplomatische Mittel unter Einschaltung der UNO, — eine Blockade Kubas, — Zerstörung der Raketenstellungen durch Bombardierung aus der Luft und — schließlich eine militärische Besetzung der Insel Kuba.
Nach eingehender Beratung und Abwägung aller denkbaren Folgen entschied sich Kennedy für einen Weg, der zwar den Einsatz militärischer Mittel einschloß, aber vorerst das Schießen vermied und damit den Sowjets die Möglichkeit zum Nachgeben ohne allzu großen Gesichtsverlust offenließ, nämlich die Blockade der Insel Kuba. Sie wurde aus psychologischen und völkerrechtlichen Gründen als „Quarantäne" bezeichnet. Alle nach Kuba fahrenden Schiffe, gleich welcher Nation, sollten angehalten werden.. Sie sollten aber passieren dürfen, wenn ihre Beladung nicht offensiven Waffensystemen zuzurechnen war.
Zugleich versicherte sich Kennedy der politischen und moralischen Unterstützung aller lateinamerikanischen Staaten wie der Verbündeten der Atlantischen Allianz. Auch das un-mittelbare amerikanisch-sowjetische Gespräch auf hoher und höchster Ebene wurde nicht etwa unterbrochen, sondern intensiviert. Als Chruschtschow die Entschlossenheit der US-Regierung erkannte, äußerstenfalls auch vor einem großen Krieg nicht zurückzuschrecken, gab er nach. Er entfernte nicht nur alle bereits nach Kuba verbrachten, noch in sowjetischer Kontrolle befindlichen Mittelstreckenraketen, sondern auch die schon an Fidel Castro übergebenen Iljuschin-Angriffs-
bomber. Die amerikanische Gegenleistung bestand in der Abgabe einer formellen Garantie, auf eine Invasion Kubas auch in Zukunft zu verzichten.
Die wesentlichen Kriterien dieser Krise können wie folgt gekennzeichnet werden:
— Es handelte sich um eine unmittelbare Konfrontation zweier nuklearer Weltmächte, von denen sich die eine — die USA — überraschend, unmittelbar und entscheidend bedroht sah.
— Die USA waren entschlossen, die Bedrohung notfalls auch unter Einsatz militärischer Mittel zu beseitigen. Die USA ließen keinen Zweifel an ihrer Bereitschaft zur Eskalation aufkommen.
— Andererseits wurde die Beilegung der Krise durch das Angebot Kennedys zu einer Lösung ermöglicht, die die Beseitigung der atomaren Bedrohung sicherte, zugleich aber dem Gegner eine offene Demütigung ersparte, ja sogar auch ihm einen durchaus vorzeigbaren politischen Erfolg zubilligte. Die Herrschaft Fidel Castros in Kuba wurde von den USA akzeptiert.
Ganz anders lagen die Verhältnisse während der Tschechenkrise 1968.
Mit der Wahl Dubceks zum ersten Sekretär der KPC im Januar 1968 begann eine politische Entwicklung innerhalb der CSSR, die in zunehmendem Maße die Kritik, ja die ernste Besorgnis Moskaus und der Moskau-treuen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes hervorrief. Die neue tschechische Führung ließ sich auf ihrem Wege einer vorsichtigen Liberalisierung durch Kritik und Warnungen, ja selbst durch unverhüllte Pressionen kaum beeinflussen. Moskau fühlte sich schließlich zu einem militärischen Eingreifen gezwungen, um das sozialistische System in der/CSSR im Sinne der kommunistischen Ideologie zu sichern. Die militärischen Vorbereitungen hierzu begannen bereits im März 1968 im Süden der DDR. Seit Anfang Mai wurden umfangreiche Manöver der Warschauer-Pakt-Staaten durchgeführt. Die CSSR mußte unter schweren Bedenken die Anwesenheit von ausländischen Stäben und Truppen auf ihrem Territorium zulassen. Sie bestand jedoch auf der Rückführung dieser Truppen nach Abschluß des Manövers, die auch mit einigen Verzögerungen bis Anfang August vollzogen war. Etwa um den 23. Juli herum begann — gleichzeitig mit großangelegten Manövern der rückwärtigen Dienste in der Sowjetunion, Polen und DDR — ein Aufmarsch von Landstreitkräften in der DDR in Nord-Süd-Richtung, begleitet von einer „stoßartigen" Verlegung von mehreren 100 Flugzeugen auf Flugplätze im Südraum der DDR und Polens. Mit Abschluß der Konferenz der WP-Staaten in Schwarzau (29. Juli bis 1. August), in der die Führung der CSSR nochmals nachdrücklich zu einer Änderung ihres politischen Weges veranlaßt werden sollte, war der militärische Aufmarsch rings um die CSSR praktisch beendet. In der nur wenige Tage später folgenden zweiten Konferenz, nunmehr in Preßburg (3. August), schien es zu einer Einigung zwischen Moskau und Prag gekommen zu sein. Es trat jedoch keine militärische Entlastung ein. Der militärische Aufmarsch blieb vielmehr stehen, ja er wurde durch eine am 11. August im gesamten Gebiet beginnende Fernmeldeübung auf seine Funktionsfähigkeit überprüft und eingespielt.
Die militärischen Bewegungen dieser Monate waren von den Warschauer Paktstaaten kaum getarnt worden. Während des gesamten militärischen Geschehens lagen daher ausreichende Erkenntnisse oder zumindest begründete Schätzungen über Umfang und Richtung der Bewegungen vor, die im übrigen später bestätigt wurden. Sie ließen den eindeutigen Schluß auf eine Pressionsoder Interventionsabsicht gegen die CSSR zu. Ob sich die Sowjetunion aber mit einer Pression begnügen oder von den militärischen Vorbereitungen gegen die CSSR tatsächlich aktiven Gebrauch machen würde, ließ sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen. Ebensowenig konnte erkannt werden, wann die eigentliche Entscheidung zu einer militärischen Intervention getroffen worden ist. In die Kreml-Mauern kann man eben nicht hineinsehen. Meiner Meinung nach ist der Beschluß im Politbüro nicht vor dem 10. August gefaßt worden.
In der Nacht vom 20. auf den 21. August begann dann die Intervention, an der alle Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes mit Truppen beteiligt waren. Nur Rumänien hatte sich einer Mitwirkung entziehen können. Das militärische Ziel wurde sehr rasch, praktisch am Ende des zweiten Tages erreicht, zumal die Streitkräfte der CSSR sich befehlsgemäß passiv verhalten hatten.
Während der militärische Aufmarsch erkannt worden war, war die taktische Überraschung gelungen, vor allem hinsichtlich des Zeitpunktes. Die sowjetische Regierung hatte mit Beginn der Intervention die USA und einige europäische Regierungen wissen lassen, daß es sich bei den eingeleiteten militärischen Maßnahmen um eine Aktion innerhalb des Warschau-er Paktes handele und daß sich diese nicht gegen die NATO oder eines ihrer Mitglieder richte. Langfristig gesehen wurde durch diese Aktion allerdings doch die militärische Lage Mitteleuropas zu Ungunsten der NATO verändert. Nach Neuordnung der zum Einsatz gekommenen militärischen Verbände und nach Rückführung eines Teils der Truppen in die Heimatländer stand die NATO der Tatsache gegenüber, daß etwa sechs sowjetische Divisionen mit einem entsprechenden Anteil taktischer Luftstreitkräfte in der CSSR verblieben waren. Die Zahl der russischen Verbände westlich der Sowjetunion war also insgesamt verstärkt worden; sowjetische Truppen standen nun auch an Grenzen, von denen sie bisher weiter entfernt waren, nämlich an der deutsch-tschechischen und österreichisch-tschechischen Grenze. Diese qualitative Veränderung der Bedrohung ist mit geringfügigen Änderungen bis heute bestehen geblieben.
Die wesentlichen Kriterien der Tschechen-
Krise 1968 lassen sich wie folgt zusammenfassen: — Es handelte sich um eine langfristig und planmäßig vorbereitete politische und militärische Aktion innerhalb des Warschauer Paktes. Die NATO und ihre Mitglieder waren nicht direkt bedroht. Die Bundesrepublik Deutschland allerdings als ein Land mit unmittelbarer Grenze zum Interventionsgebiet fühlte sich zu Recht besorgt.
— Unter Beteiligung fast aller WP-Staaten kam es zu massiver militärischer Gewaltanwendung gegen die CSSR. Ein „Uberschwap-pen" in die Grenzgebiete zur Bundesrepublik und zu Österreich war nicht auszuschließen. — Es bestand seitens des Westens kein Anlaß für irgendein politisches oder militärisches Angebot zur Bewältigung der Krise. Andererseits mußte die NATO Festigkeit und Verteidigungsbereitschaft sichtbar machen, hinwiederum Maßnahmen vermeiden, die von der sowjetischen Führung mißverständlich hätten ausgelegt werden können.
Die beiden geschilderten Krisen scheinen in ihren Voraussetzungen, der politischen Zielsetzung, in Ablauf und angewandten Methoden kaum vergleichbar zu sein. Trotzdem lassen sich aus ihnen einige gemeinsame Erfahrungen ableiten, die auch für das Verhalten in etwaigen zukünftigen Krisen Gültigkeit besitzen. 1. Die Bewältigung einer internationalen Krise ist eine politische Aufgabe. Militärische Überlegungen, Beurteilungen und Maßnahmen spielen dabei eine wichtige Rolle. Aber sie dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Sie sind auf das engste verknüpft mit den anderen Elementen des Instrumentariums, das der obersten Staatsführung zum Crisis Management zur Verfügung steht. In Krisen unterliegen die militärischen Mittel in besonderem Maße dem Primat der Politik. Verallgemeinert könnte die These heißen: Die Bewältigung einer Krise ist eine Aufgabe der Gesamtführung. Alle Einzelbereiche sind dem Willen des die Gesamtleitung repräsentierenden Organs unterzuordnen.
2. Erste Voraussetzung für den Erfolg eines Crisis Management ist eine umfassende Aufklärung. Die Führung muß über die jeweilige Lage, ihr Entstehen und ihre weitere Entwicklung rechtzeitig und umfassend informiert sein. Aufklärung als politische und militärische Aufgabe eines Staates darf nicht erst bei Beginn einer Krise einsetzen. Sie ist vielmehr eine lebenswichtige, bereits in normalen Zeiten ständig zu betreibende Arbeit.
Die Aufklärung hat langfristige und kurzfristige Aspekte. Langfristig müssen z. B. politische Zielsetzung eines gegnerischen Landes, seine militärische Organisation und Planungen, seine wirtschaftliche Entwicklung, die Methodik des Handelns, die Charaktere der führenden Persönlichkeiten beobachtet und beurteilt werden. Kurzfristig kommt es darauf » an, Veränderungen jeglicher Art, die das beB stehende Bild verschieben können, schnell zu erkennen und auszuwerten. Es ist wichtig, daß für die Lagefeststellung und -beurteilung die Informationsquellen und Erkenntnisse aller Bereiche zusammenfließen, z. B. die Berichte der diplomatischen Vertretungen einschließlich der Militärattaches, die Ergebnisse des geheimen Nachrichtendienstes, der Nachrichtenaustausch unter Verbündeten und die Informationen über die innere Lage. Erst die Koordinierung aller Erkenntnisse ergibt ein zutreffendes Bild. Sie ermöglicht es, den Wahrheitsgehalt von neu eingehenden Informationen zu überprüfen und etwaige Täuschungsversuche des Gegners zu durchschauen.
Auch diese These läßt sich verallgemeinern: Durch laufende, sorgfältige und unvoreingenommene Beobachtung der Umwelt und ihrer Entwicklung können anbahnende Krisen leichter vorausgesehen oder zumindest vorausgeahnt werden; sie mindert die Gefahr der Überraschung und erleichtert den Entscheidungsgang während der Krise.
Hierzu einige Beispiele aus den geschilderten politischen Krisen:
1962 war das Erkennen des beginnenden Aufbaus und des weiteren Ausbaus von Raketen-stellungen auf Kuba das Ergebnis kurzfristig angesetzter Luftaufklärung. Eine kurzfristige Aufgabe war auch die Erarbeitung eines Lagebildes über die im Nordatlantik auf Kuba zulaufenden Schiffsbewegungen. Dagegen wären ohne die Auswertungsresultate langfristiger Aufklärungstätigkeit eine Beurteilung der politischen Zielsetzung der Sowjetunion und die Einschätzung der möglichen Reaktionen Chruschtschows auf amerikanische Gegenmaßnahmen nicht denkbar gewesen. Anders 1968 in Europa.
Die Entwicklung der politischen Lage innerhalb der CSSR und ihres Verhältnisses zu den anderen WP-Staaten konnte langfristig beobachtet und analysiert werden. Das gleiche gilt für die ersten seit März 1968 laufenden militärischen Maßnahmen der WP-Staaten. Dagegen beruhte die Kenntnis von der raschen Veränderung der militärischen Lage seit Ende Juli 1968 auf den kurzfristig aufkommenden Aufklärungsergebnissen dieser Tage. Erst beides zusammen machte es möglich, daß der Generalinspekteur bereits am 21. August morgens dem Verteidigungsminister und dem Kabinett eine fundierte militärische Lagebeurteilung geben konnte. Sie lautete nach meinen Tagebuchaufzeichnungen dieses Tages: „Die für die Intervention bereitgestellten militärischen Kräfte sind nach Umfang und Dislozierung stark genug, die CSSR auch gegen etwaigen militärischen Widerstand der tschechischen Streitkräfte rasch zu besetzen. Sie reichen zu einer kurzfristig angesetzten größeren militärischen Aktion mit politischer Zielsetzung gegen die NATO, und damit gegen die Bundesrepublik Deutschland, nicht aus. Die logistischen Voraussetzungen für ein späteres Nach-führen weiterer Kräfte aus der Tiefe müssen allerdings als gegeben angenommen werden."
Ohne eine funktionierende Aufklärung wäre eine solche Beurteilung nicht möglich gewesen, übrigens war mir die bereits erwähnte, ausdrückliche Erklärung der sowjetischen Regierung vom 21. August morgens gegenüber einigen NATO-Mitgliedstaaten, die militärische Besetzung der CSSR sei eine innere Angelegenheit des Warschauer Paktes und richte sich nicht gegen die NATO, noch nicht bekannt.
Sie wurde erst dadurch voll glaubwürdig, daß sie durch das militärische Lagebild bestätigt werden konnte.
3. Zeichnet sich eine Krise ab oder hat sie überraschend begonnen, kommt es darauf an, daß die Staatsführung sich über die eigene politische Zielsetzung klar wird. Welches sind die nationalen Interessen, an denen in jedem Fall festgehalten werden muß? Wo gibt es Verhandlungsspielraum? Innerhalb des durch solche Entscheidungen fixierten Bewegungsraumes kann dann flexibel gehandelt werden. Derartige Festlegungen dürfen nicht zu spät, aber auch keinesfalls vorschnell getroffen werden, selbst wenn der Gegner durch überraschendes Handeln ein „fait accompli"
geschaffen haben sollte.
Vor der Entscheidung bedarf es eingehender Beratung unter den mitverantwortlichen Persönlichkeiten. Hierbei müssen alle Möglichkeiten des Ablaufs durchdacht, Alternativen für das eigene Handeln entwickelt und die denkbaren Reaktionen des Gegners geprüft werden. Der Kreis der Berater sollte nicht zu groß sein. Andererseits dürfen Vertreter wichtiger betroffener Bereiche nicht ausgeschlossen werden. Die militärische Führung muß stets repräsentiert sein. Kennedy hatte in der Kuba-Krise sogar Persönlichkeiten seines Vertrauens herangezogen, die zu dieser Zeit kein Staatsamt innehatten. Unterschiedliche Auffassungen der Beteiligten sind ernst zu nehmen, damit bedeutungsvolle Argumente nicht ungeprüft bleiben. Es wird immer hilfreich sein, den Versuch zu machen, auch den Gegner zu begreifen. Der Zusammenhang mit möglichen anderen Krisenherden darf nicht übersehen werden. Die weitere Entwicklung ist laufend neu zu überdenken. Hierbei muß man sich allerdings vor Unentschlossenheit und Schwanken aufgrund wechselnder Tagesereignisse ebenso hüten wie vor dem Bestehen auf vorgefaßten Meinungen. Gerade hierzu ein Beispiel:
Wie ich dargestellt habe, bestand während der Tschechenkrise in der obersten deutschen Führung wie auch im Bündnis weitgehende Übereinstimmung in der Beurteilung der Lage dahingehend, daß eine größere militärische Aktion gegen die NATO unwahrscheinlich sei. Es war daher ein wichtiges Regulativ, daß der für den süddeutschen Raum und damit auch — im Rahmen der integrierten Operationsplanung — für die Verteidigung der Grenze gegenüber der CSSR verantwortliche Kommandierende General des II.deutschen Korps, GenLt Thilo, immer wieder seine warnende Stimme gegenüber dem Inspekteur des Heeres und dem Generalinspekteur erhob. Er befand sich näher am Krisenherd, er war der militärisch zunächst Betroffene, er stand unter dem Eindruck der Unruhe der Bevölkerung und der Behörden des grenznahen bayerischen Raumes. Er mahnte: Könnte es nicht zu überraschenden örtlichen Übergriffen kommen? Könnten sich nicht aus der Intervention mit einer einmal mobil gemachten Eingreiftruppe doch noch Nachfolgemaßnahmen gegen die NATO entwickeln? Was geschah an der tschechisch-österreichischen Grenze? Seine verständlichen Zweifel an der zurückhaltenden Beurteilung der obersten militärischen Führung und seine immer wieder vorgetragenen Besorgnisse zwangen den Generalinspekteur und seinen Stab zur laufenden Überprüfung der eigenen Unterlagen, der daraus abgeleiteten Beurteilung und ihrer Beweiskraft. Sie führten zwar nicht zu einer Änderung der Beurteilung oder der getroffenen Maßnahmen, aber sie halfen dabei, die Lage mit der notwendigen Nüchternheit und kühler Skepsis zu beobachten und zu beurteilen. Sie beschleunigten auch vorsorgliche Anordnungen für den denkbaren Fall, daß tschechische Truppen Zuflucht in der Bundesrepublik Deutschland suchen oder sowjetische Truppen versehentlich die Grenze verletzen sollten.
Allgemein formuliert heißt die dritte Erfahrung: Die verantwortliche Leitung muß sich über ein Gesamtkonzept im Sinne festzuhaltender Mindestziele klar werden. Sie setzen den Rahmen für die im übrigen flexibel zu haltenden Entscheidungen.
4. Es bedarf kaum noch einer Begründung, daß alle zur Bewältigung einer Krise zu treffenden Maßnahmen engster Koordinierung bedürfen. Das gilt für den nationalen Bereich und gerade in unserer besonderen Situation auch für das Bündnis. Dies wiederum hat eine strenge Zentralisierung der Führung zur Voraussetzung, von der der militärische Bereich nicht ausgenommen werden kann. Militärische Maßnahmen in einer Krise dienen vor allem der Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Das kann sich in verschiedenen Stufen, in kleineren oder größeren Schritten vollziehen. Die Skala beginnt mit einfachen Maßnahmen wie Urlaubssperre, Rückberufung von Urlaubern, Abbrechen von Übungen, überprüfen von Fernmeldeverbindungen u. ä. m. Weitere Stufen sind dann die Einberufung einzelner Reservisten, regional oder nach Fachgebieten begrenzte Teilmobilmachungen bis hin zur vollen Mobilmachung. Der letzte Schritt wäre die Verlegung der Truppe in die vorgeplanten Verteidigungsräume (Aufmarsch).
Jede dieser Maßnahmen verändert das normale Bild der Truppe. Sie wird daher vom Gegner genau verfolgt werden, aber auch der Aufmerksamkeit der eigenen Bevölkerung nicht entgehen. Die politische Wirkung solcher Maßnahmen muß daher sorgfältig beurteilt werden. Sie kann sehr verschiedenartig sein. Sie kann krisenverschärfend und damit friedensgefährdend wirken, wenn nämlich der Gegner die getroffenen Maßnahmen als Angritfsvorbereitungen bewerten sollte und wenn die eigene Öffentlichkeit unnötig beunruhigt wird. Auf der anderen Seite können militärische Maßnahmen auch krisendämpfend, d. h. abschreckend und friedenserhaltend wirken, dann nämlich, wenn sie geeignet sind, die eigene Entschlossenheit zu demonstrieren, sich nicht einschüchtern zu lassen, ja sich notfalls auch mit militärischen Mitteln gegen eine Pression oder Aggression zur Wehr zu setzen.
Zur Beurteilung der politischen Wirkung von Krisenmaßnahmen gehört auch der Zeitpunkt, zu dem sie eingeleitet werden. Der Truppen-führer wird aus seiner unmittelbaren Betroffenheit heraus drängen, Schritte zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft möglichst frühzeitig in Gang zu setzen; die politische Führung wird oft zur Zurückhaltung neigen. Das kann zu Auseinandersetzungen führen. Letztlich aber kommt es nicht darauf an, ob die Maßnahmen frühzeitig oder spät getroffen werden. Gültiger Maßstab kann nur sein, sie so rechtzeitig in Kraft zu setzen, daß der beabsichtigte politische Zweck erreicht wird.
Schließlich wird die Wirkung maßgeblich beeinflußt von einer engen Zusammenarbeit und Koordinierung innerhalb des Bündnisses. Gerade in diesem Zusammenhang muß erneut daran erinnert werden, daß auf unserem Boden neben der Bundeswehr die Streitkräfte von fünf verbündeten Nationen unter gemeinsamem NATO-Oberbefehl und französische Truppen stationiert sind. Die militärischen Maßnahmen aller Streitkräfte im gleichen Operationsgebiet müssen übereinstimmen. Aus unterschiedlichen Verhaltensweisen könnte der Gegner nur zu leicht den Rückschluß auf eine verschiedenartige Beurteilung oder mangelnde Übereinstimmung ziehen. Auch die eigene Öffentlichkeit könnte das Vertrauen in die Geschlossenheit des Bündnisses verlieren.
Während der Tschechenkrise, 1968, wurde diese enge Zusammenarbeit im Bündnis erfolgreich praktiziert. Der NATO-Rat tagte während der entscheidenden Tage in Permanenz. Der Generalinspekteur und sein Führungsstab hielten einen laufenden engen Kontakt mit dem Ständigen Vertreter beim Militärausschuß der NATO, dem nationalen militärischen Repräsentanten bei SACEUR und vor allem mit dem Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Mitteleuropa, General Ben-necke. Hierbei wurden täglich Beurteilungen ausgetauscht und gemeinsame Schritte abgestimmt. Ähnlich handelten die Führungsstäbe der Teilstreitkräfte und die nachgeordneten hohen Truppenstäbe jeweils auf ihrer Ebene. Dies alles setzt — ich wiederhole es — eine zentralisierte Führung voraus. So sehr das deutsche Führungsdenken im operativen und taktischen Bereich auf der „Auftragstaktik" beruht, so muß doch während einer Krise auf einer strikten Einhaltung des Rahmens der von der obersten Führung befohlenen Maßnahmen bestanden werden, selbst wenn es der Eigeninitiative Beschränkungen auferlegt. Kein nachgeordneter Führer im militärischen Bereich darf aus Sorge, nicht rechtzeitig fertig zu werden, den von der obersten Führung abgesteckten Handlungsspielraum eigenmächtig erweitern. Das gilt für alle Teilstreitkräfte in gleicher Weise.
Ein simples Beispiel aus dem August 1968 mag das verdeutlichen.
Der Bundesminister der Verteidigung, Gerhard Schröder, hatte auf Vorschlag der militärischen Führung und nach Fühlungnahme mit den NATO-Kommandobehörden für das erste Wochenende nach der Intervention eine Präsenz der Streitkräfte in den Kasernen wie an Werktagen befohlen. Die sonst so großzügige Wochenendbeurlaubung wurde also ausgesetzt. Er hatte diese Anordnung in der bestehenden Lage immerhin für so bedeutsam gehalten, daß er vorher den Bundeskanzler informiert hatte. Auf der anderen Seite hatte Schröder von einer Rückberufung von Urlaubern — mit Ausnahme der Kommandeure — ausdrücklich Abstand genommen. Holte nun ein nachgeordneter Kommandeur dennoch Urlauber zurück, und sei es auch nur aus Sorge um die Einsatzbereitschaft seiner Truppe, so konnte das Bekanntwerden einer solchen Maßnahme die beabsichtigte politische Wirkung gefährden.
Verallgemeinert kann als vierte Erfahrung formuliert werden:
— Zentralisierung der Entscheidungsfindung unter Einhaltung des Prinzips sorgfältiger Beratung mit ausgewählten Verantwortungsträgern, — enge Koordinierung aller Bereiche, — Dezentralisierung der Durchführung der Entscheidungen, jedoch Bewegungsspielraum für den nachgeordneten Bereich nur innerhalb eines genau definierten Raumes, — geschlossene Vertretung der getroffenen Entscheidungen nach außen.
Eine kleine, aber nicht unwesentliche Anmerkung ist hier noch am Platze. Man sollte während der Krise nicht Zeit mit der Suche nach Schuldigen verlieren. Falls nötig, kann man das später tun. Das Crisis Management bedarf des Einsatzes aller Kräfte für die Bewältigung von Gegenwart und Zukunft. Der Blick auf vergangene Versäumnisse ist dabei nur hinderlich, er vergeudet Zeit und mindert die Entschlußkraft.
5. Auch die Information der öiientlichkeit ist ein wesentlicher Bestandteil des Crisis Management. Nur selten dürfte es möglich sein, Nachrichten über einen Konfliktstoff oder über bereits eingeleitete Aktionen vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten. Während der Kuba-Krise glückte dies der US-Regierung nur wenige Tage. In der Tschechen-Krise war es von Anfang an weder möglich noch nötig. Die Vorgänge waren offensichtlich.
Man wird immer gut daran tun, die Öffentlichkeit frühzeitig zu unterrichten, möglichst ehe sich unkontrollierte Gerüchte oder irreführende Spekulationen verbreiten. Ziel der Regierung muß es dabei sein, ihre politischen Absichten für jedermann verständlich und überzeugend klarzumachen. Das den Konflikt herbeiführende Verhalten des Gegners muß beweiskräftig dargestellt werden. Kennedy ist das 1962 durch eine effektvolle Freigabe der Luftbildaufnahmen von den auf Kuba in Bau befindlichen Raketenstellungen in einer Weise gelungen, die ihm das Vertrauen im eigenen Land, aber auch das Verständnis aller Verbündeten und der meisten Neutralen sicherte. Nur solche Informationen müssen zurückgehalten werden, die die Durchsetzung der eigenen Absichten gefährden können. Das trifft häufig gerade für militärische Maßnahmen zu. Aber auch für den militärischen Bereich gilt, daß übertriebene Geheimniskrämerei Interesse und Mißtrauen geradezu wachruft. Vorgänge, die der Öffentlichkeit doch nicht verborgen bleiben können, gibt man am besten von vornherein bekannt. 1968 z. B. hat die Bundesregierung die eben erwähnte restriktive Wochenendregelung für die Streitkräfte öffentlich bekanntgegeben, während die Einberufung einer geringen Zahl von Reservisten für eine wichtige Spezialverwendung zwar nicht ausdrücklich geheimgehalten, aber auch nicht publiziert worden ist.
Informationspolitik nach außen muß ergänzt werden durch eine gezielte Information nach innen, nämlich in den eigenen Bereich hinein. Die Mitarbeiter der Zentrale wie der nachgeordneten Dienststellen können nur dann im Interesse des Ganzen handeln, wenn sie über die Lage, die Probleme, die erstrebten Ziele und die getroffenen Maßnahmen ausreichend informiert sind. Wer erst in der Zeitung liest oder durch Gerüchte hört, was im eigenen Bereich vorgeht, verliert das Vertrauen zur Führung. Fünfte Erfahrung: Schlechte Informationspolitik nach außen oder innen kann ein gutes Crisis Management um seine Wirkung bringen. 6. Schließlich stellt sich die Frage, wieweit man ein Crisis Management vorbereiten, ja vorausplanen kann.
Für die Beantwortung dieser Frage muß man davon ausgehen, daß Krisen oft überraschend kommen und daß der Konfliktstoff keineswegs immer voraussehbar ist. Weder der Aufbau von Offensivraketen in Kuba noch eine militärische Intervention in der Tscheche! waren noch wenige Wochen vor diesen Ereignissen als wahrscheinlich angesehen worden. Jede Krise hat einen anderen Ausgangspunkt, andere Kriterien und einen anderen Verlauf, jede Krise erfordert spezielle, jeweils auf die aktuelle Situation abgestimmte Entscheidungen. Hat man es doch mit Partnern oder Gegnern zu tun, die nach eigener Willensentscheidung selbständig handeln können und deren Entschlüsse zwar kalkuliert, aber nicht mit Bestimmtheit vorausgesagt werden können. Es wäre daher ein schwerwiegender Fehler, Krisenentscheidungen im voraus fixieren zu wollen.
Wohl aber kann man Vorbereitungen treffen, die den Entscheidungsvorgang erleichtern. Es gibt dafür die zutreffende Bezeichnung „Krisenvorsorge". Dazu gehören zunächst Organisation und technische Mittel. Man kann Beratungsorgane und Arbeitsstäbe im voraus bestimmen. Meist werden sie Krisenstäbe genannt. Es ist kalendermäßig festzulegen, wie diese zusammengesetzt sein sollen, wann sie zusammentreten, wo sie arbeiten und wie sie ihre Informationen erhalten. Von Bedeutung sind die technischen Vorbereitungen: die Einrichtung eines Lagezimmers, das Bereithalten von Dokumentationen, Daten-, Zahlen-und Kartenmaterial, die Einarbeitung von Zeichnern und Auswer-tern.
Das Wichtigste allerdings ist ein leistungsfähiger Fernmeldeapparat. Koordinierung, zentrale Führung und internationale Abstimmung setzen Fernmeldeverbindungen zu allen betroffenen Stellen voraus. Sie sind schon in Normalzeiten so vorzubereiten, daß sie bei Bedarf nur noch kurzfristig geschaltet werden müssen. Für die Krisenarbeitsstäbe, gleichgültig ob sie erst in der Krise selbst zusammentreten oder schon in normalen Zeiten ständig oder in regelmäßigen Zeitabständen arbeiten, sollte der klare Grundsatz gelten, daß sie nicht Entscheidungsgremium, sondern Hilfsorgan sind. Ich halte es für einen Fehler, die Führungsspitze zu wechseln, wenn eine Krise eingetreten ist. Die Kontinuität der Führung sollte nicht infrage gestellt werden. Krisenarbeitsstäbe sind daher Zuarbeiter. Sie leisten für den eigentlichen politischen Beratungs-und Entscheidungsvorgang wichtige Vorarbeiten. So kann z. B. eine Art von „Check-Liste“ angelegt werden, in der zusammengestellt ist, welche Überlegungen und Überprüfungen jeweils in einer Krise anzustellen sind, mit anderen Worten, was alles bedacht werden muß. Man kann für theoretisch vorstellbare Krisenfälle verschiedene, alternative Lösungsvorschläge vorbereiten. Ja man kann Listen über denkbare praktische Maßnahmen erarbeiten und im nachgeordneten Bereich verteilen, so daß bestimmte Aktionen nur noch mit Stichworten abgerufen werden können.
Alle derartigen organisatorischen, technischen und gedanklichen Vorbereitungen faßt man zweckmäßigerweise in einem „Krisenplan" zusammen. Er kann eine wichtige Hilfe für das Crisis Management sein, vorausgesetzt, daß er auf dem laufenden gehalten wird. Aber selbst der beste Krisenplan entlastet nicht von der Verantwortung, in jedem wirklich eintretenden Fall genau zu prüfen und zu entscheiden, was nun tatsächlich geschehen muß. Der Krisenplan also entbindet nicht von der Pflicht zum Nachdenken, zum überprüfen und zur konkreten Entscheidung. Es darf auf der höchsten politischen und militärischen Ebene keine Entscheidungsautomatik geben. Sie würde die notwendige Flexibilität einschränken und wäre daher nicht hilfreich, sondern gefährlich. Es gilt also auch hier der alte militärische Grundsatz: „Vorausdenken, aber nicht vorausdisponieren."
Die aus theoretischen Studien und praktischen Erfahrungen gewonnenen Erkenntnisse zur Krisenbewältigung fasse ich wie folgt zusammen: Ziel des politisch-militärischen Crisis Management ist es, Konflikte zur Lösung zu bringen, und zwar ohne Gewaltanwendung, zumindest ohne Eskalation in höhere Stufen der Gewaltanwendung, aber auch ohne Preisgabe wichtiger nationaler Interessen.
Crisis Management ist eine politische Führungsaufgabe, die in nationaler Verantwortung, jedoch immer in Übereinstimmung mit Verbündeten und Freunden gelöst werden muß. In einer Gesamtstrategie der Friedenssicherung und Abschreckung ist Crisis Management im militärischen Bereich schon vor Beginn von Kampfhandlungen ein Stück operativer Gesamtstreitkräfteführung, die allerdings in besonderem Maße unter dem Primat der Politik steht und daher engste politisch-militärische Zusammenarbeit und straffe Zentralisation erfordert.
Crisis Management ist politisch und militärisches Handeln, das wissenschaftlich-theoretisch untersucht und begründet, von der Exekutive in die Praxis umgesetzt, d. h.organisatorisch, technisch und gedanklich vorbereitet und, falls nötig, flexibel, aber mit Festigkeit ausgeübt werden muß.