Es ist still geworden um die Rahmenrichtlinien für den politischen Unterricht, nach all dem Lärm, so still, daß jetzt vielleicht wieder einmal — zum wievielten Mal? — von ihnen geredet werden kann. Und daß es so still geworden ist, liegt sicherlich nicht daran, daß es nichts mehr zu sagen gäbe in dieser Frage, eher wohl an der bildungspolitischen Situation insgesamt, die keinen Spielraum mehr läßt für inhaltliche Reform. Innovation steht längst nicht mehr auf der Tagesordnung, es ist schwierig genug geworden, wenigstens Erreichtes zu halten. . Trauer", so heißt es bei Alexander Mitscherlich, „ist ein seelischer Prozeß, in welchem das Individuum einen Verlust verarbeitet". Und Trauer in diesem ganz nüchternen Sinn wäre daher wohl die angemessene Kategorie, unter der jetzt von den Rahmenrichtlinien zu reden ist. Denn daß ein Verlust zu beklagen ist — auch dies ohne alles Pathos —, liegt deutlich genug auf der Hand. Nicht so sehr der Verlust eines Textes, der nicht jederzeit neu und besser zu formulieren wäre, auch nicht der Verlust der Hoffnung, es könne sich hinter den notdürftig restaurierten und ausgebauten Fassaden vielleicht doch auch innen etwas bewegt haben, der Verlust vielmehr einer Chance. Der Chance nämlich für eine Gesellschaft, sich aus Anlaß der Frage, wie sie sich ihren Schülern vermitteln soll, vernünftig über den Zustand ihrer selbst zu verständigen. Doch so viel auch aus Anlaß der Richtlinien über Politik, Demokratie, Gesellschaft und Staat geredet worden ist, das Spiel mit den Wörtern hat selten irgendwo an Tatbestände gerührt, die Diskussion war meist — das wird im Rückblick immer deutlicher — ein bloßer Abtausch von Begriffen, zur Verhinderung des Redens über deren Inhalte. Diese Einsicht macht die Erinnerung an das, was da eigentlich geschehen ist und warum es vielleicht geschehen ist, zu dem, was Mitscherlich eben „Trauerarbeit" nennt. Denn nur solche Trauerarbeit als Verarbeitung und Aufarbeitung von Erinnerung kann verhindern, daß das bloße Sich-Abfinden mit dem nichtbegriffenen Geschehen in perspektivloser Resignation endet, oder aber, daß die Verdrängung des Geschehenen Utopie in Illusion abgleiten läßt — Alternativen wohl, die in der gegenwärtigen politischen und bildungspolitischen Situation beide gleichermaßen fatal wären.
Die verpaßte Chance Was also ist geschehen, was macht Erinnerung hier zur Trauerarbeit? Nicht so sehr, daß es nicht gelungen ist, die Richtlinien in ihrer ursprünglichen Form durchzusetzen. So wichtig sie waren, eine Entwicklung überhaupt erst in Gang zu setzen, so richtig auch das Grundkonzept war und bleibt, die konkrete Ausführung hatte und hat Mängel genug — zuviele jedenfalls, als daß jede neue Überarbeitung von vornherein sachlich überflüssig schiene und darum politisch unlauterer Absichten verdächtigt werden müßte. Eher bieten da schon Art und Tendenz der erfolgten Überarbeitungen Anlaß zu solchem Verdacht. Doch das wäre vermutlich durch ein entschlossenes bildungspolitisches Handeln noch zu reparieren.
Unwiderruflich verpaßt hingegen — und das rührt nun an den Lebensnerv eines demokratischen Gemeinwesens — ist die Chance, aus Anlaß der Richtlinien eine öffentliche politische Auseinandersetzung zu führen, die sich nicht nur auf das sicherlich auch legitime Aushandeln von Interessen, Macht-und Einflußbereichen erstreckt hätte, auf das sich politische Auseinandersetzungen meist zu beschränken pflegen. Denn mit den Richtlinien standen Grundfragen zur Debatte, die weit vorher liegen, Grundfragen des politischen Umgangs miteinander, Grundfragen vor allem nach dem, was denn konkret und inhaltlich hinter den Wörtern stehen, was Selbstbestimmung vielleicht heißen könnte, was Emanzipation. Fragen also nach den konkreten Formen politischer Lebensqualität. Und alle diese Fragen, das eben ist die vertane Chance, hätten in einer für solche Themen ansonsten kaum erreichbaren Breite und Öffentlichkeit diskutiert werden können, und alle diese Fragen — rekapituliert man heute noch einmal die ganze Auseinandersetzung um die hessischen Richtlinien und ihre Nachfolger in Nordrhein-Westfalen oder auch Rheinland-Pfalz — sind allenfalls im kleinen Kreis.der Fachzeitschriften hie und da einmal wirklich gestellt worden. Was vor der breiten Öffentlichkeit stattgefunden hat, war weithin nur ein Scheingefecht um künstlich konstruierte Probleme, um künstlich aufgeladene Begriffe, um Alternativen schließlich, die keine waren und keine sind.
Vorüberlegung über den Schein Die Vermeidung des Inhalts durch Benennung mit beliebigen Namen Da ist zunächst die Ebene der bloßen Diffamierung und Beschimpfung. Ihr gegenüber ist allerdings nicht Trauerarbeit die angemessene Reaktion, sondern Scham. „Klassenkämpfer versuchen aus Lehrern sozialistische Agitatoren zu machen", „die Schüler marxistischen Doktrinen unterwerfen", „neomarxistische Theorien der neuen Linken", „Mißbrauch der Schule für den Klassenkampf“, „perverse Auffassung vom schulischen Erziehungsauftrag" — man erinnert sichl All dies dürfte meist keinen anderen Sinn gehabt haben als den der Spekulation auf unverarbeitete Ängste, von denen noch zu reden sein wird. Wo hingegen die Mär vom marxistischen Charakter der Richtlinien tatsächlich subjektiv ehrlich vorgebracht wurde, ist sie immer nur eine Aussage über das Marxismusverständnis und die politische Vorstellungswelt derer, die so argumentieren, eine Sachaussage über die Richtlinien ist sie nicht.
Meist allerdings ging wohl beides untrennbar ineinander über: der eigene Glaube, dies alles könne wohl nur die Frucht eines kommunistischen Marschs durch die Institutionen sein, und die mehr oder weniger bewußte Mobilisierung der aus Angst geborenen Aggression gegen alles, was nicht dem eigenen, mühsam stabilisierten materiellen wie ideellen Milieu entspricht, gegen alles, was anders ist als die eigenen Denkund Verhaltensweisen. Und das alles eben, was anders ist, wie immer es im einzelnen aussehen mag, pflegt durch diese Brille gesehen seit eh und je nur einen einzigen, mythisches Unheil symbolisierenden Namen zu haben: Marxismus!
Daß dies so ist, zeigt nur einmal mehr, daß es in der Bundesrepublik aus benennbaren historischen Gründen — und die Erfahrung mit stalinistischer Praxis ist allenfalls einer davon — zum allergeringsten Teil eine Aufgabe politischer Bildung und politikwissenschaftlichen Argumentierens ist, die Marxismus-Diskussion und das Verhältnis zum Marxismus überhaupt aufzuarbeiten. Es ist in erster Linie ein psychoanalytisches und ein therapeutisches Problem. Das schließt nun zwar argumentierende Aufklärung selbstverständlich nicht aus; diese Aufklärung muß aber solange wirkungslos bleiben, solange sie sich nur auf das im Argument verbal Transportierte beschränkt und den Bereich des Verdrängten nicht berücksichtigt. Solange nämlich löst rationales Argumentieren nur rationalisierendes Gegenargumentieren aus, dessen Funktion in erster Linie darin besteht, das Verdrängte vor Be-wußtwerdung zu schützen.
Erster Versuch über den Schein Die Vermeidung des Inhalts durch beliebige Erhöhung des Anspruchsniveaus Solche Verdrängung reicht daher durchaus auch in Bereiche der Diskussion hinein, wo zwar formal korrekt Argument gegen Argument gesetzt wird, wo aber eine genauere Analyse bisweilen sehr schnell zu Tage fördern kann, daß nur zum Schein um das gefochten wird, worum es in den Wörtern geht.
Eine derartige Scheinargumentation liegt zunächst einmal immer dann vor, wenn zum Beispiel an die Richtlinien Qualitätsanforderungen gestellt werden, die zwar sachlich durchaus einleuchtend sein mögen, ihren Vorwandcharakter aber sofort erkennen lassen, wenn man einmal fragt, inwieweit denn die bisherigen Stoffpläne ihnen entsprochen haben. Man hat den erschrockenen Aufschrei der Historiker noch im Ohr, die Rahmenrichtlinien machten die Geschichte zum Steinbruch, dem nach Belieben Beispiele zur Untermauerung vorgefaßter Thesen zu entnehmen seien; die Integration des Geschichtsunterrichts in den politischen Unterricht mache es unmöglich, daß die Geschichte noch als Kontinuum erfahren werden könne, den Schülern werde schließlich die Erfahrung des der eigenen Zeit und Kultur Fremden vorenthal-ten, an welcher Erfahrung sie aber doch allein Toleranz lernen könnten, und ähnliches mehr.
Nun ist sicherlich die Fächerintegration mit der problematischste Teil der Richtlinien. Doch, dies zugestanden, wo in aller Welt hat denn der bisherige Geschichtsunterricht jenes Kontinuum Geschichte erfahrbar werden lassen hinter der Ansammlung meist militärisch geprägter Daten, Namen, Orte und Einzelereignisse, wenn er sich an die Stoffpläne hielt? Wo hat denn gerade die Geschichte die Erfahrung des Fremden vermittelt? Wurde nicht vielmehr in den Schulen immer und immer wieder Historie gelehrt und gelernt auf eine Weise, die ihrerseits weit eher das Bild des Steinbruchs provoziert? Eines Steinbruchs, dessen beziehungsloses Datengeröll im besseren Fall ohne jede Beziehung zur eigenen Gegenwart blieb, darum auch nicht die Erfahrung des Fremden vermittelt hat, sondern allein die Erfahrung, daß einen das alles letztlich nichts angehe — was ja wohl etwas erheblich anderes ist. Im schlimmeren und häufigeren Fall blieb es nicht einmal bei der beziehungslosen Datenhalde, wurde vielmehr historisches Getrümmer nach den Ansichten und Kriterien der jeweiligen Gegenwart geordnet und der so erreichte scheinbare Zusammenhang als korrekt restauriertes historisches Bauwerk ausgegeben — Produkt einer Geschichte, die von den einsamen Entscheidungen überragender Männer gemacht wird. Wo hat es also den Geschichtsunterricht gegeben, der den Kriterien auch nur annähernd genügt hätte, deren perfekte Erfüllung man jetzt auf der Stelle von den Rahmenrichtlinien verlangt?
Wo hat es ferner den inneren Zusammenhang zwischen den Lernfeldern und Lernzielen gegeben, dessen mangelnde Perfektion bei den Rahmenrichtlinien als schier unerträglich empfunden wird? Die Stoffpläne, wie sie bisher Geltung hatten und in einer ganzen Reihe von Bundesländern immer noch haben, waren und sind doch nie etwas anderes gewesen als eine historisch zufällige Sammlung von Einzelfakten, wie sie einem in den Rang von Wissenschaft erhobenen Geschmack der jeweiligen Zeit entsprach. Verglichen damit sind die Rahmenrichtlinien doch trotz aller Inkonsequenzen und Unvollkommenheiten im einzelnen, trotz aller bewußt, wenn auch nicht willkürlich gesetzten Optionen für Themenfel-her, geradezu eine Orgie an stringenter Logik.
Zweiter Versuch über den Schein Die Vermeidung des Inhalts durch beliebige Reduktion aui das Numerische an ihm Wird von den einen logischer Zusammenhang vermißt, so ist er anderen wiederum zu stringent. So hat etwa besonderen Anstoß erregt, daß die Rahmenrichtlinien von einem einzigen „obersten Lernziel" ausgehen: „oberstes Lernziel für eine demokratische Gesellschaft ist ... die Befähigung zur Selbst-und Mitbestimmung". Für den rheinland-pfälzischen Kultusminister Bernhard Vogel beispielsweise ist die Attacke auf die Singularität dieses obersten Lernziels geradezu zum „ceterum cen-seo" geworden, und wo immer sich ihm dazu Gelegenheit bietet, zieht er dagegen mit der Begründung zu Felde: „Rahmenrichtlinien, die von einem einzigen . obersten Lernziel’ ausgehen, verfehlen, selbst wenn dies Lernziel dem Grundgesetz entnommen ist, die Aufgabe, zu Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit zu führen. Die Ableitung von Lernzielen aus einer einzigen obersten Norm ist niemals zwingend. Sie täuscht einen Zusammenhang vor, der wissenschaftlicher Nachprüfung nicht standhält" — so Vogel in der Antwort auf eine große Anfrage im rheinland-pfälzischen Landtag. Und weiter: „Das Ziel, den jungen Menschen zur Selbständigkeit zu führen, kann nur erreicht werden, wenn alternative Modelle des Denkens und Handelns, wenn gegensätzliche Meinungen und konkurrierende Wertvorstellungen angeboten werden.“
Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, und doch erweist sich auch dies spätestens auf den zweiten Blick als ein nur scheinbar logisches Spiel mit Begriffen. Denn zunächst einmal: Warum gerade liegt der logische Sündenfall in der Annahme eines einzigen obersten Lernziels? Ist denn der Ausgang von zwei, drei oder vier gleichrangigen obersten Lernzielen weniger willkürlich? Wie viele müssen es mindestens sein, damit den jungen Menschen die Selbständigkeit garantiert ist? Wie viele dürfen es höchstens sein? Schon also, wenn man von Vogels eigener Voraussetzung ausgeht, sein Argument immanent ernst nimmt, ergibt diese Beweisführung keinen rechten Sinn, weil erste Begriffe eines Ableitungszusammenhangs immer voluntaristisch gesetzt sind, weil sie immer das bewußt gewollte Ergebnis einer Entscheidung sein müssen. über diese Entscheidung dann inhaltlich zu reden, ist daher immer möglich und nötig. Denn selbstverständlich muß sich eine solche politische Setzung in der Diskussion ausweisen, entweder dadurch, daß sie unmittelbar vom Konsens aller getragen wird, oder aber dadurch, daß schlüssig gezeigt werden kann, daß die politische Setzung mindestens eine mögliche und legitime Konsequenz aus der vom Konsens aller getragenen Verfassung ist. Dies alles mag also einem obersten Lernziel mit Gründen bescheinigt oder bestritten werden, die bloße Zahl, auch die Einzahl, der Lernziele per se zu attackieren, ist ein formales Schaugefecht am Inhalt vorbei.
Zeigt sich allein schon an der gleichbleibenden Unbegründbarkeit jeder beliebigen Anzahl von Lernzielen, daß der Attacke auf den Singular ganz offensichtlich der Ernstcharakter abgeht, das heißt, daß damit nicht das getroffen werden kann und soll, was wirklich gemeint ist, so liegt darüber hinaus auch auf der Hand, daß die Vogel’sche Beweisführung auch prinzipiell nicht schlüssig ist. Denn es gibt sehr wohl erste Begriffe in bestimmten Zusammenhängen, die sich dadurch auszeichnen, daß sie nicht in sich in gleichwertige Alternativen aufgespalten werden können. Sie können lediglich mit ihrer Negation konfrontiert werden, die aber in jedem Falle einen Unwert darstellt.
Solche Begriffe sind zum Beispiel die Universalien der Philosophie, wie etwa die Begriffe gut und währ. Würde also „Wahrheit“ als oberstes Lernziel gesetzt, dann könnte dem nicht ernsthaft entgegengehalten werden, zur Herstellung von Pluralität müsse eine alternative Wahlmöglichkeit zur Wahrheit gleichrangig mit verankert werden. Wohl aber können solche Begriffe nur solange ihren Anspruch auf Alleingültigkeit behaupten, solange sie in der Sphäre rein abstrakter Begriff-lichkeit verbleiben. Sobald Wahrheit konkretisiert wird, gibt es wohl immer mehr als nur eine Möglichkeit für das, was nun in einem konkreten Fall als Wahrheit zu gelten hat. Von daher hat Vogel insoweit Recht, als es für einen konkreten Inhalt so gut wie nie nur eine einzige „richtige" Lösung gibt. Auf die Richtlinien angewandt heißt das: auch dort gibt es durchaus Begriffe, die mit Recht alternativlos gesetzt werden, solange sie rein abstrakt definiert bleiben. Ein solcher Begriff wäre etwa: „Emanzipation" oder eben:
„Selbstbestimmung". Selbstverständlich kann es für den Inhalt dessen, was Selbstbestimmung ist, niemals nur eine einzige konkrete Ausformung geben, nur eine einzige Theorie oder nur ein einziges politisches Modell. Dennoch ist die Setzung des abstrakten Begriffs Selbstbestimmung als einziges oberstes Lern-ziel völlig legitim, weil es als einzig mögliehe Alternativen zu Emanzipation und Selbstbestimmung nur Nicht-Emanzipation gibt, Unterdrückung, Fremdbestimmung usw., alles also Begriffe, die auf dieser abstrakten Ebene sämtlich illegitime Unwerte darstellen.
Was Vogel vermutlich — und insoweit zu Recht — meint, aber nicht sagt, ist dies: daß bei der Beurteilung der Frage, ob ein konkreter Tatbestand nun Unterdrückung zu nennen ist oder nicht, fast immer mehr als eine Entscheidung möglich bleiben muß und daß sich überdies die wenigsten Sachverhalte nach dem schlichten Ja-Nein-Modell klassifizieren lassen.
Dies alles ohne Einschränkung zugegeben! Nur, es ändert nichts daran, daß es politisch wie logisch legitim bleibt, einen obersten Begriff wie zum Beispiel „Emanzipation" anzusetzen, solange mehr als nur eine Möglichkeit offenbleibt für das, was im Einzelfall „emanzipativ" ist und was nicht. Meint man aber nur dies letztere, dann muß man dies auch sagen, daß heißt, man muß inhaltlich reden, man muß auf den Tisch legen, was man denn selber unter Emanzipation und Selbstbestimmung versteht. Dann allerdings könnte konkret geredet werden.
Doch was Rheinland-Pfalz seinerseits an Richtlinien vorgelegt hat, eine halbherzige Mischung aus verbaler Beteuerung, ein bißchen neuer Didaktik und viel altem Stoffplan, stärkt nur den Verdacht, die Verlagerung der Diskussion vom Inhalt auf die Arithmetik der Lernziele sei halt doch nicht nur ein Mißverständnis in Sachen Logik, sondern diene vielmehr, vielleicht unbewußt, aber doch nicht von ungefähr, der Verhinderung des Redens über eben jenen Inhalt.
Ein eher skurriles Parallelbeispiel zu dieser Art von Argumentation ist der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände zu danken. In deren Stellungnahme zu den Richtlinien: „Erziehung zur politischen Mündigkeit?" heißt es nämlich: „Wie problematisch und widersprüchlich eine einseitige Fixierung auf eine Methode sein kann, erkennt man übrigens auch daran, daß die Richtlinien nur einen einzigen Unterrichtsstil zulassen, nämlich den sozial-integrativen." Es gehöre aber sozusagen zu den schulischen Selbstverständlichkeiten, daß man Unterrichtsstile „immer im Plural anbietet, statt einen Stil zur Pflicht zu machen". Diese Argumentation spricht wohl vollends für sich selbst. Denn wenn hier die pädagogische Binsenweisheit, daß es viele didaktische Methoden und Wege gibt, die im einzelnen je nach Gegenstand angemessen eingesetzt werden müssen, unversehens zur Forderung nach Pluralität des Unterrichtsstils selbst wird, des Gesamts aller didaktischen und pädagogischen Verhaltensweisen und Entscheidungen also, dann ist dies doch wohl geradezu ein Paradebeispiel für eine Methode, die unter dem Vorwand pädagogischer Grundsatzüberlegungen nur dazu dient, der Peinlichkeit aus dem Wege zu gehen, sagen zu müssen, was man wirklich will. Denn zum sozial-integrativen Unterrichtsstil gibt es ja per definitionem nur eine einzige Alternative, und statt formal mit Einzahl und Mehrzahl zu argumentieren, wäre es dann schon ehrlicher gewesen zu sagen, man halte es im Interesse eines reibungslosen Betriebsablaufs für besser, den Nachwuchs für die Arbeitswelt beizeiten an einen autoritären Führungsstil zu gewöhnen.
Dritter Versuch über den Schein Die Vermeidung des Inhalts durch beliebige Bezichtigung der Verfassungsleindlichkeit Auch die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien krankte auf ihre Weise ebenfalls vor allem daran, daß zwar viel über Demokratie geredet wurde, das Demokratieverständnis der Diskutanten aber nie wirklich formuliert wurde. Nur so konnte jenes immer wieder auftauchende Mißverständnis entstehen, als seien kritische Distanz und Identifikation zwei einander ausschließende Haltungen und nicht zwei einander zugeordnete Seiten derselben Sache. Der im Sinne der Rahmenrichtlinien erzogene Mensch werde . identifikationsunfähig" hatten vor allem Nipperdey und Lübbe in ihrem für den hessischen „Elternverein" erstellten „Gutachten" immer wieder behauptet, weil die Richtlinien alles und jedes nur kritisch angingen und das eben nur zu mißtrauischer oder auch überheblicher Ablehnung des demokratischen Staates führen könne. Die Richtlinien nehmen dem gegenüber für sich in Anspruch, zur . Loyalität gegenüber dem Grundgesetz" zu erziehen, präzisieren allerdings: „diese Loyalität wird zur kritischen Loyalität, indem sie Verfassungswirklichkeit am Grundgesetz mißt".
Aus methodisch-didaktischen Gründen soll dabei im Unterricht möglichst von konkreten Konfliktfällen ausgegangen werden, da dabei eher ein Interesse der Schüler aufgrund persönlichen Betroffenseins vorausgesetzt werden kann. Und weil es um Konflikte geht, soll immer auch gefragt werden, welche Interessen denn hinter welchen Wirklichkeiten stehen und die Konflikte produzieren.
Daß all dies so pauschal als verfassungsfeindliche Haltung denunziert werden konnte, ohne überall landauf und landab der Lächerlichkeit zu verfallen; ist nicht allein durch die hinter der Kampagne gegen die Richtlinien stehenden Interessen zu erklären. Dahinter steht vielmehr auch ein fundamental verschiedenes Verständnis von Demokratie. Die Kritiker der Richtlinien gehen dabei nämlich — und nur so wird ihre Argumentation wenigstens verständlich, wenn auch nicht zutreffend — von einem letztlich statischen Demokratieverständnis aus. Danach ist die demokratische Gesellschaft identisch mit dem Staat und seinen Institutionen; Demokratie ist nicht eine Lebens-und Gesellschaftsform, die sich bestimmter Institutionen bedient, um sich selber optimal in Realität umzusetzen, diese Institutionen sind vielmehr selbst unmittelbar die Demokratie. Dieses objekthaft-verdinglichte Demokratieverständnis ist konzentriert auf seinen Begriff gebracht in jenem bezeichnenden Satz aus den bildungspolitischen Grundsätzen des Bundeskulturausschusses der CDU vom November 1973: „Letztlich ist der demokratische Staat nur so stark, wie er Widerhall findet in der Gehorsams-und Leistungsbereitschaft derjenigen, an die er sich wendet." Deutlicher kann in der Tat kaum zum Ausdruck gebracht werden, daß hier der demokratische Staat vorgestellt wird als ein Etwas, das den Bürgern gegenübersteht, das an sie Forderungen zu stellen hat, das in jedem Falle etwas von den Bürgern Verschiedenes ist. Daß dann für das mögliche Verhältnis der Bürger zu diesem ihnen gegenüberstehenden Ding „Staat" auch noch das wohl mehr als nur unglückliche Wort „Gehorsam" gewählt wurde, wäre einer weiteren Erörterung wert, weil sich darin überdies auch noch zeigt, daß Staat von den Autoren offensichtlich nur in Form von Autorität vorgestellt werden kann, einer Autorität, die von den Bürgern nicht auf ihre Legitimität hin zu befragen ist, deren Anweisungen vielmehr ohne Frage auszuführen sind.
Natürlich meine man nicht jenen blinden Gehorsam, sondern reflektierte Einsicht in die Sachlogik der Autorität, wird man dem entge23 genhalten. Nur, wenn man das meint, wiederum, warum sagt man es dann nicht? Wenn nicht Gehorsam gemeint ist, sondern Loyalität, Identifikation, das heißt, die Einsicht der Bürger, daß der demokratische Staat ihrer aller Sache ist, zu der zu stehen ihr eigenes Interesse ist, warum sagt man dann nicht Loyalität? Und wenn man meint, diese Loyalität solle reflektiert sein, das heißt, die Bürger sollten ihre grundsätzliche Bereitschaft, zu diesem Staat zu stehen, nicht sozusagen automatisch abrufen lassen, sondern sich jeweils im Einzelfall das Recht Vorbehalten zu prüfen, inwieweit die Institutionen des Staates den Forderungen einer demokratischen Gesellschaft entsprechen und inwieweit vor allem die konkrete Einzelmaßnahme demokratisch legitimiert ist — wenn man das meint, warum sagt man dann „Gehorsam“ statt „kritische Loyalität"? Oder sollte eben doch etwas anderes gemeint sein?
Dieser affirmativ-statischen Staatsvorstellung steht das in der Tat davon zu unterscheidende kritisch-prozeßhafte Demokratieverständnis der Richtlinien gegenüber. Danach ist eine demokratische Gesellschaftsform nicht unmittelbar identisch mit ihren staatlichen Institutionen und Regelmechanismen. Diese müssen vielmehr ständig daraufhin überprüft werden, ob und inwieweit sie die jeweils historisch bestmögliche Umsetzung und Realisation der Idee Demokratie sind. Verfassungswirklichkeit also ist an der Verfassung zu messen und: „einmal Erreichtes ist nicht ein für alle Mal gesichert".
Der demokratische Staat wäre danach nicht so stark wie die „Gehorsamsbereitschaft" der Bürger, sondern so stark wie die Bereitschaft der Bürger, den permanenten Prozeß der geschichtlichen Realisation von Demokratie bewußt mitzutragen. Dies setzt freilich auch Identifikation mit den jeweils bestehenden konkreten Institutionen des Staates voraus — eine Indentifikation aber, die diese Institutionen nicht deshalb akzeptiert, weil sie eben da sind, sondern deshalb, weil in ihnen Demokratie und Verfassung sozusagen materialisieren. Die Identifikation der Bürger geht dabei dann allerdings nur so weit, wie diese Institutionen und die von ihnen ausgehenden Entscheidungen eine angemessene Realisation der Verfassung darstellen. Wenn und insoweit Institutionen und ihr konkretes Tun der Intention der Verfassung nicht, noch nicht oder nicht mehr entsprechen, fordert gerade die Loyalität zu dieser Verfassung, kritisch auf eine adäquatere Realisation der Verfassung zu drängen und dies auch selbst politisch zu betreiben.
Es versteht sich von selbst, daß dies auch die verfassungsmäßig legitime Möglichkeit von Veränderung beinhalten muß — im Rahmen der durch das Grundgesetz vorgegebenen Grenzen und im Rahmen der dort vorgesehenen Spielregeln. Wer diese Dialektik von Bewahren und Verteidigen von Demokratie in ständiger Realisierung und Veränderung auf die jeweils gegebenen geschichtlichen Umstände hin nicht aktzeptiert, reduziert Demokratie auf eine einmalige, zwar nicht nur akzeptierbare, sondern auch verteidigenswerte, dennoch aber unvollkommene historische Ausprägung. Wird so aber die Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit geleugnet, muß daraus ein permanentes Potential politischer Frustration entstehen, das — da der ihm zugrunde liegenden Erfahrung die Legitimität bestritten wird — in unpolitischer Resignation oder nicht minder gefährlichem unreflektiertem Aktionismus enden muß, letztlich in der Ablehnung der demokratischen Gesellschaftsform selber.
Wird diese Differenz hingegen als Aufgabe begriffen, als zugleich prinzipielle und jeweils aktuelle Aufgabe, dann entsteht genau daraus jenes Potential an demokratischer Gesinnung, dessen Umsetzung in politisches Handeln nicht nur Interessenverwaltung und Interessenverteidigung ist, sondern permanente Reform — eine Reform aber, die gerade im Versuch, den Verfassungsauftrag jeweils noch perfekter in politische Realität umzusetzen, nur um so loyaler zu dem bereits Erreichten steht und bereit ist, es zu verteidigen. Es liegt auf der Hand — wenn daraus nun Folgerungen für die politische Bildung gezogen werden sollen —, daß dieses demokratische Engagement in Form kritischer Loyalität nicht mit ohnehin unglaubwürdigen Harmoniemodellen und abstrakter Institutionenkunde zu erreichen ist. Nur wenn die politische Wirklichkeit so in die Schulen gelangt, wie sie ist, als ein Ineinander von Konflikten, Interessen, Rechten, Pflichten, guten und schlechten Entscheidungen, gerechten und ungerechten Ordnungselementen, kann daraus jene politische Haltung gelernt werden, die nicht nur Gegebenes hinnimmt, sondern in freier Selbstbestimmung jene Gesellschaftsordnung zugleich erkämpft und verteidigt, die allein solche Selbstbestimmung für alle garantieren kann. Erster Versuch über die Angst Die Vermeidung der Einsicht durch Projektion aui den Außenfeind Wenn dem allem aber so ist, warum kann dann nicht vernünftig und rational darüber geredet werden? Warum jener hysterische Aufschrei, als die hessischen Richtlinien erschienen und später dann der Rahmenlehrplan Politik für die Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen, warum jene Flut (ebenso unsinniger wie) hochemotionalisierender Diffamierungen, warum schließlich jenes unerklärliche Maß an Aggression?
Natürlich waren weder die erste Fassung noch auch die zweite auch nur annähernd so perfekt, daß sie nicht auch in vielen Punkten zu Recht angegriffen werden konnten. Doch angreifbar wird auch jede künftige Fassung sein, sind vor allem auch die bis dahin geltenden Stoffpläne weiß Gott immer gewesen.
Das also könnte das Ausmaß der Erregung I wohl kaum erklären. Weiter nun sind durch die Art, wie Unterricht inhaltlich und formal an den Schulen stattfindet, immer auch Interessen berührt, weil keine Gesellschaftsordnung in ihrer konkreten Ausformung jemals perfekt sein kann und, eben weil und solange sie dies nicht ist, mit Notwendigkeit einige benachteiligt und andere privilegiert. Verständlich daher auch, daß es nicht das Interesse der Privilegierten sein kann, daß sich I kritisches Bewußtsein und der Wille zur Veränderung in den Schulen verbreiten. Hier wäre daher wohl schon eher wenigstens ein Teil der Wurzeln dessen auszumachen, was sich in der dreijährigen Debatte um die hessi-
chen Rahmenrichtlinien unterhalb jener dünnen Schicht rationaler politikwissenschaftlicher und didaktischer Diskussion abgespielt hat. Doch auch dies kann längst nicht zur Erklärung dessen hinreichen, was etwa in den Zirkeln des hessischen Elternvereins vor sich ging, in den Leserbriefspalten der Zeitungen, auf den Hessenforen schließlich und vielen vergleichbaren Veranstaltungen — jene fanatische, gelegentlich geradezu haßerfüllte Irrationalität, die den Verfassern der Richtlinien da entgegenschlug, eine Aggression, für die es wohl nur einen Grund geben kann:
Angst.
Die noch zu schreibende ausführliche Geschichte der Richtliniendiskussion wird darum in erster Linie eine Sozialpsychologie der Angst sein müssen. Denn die Art, wie manche Teile der Öffentlichkeit reagiert haben und teilweise auf die einschlägigen Reizvokabeln immer noch reagieren, wird nur verstehbar, wenn man davon ausgeht, daß sie die Richtlinien als Unterschreitung der Fluchtdistanz empfinden, jenes Punktes also, der in der Verhaltensbiologie die Grenze markiert, von der ab ein Lebewesen nicht mehr flieht, sondern blind angreift, gleichgültig wer und wie stark der Gegner ist. So wahllos aggressiv wie die Reaktionen in der Diskussion um die Richtlinien oft waren, reagiert in der Tat nur, wer mit dem Rücken zur Wand steht, wer sich bedroht fühlt, bedroht überdies nicht nur peripher in dem einen oder anderen Interesse. Der Nerv, an den da gerührt wurde, muß lebenswichtig sein und auf eine höchst empfindliche Weise bloßliegen. Wie anders sollte das völlige Aussetzen jeder differenzierten Reaktionsweise zu erklären sein und jene immer wieder geradezu körperlich spürbare neurotisierte Atmosphäre der Angst-Aggression?
Vergegenwärtigt man sich die in der Hauptsache immer wiederkehrenden Diffamierungsvokabeln gegenüber den Richtlinien und ihren Verteidigern — von „roter Demagogie“ über „marxistische Indoktrination" bis hin zu „Moskauer Optik“ —, dann zeigt sich hier sicherlich eine der Wurzeln der Angst: die in den fünfziger Jahren systematisch gezüchtete Kommunistenfurcht. Denn ohne Zweifel wirkt auch heute noch nach, daß man sich die Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien und kommunistischen Gesellschaftssystemen zu lange allzu leicht gemacht hat.
Unterstellt man nun einmal, daß es die so gezüchtete Angst ist, die in jedem Ansatz zu einer kritischen Aufarbeitung der Differenz zwischen demokratischer Idee und bundesdeutscher Wirklichkeit einen Einbruch kommunistischer Ideologie sieht, dann erklärt sich daraus zwar ein Teil der Reaktionen, es erklärt sich aber nicht die Angst selbst. Die Überzeugungskraft des Schreckbildes allein reicht dazu doch wohl kaum aus. Was immer an bestimmten ideologischen Erscheinungsformen des Marxismus wie an konkreten, von ihm geprägten Gesellschaftssystemen mit Recht abzulehnen oder auch zu fürchten ist, es erklärt nicht jenes gelegentlich geradezu paranoide Ineinander von Gefühlen übermächtiger Bedrohung einerseits und permanenten Verrats in den eigenen Reihen andererseits. Erklärbar wird dies nur, wenn man davon ausgeht, daß nicht durch ein von außen drohendes Objekt Angst ausgelöst wird, sondern vielmehr ein innen längst vorhandenes Gefühl tiefgreifender Bedrohung nach außen projiziert wird. Akzeptiert man dies, dann lassen sich auch aus den in der Projektion mythisch übersteigerten Zügen des Projektionsobjektes Schlüsse ziehen auf die Struktur der zugrunde liegenden Ängste.
Die Stilisierung des Kommunismus als einer anonymen Macht, deren teuflische Dämonie nicht zu durchschauen ist, von der man vor allem nie weiß, wer bereits in ihren Diensten steht, hat zunächst einmal eine eigene Erfahrung des Ausgeliefertseins und des Bedrohtseins zur Voraussetzung. Rückübersetzt aus der psychologischen in die politische Sphäre bedeutet dies nicht weniger, als daß ganz offensichtlich ein nicht geringer Teil der Bevölkerung sich nicht als Subjekt politischen Handelns empfindet, sondern als ohnmächtiges Objekt eines seiner Verfügung entzogenen und überwiegend als bedrohlich empfundenen Handelns anderer.
Analysiert man darüber hinaus das zweite Stilelement des Kommunismusbildes, das Moment der unwiderstehlichen und unaufhaltsamen Infiltration, dann deutet dies auf eine tiefgreifende Unsicherheit des eigenen Demokratiebewußtseins: Es ist der eigene uneingestandene Zweifel, der als diabolische ideologische Verführungskunst nach außen verlagert wird.
Dieser Zweifel resultiert aus dem Widerspruch der demokratischen Theorie freier Selbstbestimmung und der praktischen Erfahring, weitgehend nur Objekt politischen Handelns zu sein. Da dieser Widerspruch nicht im Sinne politischer Konsequenz als Aufgabe begriffen, sondern individual-psychologisch abgewehrt, das heißt verdrängt wird, wirkt er aus der Verdrängung heraus als abwehrende Angst gegen alle Veränderung. Denn das Eingeständnis, daß gesellschaftliche Veränderungen nicht nur legitim, sondern auch notwendig sind oder mindestens sein können, würde an die verdrängte Erfahrung rühren, daß das Gegebene nicht auch schon das Perfekte ist, würde das Individuum mit einer Aufgabe konfrontieren, die ihm aufgrund seines konkreten Erfahrungshorizontes unerfüllbar erscheinen muß.
Daß dies so ist, ist nicht zuletzt auch Folge eines politischen Unterrichts an den Schulen, der in den fünfziger Jahren von genau jenem statischen, Ideal und institutioneile Wirklichkeit gleichsetzenden Demokratiebegriff ausging. Erzogen — in wessen Interesse liegt auf der Hand —, nicht selbst Wirklichkeit an der demokratischen Verfassung zu messen, sondern die jeweilige bundesrepublikanische Wirklichkeit immer schon für die absolute Demokratie selbst zu halten, konnte gerade keine belastbare Identifikation mit diesem Staat entstehen. Denn der undifferenzierte, oberflächlich anerzogene Glaube daran, daß alles, so wie es ist, schon seine Ordnung habe, mußte bei jeder konkreten persönlichen Erfahrung, die dem abstrakten Demokratie-Idealismus widersprach, entweder völlig zusammenbrechen oder die Erfahrung mußte wiederum und immer von neuem verdrängt werden. Im studentischen Bereich führte dies beispielsweise über das „Vietnamtrauma" zum Ausbruch der sogenannten Studentenbewegung mit der Freisetzung des Verdrängten und dem Versuch, das Versäumte nachzuholen und aufzuarbeiten. Ein anderer und offensichtlich nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung aber brauchte genau an diesem Punkt die Projektion auf den Außenfeind, um sich mit den Mängeln im Innern nicht auseinandersetzen zu müssen. Das unflexible Festhalten an dem, was ist, ist von daher dann gerade nicht die Folge einer Identifikation damit, es resultiert vielmehr daraus, daß sich als Konsequenz der Verdrängung des eigenen Erfahrungswiderspruchs ein Gefühl entwikkelt hat, daß nichts und niemandem wirklich zu trauen sei, daß man festhalten müsse, was immer man in Händen halte, da alles andere nur schlimmer sein könne und daß jeder schließlich, der „Experimente" wagen wolle, bereits der ideologischen Verführung durch den Marxismus erlegen sei.
Hier zeigt sich eben noch einmal, daß nur ein politischer Unterricht, der auf differenziertes, selbständiges Denken ausgerichtet ist, ein Unterricht im Sinne der Richtlinien also, in der Lage ist, jene Identifikation zu erreichen, die er angeblich verhindert. Denn nur wer gelernt hat, die unvollkommene Realität differenziert an den Maßstab des Ideals anzulegen, wird die abweichende Erfahrung nicht als Widerlegung seines Ideals verstehen, sondern als Teilrealisierung, die eben deswegen auch schon verteidigenswert ist — verteidigenswert aber nicht in dem Sinne, daß an dieser Teil-realisierung nichts geändert werden dürfte sondern in dem Sinne, daß der Teil der Wirklichkeit, der dem demokratischen Verfassungsideal bereits entspricht und soweit er ihm entspricht, die Ausgangsbasis darstellt für die notwendige Veränderung des noch nicht entsprechenden Teils, eine Veränderung, die dann nicht mehr Bedrohung, sondern Aufgabe ist.
Zweiter Versuch über die Angst Die Verhinderung der Einsicht durch Verteidigung des Innenraums Daß diese Angst vor dem Undurchschaubaren, Unverständlichen und darum Bedrohlichen letztlich Angst vor der Politik selbst ist, das heißt vor der eigenverantwortlichen Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebensraums, wird vollends deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, an welchen Punkten denn die Reaktion auf die Richtlinien besonders allergisch war: Man erinnere sich noch einmal an das Hessenforum: vollends gerieten die ohnehin bereits stark aktivierten Emotionen im Saal immer dann außer Kontrolle, wenn das „Lernfeld Sozialisation" zur Sprache kam und da wiederum besonders die Sektoren Sexualität und Familie. Das war damals und dort genau so wenig zufällig wie immer in der ganzen mehrjährigen Diskussion. Kein anderer Inhalt der Richtlinien löst so aggressive Ausbrüche aus wie der Anspruch, der politische Unterricht könne die Wirklichkeit der Schüler nicht vor der Schule außen vor lassen. Wenn er nicht jede Glaubwürdigkeit verlieren wolle, müsse er also den Ort einbeziehen, an dem die Schüler ihre im Positiven wie im Negativen prägendsten und bedrängendsten Erfahrungen machen. Eigentlich doch eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, daß ein Unterricht, der soziale Strukturen und Gegebenheiten durchschaubar, differenziert bewertbar und damit akzeptierbar machen soll, einen der wichtigsten Sektoren der Gesellschaft, die Familie nämlich, nach den gleichen Maßstäben behandeln muß, daß er auch dort verstehbar zu machen sucht, was dem Schüler sonst gelegentlich nur als unveränderbares, doch längst nicht immer als positiv empfundenes Schicksal erscheint. Doch gerade darauf reagierten die Gegner am heftigsten: Man wolle die Kinder den Eltern entfremden, man wolle sie gar gegen die Eltern aufhetzen, man wolle eine totale „Politisie-rung". Und Nipperdey schließlich: „Solche politpädagogischen Eingriffe in die Eltem-Kind-Beziehungen waren bisher nur von den Nationalsozialisten und den Kommunisten be-kannt."
Was in aller Welt war geschehen? Ohne Zweifel ist genau hier das strengste Tabu angerührt worden, genau hier die Angst in ihrem empfindlichsten Zentrum getroffen. Ohne Zweifel markiert die Einbeziehung des Themas Familie in den politischen Unterricht endgültig die Unterschreitung der Fluchtdistanz; von hier ab traf jedes Argument nur noch auf eben so blinde wie verzweifelte Abwehr und Angst.
Es mag dahingestellt bleiben, ob man dies hätte voraussehen können oder gar müssen, jedenfalls, wenn es richtig ist, daß die Angst vor Veränderung, die bei der Analyse des Demokratiebegriffs und der Reaktion mancher Teile der Öffentlichkeit auf den Demokratiebegriff der Richtlinien zutage kam, eine Angst aus der Erfahrung politischer Ohnmacht gegenüber erdrückend undurchschaubaren Mechanismen ist, des passiven Verfügtwerdens, nicht des aktiven Selbsthandeins, wenn das alles richtig ist, dann wird auch verständlich, daß für ein solches Bewußtsein der familiäre Bereich vom Politischen ausgenommen bleiben muß. Denn soll man mit der Angst überhaupt leben können, dann muß es ein letztes Refugium vor ihr geben, einen Bereich wenigstens, der das zugleich ängstigend Unverstehbare und eigenes Handeln Fordernde draußen läßt, der Schutz und Wärme bietet.
Da es jedoch auf der Hand liegt, daß es jenen politikfreien Schutzraum nicht tatsächlich geben kann, daß die Familie selbstverständlich de facto nie unbetroffen von den sozialen Prozessen der Gesellschaft als ganzer sein kann, daß letzten Endes darum der von der Politik unberührte Fluchtraum des Privaten immer nur eine gegen die reale Erfahrung künstlich festgehaltene Fiktion ist, darum schließlich eskaliert hier das Widerspiel von Angst und neue Angst produzierender Verdrängung der Angst ins nicht mehr Kontrollierbare. überdies ist es dann gerade die Abwehr des Politischen, die künstlich wider die Wirklichkeit festgehaltene und immer neu abzusichernde Illusion vom bewahrenden, unantastbaren Bereich des Privaten, die verhindert, den Bereich des Öffentlichen so zu gestalten, daß er keine Bedrohung des Privaten mehr darstellt. Und weil eben das Intime dieser Intimsphäre als künstlich-illusionäres Konstrukt festgehalten werden muß, darf es nicht von analysierendem Verstehen-Wollen tangiert werden.
Denn die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Familie erkennen und akzeptieren, hieße zugleich auch, einsehen müssen, daß es keinen Rückzug vor der Politik geben kann, sondern nur das Nicht-wahrhaben-Wollen, daß Politik als Politik der Veränderung von jedem selbst betrieben werden muß, wenn die durch Politik geschaffenen Zustände so empfunden werden, daß es eines Fluchtraums bedarf, um sie ertragen zu können. Wird Demokratie aber als die permanente, bewußte Veränderung des Bestehenden auf seine in der Verfassung tendenziell beschriebene Idealgestalt hin definiert, dann ist die Angst vor dem eigenen politischen Handeln und die Verteidigung des unpolitischen Privatraums Familie nichts anderes als Angst vor der Demokratie selbst. Dies und das ganze Ausmaß des Potentials an Angst in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht rechtzeitig erkannt zu haben, war eines der tragischen Versäumnisse der Verfechter der Rahmenrichtlinien.
Exkurs über eine mögliche Vermeidbarkeit des Geschehenen Wäre aber nun wirklich etwas zu ändern gewesen, wenn man all dies rechtzeitig vorausgesehen hätte? Hätte es denn einen sinnvollen Entwurf politischen Unterrichts geben können, der jene Angst respektieren und den zentralen Punkt des Politischen hätte ignorieren können? Den Punkt nämlich, an dem der einzelne vom Politischen akut betroffen wird, den Raum des sogenannten Privaten also? Das doch wohl kaum! Eines aber hätte man vielleicht doch tun können, und diese Lehre haben die nordrhein-westfälischen Richtlinien immerhin aus den Erfahrungen des hessischen Vorbilds gezogen: man hätte eine zusätzliche Belastung des ohnehin unendlich mühsam herzustellenden politischen Konsenses vermeiden'können durch eine Trennung der allgemeinen Lernziele von den konkreten curri-cularen Ausformungen.
Bei den „Richtlinien für den Politikunter-richt“ in NRW nämlich hat man von vornherein die politisch-abstrakte und die didaktisch-konkrete Ebene getrennt, das heißt, man hat einen Rahmenkatalog der Eigenschaften und Verhaltensweisen, die ein mündiger Bürger haben soll, in Lernziele übersetzt und diesen Katalog dann getrennt von der Frage, an welchen Themen und über welche Einzelschritte er diese Eigenschaften im Unterricht erwerben und erarbeiten solle.
Damit ist zunächst einmal eine Vermischung beider Ebenen in der Diskussion vermieden, denn nur die allgemeinen Lernziele können Gegenstand eines allgemein herzustellenden politischen Konsenses sein. Die zweite Frage, an welchen Themen und Lefnfeldern diese Eigenschaften zu erarbeiten seien, ist eine didaktische Frage, die nicht politisch, sondern pragmatisch und empirisch weitgehend vom einzelnen Lehrer in Zusammenarbeit mit den Schülern zu lösen ist.
Der Katalog der allgemeinen Qualifikationen und Lernziele blieb dadurch sehr viel überschaubarer, abgerundeter, in seinem inneren Zusammenhang besser erkennbar und schließlich ausgereifter, als das hessische Vorbild es war. Die einzelnen Modellunterrichtseinheiten können nach und nach in dem Maße folgen, wie sie ihrerseits entwickelt und fertig-gestellt sind. In dem erörterten Zusammenhang hat dieses Verfahren den Vorteil, daß die Auseinandersetzung um den grundsätzlichen politischen Konsens wenigstens um einiges rationaler verlaufen konnte als in Hessen, weil sie eben nicht dadurch belastet war, daß eine allzu konkrete Ausführung dessen, was es heißt, Kinder zur Selbstbestimmung zu erziehen, allzu schmerzhaft an die verdrängte Erfahrung eigener Fremdbestimmung rührte. Diese Diskussion kann jetzt in therapeutische Einzelschritte aufgeteilt werden, so wie die einzelnen Unterrichtseinheiten nach und'nach erscheinen. Dadurch wird überdies Zeit gewonnen, . diese Unterrichtseinheiten gründlicher auszuarbeiten; kein Zeitdruck durch den Erscheinungstermin des Gesamttextes zwingt dazu, entweder Fertiges allzu lange zurückzuhalten oder aber auch Halbfertiges und Un-ausgereiftes mit zu veröffentlichen, woran sich dann eine wiederum den Gesamtkonsens gefährdende Ablehnung entzünden könnte. Bei den beschriebenen sozial-psychologisch brisanten Themenkomplexen schließlich könnte bei diesem Verfahren mit besonderer Sorgfalt gearbeitet werden — einer Sorgfalt, die nicht nur das sachlich und didaktisch Richtige im Auge hat, sondern auch die Vermittlungsprobleme denen gegenüber bedenkt, denen es nur solange gleichgültig ist, was ihre Kinder in der Schule lernen, solange sich dort nicht Einsichten andeuten, die an das nur mühsam stabilisierte Gefüge eigener Scheinsicherheiten und Verdrängungen rühren. Vorerst letzter Versuch über die Angst Die Vermeidung der Einsicht durch deren schlichte Unterdrückung Das also wäre immerhin möglich. Man hat gelernt. Doch dies auszusprechen zwingt zugleich auch zu der Einsicht, daß es möglicherweise schon zu spät ist, noch Konsequenzen daraus zu ziehen. Denn nichts mehr deutet noch daraufhin, daß das geschilderte dynamische Demokratieverständnis noch eine Chance zur Expansion hätte. Was die Richtlinien — wie vorläufig auch immer — wollten: den Bürger, der sich mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieses Staates bewußt identifiziert, freilich aber auch für sich das Recht reklamiert, die Interpretationsspielräume selbst mitzugestalten und mit zu füllen — dieser Bürger hat heute bereits kaum noch eine Chance. Er ist nicht nur lästig und zunehmend unerwünscht, er wird bereits wieder allenthalben als Gegner jener freiheitlich-demokratischen Grundordnung verdächtigt, der er sicherlich oft genug weit näher steht als viele von denen, die an seiner Verfassungstreue lauthals zweifeln und denen lediglich ihr Platz in einer ungenügend kontrollierten Exekutive ds Recht gibt, ihre höchst subjektiven Zweifel in Maßnahmen umzusetzen, ohne diese Zweifel auch nur annähernd ausreichend begründen zu müssen.
Selbstverständlich ist die Verfassung dieses Staates es wert, verteidigt zu werden; jedoch beginnt die Art ihrer Verteidigung inzwischen ebenfalls bedrohlich für die dieser Verfassung zugrunde liegenden politischen Prinzipien zu werden. Wer die Augen nicht bewußt verschließt vor dem, was zur Zeit an den Universitäten, in den Lehrerseminaren und an den Schulen geschieht, in welchem Ausmaß und in welch verheerendem Tempo der Entpolitisie-rungs-und Einschüchterungsprozeß bereits um sich gegriffen hat, wie sich das in den Schulen auf die Auswahl des Unterrichtsmaterials auswirkt, auf den Unterrichtsstil, auf die Gespräche im Lehrerzimmer, auf die Bereitschaft, überhaupt noch eine politische Meinung zu haben — wer das alles nicht bewußt verdrängt, den befällt nicht mehr nur Trauer, sondern seinerseits Angst.
Hundert, tausend oder auch zehntausend Radikale könnten einem Staat nicht ernsthaft gefährlich werden, dessen Bürger dazu erzogen worden wären, zu wissen, was ihnen ihre Gesellschaftsform wert ist und warum sie es ihnen wert ist. Wenn aber jenes duckmäuserische Mitläufertum, das im Gefolge des Radikalenerlasses und seiner Handhabung durch die Bürokratie unter Studenten und Lehrern in so beängstigendem Ausmaß wieder an Boden gewonnen* hat, erst voll auf die Schüler durchschlägt, dann könnte eines Tages wieder — wie schon einmal — ein einziger Radikaler genügen, um dieser Demokratie ein Ende zu machen.