Wie weit bestimmen Curriculum-Verfahren das Curriculum? Zur Kontroverse um das „didaktische Strukturgitter"
Dieter Menne
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Zusammenfassung
Das Verfahren der Erarbeitung der NRW-Richtlinien für den Politik-Unterricht ist als „Ebene der Normentscheidung“ zu verstehen und stellt einen Interpretationszusammenhang dar, der durch Zerlegung in Einzelelemente und deren Instrumentalisierung Entscheidungen über allgemeine Lernziele für den politischen Unterricht herbeiführen half. Das im Verfahren enthaltene „Strukturgitter für den politischen Unterricht“ verbindet verschiedene sozialwissenschaftliche Zugriffe auf die Gesellschaft zu einem Problematisie-rungsinstrument, das Lernzielentscheidungen vorbereitet, aber nicht festlegt. Das bei den NRW-Riditlinien praktizierte Verfahren diente der Verbesserung des unumgänglich not-wen gen Konsenses im Entscheidungsprozeß; seine Ergebnisse entsprechen den wesentlichen Anforderungen der Curriculumtheorie und bilden einen konsistenten Begründungs-zusamnmenhang.
Wenn mit dem Terminus „Verfahren“ in der Curriculumtheorie mit Hans Albrecht Hesse und Wolfgang Manz „alle Entscheidungsaspekte und die sie herbeiführenden Handlungsabläufe" oder — wie Walter Gagel vorschlägt — die „Ebene der Normentscheidung" verstanden werden, ist die pauschale Aussage, daß die von einer Curriculumkommission gewählten Verfahren die Ergebnisse der Arbeit entscheidend bestimmen, eine Trivialität. In welchem Maße aber die gewählten Verfahren die Ergebnisse bestimmt haben, ist im Einzelfall meist äußerst schwierig auszumachen. Bei traditionellen Lehrplänen und Richtlinien gab es weder über die Verfahren noch über die Auswahl der Autoren verläßliche Informationen.
Im Bereich der politischen Bildung hat sich in diesem Punkt in den letzten Jahren eine wichtige Änderung vollzogen: Der curriculare Anspruch neuerer Richtlinien verlangt prinzipiell die Offenlegung der Verfahren und Methoden, die zu normativen Entscheidungen über Ziele geführt haben, und die breite pädagogische und politische Diskussion über diese normativen Entscheidungen trägt dazu bei, der Öffentlichkeit deutlich zu machen, daß „politischer Unterricht immer ein Politikum ist" Die Folge ist, daß die für Richtlinien und Lehrpläne Verantwortlichen die Legitimierungsideen, die Verfahren, mit deren Hilfe diese Legitimierungsideen ermittelt wurden, und die Methoden mit deren Hilfe die Richtlinien in die Wirklichkeit der Schule umgesetzt werden sollen, der Öffentlichkeit darzustellen versuchen.
Dies wurde beispielhaft deutlich, als bei einer der Veranstaltungen in der Reihe „Hessenforum" über die hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre der Diskussionsleiter, Eugen Kogon, folgende Fragen formulierte: „Wie entstehen heute solche Richtlinien, wie kommt es zu Initiativgruppen, welche Rolle spielen die Kommissionen dabei, und wie soll sich der Prozeß der Bestätigung der Richtigkeit oder der Nichtrichtigkeit im Lande vollziehen — also das Verfahren?" In der Folge soll versucht werden, in einem kurzen Über-blick darzustellen, wie das Verfahren, die „Ebene der Normentscheidung", bei der Erarbeitung der Richtlinien für den Politik-Unterricht des Landes Nordrhein-Westfalen aussieht, um anschließend darzustellen, wie es sich auf die Curriculum-Ergebnisse ausgewirkt hat.
I. Überblick über das Verfahren
Abbildung 1
Abb. 1: Überblick über die für die Erarbeitung der nordrhein westfälischen Richtlinien für den Politik-Unterricht verwendete Strategie (gekürzt)
Abb. 1: Überblick über die für die Erarbeitung der nordrhein westfälischen Richtlinien für den Politik-Unterricht verwendete Strategie (gekürzt)
Die den „Richtlinien für den Politik-Unterricht des Landes Nordrhein-Westfalen" — neben den bisher erschienenen Planungsmate-rialien das wesentliche Ergebnis der Arbeit — zugrunde liegende Strategie enthält auf der „Ebene der Normentscheidung" vier wesentliche Einzelelemente: die Bedingungsana-lyse, das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, das didaktische Strukturgitter für den politischen Unterricht und die Situationsanalyse. Diese Strategie folgt mit einigen Modifikationen den von Herwig Blankertz für das Fach „Arbeitslehre" entworfenen Grundlinien der Erarbeitung eines fachspezifischen Curriculums und ordnet die Teilelemente des Verfahrens so aufeinander zu, daß Entscheidungen über umfassende all-gemeine Lernziele getroffen werden können, ohne sie von einem wie auch immer beschaffenen obersten Lernziel (Leitidee) abzuleiten oder dezisionistisch-normativ zu setzen, sondern sie mit Hilfe hermeneutischer Methoden zu ermitteln und das Maß an politischer Setzung, das unvermeidbar ist, in den Arbeitsprozeß so einzubeziehen, daß die zu treffenden Wertentscheidungen rational begründbar, der Selbst-und Fremdkontrolle zugänglich und in der Gesellschaft, für die sie getroffen werden, konsensfähig zu sein versprechen. Unter diesen Voraussetzungen stellen die genannten Einzelelemente Interpretationsund Entscheidungsinstrumente auf der „Ebene der Normentscheidung" dar, die, für sich genommen, Interpretationen enthalten und, im Zusammenhang verstanden, Entscheidungen über Ziele ermöglichen.
Die Bedingungsanalyse enthält unter vier Aspekten („Objektivierbare Veränderungen in den Lebenssituationen", „Entgegenstehen-de Faktoren im Bereich der vorgegebenen Institutionen", „Politisch-gesellschaftliche Postulate", „Soziokulturelle Voraussetzungen der Jugend") eine Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Faktoren, die die politische Erziehung in der Schule prägen. Aus der Bestandsaufnahme werden Schlußfolgerungen und Konsequenzen gezogen (Ziele demokratischer Politik und Herrschaft; organisatorische Struktur des fachspezifischen Curriculums;
gesellschaftliche, politische und fachdidaktische Mindestbedingungen, denen ein Curriculum für die politische Bildung nach dem Stand der Diskussion genügen muß; Forderungen der Forschung zur politischen Sozialisation an die politische Bildung in der Schule) die einen Rahmen von Bedingungen für das Curriculum bilden. Dieser Rahmen wird im Verfahren durch Konsensbildung der am Arbeitsprozeß Beteiligten entwickelt und enthält als Postulat eine den Rahmenbedingungen entsprechende Zielvorstellung für die politische Bildung und Elemente der politischen Setzung; sie ist in den Richtlinien niedergelegt und wird im Fortgang der Arbeit als „Richtwert" verwendet, mit dessen Hilfe alle anderen Ergebnisse geprüft und gewichtet werden.
Es läge nun nahe, diesen Richtwert als Norm und oberstes Lernziel zu begreifen und von ihm Teilziele abzuleiten, enthält er doch in sich bereits eine Fülle von denkbaren Handlungsanweisungen für die politische Bildung in der Schule. Aber dieser Weg wurde aus verschiedenen Gründen nicht beschritten: Die Ableitung von Lernzielen aus einem Richtwert erhebt diesen zu einem rational kaum legitimierbaren obersten Lernziel und hat zur Folge, daß die abgeleiteten Lernziele den Implikationszusammenhang von Lernziel-, Lerninhalts-und Lernorganisationsentscheidungen unberücksichtigt lassen So würde die Ableitung von Lernzielen aus dem Richtwert Selbst-und Mitbestimmung bedeuten, daß die gesellschaftlich-politische Realität nur unter der Perspektive, wie in ihr Selbst-und Mitbestimmung zu realisieren sei, gesehen würde: Lernziele, die eine Anpassungsleistung for.dem, würden nicht nur in den Hintergrund geschoben, sondern gar nicht mehr gefunden. Darüber hinaus bleiben die Qualifikationen und Lernziele sachlich unbestimmbar; es würde als Ergebnis herauskommen, was Hermann Giesecke treffend als „jene gar nicht neue , Einsichten-Pädagogik'(bezeichnet), die alles nur noch auf . Bildungsgehalte'bzw. nun auf . Verhaltensweisen'hin abmelkt. ..“
Es ergab sich also die Notwendigkeit, die fachspezifischen Ziele des Curriculums für das Fach Politik auf der Ebene der Normentscheidung mit Hilfe eines von der Bedingungsanalyse unabhängigen Instruments zu reflektieren, das Ergebnis der Reflexion mit Hilfe des Richtwertes aus der Bedingungsanalyse zu gewichten und erst dann die didaktischen Entscheidungen über Ziele vorzuneh-men. Der Richtwert erhält damit die Qualität eines Prüfungsinstruments, das an die fachspezifischen Lernziele angelegt wird, um festzustellen, ob sie dem Bedingungsrahmen Rechnung tragen oder nicht. Zumindest dürfen sie dem — allerdings sehr weit angelegten — Richtwert nicht offen widersprechen, sondern müssen im Einzelfall gedanklich noch mit ihm vereinbar sein.
Der Vorgang der Entwicklung fachspezifischer Lernziele wurde durch den Rückgriff auf das Selbstverständnis der Gesellschaft — analysiert durch die Fachwissenschaften — und eine Wissenschafts-und gesellschaftstheoretisch begründete ideologiekritische Untersuchung des Selbstverständnisses der Gesellschaft eingeleitet, durch Situationsanalysen, die das kritisch reflektierte Selbstverständnis der Gesellschaft in Situationen zu erfassen suchten, fortgesetzt und durch auf die Situationen hin entworfene Lernziele, die mit Hilfe des Richtwertes der Bedingungsanalyse geordnet und gewichtet wurden, abgeschlossen. Dieser Arbeitsprozeß gewährleistete, daß —-das fachspezifische Curriculum Politik auf die Gesellschaft bezogen blieb, für die es entworfen wurde (Selbstverständnis der Gesellschaft als Ausgangspunkt);
— die mittelfristige Erarbeitung eines fachspezifischen Curriculums überhaupt möglich war (Analyse des Selbstverständnisses der Gesellschaft durch Nutzung vorliegender Erkenntnisse der Fachwissenschaften Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und nicht durch ein umfassendes Forschungsprojekt über das Selbstverständnis der Gesellschaft);
— eine ideologiekritische Überprüfung und Problematisierung des von den Fachwissenschaften dargestellten Selbstverständnisses der Gesellschaft unter Zurückführung ihrer Ergebnisse auf erkenntnisleitende Interessen stattfand, damit das Selbstverständnis der Gesellschaft sich nicht unbefragt und unkritisch zu Lernzielvorstellungen verfestigte (Didaktisches Strukturgitter für den Politik-Unterricht);
— eine Entscheidung über Lernziele überhaupt stattfinden konnte (Ausrichtung der Lernzielentwürfe auf Situationen hin und nicht Ableitung von Lernzielen aus einem wie auch immer beschaffenen Strukturgitter, das zwar eine Fülle von Reflexionen liefert, aber keine Auswahlkriterien).
Am Ende dieses Arbeitsprozesses standen Lernzielentwürfe, die von den einzelnen Mitgliedern unter Berücksichtigung der fachdidaktischen Literatur auf konkrete Verwendungssituationen hin formuliert wurden. Diese Entwürfe waren auf unterschiedlichen Ah-straktionsniveaus formuliert (Beispiele aus der curricularen Analyse „Parteien": „Fähigkeit, die eigenen Chancen zur Teilnahme am politischen Willensbildungsprozeß real einzuschätzen" — „Kenntnis der Struktur des Repräsentativsystems und der Funktion der Parteien") und enthielten unterschiedliche Zielorientierungen auf der Skala möglicher Anforderungen zwischen weitgehender Integration in vorhandene Institutionen, Orientierungsmuster, Denksysteme einerseits und weitgehendem eigenverantwortlichem Heraustreten aus solchen Systemzusammenhängen (Beispiele aus der curricularen Analyse „Politische Wahlen": „Fähigkeit und Bereitschaft, die bestehenden Handlungschancen bei der politischen Wahl rational einzuschätzen und bewußt auszuschöpfen" — „Fähigkeit und Bereitschaft, eigene soziale Interessen zu sehen und ihnen gegenüber disponierfähig zu werden" Die mit Hilfe der zahlreichen „curricularen Analysen“ (Selbstverständnis + Strukturgitter + Situationsanalysen) entworfenen umfangreichen Lernzielkataloge wurden sprachlich auf ein einheitliches Abstraktionsniveau gebracht (woraus sich Lernzielkomplexe entwickelten) und schließlich mit Hilfe des Richtwertes „Emanzipation" überprüft und geordnet.
Da der Richtwert „Emanzipation" eine breite Skala von Möglichkeiten zwischen der Anerkennung von Selbst-, Mit-und Fremdbestimmung enthält, d. h. die Verhaltensdisposition „Anpassung" nicht grundsätzlich diffamiert obwohl er eine Option für Selbst-und Mitbestimmung enthält, war es nicht erforderlich, Lernzielentwürfe zu eliminieren, sondern es vollzog-sich ein Gewichtungs-und Umordnungsprozeß, in dem den Teilzielen unter dem Kriterium der Erziehung zur Mündigkeit bzw. Selbst-und Mitbestimmung ihr jeweiliger Stellenwert zugeordnet wurde. Es entstanden zehn Qualifikationen als umfassende und übergeordnete Verhaltensdispositionen (z. B. Qualifikation 8: „Fähigkeit und Bereitschaft, angesichts von persönlichen oder gesellschaftlichen Problemen Eigeninitiativen zu entwickeln und — unter ständiger Prüfung der Realisierbarkeit — geeignete Wege zu ihrer Verwirklichung zu gehen" und eine große Zahl ihnen zugeordneter oder aus ihnen entwickelter Teillernziele und Kommentare („Qualifikationsbeschreibungen" als Aufgabenbeschreibungen). Das Hauptergebnis — Qualifikationen, Qualifikationsbeschreibungen, Teillernziele — entstand also durch hermeneutische Methoden in einem gestuften Arbeitsprozeß, der zum Verfahren wurde, zu einem Entscheidungsprozeß auf der Ebene der Normendiskussion.
II. Das Verhältnis zwischen Verfahren und Ergebnissen
Abbildung 2
Abb 2: Das didaktische Strukturgitter für den politischen Unterricht
Abb 2: Das didaktische Strukturgitter für den politischen Unterricht
Dem in Nordrhein-Westfalen verwendeten Verfahren wurde von verschiedenen Seiten neben sehr starker Zustimmung versteckt oder offen vorgeworfen, zu einer „anderen Republik" erziehen zu wollen, wobei eine bestimmte Gleichsetzungstechnik verwendet wird, auf die auch Gagel aufmerksam macht So schreibt Brüggemann zunächst über den Versuch der Rationalisierung pädagogischer Entscheidungen: „Das Instrumentarium zu dieser wissenschaftlichen Objektivierung entnehmen sie der anspruchsvollen philosophisch-soziologischen Bewegung, die von den Philosophen Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas in Gang gebracht wurde und die als . Kritische Theorie der Gesellschaft'der sogenannten . Frankfurter Schule'bekannt und wirksam geworden ist." Wenig später führt er dann aus:
„Wer die Interessengebundenheit der Wissenschaften aufzuarbeiten beansprucht, dies jedoch in Anlehnung an eine wissenschaftstheoretische Auffassung, eben die der neomarxistischen Frankfurter Schule, versucht, muß sich der Begrenztheit seiner eigenen Aussage bewußt sein“ und im weiteren Verlauf setzt er das Etikett „neomarxistisch“ immer dann ein, wenn er einen ideologischen Hintergrund der Richtlinien konstruiert, vor dem er sie dann plötzlich wieder in Schutz zu nehmen versucht Aber die Vermutung liegt nahe, daß hier die Technik des Semper afiquid haeret wirksam wird. Walter Gagel kritisiert den Versuch, eine wissenschaftstheoretische Position, die nur an einer Stelle des Verfahrens auftritt, herauszugreifen, den Gebrauch anderer Theorien und Methoden aber zu übersehen und warnt vor den Konsequenzen: „Es muß für die Zukunft verheerende Wirkung haben, wenn die Offenlegung der theoretischen Grundlagen von Richtlinien nur daraufhin abgeklopft wird, ob man selektiv Indizien findet, mit deren Hilfe man politische Gegner unglaubwürdig machen kann." Der Vorwurf wissenschaftstheoretischer Einseitigkeit wird noch ausführlicher durch Clemens und Rudolf Willeke begründet und an das „Strukturgitter für den politischen Unterricht" gerichtet, dessen Grundlinien Gösta Thoma, ein Mitarbeiter Herwig Blankertz', 1970/71 für die Richtlinienkommission entworfen hat. In der Tat hat kein anderes Instrument des Verfahrens so viele Mißverständnisse, soviel Ratlosigkeit und Ideologie-verdacht ausgelöst, wie auf vielen Tagungen der Lehrerfortbildung zu beobachten war. Dies zeigt sich auch bei Clemens und Rudolf Willeke: Sie werfen der Kommission vor, mit Hilfe dieses Instruments „Fragestellungen und Inhalte auszusondern", „einseitig und parteiisch" zu fragen und zu antworten, ja sogar in ihrer Arbeit am Strukturgitter eine . Alibifunktion'für eine Exekutiventscheidung des Ministeriums zu übernehmen die von einer, wie Wolfgang Brüggemann in einem ähnlichen Zusammenhang formuliert, „außer Kontrolle geratenen, ideologisch eingeschworenen Gruppe des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums" gesteuert wird.
Der Entwurf des Strukturgitters von Gösta Thoma (s. Abbildung 2) verbindet in einer dreidimensionalen Matrix die Medien der Vergesellschaftung — Arbeit, Sprache, Herrschaft — mit drei Definitionsebenen, die das jeweilige erkenntnisleitende Interesse der empirisch-analytischen, der historisch-hermeneutischen und der kritisch-emanzipatorischen Sozialwissenschaften bezeichnen, und drei Strukturierungskriterien — Problematisierung, Intention, Selektion —, die sicherstellen sollen, daß die Komplexität eines Sachverhaltes, der im Strukturgitter untersucht wird, angemessen erfaßt wird. Die Kommission hat die Matrix verwendet, um fachwissenschaftliche Erkenntnisse über das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen Sachbereichen (Rechtsstaat, Sozialstaat, Parteien, Wahlen usw.) unter den Gesichtspunkten des Funktionszusammenhangs, ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung (Legitimierung) und möglicher emanzipatorischer Alternativen zu überprüfen, um ein weites Spektrum von Problemgehalten zu gewinnen, die — wie oben dargestellt — weiterverarbeitet werden sollten.
Der Unterschied zwischen dem Entwurf Thomas und der Verwendung durch die Kommission besteht darin, daß die Kommission Thomas'Matrix aus pragmatischen Gründen instrumentalisierte, d. h. die lakonischen Begriffe in offene Fragen verwandelte, und ihr aus grundsätzlichen Erwägungen des curricularen Vorgehens einen anderen Stellenwert zuwies, als dies bei Thoma — und Blankertz — vorgesehen war (nachgeordnete Situationsanalyse). Die Umsetzung der von Thoma an einem Beispiel gewonnenen Füllungen der Matrix in einen generalisierenden Fragenkatalog (s. Abb. 3) und die von Thoma nicht so eindeutig akzentuierte systemtheoretische Interpretation der Strukturierungskriterien „Problematisierung", „Intention", „Selektion" erhöhten also die Verwendbarkeit der Matrix als Arbeitsinstrument. Noch deutlicher als Thoma praktizierte die Kommission bei ihrer Untersuchung ein striktes Gleichgewicht zwischen den drei Definitionsebenen und konstruierte keine Hierarchie, wie sie Clemens und Rudolf Willeke irrtümlich annehmen
Ein Beispiel soll die Arbeitsweise der Kommission verdeutlichen (zur besseren, Nachprüfbarkeit wird aus den veröffentlichten Beispielen zitiert): Bei der Analyse des Sachbereichs „Bundeswehr und demokratische Gesellschaft" geht Walter Gagel vom Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform" aus als dem Konzept, das im Selbstverständnis der Bundesrepublik für die Organisation der Streitkräfte maßgebend geworden ist. Bei der Analyse dieses Selbstverständnisses mit Hilfe des didaktischen Strukturgitters stellt er im Medium Arbeit dar, wie das Ziel der „Produktion" von Sicherheit durch die Strategie der Abschreckung mit den Mitteln der Kampfstärke der Bundeswehr, ihrer Integration in die NATO, der allgemeinen Wehrpflicht und der öffentlichen Finanzierung gewährleistet werden soll, wobei die öffentlichen Ausgaben für „nichtproduktive" Investitionen und die Dienstpflicht in Kauf genommen werden müssen. Diese Funktion der Bundeswehr wird durch Legitimierungsideen gesellschaftlich institutionalisiert: Sicherheitspolitik ohne Angriffsabsicht, andauernde Bedrohung von außen, Idee des Staatsbürgers in Uniform, die Erhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wobei eine tendenzielle Abwertung der Kriegsdienstverweigerung und eine tendenzielle Steuerung auch des Freizeitverhaltens der Soldaten zeigen, daß die Legitimierungsideen eine Fixierung auf ein bestimmtes Verhalten zur Folge haben können.
In der kritischen Definitionsebene stellt er dar, daß in der Bundeswehr und in der Gesellschaft die Funktionen der Armee und ihre gesellschaftliche Institutionalisierung durchaus kontrovers sind und formuliert kritische Rückfragen an die Wissenschaft 30): „Die kritischen Rückfragen würden demnach lauten:
1 Läßt sich die Bundeswehr unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsteilung in die Gesellschaft integrieren, also als eine soziale Organisation unter anderen?
2. Kann Sicherheit auch durch eine Berufsarmee gewährleistet werden?
3. Welche Bedingungen sind zu erfüllen, damit internationale Politik „zum politisch garantierten Weltfrieden führt" (v. Weizsäkker)?“
Bei diesem Gedankengang handelt es sich nur um einen Teil (ein Drittel) der curricularen Analyse mit Hilfe des Strukturgitters; am Ende der gesamten Untersuchung werden alle Rüdefragen gesammelt
Läßt sich die Bundeswehr unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsteilung in die Gesellschaft integrieren, also als eine soziale Organisation unter anderen (1. 3)?
— Kann Sicherheit auch durch eine Berufsar-meegewährleistet werden (1. 3)?
— Welche Bedingungen sind zu erfüllen, damit internationale Politik „zum politisch garantierten Weltfrieden führt" (v. Weizsäcker) (1-3)?
— Ist eine Offiziers-oder soldatenspezifische Rollenerwartung mit der Forderung nach Integration der Armee in die demokratische Gesellschaft vereinbar (2. 3)?
— Oder ist die darin enthaltene „Kongruenzthese" illusionär und nur eine Verschleierung der „spezifischen Differenz" zwischen Gesellschaft und Armee (2. 3)?
— Hat „Mündigkeit" in einer Armee eine Chance oder ist diese nach wie vor zu kennzeichnen als eine „totale Organisation" mit . Zwangscharakter" (2. 3)?
— Könnte nicht die Möglichkeit einer Wahl zwischen Militär-und Ersatzdienst angeboten werden (3. 3)?
— Gibt es Alternativen zur Wehrpflichtarmee, welche das Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft besser lösen könnte (3. 3)?
— Können emanzipative Verhaltensweisen im (militärischen) System verstärkt werden (3. 3)?Ist es möglich, daß sich Soldaten am transitorischen Charakter von Armee orientieren (3. 3)?"
Das Gesamtergebnis wird auf die didaktische Kategorie der „Lebenssituation" bezogen; unter Zuhilfenahme der Leitidee „Emanzipation", die Gagel mit Hilfe von Hilligens Optionen ausdifferenziert, werden drei Qualifikationen entworfen, die später weiterverarbeitet werden
„(1) Fähigkeit und Bereitschaft, bei der Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen die für einen Organisationszweck erforderlichen Verhaltensleistungen zu erbringen und damit das funktional Notwendige zu tun, ohne sich der Organisation total zu unterwerfen.
(2) Fähigkeit und Bereitschaft, Alternativen und Kontroversen auch in solchen Situationen auszuhalten, in denen dies zum Infrage-stellen eindeutiger Positionen und zur Verunsicherung von Zielorientierung führt.
(3) Fähigkeit und Bereitschaft, die dem einzelnen zustehenden Rechte auch gegenüber sozialem Druck und Sanktionen auszuschöpfen und Chancen zur Selbstbestimmung zu ergreifen."
Die Überprüfung dieses Gedankenganges im Hinblick auf wissenschaftstheoretische und politische Standortbestimmungen zeigt, daß die Medien der Vergesellschaftung und die Definitionsebenen, die aus der kritischen Theorie der Gesellschaft abgeleitet sind, nur einen einzigen Gedankengang ausfaltende Fragestellungen sind, die geeignet sind, vorhandene Funktionsbestimmungen, ideologische Legitimationen und kritische Alternativen zu sichten und zu erklären, vorhandene Kontroversen aufzudecken, ohne daß die Antwort vorher bereits mit der Fragestellung gegeben ist. Es geht also nicht darum, wie Clemens und Rudolf Willeke schreiben, das Strukturgitter „als eine Art Sieb" zu benutzen, um „bestimmte Fragestellungen und Inhalte auszusondern" oder die „Auswahl der zugelassenen Fragen — und damit auch die möglichen Antworten — einseitig und parteiisch" vorzunehmen 32), sondern gerade darum, die unterschiedlichen Interpretations-, und Denkansätze der sozialwissenschaftlichen Forschung zur Geltung kommen zu lassen, eine Synopse ihrer Ergebnisse in einem ausgewählten Inhaltsbereich zu veranstalten, um gerade zu vermeiden, daß eine bestimmte Aussagerichtung verabsolutiert wird, so daß alternativlose Ideologien oder Utopien am Ende als Ergebnis herauskommen. Die in den Definitionsebenen enthaltenen Fragen nach den erkenntnisleitenden Interessen der jeweiligen wissenschaftlichen Aussage-komplexe sind daher unentbehrlich; andernfalls wäre es gar nicht möglich, ihren Stellenwert im Rahmen des Selbstverständnisses der Gesellschaft näher zu bestimmen. Die als Strukturierungsmerkmale des Gedankens angeordneten systemtheoretischen Fragekategorien „Problematisierung", „Intention" und „Selektion" sorgen dafür, daß die Komplexität des Ansatzes ständig gewahr bleibt. Die Weite der Problemerfassung, die Analyse des Sinnes, der in einer Maßnahme enthalten ist, und der Hinweis auf die ausgeschlossenen Alternativen sind in diesem Strukturgitter auf die Kriterien zurückzuführen, die Thoma der Systemtheorie entnommen hat.
Eine marxistische Analyse der Bundeswehr in der demokratischen Gesellschaft würde im Medium Arbeit andere Wege gehen und vermutlich versuchen, mit Hilfe einer Analyse der kapitalistischen Gesellschaft einen militärisch-industriellen Komplex in der Bundesrepublik nachzuweisen, der die demokratischen Regierungen von sich abhänig macht, um die Interessen der privaten Produktionsmittelbesitzer durchzusetzen. In der Ebene der gesellschaftlichen Institutionalisierung würden mit Hilfe des marxistischen Ideologiebegriffes die Legitimierungsideen als Verblendung und Verschleierung des Kapitalverwertungsprozesses aufgedeckt werden müssen, so daß die Militärs als Agenten und Manager der staatlichen Zwangsgewalt erscheinen müßten, die potentiell „gegen streikende Arbeiter, linke Aktivisten und andere Störer des Status quo" ins Feld ziehen müßten. Es kann nicht zweifelhaft sein, wie unter Zugrundelegung einer marxistischen Analyse der Bundeswehr in der demokratischen Gesellschaft die kritischen Alternativen beschaffen wären, wie die Situationsbeschreibung und die Qualifikationsentwürfe aussehen müßten, z. B. etwa so: . Fähigkeit, den herrschaftsstabilisierenden Charakter einer Armee in der kapitalistischen Gesellschaft zu durchschauen, und Bereitschaft, innerhalb und außerhalb der Bundeswehr für die grundsätzliche Änderung der ökonomischen und politischen Verhältnisse einzutreten'.
Gerade gegenüber diesem fiktiven Beispiel zeigt sich an Gagels Qualifikationsentwürfen die Leistungsfähigkeit des Strukturgitters, nämlich das kontroverse Material für die Si-34 tuationsanalyse bereitzustellen und die Entscheidung für Qualifikationen vorzubereiten, die einen Weg zwischen völliger Unterwerfung unter einen Organisationszweck und to. taler Verweigerung gegenüber diesem Organisationszweck darstellen. Man könnte die dort gefundenen Qualifikationen auch mit dem Begriff „kritische Loyalität" beschreiben
Ein weiteres Beispiel:
Winand Breuer gelangt nach seiner Curricularen Analyse der „Parteien" zur Auflistung der folgenden Problemfragen
— Wie kann die Teilnahmechance an der politischen Willensbildung verbessert werden?
„— Wie kann direktere Beteiligung des Bürgers am politischen Leben erreicht werden? — Wie können die Kenntnisse über Techniken und Methoden politischer Propaganda stärker verbreitet werden?
•— Wie kann die Interessenbezogenheit politischer Forderungen oder Erklärungen bewufit transparent gemacht werden?
— Wie können Kenntnisse über Möglichkeiten zu politischer Beteiligung weiter verbreitet werden?
— Wie können Führungsgruppen wirksam kontrolliert werden?
—-Wie können die Möglichkeiten einzelner Parteimitglieder oder von Gruppen zur Beteiligung am Willensbildungsprozeß verstärkt werden?"
Thoma versteht einen solchen Fragenkatalog als Sammlung von Rückfragen an die einschlägigen Fachwissenschaften; die Kommission hat diesen Weg nicht konsequent durchführen können, sondern sie als Katalog von Problemfragen bestehen lassen, ohne sie allerdings bei der weiteren Arbeit zu vernachlässigen; die in ihnen enthaltene Fragerichtung integriert sozusagen die erkenntnisleitenden Interessen des Strukturgitters und macht auf Defizite aufmerksam Diese Fragen als einseitig bestimmt zu verdächtigen, wäre sachlich nicht haltbar; sie sind als politische Forderungen nahezu Allgemeingut bei Parteien und Politikern, die die Zurückhaltung vieler Bürger gegenüber politischer Aktivität schmerzlich beklagen. Das Strukturgitter war im Verlauf der Arbeit für die Kommission wesentlich, um eine gleichmäßige und vergleichbare Problematisierung bei der Reflexion über das politische Selbstverständnis der Gesellschaft zu sichern, soweit es von den Fachwissenschaften reflektiert wird; bei der Gewinnung des Ausgangs-punktes der Analysen spielte es keine Rolle, bei der Gewinnung des Endproduktes — Katalog der Qualifikationen — spielte es eine begrenzte Rolle. Die Gliederung baut auf Er-von Jürgen Habermas auf und bezieht Kriterien der Systemtheorie als Strukturierungsmerkmale der Reflexion über das Selbstverständnis der Gesellschaft ein. Es produziert Probleme und Fragen und zielt in seinen Fragen gerade auf Grund des Anspruchs beider in ihm enthaltener Denkansätze auf eine Problematisierung der gesellschaftlich-politischen Realität, die ja notwendig ist, weil vorher das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich in apologetischer Sicht formuliert wurde, und bleibt in seiner Verwendung durch die Kommission Modell und Konstrukt, offen für Kontroversen. Eberhard Umbach gelangt nach seiner Untersuchung des Konzepts zu dem Ergebnis daß die Kommission auf das Strukturgitter hätte verzichten können, da seine inhaltlichen Kategorien für die Entscheidungen über Qualifikationen kaum relevant geworden seien und darüber hinaus alles, was durch das Strukturgitter ermittelt werden konnte, auch bei Sichtung der einschlägigen fachwissenschaftlichen Literatur gefunden worden wäre. Das ist nicht ganz falsch, aber für das Verfahren wären die Probleme der Auswahl der Fragen und Zielrichtungen noch schwieriger geworden; die Methodik der Erarbeitung wäre völlig zufällig und unüberschaubar gewesen; eine kontrollierte und systematische Analyse der Situationen wäre kaum möglich gewesen. Die Mitglieder der Kommission mußten sich selbst ein Bild von der Komplexität der Probleme machen und verschiedene wissenschaftstheoretische Perspektiven systematisch verfolgen, ehe sie es wagen konnten, Situationen und Qualifikationen zu entwerfen. Insofern hatte das Strukturgitter für das Verfahren und die Arbeitsmethode einen nicht leicht zu überschätzenden heuristischen Wert, für die Ergebnisse den Wert einer Vergewisserung, daß eine wissenschaftstheoretische Instanz mit didaktischer Kompetenz eingebaut war, die dafür sorgte, daß kontroverses Denken über die Inhalte des Unterrichts im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich überhaupt stattfand.
In einer scharfsinnigen Analyse der in der Bundesrepublik am meisten diskutierten vier Richtlinienkonzeptionen im Bereich Gesell-schaftslehre/Politik/Sozialkunde der Länder Hamburg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen stellt Wolfgang Hilligen fest, daß alle Richtlinien curriculumtheoretische Forderungen berücksichtigen: Überwindung von Leerformeln, Wendung zur Lernzielorientierung, Offenlegung von Grundentscheidungen, Implikationszusammenhang zwischen Lemzielen, -Inhalten, Methoden und Materialien Neben den inhaltlichen und technischen Unterschieden zwischen allen vier Konzeptionen sieht er einen wichtigen Unterschied zwischen den Richtlinien für den Politik-Unterricht in Nordrhein-Westfalen und den drei anderen Richtlinien darin, daß nur hier ein ausdrücklicher wissenschaftstheoretischer Begründungszusammenhang für die politische Grundentscheidung über die Norm-orientierung vorhanden sei, und kommt zu dem Ergebnis, daß die NRW-Richtlinien im Gegensatz zu den drei anderen „die didaktischen und curricularen Ideen produktiv zu einem Modell entwickelt" hätten
Es ist zu vermuten, daß die Konstruktionselemente auf der Ebene der Normentscheidung, das Verfahren also, zu der Konsistenz der NRW-Richtlinien beigetragen hat, wohingegen die normativen Optionen der hessischen Rahmenrichtlinien in direktem Rückgriff auf Art. 1 GG, bei dem Hamburger Lehrplan mit Bezug auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung und bei den rheinland-pfälzischen Richtlinien mit Hilfe eines hermeneutischen Verfahrens der Sichtung und Neuinterpretation vorhandener didaktischer Materialien unter allgemeinen Zielbegriffen gewonnen wurden. Der Rückgriff auf das Grundgesetz bei der Erarbeitung allgemeiner Lernzielvorstellungen ist auf Grund der Suche nach einem politischen Konsensus verständlich, aber curriculumtheoretisch sehr problematisch, da einmal Verfassungsnormen auslegungsbedürftig bzw. auslegbar sind und in Zweifelsfällen nur gerichtlich Klarheit zu gewinnen ist, was für die Didaktik unabsehbare Konsequenzen hätte zum anderen, weil der Rückgriff auf Verfassungsnormen die Curriculumentwickler zur Deduktion von Lernzielen aus den Grund-normen der Gesellschaft verführt und einen permanenten Konflikt um den politischen Stellenwert einzelner Lernziele und ihre unterrichtspraktische Relevanz zur Folge hat.
Die politische Legitimation von Curricula sollte aber nicht über die Lernziele erfolgen, weil diese eine instrumentelle Funktion für die Konstruktion von Unterricht haben, sondern über die allgemeinsten pädagogischen Entscheidungskriterien, die als Bezugsrahmen das Curriculum bestimmen; diese können nicht Verfassungsnonnen sein, sondern nur Erziehungsziele wie „Mündigkeit", „Autonomie", „Anpassung"; sie können auch nicht als Verpflichtung aus dem Grundgesetz entnommen werden, weil das Grundgesetz politische Normen setzt und kein pädagogisches Handbuch ist. Die obersten pädagogischen Kriterien müssen im Rahmen des Grundgesetzes legal und legitim, im Grenzfall zumindest noch vertretbar sein; sie bewegen sich dabei auf einer Abstraktionsebene, die sie für die Konstruktion von Lernzielen auf direktem Weg untauglich macht. Daher wurde „Emanzipation" in den NRW-Richtlinien als Richtwert und nicht als oberstes Lernziel entwickelt.
Das rheinland-pfälzische Verfahren bezieht allgemeine Zielvorstellungen (Mündigkeit u. a.) auf vorhandene Unterrichtsgegenstände und didaktische Materialien und leitet mit Hilfe fachwissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und lerntheoretischer Erkenntnisse einen „zirkelhaften" Arbeitsprozeß ein, an dessen Anfang Themenentwürfe, an dessen Ende in einem hermeneutischen Verfahren Leitvorstellungen (wertorientierte Prämissen) und Qualifikationen ermittelt werden Dieser Weg ist zweifellos gangbar, um schnelle Ergebnisse zu erzielen und Fachlehrer des Landes an der Arbeit zu beteiligen — und dies war die Absicht der entsprechenden Kommission —, aber die ermittelten „wertorientierten Prämissen" (Entfaltung von Personalität und Solidarität, Bereitschaft zur Wahrnehmung von Eigeninteressen und zum Engagement für das Gemeinwohl, Fähigkeit zu Anpassung und Widerstand, Denken in Alternativen und Mut zum Parteiergreifen), die einander in dialektischer Verknüpfung gegenüberstehen sollen, und die allgemeinen Qualifikationen enthalten trotz des engagierten Eintretens für einen „pluralen" Begründungszusammenhang eine große Zahl von rational nicht überprüfbaren, dezisionistisch anmutenden und zum Teil leerformelhaften Formulierungen („Gemeinwohl", „Emanzipation und Integration", „sachlich wie mitmenschlich notwendiges Maß an Einordnung in der sozialen Umwelt", „soziale Kompetenz“; auf der Ebene der Problemziele finden sich nur begriffliche Gegenüberstellungen wie z. B. „Freiheit — Ordnung"). Es ist zu vermuten, daß das Verfahren der Erarbeitung den hermeneutischen Prozeß der Interpretation und Präzisierung von Vorlagen zu wenig instrumentalisierte, zu schnell Entscheidungen treffen ließ und die dialektische Verschränkung der Leitvorstellungen im Prozeß der Ausformulierung der Qualifikationen nicht genügend zum Ausdruck brachte, so daß der Eindruck unverbindlicher Addition gegenläufiger Verhaltensweisen entsteht.
Bei einem detaillierten Vergleich der beiden Qualifikationenkataloge aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ergibt sich, daß in den rheinland-pfälzischen Qualifikationen allgemeine Verhaltensdispositionen, konkrete Lebenssituationen, Ziele und — teilweise — Mittel miteinander vermischt werden und alle denkbaren Spannungsverhältnisse ohne Akzentuierung umgriffen werden, in den nordrhein-westfälischen Qualifikationen dagegen der individuelle Entscheidungsaspekt in der jeweiligen Situation und der Hinweis auf die mögliche Konfliktspannung herausgehoben werden; dabei werden die Lebenssituationen und die Mittel zu ihrer Bewältigung in einer zusätzlichen Qualifikationsbeschreibung erläutert. Die grundsätzlichen Anliegen beider Konzeptionen enthalten viele Gemeinsamkeiten. Die Ergebnisse, soweit sie konkret formuliert vorliegen, sind aufgrund der graduell unterschiedlichen Verfahrensweisen in ihrer Annäherung an den Zweck — Instrumente für die Lernzielplanung zu liefern — sehr unterschiedlich.
Dieter Menne, geb. 1941 in Essen, Studiendirektor; Studium der Geschichte und Germanistik in Münster, Tübingen und Bochum; seit 1973 Fachleiter für Geschichte am Bezirksseminar Gelsenkirchen, seit 1970 Mitglied der Richtlinien-und Handreichungenkommission für politische Bildung in Nordrhein-Westfalen. Veröffentlichungen u. a.: Unterrichtsmodell Politische Wahlen, in: Politische Bildung 5, 1972, H. 4; Mitarbeit am Curriculum „Politik", hrsg. v. Rolf Schörken, Opladen 1974; Mitarbeit an den Planungsmaterialien für den Politik-Unterricht in Nordrhein-Westfalen.
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