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Die „Emanzipationspädagogik" angesichts der „Tendenzwende". Zur Kontroverse zwischen Hermann Boventer und den Brüdern Hartmut und Thilo Castner | APuZ 10/1976 | bpb.de

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APuZ 10/1976 Artikel 1 Kompetenz für politische Bildung Zur Frage, wer kompetent sei und warum, Ziele für das politische Lernen festzulegen Versuch über den Schein und die Angst Blick zurück in Trauer auf die Rahmenrichtliniendiskussion Die „Emanzipationspädagogik" angesichts der „Tendenzwende". Zur Kontroverse zwischen Hermann Boventer und den Brüdern Hartmut und Thilo Castner

Die „Emanzipationspädagogik" angesichts der „Tendenzwende". Zur Kontroverse zwischen Hermann Boventer und den Brüdern Hartmut und Thilo Castner

Kurt Gerhard Fischer

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Laufe des Jahres 1975 häuften sich in auffälliger Weise die Versuche, Innovationen in der pädagogischen Theorie und Praxis des vorangegangenen Jahrzehnts in Frage zu stellen; das geschah auch mehrfach in der Beilage „Aus Politik nd Zeitgeschichte“. Bei diesen Kontroversen geht es offenbar nicht nur darum, durch eine rationale Auseinandersetzung vielleicht überzogenes wieder zurechtzurücken, ohne hinter das Positive der Innovationen zurückzufallen, sondern letztlich um eine Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. Wie Wortführer dieser restaurativ-konservativen Gegenbewegung dabei vorgehen, an welchen Begriffen und Konzeptionen sie ihre Kritik ansetzen — bespielsweise an dem des obersten Lernziels . Emanzipation'—, aber auch, wie sie mit den . politischen Pädagogen'umspringen, schließlich: welche Gefahren sich daraus für das politische Klima in unserer Bundesrepublik Deutschland ergeben können, versucht dieser Beitrag deutlich zu machen. Pädagogische Theorie und Praxis, nicht erst und nur „Politische Didaktik", ist immer ein Politikum. Daraus folgt in einer lebendigen Demokratie, daß ein ihr gemäßer Stil gewahrt werde, der die Meinungspluralität respektiert und um der . Objekte'von Lernprozessen willen sich am Postulat vom . herrschaftsfreien Diskurs'orientiert.

Zweimal hat Hermann Boventer, Leiter der Thomas-Morus-Akademie Bensberg und derzeit Vorsitzender der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands, im Lauf des Jahres 1975 in der „Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament" durch Veröffentlichungen zur Urteils-und Meinungsbildung der vielen Leser beigetragen. In Heft 13/1975 bot er eine „Kritik der Emanzipationspädagogik'', und in Heft 45/1975 ließ er eine ausführliche Stellungnahme zu einer Kritik des zuerst genannten Beitrags durch die Brüder Hartmut und Thilo Castner abdrucken Solide Kenntnis von Artikel 5 Absatz 1 unseres Grundgesetzes darf bei Boventer vorausgesetzt werden; fraglich hingegen erscheint mir, ob bei Abfassung der beiden hier in Rede stehenden Beiträge auch der zweite Absatz dieses Grundrechte-Artikels unserer Verfassung gebührend berücksichtigt wurde. Denn in beiden Veröffentlichungen wird eine Mehrzahl von Menschen und eine von Boventer als fälschlich einheitlich dargestellte Menschengruppe verunglimpft: „d i e“ Emanzipationspädagogen haben es dem Publizisten angetan, und „die" Madigmacher gesellschaftlich-politischer Wirklichkeit in Staat und Gesell-schäft der Bundesrepublik Deutschland werden von ihm . entlarvt'. Ich selbst werde sowohl als Emanzipationspädagoge als auch als für Schulbücher verantwortlicher Madigmacher von Boventers Urteilen getroffen

Folgend möchte ich versuchen, einige , Kerngedanken'Hermann Boventers, einige . Argumente'und die Methode der Argumentation in beiden Beiträgen zu diskutieren, um derart den Stil und die Substanz einer möglicherweise, aber hoffentlich nicht auf uns in unserem Staat zukommenden politischen Auseinandersetzung ins Licht der Öffentlichkeit zu heben. Dabei folge ich angesichts der Verwischung von politischer Gegnerschaft zugunsten eines neuerdings um sich greifenden Freund-Feind-Denkens dem Motto „Wehret den Anfängen", für das ich als politischer Pädagoge in Theorie und Praxis seit Jahrzehnten eintrete Ich lasse mich bei dieser Gelegenheit nicht auf eine Fortsetzung der Auseinandersetzungen mit meinem Schulbuch „Gesellschaft und Politik" ein, weil von Boventer und anderen eine Ausgabe jetzt erst attackiert wird, die überholt und zumal im Bundesland Nordrhein-Westfalen durch die 3. völlig neubearReform beitete Auflage 1975 ersetzt ist Auch fühle ich mich nicht veranlaßt, das Unterrichtsmodell „Die Volksrepublik China" der Brüder Castner an dieser Stelle zu rezensieren oder auch nur in die Erörterung einzubeziehen weil diese Veröffentlichung mit dem hier Festzustellenden schlechterdings nichts zu tun hat

I.

Hermann Boventer geht aus von einer Definition der Aufgabe und Funktion der Institution Schule: ...... die erste Aufgabe von Schule (ist) darin zu sehen, den Bestand der geistig-menschlichen Überlieferung zu sichern in der nicht nachlassenden Anstrengung des Denkens und der Selbstvergegenwärtigung des Geistes" Darüber herrscht spätestens seit Sokrates/Piaton Einigkeit unter allen Pädagogen, daß hier eine der Aufgabe institutionalisierter und organisierter Lernangebote angesprochen ist. Der Streit von mehr als zwei Jahrtausenden geht, in nahezu jeder Generation neu aufgegriffen, um die Frage, ob intentionales Lernen sich auf diese Aufgabe beschränken kann und ob sie in einem Ensemble von Aufgaben und Funktionen der Sekundär-Sozialisation die erste Stelle einnehmen muß. übereinstimmende Meinung unserer Tage scheint es zu sein, daß Pädagogik so einseitig nicht sein kann und nicht sein darf, weil sie andernfalls wesentliche Beiträge der Menschenbildung allein anderen überläßt und damit ex definitione ihren — immer schon qua Institution und Organisation begrenzten — Möglichkeiten noch nicht einmal gerecht zu werden versucht. Nach Boven-ters Meinung stellt sich das Problem allerdings ganz anders dar; wer seiner zitierten undifferenzierten Funktionsbestimmung nicht zustimmt, erzieht „die jungen Menschen zu Paranoikern und Zwangsneurotikern unter dem , Bann'der Kritischen Theorie"

An dieser Stelle drängen sich jedermann, der mit der europäischen Geschichte der Pädagogik auch nur ein wenig vertraut ist, die Kritik an Enge und Undifferenziertheit der Definition Boventers ergänzende Fragen auf: Wer definiert den . Bestand'in einer Gesellschaft der Pluralität normativer Systeme, Konfessionen und . Weltanschauungen'? Wer hierarchisiert die Bestände, wer , didaktisiert'sie schließlich im Sinn von Auswahl — Reduktion — und Vereinfachung — Elementarisierung? In Boventers Beiträgen sind auf solche schwerwiegende Fragen, die seit eh und je Pädagogen beschäftigen und die gerade in unseren Tagen in vielen Gruppen und Kommissionen der Curriculum-Reform in allen Bundesländern thematisiert werden und strittig sind, keine Antworten zu finden, über andere Aufgaben der Schule äußert sich Boventer gelegentlich; seine einschlägigen Hinweise werden im folgenden aufzugreifen und zu diskutieren sein.

Boventer operiert mit der Definition'der „ersten Aufgabe von Schule", um eine Alternative konstruieren zu können, die es so radikal in der pädagogischen Praxis nie gab und nicht geben kann. Er konfrontiert die . Pädagogik der Sicherung von Beständen'einer erdachten . Pädagogik der Veränderung'. Diese Alternative läßt an jene andere von einer . Pädagogik der Bewahrung'hie und einer , Päd-agogik des Wagens'da denken, die, wenn nicht schon früher, spätestens seit Theodor Litts Problematisierung von „Führen oder Wachsenlassen" obsolet geworden ist Litt wies nach, daß diese Alternative spekulativ ist, während in Wirklichkeit ein Zusammenhang beider Momente notwendig besteht, den er „dialektisch" nannte.

Die verallgemeinerte Aufgabe jeder Pädagogik ist es, Menschen zu sich selbst zu bringen. Der . Gegenstand'der Pädagogik ist — das sei einmal mehr festgestellt — nicht , die Gesellschaft', sondern , der Mensch'. Die Bemühung, jemanden zu sich selbst zu bringen, impliziert regelmäßig, daß der , educandus'eines Tages — zu sich selbst gekommen — als Individuum oder vermittelt durch Zusammenschlüsse zu Beständen’ partiell oder womöglich ganz und radikal , nein'sagt und dementsprechend handelt. Wer dieses Risiko von Pädagogik als Handbietung zur Mensch-und Ichwerdung scheut, konzipiert nicht eine neue, eine andere Pädagogik, sondern er verkündet entgegen mehrtausendjähriger Über-lieferung in Europa einmal mehr Abrichtung, Dressur, Gewöhnung oder wie immer man das nennen will. Immer wieder haben Erziehungstheoretiker das prinzipiell Antipädagogische dieses Ansatzes von . Menschenführung'angeprangert und in den Folgen sichtbar gemacht Es gehört zu den Verdiensten der Theoretiker unserer Epoche, nun auch den Zusammenhang zwischen Politik und diesem Ansatz aufgedeckt zu haben: er ist nicht konservativ, sondern reaktionär.

Eine Pädagogik aber, die Erziehung von Paranoikern und Zwangsneurotikern inten2 d i e r t, wäre gar keine mehr, sondern ein Herrschaftsinstrument aus einem SS-Staat. Boventer formuliert, an dieser Stelle zwar so, daß keinem der Pädagogen, die sich mehr oder weniger der . Kritischen Theorie'verbunden wissen, diese barbarische Intention unterstellt werden kann. Aber er verkennt hier wie andernorts in seinen Veröffentlichungen Sachlagen und Tatbestände: Schule und Lehrer finden in statistisch erschreckend steigender Zahl neurotisierte Kinder vor, noch ehe sie Gelegenheit haben, auf sie lehrend und erziehend einzuwirken. Hier müßte eine rationale Faktorenanalyse ansetzen, die . Verursachungen'für eine solche Tendenz dingfest und namhaft macht. Hermann Boventer trägt einige Momente und Gedanken in diesem Sinn einer Faktorenanalyse zusammen: „Das antisoziale Verhalten vieler Jugendlicher geht häufig darauf zurück, daß sie ohne ausreichenden emotionalen Kontakt in der frühen Kindheit geblieben sind . . .", schreibt er etwa Aber er fragt nicht nach den . Ursachen'dieses Defizits; und wer die Familie, deren Versagen und Unzulänglichkeiten problematisiert, wer auf nachweisbare, denkbare, mögliche gesellschaftliche Zusammenhänge für abwertiges Verhalten von Jugendlichen hinweist, ist nach Boventers Meinung ein , Madigmacher

Auch dem ist zuzustimmen: „Mehr als ein Viertel aller Hauptschüler erhält kein Abgangszeugnis." Wiederum fragt Boventer nicht . soziologistisch'und/oder sozialpsychologisch, auch hier interessieren ihn nicht die . Ursachen'in Familie, Milieu, Schule und Gesellschaft. Boventer hat seine Antwort parat: die „zunehmende Verschulung" wird apostrophiert. Ihr hält er im Anschluß an Eduard Spranger entgegen, daß man Bildung für die Mehrheit so einrichten möge, daß sie „unmittelbar zu leben und zu schaffen begehre(n)" Gewiß ist richtig, daß bei der Einführung des 9. Pflichtschuljahrs in den Ländern der Bundesrepublik gravierende Fehler gemacht wurden, indem statt — wie etwa konzeptionell in der Republik Österreich geschaffen — einer neuen Form mit neuen Inhalten das schulorganisatorische, das didaktische und methodische Konstrukt der . Volksschule'einfältig um ein Jahr verlängert wurde, ohne nach Bedürfnissen, Neigungen und Eignungen und mithin spezifischen Begabungsmöglichkeiten der potentiellen Schulpopulation zu fragen Jenem Viertel der Hauptschüler ohne Abgangszeugnis, die Boventer meint, ist nicht mit weniger, sondern mit anderer Schule gedient, dann jedenfalls, wenn auch für diese Menschengruppe gelten soll, was Boventer selbst so sagt: „Freude am Denken gewinnen, erfahren, wer der andere ist, ein Werk selbst und richtig machen, ist das nicht schon sehr viel für Kind und Schule?" Das wäre viel und doch nicht alles, was der Schule als Institution unserer Gesellschaft aufgegeben ist; wie indes Boventers Postulat von . weniger Schule'für die Mehrheit mit . mehr Denken'für alle zusammenpaßt, bleibt unerklärlich.

Noch im Kontext von Ansätzen einer Faktorenanalyse stellt sich und uns Boventer die legitime Frage: „Wie kann Schule ... Angst reduzieren ...?" Hier ist Angst vorausge.setzt als eine Verhaltensweise, die Kinder in die Schule mitbringen, als etwas bereits Verinnerlichtes — anders ist das Verbum . reduzieren'nicht interpretierbar. Boventer fragt aber keineswegs, warum heutzutage viele Kinder verängstigt in die Schule kommen. Er kann aber auch nicht Angst als Ur-und Grundbefindlichkeit — im Sinn philosophischer Beschäftigung mit ihr von Kierkegaard bis Jas. pets — meinen; denn nur . gelernte', . beigebrachte'Angst läßt sich psychotherapeutisch angehen. Die faktorenanalytischen Elemente in Boventers Beiträgen sind zufällig, unreflektiert und oberflächlich; sie dienen ihm, ohne daß er die Widersprüche bemerkte, in die er sich durch ihre Heranziehung als Argumente zu seinen Grundauffassungen begibt, als Versatzstücke zum Zweck des . Madigmachens'in dem Sinn, in dem er Adorno falsch interpretiert

II.

Wer kompiliert, was Boventer über jene Pädagogik referiert, die zu Paranoia und Zwangsneurose führt, fragt sich alsbald, wovon die Rede ist. Das liegt zum einen daran, daß Boventer sich einmal mehr in Widersprüche verwickelt: disqualifiziert er zunächst noch Emanzipation pauschal, so liest es sich wenige Monate später durchaus anders. Zuerst nämlich behauptet er: „Emanzipation ist keine kritisch-rationale Kategorie" ohne dies zu begründen. Dann aber konzediert er:

„Emanzipation mag, im recht verstandenen Sinn einer Mündigwerdung, ein legitimes Erziehungsziel sein" Trotzdem hält er an der Karikatur von . Emanzipationspädagogik'fest. Er beschreibt als „Menschenbild der Emanzipationspädagogen" u. a. dies: „Der Mensch ist autonom und mündig. Er hat aufgehört, sich selbst in ein Höheres zu wandeln, will er doch nichts mehr als sich selbst. Er hat aufgehört, den Begriff der unsterblichen Seele auch nur zu denken. Wenn der Mensch an sich gut (emanzipiert) ist, wenn das Böse nur in den Verhältnissen liegt und ihren Fehl-formen, dann ist das Christentum abgeschafft, , und der Terror hat ein gutes Gewissen'."

Boventer verzichtet an dieser Stelle auf irgendwelche Literaturhinweise, um sein in sich widersprüchliches Bild überprüfbar zu machen. Das Autonomiegebot ans eigene Ich schließt weder die Bereitschaft und Fähigkeit des Selbsttranszendierens noch die der Reflexion auf die Unsterblichkeit der Seele aus. Das Schlußfolgerungsverfahren mit Hilfe eines , Wenn-dann-Satzes'hält keiner kritischen Prüfung auf Logik stand, ja das Gegenteil des von Boventer Ausgemalten ist richtig: der . Erbsünde’ ging das natürliche Gut-Sein voraus, während zwischen der Hypothese von den Menschen verderbenden Umständen und der Feststellung vom abgeschafften’ Christentum überhaupt kein denknotwendiger Zusammenhang besteht. Doch die Apokalypse aus der Feder von Boventer ist nicht zufällig, denn die Passage geht wie folgt weiter: „Hitler und Stalin haben dem Christentum wenigstens noch die Ehre angetan, es zu ihrem Todfeind zu erklären. Die emanzipatorischen Curricula .. ." Hier steht nicht zur Diskussion, ob diese Aussage angesichts des Massenmordes an Europas Juden so aufrechterhalten werden kann; hier geht es um etwas anderes: Da _ gleichviel welche — Curricula nicht autonome Entitäten sind, sondern etwas von Menschen für Menschen Gemachtes, sind die von Boventer in seinen Beiträgen mehrfach namentlich genannten Curriculummacher mit der Intention einer . Leitidee'Emanzipation schlimmer als Hitler und Stalin. Gemeint sind von Hermann Boventer unter anderen Rolf Schörken, Walter Gagel und ihre — nordrhein-westfälischen — Mitarbeiter, Ingrid Haller, Hartmut Wolf, Rudolf Engelhardt und ihre — hessischen — Mitarbeiter, Hans-Jo-chen Gamm und auch ich

Das Gemälde Boventers enthält noch andere Farbtöne: „Der junge Mensch wird wie ein Erwachsener behandelt und intellektuell eingestuft, was .. . ihn psychisch zum Freiwild macht", heißt es im Hinblick auf die allen Pädagogen ex definitione zustehende Verantwortung für das Kind. Und: „Diese Pädagogik lehnt jeden Transzendenzbezug ab. Rationales Denken und Transzendenz schließen sich aus in der aufklärerischen Emanzipationsphilosophie." Und: „Wenn wir den jungen Menschen mit nichts anderem versorgen als der lösenden Kraft der Reflexion', geben wir ihm statt Brot nur (von mir gesperrt) Steine."

Wiederum läßt Boventer den interessierten Leser im Stich, der sich bei jenen informieren möchte, die geschrieben haben sollen, was er referiert und zusammenfaßt; deshalb ist es schwierig, ohne überlange Explikationen auf das jeweils Behauptete einzugehen. Für die kritische Auseinandersetzung dürfte es bedeutsam sein zu wissen, daß es d i e Emanzi-pationspädagogik und d i e Emanzipationsphilosophie nicht gibt und daß das von Boventer Geschriebene keineswegs etwa selbstverständlich oder gar evident für alle wäre, die für Emanzipation plädieren. Mir jedenfalls ist beispielsweise kein Pädagoge unserer Tage bekannt, der Schüler nur befähigen wollte zur . Reflexion'; elementare Kenntnis der öffentlich geführten Diskussion über . affektive Lernziele', , evaluative Lernziele'und über jene, die Lernzielorientierungen problematisiert und kritisiert, läßt die Argumentation Boventers als das erkennen, was sie ist: ein Kartenhaus, das allzu leicht in sich zusammenfällt Ebenso ist es um Aussagen wie die folgenden bestellt: „die Curriculumtheorie" hat „viele ihrer abgenutzten Konzepte" aus den USA „importiert", meint Boventer Er kennt offenbar nichts von der einschlägigen, gegenüber den pädagogischen Entwicklungen in den USA durchweg kritischen und skeptischen Literatur in deutscher Sprache Auch beansprucht hierzulande niemand, man könne „die Antinomien der Schule .. . gänzlich auflösen in die lupenreine Organisation des Lernens" Dieser von Boventer schlicht unterstellten Intention widerspricht die ebenfalls öffentlich geführte, teilweise emotional stark aufgeladene Diskussion um den behavioristischen Ansatz der Lernpsychologie, der sich in der Bundesrepublik niemals ernstlich durchsetzen konnte Gänzlich falsch ist etwa dies: „Die Schule .. . übernimmt auch die Rolle der Geborgenheit stiftenden . Kirche', womit sie völlig überfordert und entfremdet ist." Einerseits wettert Boventer gegen das Plädoyer für mehr Geltung des Prinzips Ratio vermittels curricula-rer Neuentwicklungen, andererseits schiebt er diesen Entwicklungen Absichten und Aufgaben unter, die kein Curriculummacher beansprucht. Das Gegenteil ist eher zutreffend: weil die Schule der Zukunft ohne Vernachlässigung des Affektiven und Evaluativen, ohne Verdrängung von Spiel, Sport und Polytech-nik auf mehr Ratio mit guten Gründen setzt, ist sie nicht mehr die Fortsetzung der Kirche mit anderen Mitteln und auch kein Kirchenersatz, was sie in unserer Gesellschaft auch weder sein noch werden könnte und dürfte

III.

Hermann Boventer geht als Kritiker neuerer Theorieansätze in der Pädagogik über das hinaus, was bisher diskutiert wurde. Es mag verzeihlich sein, wenn er von der „unverzeihlichen Naivität der (v. Verf. gesperrt) Curriculum-Strategen" spricht weniger Verständnis kann er erwarten, wenn er diesen . Naivlingen'Unkenntnis der „Entwicklungs-und Jugendpsychologie" attestiert und von dieser Ausgangslage her zur schon zitierten Formel kommt: „Der junge Mensch wird . . . psychisch zum Freiwild (ge) macht." In Ermangelung von Anmerkungen, die auch nur den Anschein einer Beweisführung enthielten und ineins verrieten, an welchen Konzeptionen von Jugend-und Entwicklungspsychologie sich Bov, enter orientiert, läßt sich nicht erörtern, was Boventer gemeint haben könnte. Doch letztlich kommt es ihm auch keineswegs auf den Kenntnisstand der . Curriculum-Strategen'an, da er über sie mehr und wichtigeres weiß: „Wer die bestehenden Gegebenheiten notorisch abwertet und kritisiert, wie es die Emanzipationspädagogik tut, muß selbst mit einer krankhaften Unausgeglichenheit belastet sein und projiziert seine Neurosen der unreflektierten Progressivität auf die zu Erziehenden." Da die’ Emanzipationspädagogik weder ein handelndes Subjekt sein kann noch eine Neurosenlehre für Abstrakta irgendwo auffindbar ist, ist diese Aussage besonders beachtenswert. Emanzipationspädagogen, die alles Bestehende notorisch abwerten, sind mir nicht bekannt; ihnen wäre vor allem Mangel an historischem Bewußtsein an-zulasten, da Emanzipation ein Prozeß ist, der im Durchgang durch Jahrhunderte manches heute Bestehende erbrachte, das keiner , abschaffen'will, der verfassungstreu in unserem Lande ist, beispielsweise die Gleichberechtigung der Frau, beispielsweise die Bürgerrechte für Soldaten. Was Boventer jedoch von den Personen sagt, die er meint und deren Namen sich jeder Leser seiner beiden Beiträge unschwer aus den Anmerkungen zusammensuchen kann, stimmt bedenklich: Meinungsgegner werden als krankhaft abqualifiziert, während . gesund'ist, wer Boventers Meinungen und Werturteile teilt. Diese Methode des Auseinanderdividierens der Bürger in . Gesunde'und . Kranke'war schon einmal in Deutschland gang und gäbe. Einige übrig-gebliebene der Endlösung für die Kranken erinnern sich noch deutlich an das Verfahren.

An dieser Stelle muß zu sagen erlaubt sein: Man kann nordrhein-westfälische Richtlinien, hessische Rahmenrichtlinien, aber auch curri-culare Neuentwicklungen in Rheinland-Pfalz Bremen und anderswo kritisieren, ja man muß es sogar Man kann sich mit jenen Erziehungswissenschaftlern, die auf vielfältige Weise in Wort und Schrift für Emanzipation als Leitidee der Curriculum-Revision eintraten und auch heute noch einzutreten wagen, auseinandersetzen, ja man muß es sogar Ich konzediere allen, die hier gemeint sind, auch den Politikern, die ihre Bereitschaft zu erkennen gaben, Curriculum-Revision im Blick aufs Jahr 2000 zu wagen, jedenfalls dies: „... tarnen est laudanda voluntas ...“, auch wenn ich ganz anderer Auffassung bin als mancher andere Emanzipationspädagoge und Curriculum-Stratege. Hermann Boventer kann diesen Trostspruch für sich nicht beanspruchen. Wer die vermeintlichen oder wirklichen Neurosen ferndiagnostisch sichtet und diese statt Argumenten in eine Sachdiskussion einführt, bedient sich eines mehr als fragwürdigen Instrumentariums.

Hermann Boventer plädiert dafür, „für Curriculum und Emanzipation (sic!) in der Schule weiterzuverhandeln, solange wir in diesem Land ... nicht alle Verständigungsbrücken abbrechen wollen auf einen neuen Kultur-kampfhin" Das ist schön gesagt und zudem auch im Widerspruch zu seinen diskreditierenden Aussagen über Emanzipation, Emanzipationspädagogik und Emanzipationspädagogen. Indes: wenn publiziert wird, was hier problematisiert wurde, hat dann der Kulturkampf nicht schon begonnen? Nota bene: Wer, von Boventer als Neurotiker öffentlich angeprangert, mag sich noch mit ihm-an einen Tisch setzen, wem ist das zuzumuten?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu Hermann Boventer, Emanzipation durch Curriculum? Kritik der Emanzipationspädagogik und die Frage nach den Erziehungswerten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/75 (zukünftig zit. als B 13/75); Hermann Boventer, Stellungnahme zu H. und Th. Castners Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/75 (zukünftig zit. als B 45/75). Hartmut und Thilo Castner, Entgegnung zu H. Boventers „Emanzipation durch Curriculum?", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/75 (zukünftig zit. als Castner in B 45/75).

  2. Zum Wort „Madigmachen" vgl. Boventer in B 13/75, S. 20 und Castner in B 45/75, S. 17. Hier wird der leichtfertige Umgang Boventers mit „Autoritäten" und Zitaten exemplarisch vorgeführt. In Sachen „Emanzipation" als „Leitidee der Curriculum-Revision“ darf ich auf meine Arbeiten hierzu verweisen: Emanzipation als Lernziel der Schule von morgen, in: Mitteilungen der Kommission zur

  3. Auf den Slogan „Wehret den Anfängen“ haben meine Mitarbeiter Karl Herrmann und Hans Mahrenholz gemeinsam mit mir bereits in unserer Buch-Veröffentlichung „Der politische Unterricht", 1. Aufl. Bad Homburg 1960, 3. Aufl. 1975, hingewiesen, die aus einem seinerzeit, 1958/59, nichtzugelassenen Entwurf für einen Bildungsplan des Politischen Unterrichts für die Beruflichen Schulen Hessens hervorging.

  4. „Gesellschaft und Politik" erschien in der 1. Auflage 1971, die 2. verbesserte Auflage, die Boventers und anderer Mißfallen erst jetzt verspätet erregt, erschien bereits 1973. Aus Gründen, die mit den Eigenarten der Zulassungspraxis für Schulbücher in unserem föderalistischen Staat zu tun haben, darf allerdings in einigen Bundesländern noch die Zweitauflage angeschafft und benutzt werden. Hier zeigen sich Defizite, die auch Schulbuchmachern nicht behagen; zumindest sollte eine Koordinierung von Terminen zwischen den Ländern möglich sein, da Schulbücher für die Politische Bildung alljährlich überarbeitet werden müssen.

  5. Vgl. hierzu Boventer in B 45/75, S. 23 f; — bzgl.der Veröffentlichungen von H. und Th. Castner vgl. meine Rezension ihres Buches „Emanzipation im Unterricht", Bad Homburg u. a. a. O., 1972, in: Kurt Gerhard Fischer, Zur Theorie und Didaktik der Politischen Bildung, in: Neue Politische Literatur, H. 3/1973, S. 292; meine Auseinandersetzung dort kann als ein Beleg dafür genommen werden, daß es „die" Emanzipationspädagogik gar nicht gibt.

  6. B 13/75, S. 23.

  7. Ebenda.

  8. Vgl. hierzu vom Verf., Theorie und Praxis von Consensus und Dissensus, hrsg. v. d. Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Hannover 1974; ein Wiederabdruck dieser vergriffenen Schrift ist vorgesehen in: Politische Pädagogik zwischen Pädagogik und Politik, hrsg. v. K. G. Fischer (Zur Praxis des Politischen Unterrichts, Bd. 6) Stuttgart, Frühjahr 1976.

  9. Vgl. Theodor Litt, Führen oder Wachsenlassen, Stuttgart 1958 7; bezügl. meiner Vermutung, daß der Zusammenhang zwischen Führung und freier Entfaltung, der spätestens seit Rousseau thematisiert wurde, bereits vor Litt in seiner Eigenart aufgedeckt wurde, darf ich auf meine Veröffentlichungen über Adalbert Stifter und Ernst von Feuchtersleben verweisen; vgl. insbes. K. G. Fischer, Führen und Wachsenlassen. Ein Deutungsversuch von Stifters Erzählung „Zwei Witwen", in: VJS des A. Stiftersnstttut des Landes Oberösterreich, Folge 3/4 (1961),

  10. Von allen Pädagogen, die hier namhaft gemacht werden könnten, darf und möchte ich nur einen nennen, der durch seine christliche Uberzeugungs-treue, antinazistische Haltung und intellektuelle Unbestechlichkeit besonders hervorragt und den Zusammenhang zwischen Dressur, Gewöhnung, Ab-richtung hie und Verantwortungslosigkeit, Gewissenlosigkeit da gewiß nicht jenseits von Politik elaboriert hat: Alfred Petzelt, Grundzüge systematischer Pädagogik, Stuttgart 1947 '.

  11. B 13/75, S. 25.

  12. Die aktuelle polemische Auseinandersetzung mit meinem Schulbuch „Gesellschaft und Politik" stellt gern das Kapital „Was ist bloß mit der Familie los?" in den Mittelpunkt, — so auch Boventer in B 13/75.

  13. B 45/75, S. 22.

  14. Ebenda. Das Zitat Eduard Sprangers ist bei Boventer nicht nachgewiesen und läßt sich mithin im Kontext auch nicht überprüfen.

  15. Vgl. für eine erste Information: Sepp Steiner, Der polytechnische Lehrgang, Braunschweig 1965 (Westermann Taschenbuch S/ll), vom Verf., Polytechnische Erziehung, Göttingen 1970.

  16. B 45/75, S. 22.

  17. Ebenda.

  18. Vgl. Anm. 2.

  19. B 13/75, S. 12.

  20. B 45/75, S. 27.

  21. Ebenda, S. 28, zit. Günter Rohrmoser, Die metaphysische Situation unserer Zeit, Stuttgart 1975 S. 129; an dieser Stelle wäre es tunlich gewesen. Rohrmosers einschlägige Veröffentlichung einzubeziehen, nämlich: Emanzipation und Freiheit, München 1970.

  22. Ebenda.

  23. Damit es kein Mißverständnis gibt: die hier Ge-nannten kann hinsichtlich ihrer Auffassung von Bildung, ihrer wissenschaftstheoretischen Position und ihres normativen Vorverständnisses nur zusmmenfassen, wer bloß assoziativ Ubereinstim-Mögen dann schon „sieht", wenn übereinstimmen-Je Sprachzeichen gebraucht werden.

  24. Beide Zitate: B 13/75, S. 25.

  25. B 45/75, S. 21.

  26. Vgl. z. B.: Curriculum Handbuch, hrsg. v. Karl Frey u. a., 3 Bde., München und Zürich 1975, um nur den neuesten und umfangreichsten Titel zu nennen.

  27. B 45/75, S. 20; diese wie andere Aussagen Boventers sind auch semantisch besonders aufschlußreich: wie hier wird permanent mit emotional besetzten Sprachzeichen — „abgenutzt", „importiert" usw. — operiert. Dieses Verfahren kann weder als Deskription noch als Begriffsbildung gelten.

  28. Vgl. z. B.: Das sozialwissenschaftliche Curriculum in der Schule, hrsg. v. Antonius Holtmann, Opladen 1972; ferner Christoph Wulf, Das politisch-sozialwissenschaftliche Curriculum, München 1973.

  29. B 45/75, S. 20.

  30. Die dem Behaviorismus verpflichtete Lern-Psychologie und Lerntheorie sowie ihre Ausflüsse im Bereich der Lernprogrammierung erscheinen heute rückblickend als eine Modewelle, die nach mehrjähriger Diskussion längst abgeklungen ist; daß „Elemente" von ihr Theorie und Praxis befruchtet haben, soll nicht verleugnet werden, ist vielmehr zu begrüßen.

  31. B 45/75, S. 21. Verfassungsrechtlich, aber auch durch Konkordats-Vereinbarungen, ist das vermutlich von Boventer Gemeinte, die Wiederherstellung von Konfessionsschulen, nach meinem Ermessen ausgeschlossen. In der wissenchaftlichen Diskussion, deren Grenzen und Möglichkeiten ebenfalls verfassungsrechtlich festgelegt sind, kann allerdings auch niemand dazu gezwungen werden, „Unbedingtheit der Normen" (Boventer in B 13, S. 25) anzuerkennen. Das mag man bedauern, aber das kann und darf nicht zur Verunglimpfung jener Mitunterredner führen, die von der Unbedingtheit von Normen nichts halten. Zwischen Anerkennung von Normen und deren Begründung besteht der entscheidende Unterschied.

  32. B 45/75, S. 20.

  33. B 13/75, S. 25; Boventer behauptet in diesem Kontext: „Jahrzehnte der Entwicklungs-und Jugendpsychologie sind offenbar an den Autoren (gemeint sind die der Richtlinien für den Politik-Unterricht in NRW, d. V.) spurlos vorübergegangen“ (in: B 13, S. 25). Auch diese Feststellung bleibt unbegründet und unbewiesen, so daß hier mit gleichem Geltungsanspruch erwidert werden kann: Jahrzehnte kritischer Auseinandersetzung mit der Entwicklungs-und Jugendpsychologie sind an Hermann Boventer spurlos vorübergegangen. Um wenigstens einen Rahmen abzustecken, seien als hoch-signifikante Namen genannt: Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer einst, Piaget und Aebli bis in unsere Tage hinein, von den psychoanalytischen Ansätzen ganz zu schweigen.

  34. B 13/75, S. 25.

  35. Vgl. z. B. aus meiner Feder: Einige Schwierigkeiten und Probleme der Unterrichtspraxis im Hinblick auf Curricula und Curriculumtheorie, in: Curriculum-Entwicklungen zum Lernfeld Politik, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, H. 100, Bonn 1974, S. 43 f; ferner u. a. Wolfgang Hilligen, Dreimal Emanzipation, in: Gegenwartskunde, H. 3/1973, S. 271 f.

  36. Vgl. hierzu das Literaturverzeichnis zu meinem Artikel „Emanzipation", in: Wörterbuch der Erziehung, hrsg. v. Chr. Wulf, München 1974, S. 159/160; ferner meine Sammelbesprechung „Politische Bildung — Vehikel der Emanzipation?", in: Neue Politische Literatur, H. 3/1975, S. 365 f., ferner neuestens: Theodor Wilhelm, Jenseits der Emanzipation, Stuttgart 1975.

  37. B 45/75, S. 19.

Weitere Inhalte

Kurt Gerhard Fischer, Dr. phil., geb. 1928 in Leipzig; Studium der Pädagogik, Philosophie, Psychologie und Sozialwissenschaften; Prof, für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Universität Gießen. Veröffentlichungen bis 1972 s. B 29/72; neuere Veröffentlichungen: Überlegungen zur Didaktik des Politischen Unterrichts, Göttingen 1972; Problem Bildung — Strukturen und Tendenzen (Hrsg. Dieter Cwienk und K. G. Fischer), Stuttgart 1974; Theorie und Praxis von Consensus und Dissensus, Hannover 1974; (Hrsg.) Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der Politischen Bildung, Stuttgart 1975; (Schulbuch; Hrsg.) Mensch und Gesellschaft, Stuttgart 1973; (Lehrer-handbuch, Hrsg.) Mensch Gesellschaft Politik, Stuttgart 1974.