Im Vorwort zu dem in diesen Tagen im R. Piper & Co. Verlag, München, erscheinenden Buch des Autors „Reform als politisches Prinzip" heißt es: „Wie lassen sich überhaupt Reformen durchführen — unabhängig davon, ob sie im einzelnen als wünschenswert oder notwendig angesehen werden? Hat man nicht womöglich zuviel über Inhalte gestritten und dabei, einigermaßen naiv, aus subjektiven Wünschen deren objektive Realisierbarkeit abgeleitet? Was ist das eigentlich: eine Reform? Und gibt es so etwas wie strategische Prinzipien von Reformen? Was sind die Bedingungen ihrer Möglichkeiten? Wo liegen die Hindernisse, wo die Grenzen? Darüber ist, überraschend genug, sehr wenig bekannt. Ganze Bibliotheken lassen sich mit Büchern zum dramatisch attraktiven oder traumatisch verstörenden Thema Revolution füllen; aber an Analysen zum Begriff und zur Sache der Reform fehlt es nahezu völlig."
Aus dem Buch werden hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags die beiden Kapitel „Bedingungen der Reform" und „Die Demokratie vor den Grenzen des Wachstums“ abgedruckt, in denen es insonderheit um das (nicht nur ökonomisch zu verstehende) Konkurrenzprinzip als eines der bewegenden Momente für Reformen und um dessen zukünftige Bedeutung geht. „Es ist nicht selbstverständlich, daß eine Reform deshalb, weil sie uns notwendig erscheint, auch möglich ist." Dieser Satz wurde gleichsam en passant in einem Gutachten der ersten Nachkriegszeit zur Hochschulreform formuliert 1). Er deutet ein strategisches Problem an Er deutet ein strategisches Problem an — und nimmt eine inzwischen reich belegte Erfahrung vorweg. Wählt man nämlich die Hochschulreform als Beispiel und überblickt man die Zeit seit 1945, so werden zwei Tatbestände — und ihr Kontrast — erkennbar:
Auf der einen Seite gab es schon frühzeitig eine umfangreiche Reformdiskussion und zahlreiche Reformvorschläge und eine umfangreiche Diskussion von Plänen, die bereits in der Besatzungszeit entstanden, bis hin zu den „Empfehlungen" und „Anregungen" des Wissenschaftsrates. Neben den ex offico mit Reformfragen befaßten Gremien sind auch zahlreiche Gruppen aus eigener Verantwortung tätig geworden; lediglich als Beispiel sei der „Hofgeismarer Kreis" genannt. Zugleich haben empirische Untersuchungen versucht, den Reformern Material zu liefern. Wiederum nur als Beispiel seien die von H. Pleßner herausgegebenen „Untersu-chungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer" angeführt 2).
Sieht man sich andererseits das praktische Ergebnis all dieser Bemühungen an, so kann man es eigentlich nur als deprimierend bezeichnen: Bis in die späten sechziger Jahre, als dann die Revolte der Studenten hastig improvisierte Reformen erzwang, ist nichts oder doch fast nichts geschehen. Selbst um ein vergleichsweise drittrangiges Problem wie die Kolleggeldreform stritt man sich viele Jahre hindurch ohne Ergebnis, von kühneren, wirklich strukturverändernden Reformvorhaben nicht zu reden. Die deutsche Universität erschien eben als „im Kern gesund", und so beschränkte man sich im wesentlichen auf den Wiederaufbau, den Ausbau und die Vermehrung der vorhandenen Institutionen. Aber von der mangelnden geistigen, moralischen, praktischen Aufarbeitung der eigenen, unmittelbaren politischen Vorgeschichte und Verantwortung einmal ganz abgesehen, war doch klar erkennbar, daß Größenwachstum, Massenbetrieb, Hierarchisierung und Bürokratisierung den Rahmen der überkommenen — auf die kleine Zahl und weitgehend auf Honoratiorentum und Informalität der internen Entscheidungsprozesse angelegten —-Universität längst gesprengt hatten und sie zunehmend mit Funktionsunfähigkeit bedrohten. „Das trifft alle Beteiligten, die Professoren, den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Studenten, mit gleicher Härte, und die Begegnung'der verschiedenen Gruppen vollzieht sich deshalb immer ausgeprägter in der Form wechselseitiger Vorwürfe und Vermissungserlebnisse." Der Satz stammt aus dem Jahre 1963. Was kam und was dann fast über Nacht so vieles — auch Wertvolles — hinwegfegte, hätte nicht im Detail, wohl aber im Prinzip sich eigentlich voraussehen lassen müssen.
Von dieser nachträglichen Einsicht her drängt sich die Frage auf: Warum ist es, wenn doch an Plänen und an gutem Willen jedenfalls vieler der Beteiligten und Verantwortlichen kein Mangel herrschte, nicht beizeiten zu wirksamen Reformen gekommen? Was muß denn, wenn eine Krisensituation deutlich sich abzeichnet, erst alles geschehen, bevor wirklich etwas geschieht? Bedurfte es in der Tat erst der Studentenrevolte, sozusagen des rüden Zähnefletschens und der Gewalt keineswegs nur gegen Sachen?
Solche Fragen erweisen sich jedoch als im Grunde falsch gestellt. Denn sie setzen die Möglichkeit von Reformen — gewissermaßen als „natürlich" — naiv voraus, gesetzt nur, man habe einen Plan. Die Wahrheit steckt eher in der Sentenz der Dreigroschenoper: Man mache einen Plan und noch einen — „gehn tun sie beide nicht". „Natürlich" ist für einmal bestehende Institutionen weit mehr, daß sie beharren, allenfalls gemäß „Parkinsonschem Gesetz" sich aufblähen und jeder Veränderung sich widersetzen. Für soziale Institutionen gilt, was man ihre Dinosaurierreaktion nennen könnte, falls es zutrifft, daß jene ehrwürdigen Riesenechsen den Herausforderungen und Gefahren ihres Daseins nur durch Größenwachstum und stets vermehrte Panzerung zu begegnen wußten und deshalb schließlich in der Sackgasse ihres Wachstums und ihrer Starrheit zugründe gingen. Ins Symbol gefaßt: In den fünfziger Jahren tauchte im politischen Tageskampf um Fragen der Wiederbewaffnung ein Plakat auf, das einen Saurier zeigte, mit der Unterschrift: „Ausgestorben — zuviel Panzer, zuwenig Gehirn". Das traf offensichtlich zu tief; das Plakat wurde gerichtlich verboten. Erstaunen sollte deshalb nicht das Beharren erregen, sondern die gelungene Veränderung. Sie ist das Problem.
Der Mechanismus der Dinosaurierreaktion läßt sich recht einfach ermitteln: Jede soziale Institution schafft Führungspositionen und verfestigt Führungsgruppen, denen die Macht innerhalb der Institution, die durch die Institution nach außen ausgeübte Macht, sowie das der Macht zugeordnete Prestige, Selbstwerterlebnis und Spitzeneinkommen in erster Linie zufallen. Sie befinden sich auf der Sonnenseite des Bestehenden; sie entwickeln konservative Interessen und Ideologien der Selbstrechtfertigung; sie reagieren — subjektiv völlig verständlich — auf drohende Veränderungen mit defensiver oder aggressiver Gegenwehr. Sie fungieren dabei als Veto-gruppen um so erfolgreicher, je mehr es ihnen gelingt, als die „Insider" — die sie ja sind — ihr Urteil als das der allein Sachverständigen, der Experten auszugeben und jede von außen oder „unten" andrängende Kritik als das unverantwortliche, bloß gefühlsbestimmte Gerede von Laien, wenn nicht von Böswilligen, von „subversiven Kräften" abzuwerten, die von machtgierigen Verschwörern, Hintermännern, Drahtziehern als „nützliche Idioten" verführt und gelenkt werden. Der Ideologieverdacht wird so vom Bestehenden auf die Kritik umgelenkt oder zynisch abgetan: „Der Dilettantismus, mit dem in Bürger-versammlungen die großen Fragen der Wirtschafts-und Sozialpolitik behandelt zu werden pflegen, ist rührend und steril zugleich. Wenn die Staatsbürger je länger je weniger daran Gefallen finden, so darf man daraus folgern, daß sie inzwischen gelernt haben, die Grenzen ihrer Zuständigkeit zu erkennen. Sie verhalten sich systemgerecht, wenn sie sich demagogischer Verführung zur Unsachlichkeit verschließen."
Auf unabweisbare, objektive Schwierigkeiten aber reagieren die beati possidentes, wenn irgend möglich, nicht mit Veränderung ihrer Institution, sondern mit deren Straffung und Verstärkung: überlastete Minister, Manager oder Professoren sind in der Regel schnell bereit, ihre Apparate zu vergrößern und neue Hilfskräfte einzustellen, kaum aber, Macht zu delegieren oder gar einen strukturellen Wandel der Institution, in der sie eine Spitzenstellung einnehmen, in Betracht zu ziehen. Am Ende wird die Überlastung als Dauerzustand, der überfüllte Terminkalender, das Jagen von einer Konferenz zur anderen selbst zu einem Statussymbol — wie der Herzinfarkt, mit dem der Körper schließlich auf die Überlastung reagiert. Denn damit wird die eigene Bedeutsamkeit noch im Todesschatten bestätigt. Die Neigung, mit purem Größenwachstum zu reagieren, wird bei alledem um so zwangshafter, je mehr sich die Verhältnisse arbeitsteilig und hierarchisch differenzieren, horizontal und vertikal durchgliedern. Denn um so glaubhafter nimmt sich die Experten-Laien-Argumentation aus, und um so unmißverständlicher wird zugleich die Macht-und Prestigeprämie, die der jeweiligen Führungsgruppe zufällt. Mit anderen Worten: Ist die „Dinosaurier" -Entwicklung erst einmal in Gang gekommen, so wird sie im Maße ihres Fort-schreitens immer unwiderstehlicher und zwangshafter.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich gab und gibt es in allen Bereichen immer wieder Beispiele dafür, daß einzelne oder Teilgruppen aus der Schicht der Herrschenden sich kritisch gegen das Bestehende wenden und Reformen durchzuführen versuchen, selbst wenn dadurch ihre eigene Vorzugsstellung in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber die Regel ist das verständlicherweise nicht.
Für die Untersuchung und Darstellung der hier gemeinten Zwänge liegt übrigens ein Muster großen Stils vor: Marx'Analyse des Kapitalismus, der, in den Mechanismen seines „Fortschritts", von Akkumulation und Konzentration gefangen, dem eigenen Wachstumsgesetz ausgeliefert ist und mit eben seinem Erfolg, zu strukturellen Wandlungen unfähig, sich die Totengräber schafft und damit schließlich das eigene Grab bereitet. Marx erkennt, daß es wegen der Zwangshaftigkeit der Entwicklung mit bloßem Zureden und mit Moralisieren, auch mit durchaus möglichen selbstkritischen Einsichten von Teilen der Bourgeoisie nicht getan ist; alles Moralisieren führt letztlich ins Reich der Utopie. Abhilfe, wirkliche Veränderung kann vielmehr nur durch die Ausbildung kritischer Gegeninstanzen, von Gegeninstitutionen her in Gang gebracht werden, die zwar schicksalhaft auf das Bestehende hin angelegt sind, jedoch eben im Sinne seines kritischen Gegenpols, einer Gegenmacht. Diese Gegenmacht entsteht mit dem Proletariat, mit seiner Bewußtseinsbildung und Organisation.
Die ist konsequent leuchtet ein. Analyse und Sie bricht allerdings in ihrem letzten, entscheidenden Stadium kurzschlüssig ab und ersetzt die Konsequenz durch die sonst so sicher abgewiesene moralisierende Utopie, die Reform durch den Sprung in ein imaginäres Reich revolutionsgegründeter Freiheit. Was dagegen wirklich geschah, war genau das, was man auch vom Ansatz der Analyse her hätte erwarten müsse: Die erfolgreiche Ausbildung kritischer Gegeninstitutionen — der in Parteien und Gewerkschaften organisierten Arbeiterbewegung — erzwang durch den Druck, den sie auf ihr kapitalistisches Gegenüber und die Staatsgewalt ausübte, Schritt für Schritt die Reformen, die den Weg vom Massenelend im „klassischen" Laisser-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zum steigenden Wohlstand, zum Massenkonsum und zum Sozialstaat unserer Epoche bezeichnen.
Dialektik ist eine ironische Bewegung. Gerade der sozialistische Reformdruck hat dem Kapitalismus seine nicht bloß technische, sondern soziale Modernisierung und damit das überleben ermöglicht. Wenn daher Schumpeter — durchaus marxistisch — formuliert hat: „Die wahren Schrittmacher des Sozialismus waren nicht die Intellektuellen und Agitatoren, die ihn predigten, sondern die Vanderbilts, Carnegies und Rockefellers" — dann gilt mindestens in gleicher Weise die umgekehrte Pointe, daß nicht in erster Linie große Unternehmer den Kapitalismus gerettet haben, sondern seine geschworenen Todfeinde: eben jene, die den Sozialismus predigten, als politische Bewegung organisierten und genau damit die Bildung kritischer, reformierend wirkender Gegeninstitutionen vorbereiteten. In der funkelnden Version Rudolf Hilferdings:
„Die konterrevolutionären Wirkungen der Arbeiterbewegung haben die revolutionären Tendenzen des Kapitalismus geschwächt."
Am Ende hat sich das kritische Gegenüber selbst institutionalisiert, das heißt als ein System der permanenten Dynamik und des programmierten Wachstums stabilisiert, das sich damit gegen allen Umsturz als gefeit erweist — freilich zugleich selbst, als institutionalisiertes System, zu keiner Transformation mehr fähig zu sein scheint, es sei denn, es fände insgesamt wieder ein kritisches und machtvolles Gegenüber. Das ist indessen ein weites Feld und kann nicht jetzt, sondern erst am Ende unserer Untersuchungen zum Thema gemacht werden. Im Augenblick lassen sich aus dem Gesagten wohl drei Folgerungen ableiten: 1. Institutionen ändern sich selten oder nie aus eigenem Antrieb. Sie tendieren vielmehr zur Erstarrung und dazu, auf Schwierigkeiten — „Krisen" im Sinne des marxistischen Sprachgebrauchs — mit der „Dinosaurierreaktion", mit Größenwachstum, mit Machtsteigerung und Machtkonzentration, mit Repression und Aggression zu antworten.
2. Zur Veränderung bedarf es der kritischen Gegeninstitutionen, von denen ein zureichender Reformdruck ausgehen kann. 3. Dieser kritische Reformdruck kann — obwohl häufig als bösartiger Angriff empfunden, oft auch gemeint — durch die bewirkten Reformen entscheidend zur Rettung, zur Weiterentwicklung und damit erfolgreichen, dynamischen Stabilisierung der von ihm betroffenen Institution beitragen. Die Gefahr des vernichtenden Umsturzes oder des Zusammenbruchs wächst dagegen in dem Maße, in dem es einer Institution an ihrer institutionalisierten, kritischen Gegenmacht mangelt oder in dem die Institutionalisierung der Gegen-macht gewaltsam verhindert wird: Unter dem Gesichtspunkt der fehlenden, unzureichend entwickelten und organisierten oder unterdrückten Gegenmacht könnte man eine Geschichte der Revolutionen schreiben, mehr noch vielleicht eine Geschichte der katastrophenartigen Zusammenbrüche, wie sie Deutschland in diesem Jahrhundert erlebt hat.
Für die Institutionalisierung von kritischer Gegenmacht gegen bestehende Institutionen gibt es nun grundsätzlich drei Möglichkeiten, manchmal auch ihre Kombinationsmöglichkeiten: 1. „Druck von oben". Eine autoritäre politische Führung oder eine Diktatur, mit genügender Macht ausgestattet, kann Veränderungen befehlen und durchsetzen. So konnte zum Beispiel Stalin tiefgreifende Umwälzungen der sowjetischen Gesellschaft bewirken.
Auch die forciert nachholende Industrialisierung Japans stellt ein klassisches Beispiel der „Veränderung von oben" dar.
Bei den preußischen Reformen war es nicht anders: „Die Städteordnung von 1808 ist ausschließlich der Initiative des höheren Beamtentums entsprungen, und ihre Einführung stieß überall im Lande auf Verwunderung, Bedenken und Beschwerden der verschiedensten Art — so gut wie nirgends auf freudige Zustimmung.
Bürgerliches Selbstbewußtsein gab es — außerhalb des Beamtentums — nur im Bereich der Literatur, der Wissenschaft, Dichtung, Tageschriftstellerei . . . Unzweifelhaft ist also durch die Reformtat Steins ein mächtiger Anstoß zur Belebung städtischer Selbstverwalung in das ganze deutsche Staatsleben gekommen. Ihre Kühnheit wird erst dann recht sichtbar, wenn man sich im einzelnen anschaulich macht, wie völlig überrascht und hilfslos das Bürgertum der ostelbischen Kleinstädte, aber selbst der wenigen großen Residenzen und Handelsstädte, der neu geschenkten, nicht erkämpften, ja nicht einmal erbetenen Freiheit gegenüberstand."
Autoritäre Regime sind in der Regel natürlich mehr auf Beharrung als auf Fortschritt eingerichtet; was sie dennoch in bestimmten historischen Situationen zu leisten vermögen, zeigt die Epoche des aufgeklärten Absolutismus. Ähnliches gilt für moderne Diktaturen. Selbstverständlich sind sie nicht schlechthin Instrumente der Veränderung; es gibt auch und erst recht „Beharrungsdiktaturen". Allgemein kann man sagen, daß Diktaturen immer dann eine besondere Chance haben, wenn es entweder gilt, tiefgreifenden sozialen Wandel zu bewirken, oder wenn es darum geht, starkem Veränderungsdruck standzuhalten. Deshalb erweisen sich heute viele Entwicklungsländer als so anfällig für Diktaturen oder Militärregime, und zwar gleichviel in welchem Sinne: Alte Oligarchien versuchen sich mit allen Mitteln zu behaupten, auch mit modernsten technisch-militärischen Mitteln — die ja oft genug frei Haus geliefert werden. Die Kräfte der Revolution aber, die Befreiung von rückständige!'Tyrannei verheißen, schlagen, zur Macht gekommen, meist alsbald selbst in Tyrannei um — nur eben mit verändertem Vorzeichen.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit liegt im übrigen darin, daß Diktaturen schwerlich die Entwicklung kritischer Gegenkräfte dulden oder gar fördern, daß sie sich durchweg als unfähig erweisen, sich am eigenen, Münchhausenschen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Daher pflegt sogar der Übergang von einem Gewaltregime zum anderen, wenn erst die Schwaden, die der Umsturz aufwirbelte, sich gesetzt haben, weniger zu bewirken, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Meist treten im neuen Gewände die alten Konturen, auch die alten Übel wieder hervor, und früher oder später pflegt die Erstarrung in der Sackgasse der „Dinosaurier" -Entwicklung unausweichlich zu sein. Das Beispiel Mao Tsetungs, der als alter Mann die Losung „Bombardiert das Hauptquartier!" ausgab und in der „großen proletarischen Kulturrevolution" bis an die Grenzen von Chaos und Bürgerkrieg den selbstgeschaffenen Staatsapparat bekämpfte und in die Luft sprengte, dürfte einzigartig sein. Ob ähnliches sich je wird wiederholen lassen, wenn nach dem Tode des Großen Gründers niemand mehr über dessen mythische Macht verfügt, bleibt abzuwarten.
Chruschtschow, obwohl nicht entfernt so radikal, immerhin aber sich der Reformbedürftigkeit der sowjetischen Gesellschaft bewußt, die das Brachialstadium nachholender Industrialisierung hinter sich gelassen hatte, verfügte über kein vergleichbares Prestige und scheiter-te daher — außer an seiner eigenen Sprunghaftigkeit — an den Beharrungskräften der bürokratischen Apparate, die ja alle Macht in den Händen hielten und nicht gewillt waren, sie aufzugeben. Der noch systemkonforme, das heißt dem Marxismus-Leninismus verpflichtete sowjetische Historiker und Regimekritiker Roy A. Medwedjew sagte in einem Interview mit westlichen Journalisten: „Unsere Gesellschaft ist reformbedürftig. Chruschtschow hatte das begriffen, aber er hat nicht viel geleistet. Er hat ungefähr jede Woche eine neue Reform produziert, und dieser Übereifer hat ihn in Schwierigkeiten gebracht. Doch um Reformen kommen wir nicht mehr herum. Allerdings, am dringendsten brauchen wir zunächst einmal einen klugen Reformer. Wer das sein wird und ob es einen solchen Mann überhaupt gibt — wir können es nicht sagen."
Damit wird exakt das Dilemma bezeichnet: Worauf es ankäme, was die Reformen vor allem anderen leisten müßten, wäre eine Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen, die Weckung von Eigenverantwortung und Initiative auf unterer Ebene. Aber die Reformen werden einzig vom Zentrum, von der Spitze her erwartet — und können unter den gegebenen Bedingungen wohl auch nur von dort kommen.
Es handelt sich keineswegs um ein neues und nur in der Sowjetunion anzutreffendes Problem. Grundsätzlich stellt es sich überall dort, wo Verwaltungszentralismus zum beherrschenden politischen Instrument geworden ist und wo demzufolge Freiheit kaum als Partizipation, statt dessen in erster Linie als Verteidigung gegen staatliche Eingriffe und Über-griffe verstanden wird. Dies ist das klassische Dilemma Frankreichs, das niemand so tiefgründig erfaßt und beschrieben hat wie Alexis de Tocqueville. Der Spätabsolutismus will sich vor seinem drohenden Bankrott retten durch die Aktivierung der Stände, aber er löst damit die Revolution aus, in deren Gefolge der Zentralismus nicht abgebaut, sondern vollendet wird. In der Epoche der Restauration gibt es ein starkes Bewußtsein von der Notwendigkeit dezentralisierender Reformen — aber zugleich eben den Schauder angesichts der historischen Erfahrungen, so daß alle Reformbemühungen scheitern, weil sie auf eine Quadratur des Zirkels hinauslaufen: alle Macht an der Spitze in der Hand zu behalten und sie nach „unten" zu delegieren. Man kann das Dilemma bis hin zu dem von de Gaulle — halbherzig genug — unternommenen Reformversuch und seinem Scheitern im Referendum 1969 verfolgen, und es erledigt sich nicht, wie der schwelende Konflikt zwischen regionalen Autonomiebestrebungen und Pariser Zentralismus ständig demonstriert
Vor solchem Hintergrund drängt sich unwillkürlich die Frage auf: Dienen die in den letzten Jahren in der Bundesrepublik vollzogenen oder eingeleiteten Gebiets-und Kommunalreformen eigentlich einer Stärkung der Selbstverwaltungskräfte — oder womöglich, jedenfalls im Ergebnis, nur dazu, die unteren Verwaltungseinheiten von „oben" besser administrierbar zu machen?
Vor dem gleichen Hintergrund ist indessen auch im Rückblick auf die preußischen Reformen Skepsis am Platze. Bei aller Bewunderung für ihre Kühnheit und für die tatsächlich erbrachten Leistungen bleibt doch gültig, daß ein bürokratischer Obrigkeitsstaat schwerlich den eigenen Schatten zu tilgen vermag: „Die praktische Wirkung der Reformpläne und der Reformen auf den politisch moralischen Zustand des preußischen Volkes ... muß um so geringer veranschlagt werden, als auf fast allen Gebieten, ausgenommen die Heeresreform, im Jahre 1812 der Stand der Entwicklung hinter die Ende des Jahres 1808 erreichte Linie zurückgedrängt war und die kaum geweckten Hoffnungen einer um so größeren Enttäuschung gewichen waren. Bewußter, wacher und aktiver war durch die Reform die feudale Reaktion geworden, nicht aber das Volk. Als politische , Partei'war die reaktionäre Opposition früher vorhanden als irgendeine politische oder nationale Bewegung. Den traditionellen Verbindungen des Adels als Stand mit seinen Beziehungen zum weitverzweigten System der bürokratischen Verwaltung stand keine organisierte oder durch geistige Verbindungen zusammengehaltene Meinung oder gar Bewegung gegenüber ... Die soziale Reform war im Jahre 1812 teils tot, teils mühseliges Experiment, teils im Stillstand, teils rückläufig." 2. „Druck von unten": Agitation, Mobilisierung der öffentlichen Meinung, Demonstration, Organisation von Bürgerinitiativen, Streik, Generalstreik, schließlich und vor allem Revolution. Daß die Revolution ein Veränderungsinstrument darstellt, muß kaum eigens demonstriert werden. Das Problem dürfte allerdings darin liegen, daß die Revolution zunächst einmal auf die Zerstörung von Vorhandenem zielt — sei dies auch nur die radikale Auswechslung des Führungspersonals — und daß die in ihrer Komplexität hochempfindlichen Industriegesellschaften dies kaum überstehen können. Deshalb ist es schwerlich ein Zufall, daß nicht nur die bürgerlichen Revolutionen der Vergangenheit, sondern auch die sozialistischen unseres Jahrhunderts — entgegen den ursprünglichen marxistischen Erwartungen — nicht etwa in den hochentwickelten westlichen Industriestaaten, sondern in Gebieten stattgefunden haben, die zum Zeitpunkt der Revolution oder des revolutionären Krieges noch wenig entwickelt und überwiegend agrarisch bestimmt waren, wie in Rußland, China, Kuba oder Vietnam.
Um den Sachverhalt in ein Bild zu fassen: Die entfaltete Industriegesellschaft gleicht einem empfindlichen, komplizierten elektronischen Gerät, die Revolution aber einer Axt oder einem Vorschlaghammer; man kann damit das elektronische Gerät weder reparieren noch verbessern, sondern es nur zerschlagen. Von einem bestimmten Schwellenwert an wächst daher die allgemeine Angst vor der Revolution und die Gefahr von Panikreaktionen: die Gefahr, daß ein Revolutionsversuch, selbst nur die revolutionäre Agitation, lediglich Unterdrückungsstrategien und dem Terror der Konterrevolution zum Durchbruch verhilft. Dafür gibt es von Deutschland bis Chile viele düstere Beispiele. Der kritische Schwellen-wert dürfte vor allem dann erreicht sein, wenn es bereits starke Mittelschichten gibt, unter Umständen auch: wenn eine Arbeiter-elite entstanden ist, die etwas zu verlieren hat und sich jedenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung als privilegiert empfindet.
Ein weiteres Problem liegt darin, daß die gar nicht oder nur wenig organisierte revolutionäre Spontaneität der Massen nur zu leicht zum Opfer von zielbewußten Kadergruppen wird, welche die Führung an sich reißen, den unerläßlichen organisatorischen Rückhalt her-steilen, um alsbald die Bewegung von „unten" in eine neue, straffe Herrschaft von „oben" zu verwandeln. Der Ablauf der russischen Revolution hat diesen Umschlag fast modellartig demonstriert; die Sprengung der Konstituierenden Nationalversammlung im Januar 1918 und vor allem das Massaker von Kronstadt und die Beschlüsse des X. Parteitags im März 1921 markieren entscheidende Stationen. Ob Lenin, hätte er länger gelebt, die stalinistische Entwicklung aufgehalten oder gar, wie in China Mao Tse-tung, die bürokratisch-zentralistische Verkrustung aufgesprengt hätte, muß offenbleiben. Aber Skepsis ist angebracht; schließlich hatte Lenin selbst, anders als Rosa Luxemburg ohne Vertrauen auf die Spontaneität der Massen, das strategische Konzept der eliteartigen, als Avantgarde gedeuteten Kaderpartei entworfen
Läßt man die Probleme der Revolution beiseite, so ist evident: Wohl nur selten — und unter modernen Bedingungen noch seltener als in früheren Epochen — kommt eine Reform zustande, wenn nicht „Druck von unten", mindestens eine machtvolle Strömung öffentlicher Meinung, für sie wirkt. Das gilt um so mehr, je stärker etablierte Machtinteressen und Privilegien berührt werden, je mächtigere Widerstände sich daher im politischen Konflikt auftürmen. Geradezu Musterfälle stellen die großen englischen Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts dar: „The Reform Bill of 1867 survived because a majority of the members of both Houses of Parliament dared not throw it out. They did not want it, they did not like it, they feared what it might do, but they passed it. For the first time in the Second Reform period a majority of members feit an imperative need to make a Settlement."
Der teils akute, teils befürchtete „Druck von unten" siegte über die etablierten Interessen. Dies gilt auch dann, wenn man das Wirken weitsichtiger Staatsmänner, in diesem Falle vor allem die Manöver Disraelis, keineswegs gering veranschlagt. Und es gilt noch mehr für die Geschichte der Reform von 1832, die einzig unter dem Druck massiver Agitation und heftiger Unruhen zustande kam.
Klugheit mag gebieten, dem „Druck von unten" nachzugeben, Borniertheit dies verhindern, bis es zu spät ist. Manchmal mag auch Standfestigkeit geboten sein: Als im Bundestag einmal über die Wiedereinführung der Todesstrafe debattiert wurde und man dabei wies, sprach Carlo Schmid vom notwendigen „aufgeklärten Absolutismus" des Parlaments; nichts anderes meint das Repräsentationsprinzip, wie es Edmund Burke in seiner berühmten Rede an die Wähler von Bristol formuliert hat; „Euer Repräsentant schuldet euch nicht nur seine Hingabe, sondern sein Urteil, und er betrügt euch, anstatt daß er euch dient, wenn er dieses Urteil eurer Meinung zum Opfer bringt."
Doch ob man dem „Druck von unten" nun nachgibt oder standhält, in jedem Falle signalisiert er politische Strömungen, Möglichkeiten und Gefahren und macht damit angemessene Reaktionen jedenfalls prinzipiell möglich. Wo dagegen nichts herrscht als das Ideal des Unpolitischseins, die Scheinidylle von Ruhe und Ordnung, da sollte dies im modernen Zeitalter keineswegs als Zeichen der Sicherheit, sondern im Gegenteil als Alarmsignal gewertet werden: Früher oder später wird es zur Explosion des Kessels kommen, dessen Sicherheitsventile man zuschraubte.
In den Worten Tocquevilles: „Man hat oft mit Staunen die seltsame Verblendung betrachtet, mit der die höheren Klassen im alten Staate selbst zu ihrem Untergang beigetragen haben; allein, wie hätten sie sich aufklären sollen? Freie Institutionen sind für die vornehmen Staatsbürger zur Erkenntnis ihrer Gefahren nicht weniger notwendig als für die geringsten zur Sicherung ihrer Rechte. Seit mehr als einem Jahrhundert, nachdem die letzten Spuren des öffentlichen Lebens bei uns verschwunden waren, hatte den an der Erhaltung der alten Verfassung am meisten interessierten Leuten keine Erschütterung und kein Geräusch den Zerfall dieses uralten Gebäudes angekündigt. Da sich äußerlich nichts verändert hatte, bildeten sie sich ein, es wäre alles beim alten geblieben . . . Man darf sich (also) nicht wundern, daß der Adel und das Bürgertum, seit so langer Zeit von allem öffentlichen Leben ausgeschlossen, diese außerordentliche Unerfahrenheit zeigten, aber in Erstaunen setzen muß, daß auch die, welche die Geschäfte leiteten, die Minister, die Magistrate, die Intendanten, fast ebensowenig Voraussicht bewiesen. Viele waren in ihrem Beruf sehr geschickte Männer; sie waren mit allen Spezialitäten der öffentlichen Verwaltung ihrer Zeit gründlich vertraut; was aber die große Wissenschaft der Regierung anlangt, die ja die allgemeine Bewegung der Gesellschaft begreifen, was im Geist der Massen vorgeht, beurteilen und dessen Folgen voraussehen lehrt, so waren sie darin ganz ebenso unerfahren wie das Volk selbst. In der Tat, nur das Walten freier Institutionen kann die Staatsmänner in diesem wesentlichen Teil ihrer Kunst unterrichten."
Angesichts der deutschen „Tendenzwende" der siebziger Jahre gewinnt diese Warnung unerwartete Aktualität — auch in der Form, in die sie der Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1975, Alfred Grosser, bei seiner Dankesrede taktvoll genug gekleidet hat: „Was mich etwas beunruhigt, ist, daß in der letzten Zeit in der Bundesrepublik so viel vom Rechtsstaat und von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gesprochen wird. Vielleicht höre ich schlecht. Aber mir scheint, die Betonung liegt etwas zu sehr und immer mehr auf , Staat’ und auf . Ordnung'und nicht mehr genug auf der Idee der freien politischen Tätigkeit des einzelnen, den gerade die Begriffe Staat und Ordnung nicht zum politischen autonomen Denken und Handeln auffordern .. . Huldigen nicht manche Bürger der Bundesrepublik dem Staat mehr als dem Recht und erleben die freiheitlich-demokratische Grundordnung als eine Abwandlung der staatlichen Ordnung, die ihren Vätern oder ihnen selbst, im Kaiserreich oder sogar im totalen Staat, den täglichen Frieden sicherte? Vielleicht bin ich zu sehr Franzose oder denke ich zu sehr an 1933, aber es scheint mir doch, als ob in der Bundesrepublik immer mehr von der Verteidigung der Grundordnung durch den Staat die Rede sei und immer weniger von der Verteidigung der Grundfreiheiten gegen den Staat."
3. „Druck von der Seite", von Konkurrenzinstitutionen her. Den Konkurrenzdruck durch seine systematische Freisetzung für Veränderung und Fortschritt nutzbar zu machen: das ist eine Kernidee, ein Grundprinzip des Liberalismus, das vor allem — aber keineswegs nur----auf wirtschaftlichem Felde zur Anwendung gelangt.
Wo Konkurrenz herrscht, befindet sich das gesamte Wirtschaftsgefüge in ständiger Bewegung; jedes Unternehmen ist dem Zwang des Wandels unterworfen und muß eine dynamisch-aktive Zukunftssicherung durch Investitionen betreiben. Wer stehenbleibt, wer sich auf die Technologie, den Organisationsstand und die Produkte verläßt, mit denen er gestern noch erfolgreich war, der befindet sich bereits auf der abschüssigen Straße, an deren Ende der Konkursrichter wartet.
Will man den Sachverhalt besonders anschaulich machen, so kann man auf die symbolträchtige Bedeutung des Sports verweisen, der in seiner modernen Gestalt nicht zufällig zugleich mit der kapitalistisch-industriellen Entwicklung von England aus seinen weltweiten Siegeszug antritt, alle anderen, älteren, meist regional, oft ständisch oder auch mythisch gebundenen Formen körperlich-spielerischer Betätigung zersetzend, umformend, aufsaugend. Im Beispiel: Johnny Weissmüller war der berühmteste, überlegenste Kraulschwimmer seiner Epoche. Er unterbot als erster die „Traumgrenze" von einer Minute für 100 Meter, stellte zahlreiche Weltrekorde auf und gewann bei zwei Olympischen Spielen Goldmedaillen. 1972 aber wäre er mit seinen einstigen Leistungen gar nicht mehr zugelassen oder noch von den Mädchen geschlagen worden, über 400 Meter Freistil um eine Dreiviertelminute. Doch den Münchener Fabelleistungen des „Superstars" Mark Spitz wird es absehbar ähnlich ergehen; großenteils sind sie inzwischen schon Überboten worden. Es ist das Gefüge aus Konkurrenz und Leistung, welches zu immer ausgefeilteren Trainingsleistungen antreibt und das ständige Vorwärts bewirkt und erzwingt, dessen Ende nicht abzusehen ist
Ein weiteres wichtiges Gebiet, auf dem Konkurrenz als Prinzip Entscheidendes bewirkt hat, ist die Wissenschaft. Vormoderne Wissenschaft bleibt wesentlich „Scholastik", als Orientierung an vorgegebener Autorität und als deren Auslegung — handle es sich nun um Aristoteles, um Thomas von Aquino oder auch um Marx, Lenin, Mao ... Die Dynamik der modernen Wissenschaftsentwicklung seit Beginn der Neuzeit beruht darauf, daß das Autoritätsprinzip zugunsten des Konkurrenz-prinzips aufgegeben wird. Alle Theorie ist eigentlich nur Hypothesenbildung, „Wahrheit" nichts Endgültiges und Abgeschlossenes, sondern Gelten auf Widerruf, zu messen am Kriterium der Falsifikation, der Widerlegbarkeit durch weiteren Erkenntnisfortschritt, vor allem durch den systematischen Zweifel, dessen Prinzip Descartes formuliert, und durch empirische Forschung, Quellenstudium, Experiment. In wahrhaft klassischer und über Wissenschaft im engeren Sinne weit hinausreichender Weise hat John Stuart Mill das Konkurrenzprinzip der Wahrheitsfindung in seinem berühmten Kapitel „Uber die Freiheit des Denkens und der Diskussion" dargestellt
Schließlich und nicht zuletzt ist Konkurrenz als dynamisches Prinzip der Veränderung bestehender Verhältnisse auf politischem Felde zur Geltung gebracht worden, vor allem durch die Institutionalisierung des offenen Gegenüber von Regierung und Opposition im parlamentarischen System. Der Parteienpluralismus, die Legitimation der Mehrheitsherrschaft jeweils nur auf Zeit und der Zwang zu periodischen Neuwahlen haben nicht nur den Sinn, Freiheit als Rückbindung der Herrschenden an das Volk zu sichern — dies ist die ursprüngliche, in der ständischen Repräsentation verwurzelte Idee des Parlamentarismus —, sondern zunehmend geht es zugleich darum, die politische Ordnung in der Parteien-konkurrenz auf eine offene Zukunft auszurichten und damit vor Erstarrung zu bewahren. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß in seinem englischen „Modell" -Falle sich dieses System kraft einer eingebauten Konkurrenzmotorik sogar zur tiefgreifenden Transformation seiner selbst, zu einem stufenweisen Umbau der eigenen Legitimationsgrundlage ohne revolutionären Bruch als fähig erwiesen hat.
Insgesamt, so scheint bereits die flüchtige Skizzierung von Anwendungsbereichen es als Schlußfolgerung nahezulegen, stellt das liberale Konkurrenzprinzip als Antwort auf die Frage, wie eigentlich Reformen bewirkt werden können, fast so etwas wie ein Patentrezept dar. Man sagt in der Tat nicht zu viel, wenn man behauptet, daß die Durchsetzung dieses Prinzips entscheidend dazu beigetragen hat, daß seit Beginn der Neuzeit von Europa her eine weltgeschichtlich einmalige, alle Lebensbereiche ergreifende und auch geographisch immer weiter ausstrahlende, schließlich globale Entwicklungsdynamik in Gang gekommen ist. Was nämlich das einmal durchgesetzte, als „Systemzwang" etablierte Konkurrenzprinzip auszeichnet, ist seine gleichsam mechanische Wirkung, sein eingebauter Automatismus. In dem gewaltigen, freilich auch unheimlichen Bilde, in dem Thomas Hobbes bereits im 17. Jahrundert den Sachverhalt vorgezeichnet hat, erscheint das menschliche Leben als ein einziges Wettrennen aller gegen alle, in dem sämtliche Bedürfnisse, Interessen und Zielsetzungen nicht mehr göttlich oder natürlich vorgegeben und begrenzt sind, sondern einzig noch relativ auf den Mitbewerber, vermittels Konkurrenz sich darstellen: „Von diesem Rennen aber müssen wir annehmen, daß es kein anderes Ziel, keinen anderen Siegeskranz kennt als: der Erste zu sein . . . Und das Rennen aufgeben heißt sterben."
Vom Sterben, von der dunklen Seite des Sachverhalts wird im letzten Teil dieser Untersuchungen noch zu sprechen sein. Zunächst aber ist festzuhalten, daß von den drei Hebeln zur Überwindung der „Dinosaurierreaktion" der „Druck von der Seite", das Konkurrenzprinzip, sich dadurch auszeichnet, daß Veränderungen nicht allein möglich, sondern notwendig werden. Auf den aufgeklärten Autokraten, den klugen Reformer von „oben" kann man mit dem sowjetischen Systemkritiker Medwedjew hoffen; er kann kommen oder nicht. „Druck von unten" mag sich zuzeiten aufstauen und dann entladen; ob, wann, unter welchen Vorzeichen und mit welchem Resultat dies geschieht, läßt sich schwerlich abschätzen. Im einen wie im anderen Falle bleiben dem Zufall der historischen Umstände Tor und Tür geöffnet, überdies dürfte es sich, solange das Konkurrenzprinzip nicht eine allgemeine Dynamik, die Einstellung auf eine grundsätzlich offene Zukunft erzwungen hat — am Ende als selbstverständlichen Horizont menschlicher Daseinserwartung —, eher um das Bemühen um Bewahrung oder Wiederherstellung des überkommenen und Gewohnten, als natürlich Erlebten handeln: re-formatio als Kampf um das gute alte Recht, das verletzt wurde.
Die Demokratie vor den Grenzen des Wachstums
Die im Auftrage des „Club of Rome" erstellten Studien „Die Grenzen des Wachstums" und „Menschheit am Wendepunkt" haben lebhafte Diskussionen ausgelöst und pessimistische Zukunftserwartungen geschaffen, die durch den Schock der Ölkrise noch entscheidend verstärkt wurden. Es stellt sich die Frage, ob Malthus auf neuer Ebene nicht auch die Industriestaaten einholt, ob der Prozeß umfassender Weltbemächtigung, die „natürliche Künstlichkeit" menschlicher Existenz, nicht an Grenzen stößt, die die Natur selbst setzt.
Die neuzeitliche Veränderungs-und Entwicklungsdynamik beruht, wie zu zeigen war, entscheidend darauf, daß das Prinzip Reform in wichtigen Bereichen gleichsam mechanisiert, um nicht zu sagen automatisiert wurde. Mit der Institutionalisierung des „Drucks von der Seite" im Bedingungsgefüge aus Konkurrenz-und Leistungsprinzip gerinnen Veränderung und Wachstum zum Systemzwang: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren . . . Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus."
Diese Sätze aus dem „Kommunistischen Manifest“ gewinnen heute eine unerwartete und neuartige Aktualität. Denn angenommen, die westlichen Industriestaaten würden wegen zunehmender Rohstoff-und Energieverknappung und ökologischer Probleme tatsächlich auf unüberwindbare Wachstumsgrenzen stoßen oder sogar zu einem „Minuswachstum" gezwungen sein so könnte dies das Ende all jener bürgerlich-liberalen Institutionen, Verhaltensweisen, Vorstellungen und Wertungen signalisieren, die bisher den — selbst ganz und gar wachstumsorientierten — marxistischen Zusammenbruchs-und Revolutionserwartungen erfolgreich getrotzt haben.
Falls es richtig ist, daß die westlichen Industriegesellschaften zu jenem Hobbesschen Wettrennen organisiert sind, das kein anderes Ziel, keinen anderen Siegeskranz kennt als der Erste zu sein, und in dem das Rennen aufgeben sterben heißt, dann stellt sich die fatale Frage: Treibt uns der Systemzwang der Veränderung und des Wachstums, des Konkurrenz-und Leistungsprinzips nicht unaufhaltsam an jene Grenze, an jenen „point of no return" heran, hinter dem keine Stabilisierung mehr möglich ist, sondern nur noch der Absturz in die Katastrophe?
Unwillkürlich wird man an das erinnert, was Tocqueville vor beinahe schon anderthalb Jahrhunderten schrieb: „Die christlichen Völker scheinen mir heute ein erschreckendes Schauspiel zu bieten; die Bewegung, die sie davonträgt, ist schon zu stark, als daß man sie aufhalten könnte; doch sie ist noch nicht so reißend, daß man daran verzweifeln müßte, sie zu lenken: Die christlichen Völker halten ihr Schicksal in ihren Händen, aber bald wird es ihnen entgleiten . .. Aber daran denken wir kaum: Von einem rasch fließenden Strome dahingetrieben, heften wir den Blick hartnäkkig auf einige Trümmer, die man noch am Ufer wahrnimmt, während die Strömung uns mit sich führt und rücklings dem Abgrund zu-trägt."
Doch was kann man tun? Uber die technologischen Probleme der Rohstoffeinsparung, des „recycling“, der Umweltentgiftung und ähnliches ist bereits sehr viel gesagt und geschrieben worden, aber — merkwürdig genug — noch wenig über ideelle und institutionelle Voraussetzungen und Konsequenzen prinzipiellen Nullwachstums. Treffen jedoch unsere früheren Überlegungen über die Möglichkeiten der Reform auf der Grundlage der Konkurrenz, des „Drucks von der Seite", nur halbwegs zu, so stellt sich die Frage, ob eine Systemstabilisierung bei grundsätzlichem Nullwachstum nicht einzig unter der Voraussetzung denkbar ist, daß viele der für unsere bisherige Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung zentralen Funktionen außer Kraft gesetzt werden.
Es handelt sich einmal um die Unternehmer-funktion, die ja spezifisch mit Innovation und Wachstum zu tun hat. Die Ausübung dieser Funktion war — und bleibt — grundsätzlich legitim, solange „Wachstum" ein vorrangiges wirtschafts-und gesellschaftspolitisches Ziel darstellt. Mit der Innovationsfunktion ist zugleich ein spezifisches Risiko verbunden, von dem her die unternehmerische Prämie im Sinne von Gewinnchancen und Entscheidungsbefugnissen als legitimiert erscheint. Wenn es jedoch darauf ankäme, von Dynamik und Wachstum zu Statik und Stabilität überzuleiten, müßte dann nicht unausweichlich mit der Funktion auch deren Legitimation zerbrechen? Paradoxer Sachverhalt: Träfe die neomarxistische Zwangsvorstellung vom „Monopolkapitalismus" zu, so wäre die Unternehmerfunktion wahrscheinlich längst zur historischen Erinnerung verblaßt. Aber diese Vorstellung trifft eben nicht zu, sondern in aller Regel haben wir es mit Oligopolen zu tun, die die Konkurrenz keineswegs beseitigen, sondern sie nur in neue Praktiken und Dimensionen — zum Beispiel übernationaler Art — verwandelt haben. Um nochmals an Hobbes'Bild anzuknüpfen: Die Konkurrenz der Konzerne gleicht einem allgemeinen Wettrennen, bei dem man die dahinrasenden Läufer nicht plötzlich anhalten kann, ohne daß alle heftig und blutig auf die Nase fallen. Als Alternative drängt sich auf, die Wettkämpfe zu verbieten und die Wettkämpfer allesamt aus der Arena zu verbannen.
Es würde jedoch auch die herkömmlich zentrale Funktion der Verbände, besonders der Gewerkschaften, betroffen, die darin liegt, für die Mitglieder Anteile am Produktivitätsgewinn und am wirtschaftlichen Gesamtwachstum zu erkämpfen. Könnte im Dauerzustand des Nullwachstums diese Funktion noch erfüllt werden bzw. müßte sie sich nicht ins Dysfunktionale, Destruktive verkehren? Denn der Verteilungskampf gliche einem „Nullsummenspiel", bei dem, wie beim Poker, immer jemand das verlieren muß, was ein anderer gewinnt. Soll eine neue Statik erreicht werden, dann scheint mithin die Freiheit der Verbände im Kampf um das Sozialprodukt unerträglich zu werden, vor allem die Tariffreiheit. Ohnehin funktioniert das bisherige System eigentlich nur, wenn im Durchschnitt ein jährliches Mindestwachstum des Sozialprodukts von etwa vier Prozent gesichert ist. Denn andernfalls entsteht — bei vorausgesetzter Freiheit zu Rationalisierungsinvestitionen, die wiederum eine Voraussetzung des Wachstums sind — ein rasch wachsendes Fleer von Arbeitslosen. Wie das Beispiel Großbritannien zeigt, drängt bereits ein längerfristig geringfügiges Wachstum die Gewerkschaften zu verzweifelten Defensivreaktionen, die jedoch unter den gegebenen Rahmenbedingungen das Wachstum nur noch mehr drosseln und daher die Gesamtwirtschaft immer tiefer in die Krise hineintreiben. Man macht es sich leicht, zu leicht, wenn man meint: dies alles kündige eben die viel-berufene und so oft geforderte „Systemüberwindung" an, und wenn es keinen Unternehmenswildwuchs mehr gäbe, dann könnte man auch auf die Autonomie der Verbände unschwer verzichten. Kann man dies wirklich? Schumpeter hat in seinem noch immer oder schon wieder lesenswerten Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" einmal gesagt, er könne sich die Ablösung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht anders vorstellen als in der Form einer umfassenden, zentral verwaltenden und zuteilenden Bürokratie. Dies entspricht auch allen bisherigen Erfahrungen, handle es sich nun um eine Rüstungszwangswirtschaft und die Verwaltung extremen Mangels — wie in der Kriegs-und Nachkriegszeit — oder um die Lenkungssy-steme, wie sie die Staaten des Ostblocks entwickelt haben.
Läßt sich aber politische Freiheit als Konkurrenz der Interessen und als ein Pluralismus der Meinungen und Anschauungen im Rahmen eines offenen Parteiensystems und des Parlamentarismus noch erhalten, wenn die Konkurrenz aus anderen, entscheidend wichtigen Lebensbereichen verbannt wird? Worum sollten denn — abgesehen von den „Futtertrögen" für ihre Mitglieder — Parteien noch ernsthaft konkurrieren, wenn programmatische Alternativen von Innovationen und von Prioritäten der Wachstums-Investitionen nicht mehr zugelassen werden dürften, vielmehr alles auf ein permanentes Krisenmanagement hinausliefe? Bedarf es im übrigen nicht, um die Härte der bürokratischen Eingriffe, der Lenkungs-und Rationierungsmaßnahmen zu rechtfertigen, der einen, alles umfassenden und durchdringenden Legitimationsideologie, die keine Freiheiten des Abweichens und Andersseins dulden kann, die rigoros vorentscheidet, welche Bedürfnisse befriedigt werden und welche nicht — mehr noch: die festlegt, was überhaupt als geistiges und materielles Bedürfnis anerkannt wird und was nicht? Entsprang daher die Reaktion der Ostblock-Orthodoxie auf den tschechischen Versuch, geistige und politische Freiheit im Sinne offener Konkurrenzmöglichkeiten zu entwickeln und damit eine Reformdynamik in Gang zu bringen, bloßer Engstirnigkeit einer erstarrten Machtkaste oder womöglich nicht auch einem ehernen Systemzwang? Wachsen vielleicht im Blick auf die „Grenzen des Wachstums" gerade dem autoritären Staats-sozialismus und -kommunismus ganz neuartige Legitimationschancen zu?
Gewiß: Bisher haben die sozialistischen Staaten sich wesentlich durch den Anspruch gerechtfertigt, sie könnten mehr, stetiger und krisenfreier Wachstum produzieren als der Kapitalismus. Im Sinne des Leninschen „Wer — wen?" und der Parole vom „Einholen und überholen" haben sie sich auf das Hobbessche Wettrennen eingelassen, und dabei sind sie — jedenfalls im Bereich der Industriestaaten — meist zweite Sieger geblieben, weil sie innerhalb ihres Systems dem Wettbewerb keinen oder nur unzureichenden Raum ließen. Aber könnte sich dies nicht drastisch ändern, wenn wirklich Malthus auf neuer Ebene uns wieder einholt und — möglicherweise — das historische Experiment der offenen Gesellschaft und der demokratischen Freiheit zur weltgeschichtlichen Episode, zum letztlich fehlgeschlagenen Experiment degradiert? Wenigstens ein intelligenter Außenseiter im kommunistischen Lager, Wolfgang Harich, hat die Problematik präzise erfaßt und so konsequent wie unverblümt ausgesprochen, daß ein Kommunismus der Askese statt des Überflusses, der Stabilität statt des Wachstums, ein Kommunismus, der die anarcho-libertären Vorstellungen vom „Absterben" des Staates als Kinderkrankheiten endgültig abstreift, gerade dann zum Zuge kommen kann, wenn ökologische Zwänge jedes weitere, prinzipiell ungelenkte und unbegrenzte Wachstum verbieten. Der autoritäre Staatssozialismus bringt für die erzwungene Wendung wichtige Voraussetzungen mit: „Ausgeschaltet sind alle Störfaktoren, die sich im Westen aus dem System der pluralistischen Demokratie, dem Parlamentarismus, der institutionalisierten Opposition usw. ergeben." Es wären also genau die Faktoren, die das Prinzip Reform politisch zu institutionalisieren versuchen. Nur der autoritär-sozialistische Zentralverwaltungsstaat kann die Bedürfnislenkung erzwingen, „falls nötig, auch durch rigorose Unterdrückungsmaßnahmen . . ., und für den einzelnen gäbe es Rationierungskarten, Bezugsscheine, damit basta" So schroff, um nicht zu sagen ungeheuerlich das vorerst klingen mag, es ist nur konsequent, und Harich beansprucht — daher fasziniert von den Perspektiven, die die Studien des „Club of Rome" aufgewiesen haben — die höhere Rationalität, die tiefere Humanität für sich: die Gleichheit aller in erzwungener Askese als Alternative zur Menschheitskatastrophe.
Nun kann und muß man natürlich sagen, daß Analysen der Strukturbedingungen einer nicht mehr unkontrolliert wachsenden, sondern grundsätzlich statischen Industriegesellschaft nicht von der Gegenwart, sondern von der weiteren — allerdings nicht mehr fernen — Zukunft reden. Zunächst wird es kaum ein prinzipielles Nullwachstum, geschweige denn „Minuswachstum" geben. Zudem dürfte mindestens zum Teil eine qualitative Verlagerung des Wachstums in neue, energiesparende und umweltfreundliche Dimensionen möglich sein. Einige Veränderungen zeichnen sich bereits ab: Arbeits-und rohstoffintensive Industrien schrumpfen oder stagnieren; die Zukunft gehört der „highly sophisticated technology" und den Dienstleistungen — wobei übrigens anzumerken ist, daß die Bundesrepublik, was den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft angeht, gegenüber sonst vergleichbaren Ländern wie etwa den Vereinigten Staaten oder Schweden einen massiven Rückstand aufweist. Eine vorbeugende Krisenstrategie könnte und müßte hier ansetzen
Nur sollte man sich von alledem keine Wunder versprechen; daß die Vereinigten Staaten als fortgeschrittene Dienstleistungsgesellschaft mit den natürlichen Ressourcen sparsamer umgehen als wir, wird man kaum behaupten dürfen. Lind die Zukunft wartet ja nicht; die Probleme, die sich auftürmen, sind keine Erfindungen von Unheilslüstlingen. Die Aufgabe, politische Voraussetzungen und Konseguenzen der Stabilisierung zu überdenken, ist dringend gestellt, wenn die Beschäftigung mit den „Grenzen des Wachstums" nicht zum ehrenwerten, aber unfruchtbaren Moralisieren verdorren soll. Harich jedenfalls hat erkannt, wie dem autoritären Staatssozialismus eine unerwartete, neuartige Legitimationschance zuwachsen könnte, und aus dem einstweiligen Außenseiter könnte unter dem Druck sich wandelnder Verhältnisse bald ein Prophet seines Lagers werden. Auch ein westlicher Beobachter hat bereits formuliert: Den Wettkampf um Butter und Kühlschränke mag der Ostblock absehbar verloren haben, aber den Kampf um die Zukunft wird er gewinnen, gerade weil er weniger erfolgreich war, also seine Ressourcen weniger angegriffen hat und die Bevölkerung an Lenkungsmaßnahmen und Entbehrungen besser gewöhnt ist ganz abgesehen davon, daß vor allem die Sowjetunion noch über gewaltige natürliche Reserven verfügt.
Wenden wir uns wieder der Tragfähigkeit und Zukunftsträchtigkeit politischer Institutionen zu, so kommt zum bisher Gesagten noch etwas Wesentliches hinzu. Wie die Geschichte lehrt, zerbrechen bestehende Institutionen meist nicht im direkten Ansturm ihrer erklärten Feinde, sondern die Zerstörung wird dadurch langfristig und gleichsam unterirdisch vorbereitet, daß das den Institutionen zugeordnete Ethos seine Überzeugungskraft einbüßt. In unserem Zusammenhang handelt es sich also um das konkurrenzorientierte Leistungsethos. Gibt es nicht schon seit geraumer Zeit Anzeichen seiner Auflösung? War die „Kulturrevolution" der sogenannten „Neuen Linken" nicht entscheidend ein Aufstand gegen dieses Leistungsethos, das als inhuman und aggressionsfördernd, als „Leistungsterror" denunziert wurde und gegen das man vielfältige Formen der „LeistungsVerweigerung" proklamierte und praktizierte? Muß man nicht zugleich sehen, daß diese Verweigerung keineswegs nur Sache notorischer „Drückeberger" war, sondern gerade sensible Angehörige der jungen Generation weithin ansprach und überzeugte?
Daß entgegen ihrer Selbstdarstellung die Bewegung der „Neuen Linken" vorwiegend von Söhnen und Töchtern des Bürgertums in den höheren Bildungsinstitutionen getragen wurde, macht den Sachverhalt nur noch auffälliger und erweist sich insofern als folgerichtig, als diese Gruppen ja ungleich stärker als Angehörige der Arbeiterschaft und der Unter-schichten vom Leistungs-und Konkurrenz-prinzip zugleich geprägt worden sind und bedrängt werden. Daher sollte man sich auch nicht dadurch täuschen lassen, daß gegenwärtig die Bewegung zurückgedämmt zu sein scheint. Mindestens zu einem erheblichen Teil dürfte dies auf den Disziplinierungseffekt zurückzuführen sein, der zum Beispiel von verdüsterten Berufsaussichten und vom Numerus clausus an den Hochschulen ausstrahlt — von einem Zwang also, der insgeheim Gefühle der Entfremdung und der Sinnlosigkeit nur noch verstärkt. Wer dem offenbar unentrinnbaren Zwang jedoch eine neue Richtung weist — „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit" — und damit Idealismus und Opferbereitschaft anspricht, der könnte bald wieder gehörigen Zulauf bekommen — wobei freilich über die deutschen Vorzeichen eines derartigen Sinneswandels noch wenig ausgemacht ist.
Schließlich ist daran zu erinnern, daß die gedankenlose Verallgemeinerung des Konkurrenzprinzips, seine pauschale Verherrlichung und Verteidigung, seine Übertragung auf alle Lebensbereiche, tatsächlich barbarische Züge aufweist. Was wird aus denen, die im Hobbesschen Wettrennen nicht mithalten können,, aus den Schwachen, Behinderten, den nicht oder nicht mehr Leistungsfähigen? Sprechen die Zunahme der Kriminalität und der Aggressivität, die Flucht in den Rausch, zur Droge, in Neurose und Nostalgie nicht eine deutliche Sprache? Was tut die Leistungsgesellschaft alternden Menschen an? Gewiß gibt es Auffangnetze, die ständig weiter ausgebauten sozialen Sicherungen und Rentensysteme. Aber ist es mit Abstellgleisen getan, wenn man den Menschen zugleich demonstriert, daß sie zu nichts mehr nützlich sind? Lebt der Mensch wirklich vom Brot allein? (Diese Fra-ge wäre allerdings auch und nicht nur nebenher an Harichs autoritäre Bedürfnisplaner zu richten.)
Es ist also ernsthaft zu fragen, welche wirkliche Überzeugungskraft dem konkurrenzorientierten Leistungsethos überhaupt noch zukommen kann, wenn tatsächlich die Probleme so drohend sich auftürmen, die unter dem Stichwort „Grenzen des Wachstums" diskutiert werden. Dabei ist es natürlich wiederum möglich, sogar unerläßlich, Gegenfragen zu stellen: Was sollte eigentlich als Prinzip der sozialen Statuszuweisung an die Stelle von Konkurrenz und Leistung treten? Sollen wir etwa zum Herkunftsprinzip zurückkehren, das bereits der junge Marx sarkastisch abgefertigt hat: „Der König teilt das mit dem Pferd, daß, wie dieses als Pferd, der König als König geboren wird." Oder sollen wir den „Beziehungen", der Rechtgläubigkeit, dem Parteibuch und der Linientreue den Vorzug geben? Und falls wir dies alles nicht wollen, welche Alternativen bieten sich dann an, die mehr bezeichnen, als im harmloseren Falle Illusionen, im bösartigeren Regressionen? Die Pauschalurteile helfen offensichtlich in keiner Richtung weiter
Wenn wir uns allerdings auf die rigorose Angleichung einlassen, wer entscheidet dann eigentlich über Bedürfnisse und Zuteilungen? In der Situation des verwalteten Mangels wird — eine Elementarerkenntnis politischer Ökonomie — Herrschaft nicht etwa beseitigt, sondern im Gegenteil angeeignet, und konsequent genug will Harich ja auch die Illusion verabschieden, es könne im vollendeten Kommunismus die autoritäre Staatsgewalt abgeschafft oder auch nur abgemildert werden. Muß damit aber die Gleichheit ohne Freiheit nicht wiederum in eine neue Form radikaler Ungleichheit einmünden, wie George Orwell es vorgezeichnet hat? Und muß es damit, entgegen Harichs Hoffnungen, nicht zu einem neuen, perfekten System bürokratischer und technokratischer Klassenherrschaft kommen — und mit ihm zu neuen, bösartigen innergesellschaftlichen wie zwischenstaatlichen Konflikten?
Jedenfalls: Die perfekte und permanente Notstandsdiktatur des autoritären Staates als den vollendeten Kommunismus anzubieten, das läuft angesichts aller Perspektiven, die bisher von sozialistischen und marxistischen Denkern je entwickelt worden sind, auf einen makabren Scherz hinaus. Aber mit dieser Feststellung kann es ja nicht sein Bewenden haben. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Gruhl, der so eindrucksvoll die Daten zur kommenden Katastrophe zusammengetragen hat, unterscheidet sich in seinen Schlußfolgerungen von Harich im Grunde nur dadurch, daß er auch noch dessen letzte Selbsttäuschung, die vom kommenden Reich allgemeiner Gleichheit und Konfliktlosigkeit, über Bord wirft. Gruhl greift unter anderem auf die autoritäre Staatsideologie eines Ernst Forsthoff zurück, der das Entscheidende ohnehin nie verschwiegen hat: „Staatsgesinnung als Grundlage der Gehorsamsbereitschaft erwächst nicht aus der Freiheit. Die Freiheit isoliert den Menschen — sie distanziert ihn vom Staat. Sie konstituiert nichts an überindividueller Ordnung, auch nicht im Ethischen. Sie bringt keine Staatsgesinnung hervor."
Gleichwohl soll hier die Frage gestellt werden, ob es nicht doch eine Alternative gibt, die nicht — in heimlichem Aufatmen — Freiheit, Demokratie und Reform als politisches Prinzip zugunsten der Diktatur verrät. Welche Möglichkeiten denkbar wären, mag ein Gedankenexperiment anschaulich machen:
Angenommen, westliche Regierungen hätten etwa um 1960, als der Verdrängungswettbewerb des Erdöls gegenüber der Kohle spürbar zu werden begann, beschlossen, die Heizöl-und Benzinsteuern künftig Jahr für Jahr um etwa 10 Prozent zu erhöhen, und sie hätten diesen Beschluß seither durchgehalten. Gleichzeitig hätten sie beschlossen, die ein-kommenden Gelder für die Entwicklung von Nahverkehrsmitteln und für Maßnahmen zur Energieeinsparung einzusetzen, zum Beispiel durch Subventionierung der Wärmedämmung bei Neu-und Altbauten. Was wäre geschehen? Wahrscheinlich wäre das wirtschaftliche Gesamtwachstum weniger stürmisch verlaufen. Vor allem hätte sich dies bei der Automobilindustrie, beim Straßenbau und in verwandten Bereichen bemerkbar gemacht. Aber die Krise des Bergbaus hätte nicht stattgefunden — und vermutlich auch nicht die Erdöl-krise von 1973 mit all ihren Folgen, weil einem großen Angebot eine stark gedämpfte Nachfrage gegenübergestanden hätten. Selbstverständlich handelt es sich nur um einen kleinen Ausschnitt aus einem insgesamt weitläufigen, überaus komplexen Problembereich, der vieldimensional vorausschauende Maßnahmen notwendig macht. Es handelt sich überdies um ein sehr vereinfachtes Modell, etwa was das gemeinsame Handeln oder die Alleingänge der zahlreichen beteiligten Regierungen betrifft. Aber ein historischer Vergleich erweist sich als informativ:
Als es im Frühstadium der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts darum ging, die Kinder-arbeit in Bergwerken und Fabriken zunächst einzuschränken und dann ganz zu unterbinden, erklärten Fachleute, daß dies undurchführbar sei, weil es zum wirtschaftlichen Ruin führen müsse. In der Tat: Hätte ein menschenfreundlicher Unternehmer die Kinderarbeit in seinem Betrieb abgeschafft und die Löhne seiner Arbeiter erhöht, um sie daran zu hindern, ihre Kinder anderweitig zu verdingen, so hätte er sich alsbald aus dem Wettbewerb ausgeschlossen. (Sogar dies gilt nur bedingt, wie Robert Owen in New Lanark demonstrierte.) Aber der Sachverhalt ändert sich, sobald durch staatliche Verordnungen und Kontrollen die Kinderarbeit abgeschafft wird. Die „Spielregeln", die allgemeinen Rahmenbedingungen des Wettbewerbs werden neu gefaßt, doch der Wettbewerb selbst geht auf neuer Stufe weiter.
Wieder handelt es sich nur um den Teilaspekt eines weiten Problemfeldes. Aber es ist klar, daß insgesamt der zähe, nie endende Kampf um Sozialreformen, der seit mehr als hundert Jahren ausgefochten wird, den Weg begehbar gemacht hat, der vom einstigen „Laisser-faire" -Kapitalismus zum modernen Sozialstaat führt. Am Gesamterfolg des reformerischen Kampfes sind alle Erwartungen zerschellt, daß wachsende Massenverelendung und, damit im Zusammenhang, ständig verschärfte Überproduktionskrisen den Marktmechanismus zum Untergang verurteilen würden.
Natürlich hinkt der Vergleich: Die Abschaffung der Kinderarbeit erforderte keine Vor-ausschau auf kommende Probleme, sondern nur die Reaktion auf bereits bestehende. Und Parlamente wie Regierungen wurden vom immer zunehmenden „Druck von unten", den die Arbeiterbewegung ausübte, zum Handeln angetrieben. Wer, außer vielleicht ganz wenigen einflußlosen Außenseitern, hätte es um 1960 vermocht, die Probleme der zukünftigen Energieversorgung und demgemäß Strategien einer weit vorausschauenden Energiepolitik angemessen zu formulieren? Selbst die „Zukunftsforscher" schwelgten durchweg noch in Vorstellungen vom grenzenlosen Wachstum. Und ein kritisches Umweltbewußtsein gab es bis dahin kaum; als die SPD im Bundestagswahlkampf von 1961 einen „blauen Himmel über der Ruhr" forderte, erntete sie kaum mehr als Heiterkeitserfolge; sie wurde sogar wegen derart „unpolitischer" Parolen getadelt.
Macht indessen dieses Beispiel nicht auch Möglichkeiten des Wandels sichtbar? Inzwischen, in kaum anderthalb Jahrzehnten, haben sich die Verhältnisse entscheidend verändert; den Behörden fällt es immer schwerer, neue Industrieansiedlungen oder Kraftwerks-bauten gegen den Widerstand der Bürger überhaupt noch durchzusetzen. Ist hinsichtlich der Rohstoff-und Energiefragen ein ähnlicher Wandel ausgeschlossen? Regierungen und Regierte werden durch die Zirkulation öffentlicher Meinungsbildung miteinander vermittelt, und wenn einerseits Regierungen mutig vorangehen, andererseits immer mehr Bürger sie entschlossen antreiben, läßt sich vieles erreichen.
Gewiß erweist sich hierzulande Optimismus immer wieder als eine Form der Pflichtvergessenheit. „Freiheit" wird offenbar buchstäblich als Vorrecht des ungezügelten Wettrennens mißverstanden; nicht einmal allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Autobahnen haben sich bisher durchsetzen lassen. „Was für eine Mentalität ist das, daß eine solche Maßnahme in Deutschland nicht möglich ist? Das macht mir manchmal bange."
Es ist eine Untertanen-und Schulbubenmentalität, die außer Rand und Band gerät, wenn der tyrannische Lehrer einmal nicht da ist — und die nach dem Vormund schreit, sobald Schwierigkeiten auftauchen. Eröffnet deshalb die Notstandsdiktatur des autoritären Staates einen Ausweg? Bildet sie nicht vielmehr das konsequente Gegenstück der mißverstandenen Freiheit? „Menschen sind genau in dem Maße zu bürgerlicher Freiheit qualifiziert, in dem sie ihren Begierden Bindungen auferlegen . . . Eine Gesellschaft kann nicht bestehen, wenn nicht irgendwo eine kontrollierende Macht gegenüber dem Willen und den Begierden existiert, und je weniger es diese Macht in den Menschen selbst gibt, desto mehr muß sie von außen kommen. In der ewigen Ordnung der Dinge ist es bestimmt, daß Menschen von zügellosem Geist nicht frei sein können. Aus ihren Leidenschaften entstehen ihre Fesseln" Diszipliniertes, zukunftsbezogenes und selbstverantwortliches Handeln läßt sich allerdings nur dort erwarten, wo im Horizont einer offenen Gesellschaft und politischer Freiheit den Bürgern Verantwortung und Freiheit auch zugestanden und zugemutet werden. Den Gefahren der Demokratie kann daher nur durch Stärkung und Ausweitung demokratischer Institutionen begegnet werden, nicht aber durch deren Zerstörung. Sie käme einem Selbstmord aus Angst vor dem Tode gleich — oder vielmehr: einem Selbstmord aus Angst vor den bis zum Tode immer unabsehbaren Risiken und Wechselfällen des Lebens.
Es gibt keinen einfachen Ausweg: Ohne das bürgerlich-liberale Konkurrenzprinzip wäre die moderne Industriegsellschaft schwerlich entstanden und gäbe es ihr Wohlstandsniveau so wenig wie eine politische Ordnung der Freiheit. Mit dem blinden Wirken des Konkurrenzprinzips wird die Industriegesellschaft jedoch kaum bestehen können, ohne sich schwersten Gefährdungen auszusetzen und früher oder später wahrscheinlich Katastrophen zu provozieren. Sie wird zum mindesten dann nicht bestehen können, wenn die „Spielregeln" des Wettkampfes im Blick auf die Probleme der Zukunft nicht ständig überprüft und neu gefaßt werden. Gerade darin liegt heute die entscheidende Reformaufgabe, und gerade daran zeigt sich noch einmal, daß Reform als politisches Prinzip den gestellten Anforderungen nur genügen wird, wenn es nicht in den Grenzen der Gegenwart als bloßes Reagieren und als opportunistische Anpassung sich einschließen läßt, sondern wenn es diese Grenzen in der Vorausschau auf das Kommende überschreitet.
Will man es hierauf aus Furcht vor dem Scheitern nicht ankommen lassen, so bleibt allerdings nur die ersatzlose AbschaiSung des Konkurrenzprinzips. Damit würde man aber keineswegs nur Probleme lösen; man würde vielmehr neue und wahrscheinlich endgültig unlösbare Probleme schaffen. Daß jedenfalls die vollzogene „Systemüberwindung" mit einem Schlage entweder die wahre Demokratie, die wirkliche Emanzipation, die vollendete Freiheit und den Frieden herbeiführen würde — oder wenigstens die allgemeine Gleichheit auf Kosten der Freiheit und eine bescheidene Idylle im Schatten der autoritären Gewalt: dies dürfte mit Sicherheit sich als die große Illusion erweisen. Um so notwendiger ist es, daß wir uns illusionslos den Herausforderungen unserer Zeit stellen, sogar dann, wenn wir niemals sicher sein können, daß wir sie bestehen werden.