Die Auseinandersetzung um die Didaktik des politischen Unterrichts ist unvermindert so heftig, daß Billigen fragt: „Ziele des politischen Unterrichts — noch konsensfähig?" Die Suche nach einem Konsensus beherrscht auch die Überlegungen von Gagel der an Überlegungen von Minssen anknüpft.
Während die theoretischen Reflexionen also andauern, müssen bestimmte Probleme Tag für Tag vom „Politik" -Lehrer entschieden werden — er hat nicht die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und nachzudenken, um erst wieder zu handeln, wenn er selbst, die Wissenschaft und die politische Öffentlichkeit einen tragfähigen Konsensus erzielt haben.
In Veranstaltungen der Lehrerbildung zeigt sich, daß besonders drei Probleme — hier formuliert als Gefahren — die künftigen und die gegenwärtigen „Politik" -Lehrer beunruhigen: Wie vermeidet man konkret in der unterrichtlichen Interaktion die Gefahr der Indoktrination'? Wo findet konkret illegitimer Aktionismus statt? An welchen Punkten existiert die Gefahr der Indiskretion?
Es soll hier versucht werden, die drei Aspekte als Momente unterrichtlicher Praxis zu behandeln, indem jeweils in einem ersten Schritt Auskünfte aus didaktischer Literatur angeführt und in einem zweiten Schritt an Hand von Beispielen Konkretisierungen vorgenommen werden. Die Reichweite ist dabei notwendigerweise begrenzt, nämlich auf die eigenen Erfahrungen der Verfasserin oder von ihr beobachtete.
I. Die Gefahr der Indoktrination
Die folgende Szene spielte in einer Oberprima, die fast drei Jahre „Sozialwissenschaften" als Hauptfach gehabt hatte. Bearbeitet wurde gerade ein Kapitel aus „Macht und Herrschaft in der BRD" von Urs Jaeggi, wobei der Text nicht nur gemäß seiner eigenen Intention, sondern auch mit text-analytischen Fragestellungen in seiner Ar-gumentationsund Darstellungsweise kritisch , aufgerollf wurde. Beim Übergang zu einem weiteren Kapitel wurde eine Schülerin ärgerlich: Warum denn noch mit dieser Theorie arbeiten — das sei doch einseitiges Zeug —-und überhaupt: „Seit drei Jahren machen wir hier nichts als linke Sozialwissenschaften." Daraufhin kam von einem Schüler Protest: „Was? Linke Sozialwissenschaften? Was wir hier seit drei Jahren machen, ist nichts als bürgerliche Wissenschaft." Die Kontroverse wurde durch Gelächter bei einer dritten Gruppe und den Kommentar in Richtung Lehrer beendet: „Na, Sie scheinen mit Ihrem Unterricht ja ziemlich richtig gelegen zu haben." Diese Szene zeigt zweierlei: 1. Es bestand in der gesamten Gruppe ein Konsensus darüber, daß Unterricht nicht einseitig zu sein habe. 2. Es bestand kein Konsensus darüber, was der gemeinsame Unterricht denn nun gewesen sei. Diese Beurteilung hing offensichtlich auch von der persönlichen Einstellung der Urteilenden ab, die sich vielleicht jeweils durch die ihrer Meinung entgegen laufende Richtung provoziert fühlten. Allgemeiner formuliert heißt das: 1. Ein abstrakter didaktischer Konsensus ist vielleicht notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für einen Konsensus über Praxis des Unterrichts. 2. Die Beurteilung konkreten Unterrichts ist bei verschiedenen Subjekten so verschieden, daß versucht werden muß, Verfahren für das Unterrichten anzugeben, die zur Grundlage für intersubjektive Urteile dienen könnten.
Eine Kontroverse zwischen Giesecke und Sutor sowie die Stellungnahme von Hilligen ma-B chen das didaktische Problem der Indoktrination deutlicher. Giesecke stellt die politische Bildung in den Rahmen eines historischen Kontextes der Emanzipation und folgert daraus ihre „politische Parteilichkeit“ (S. 126): „Wird ... die demokratische Inhalt-lichkeit des historischen Emanzipationsprozesses ernst genommen, so ist politische Bildung nicht neutral, sondern selbst ein Stück eigentümlicher politischer Tätigkeit: sie ist für die Interessen des Lehrlings, des Arbeiters, des . Sozialfalles', des Jugendlichen, und somit folgerichtig gegen die Interessen des Meisters, des Unternehmers, der Fürsorgebehörde, der Schulbehörde usw., allgemeine: sie ist für die Interessen und Bedürfnisse des jeweils Schwächeren, Ärmeren, Unterprivilegierten." (S. 126 f.)
Diese sehr konkreten Ausführungen ergänzt Giesecke mit der Erläuterung, sie meinten weder Revolution, noch Randalieren oder hysterische Aktivität, noch das Indoktrinieren politischer Phrasen.
Sutor sieht in den Konkretisierungen, die Giesecke für die Parteinahme für Unterprivilegierte gibt, entweder Absurdität oder Anmaßung der „rechten Lehre" Ob die genannten Kategorien der allgemeineren Bestimmung „dem Politischen allgemein adäquat sind" (a. a. O.), läßt Sutor an dieser Stelle offen. Er schreibt später: „Lernziele müssen so formuliert sein, daß sie politische Urteilsbildung ermöglichen. Das bedeutet immer Denken in Alternativen bis zum eindeutigen Grenzfall, wo Politik Menschenrechte oder Prinzipien der rechts-und sozialstaatlichen Demokratie verletzt. Dort erst wird politische Bildung parteilich; im übrigen muß sie Parteiergreifen ermöglichen, aber offenhalten." (S. 27)
Für die Ebene des konkreten Gegenstandes heißt das: „Eine politische Bildung aber, die den Wertnormen des Grundgesetzes verpflichtet ist, muß die konkrete Parteinahme offenhalten." (S. 18)
Einerseits scheint beiden Autoren „Parteilichkeit" sinnvoll und notwendig sowie verkürzte Indoktrination illegitim. Andererseits ist Parteilichkeit bei Sutor ein „Grenzfall", bei Giesecke aber eher ein Strukturprinzip. Hilligen zeichnet die Kontroverse nach und versucht zu vermitteln, indem er einen gemeinsamen Nenner, den er für konsensfähig hält, herausarbeitet Sutors Auffassung folge aus einem zu engen Begriff von Demokratie und Sozialstaat. Sutor verstehe Giesecke falsch, wenn er in den zitierten Aussagen eine einseitige Parteinahme zugunsten von Personen bzw, Personengruppen sehe. Wenn man von sozialer Gerechtigkeit, persönlicher Freiheit und Sozialstaat spreche, müsse „man das Augenmerk auf ökonomisch verursachte Uberund Unterordnungsverhältnisse lenken" (S. 201). Letztlich sieht Hilligen die Grenze zwischen den didaktischen Positionen Gieseckes und Sutors in dem Unterschied zwischen „Ordnung" und „Option für strukturelle Reform“, was seiner Auffassung nach aber keine notwendige Trennung ist; denn er meint, „— daß die Optionen für die Möglichkeit von Alternativen und für die Erhaltung des bisher erreichten Standes an Humanität und die Option für die Überwindung struktureller Ungleichheiten einander nicht ausschließen, sondern bedingen;
— und daß ein derartiges komplementäres Verhältnis konsensfähig ist." (S. 205)
Die Entfaltung dieser drei Optionen mit der These ihrer Konsensfähigkeit ermöglicht Hilligen eine Abgrenzung von „Parteilichkeit" und „Parteinahme". Parteilichkeit sieht er, wenn „eine politische Entscheidung absolut gesetzt und für verbindlich erklärt wird” (S. 5) — sie verbiete sich. Parteinahme hingegen ist die „Entscheidung für gewisse Zielsetzungen, die offen bleibt für Infragestellung und Revision und dem Lernenden Gelegenheit gibt zur Über-Prüfung, zum Selbstvollzug, zur Beurteilung der Konsequenzen" (a. a. O.). Diese Parteinahme, formuliert in den drei Optionen, sei kein politisches Programm, sondern eine didaktische Plattform.
Nehmen wir an, die von Hilligen genannten Optionen seien in der didaktischen Theorie konsensfähig — bei der Konkretisierung würde die Kontroverse jedoch wieder aufbrechen. Was heißt „Überwindung sozialer Ungleichheiten" Wann herrscht „Chancengleichheit“ (a. a. O.)? Wann besteht die „Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für politische Alternativen zu ... verbessern" (a. a. O.)? usw. Billigen schreibt selbst, daß das Grundgesetz nicht eindeutig als formaldemokratisch oder als Auftrag zur Verwirklichung des demokratischen und sozialen Staates festgelegt ist. Dieser Spielraum gilt für politisches Handeln wie auch für didaktische Entscheidungen, die immer dann auf die Ebene der Kontroverse zurückkehren, wenn sie die abstrakt formulierten Optionen, über die vielleicht Einigkeit herrscht, auf konkrete Probleme anwenden wollen.
Für den Unterricht muß das heißen: Er muß die Kontroversen der didaktischen Diskussion repräsentieren, so wie er politische Kontroversen überhaupt verkörpern muß. Die genannten Optionen hätten den Stellenwert von Zielsetzungen, die — wie Billigen schreibt — „dem Lernenden Gelegenheit (geben) zur Über-prüfung, zum Selbstvollzug, zur Beurteilung der Konsequenzen“. Der Einzelfall und die aktuelle Problematik sind damit nicht entschieden, sondern die Bezugspunkte für die Entscheidung sind klarer geworden.
Gagel betont ebenfalls, daß durch die Trennung in Minimalkonsens und kontroversen Bereich das Konsens-Problem nicht gelöst wird Auf der Ebene von Lernzielen und Lerninhalten werden die Prinzipien „in den kontroversen Bereich der konkreten Ausgestaltung und Normanwendung" überführt (S. 44). Wenn Gagel schon auf dieser immer noch recht abstrakten Ebene die Kontroversen als notwendig ansieht, um wieviel mehr gilt das dann für konkrete Unterrichtsprozessei Den hier ansetzenden Vorschlag von Giesecke auf die Lösung des Konsens-Problems auf Richtlinien-Ebene überhaupt zu verzichten und die „Normund Sinnaporien ... an die pädagogische Basis (zu) übergeben, wo sie trotz aller Gefahr des Mißbrauchs hingehören" (S. 126), weist Gagel ähnlich wie Knepper mit Verweis auf die Notwendigkeit parlamentarischer Verantwortung zurück.
Es bleibt aber festzuhalten, daß die Herstellung eines Konsensus wesentlich im Un-* terricht selbst realisiert werden muß, also auf einer Ebene, die die Abstraktion von Kontroversen in Konsens nicht zuläßt, sondern die ihr prekäres Verhältnis aushalten und versuchen muß, durch die Kontroversen den Konsens zu zeigen. Die Repräsentation von Kontroversen muß also in der Interaktion im Unterricht geleistet werden.
Zum konkreten Unterrichtsverlauf finden wir bei Giesecke einen Hinweis, der die Verwirklichung der angeführten Schlußfolgerung berührt. Bei der konkreten Arbeit mit seinen Kategorien der Konflikt-Analyse werde es zu Konflikten kommen: „Wenn der Lehrer die Gegensätze nicht überspielt, werden z. B. Beamtenkinder die Kategorien „Interesse“ und „Solidarität" anders inhaltlich bestimmen als Arbeiterkinder. Ähnliche Unterschiede wird es bei der Benutzung der Kategorien „Ideologie" und „Funktionszusammenhang“ geben, und erst recht bei der Frage, wie denn nun ein Konflikt entschieden werden soll. Die Gründe für solche unterschiedlichen Interpretationen müssen selbstverständlich bewußt gemacht werden." (S. 192)
Giesecke hat hier einen Spezialfall unterrichtlicher Interaktion im Auge: Die gedachte Lerngruppe ist politisch heterogen und am Gegenstand interessiert. Dieser Fall ist für den Lehrer der leichteste — Selbststeuerung der Gruppe führt zu einem differenzierten Ergebnis, dessen Bezug zum eigenen Leben den Schülern deutlich geworden ist. Mit Recht sagt Giesecke, daß der Lehrer hier zwei Funktionen hat: einmal, die Schüler nicht zu stören („nicht überspielt"), zum zweiten,. Ergebnisse auf Unbekanntes zu beziehen („bewußt gemacht"). Der Lehrer kann sich — ganz in Übereinstimmung mit Theorien, die der Selbstentfaltung der Lerngruppe Chancen geben wollen — zurückhalten, Moderator sein, lediglich organisieren, schließlich anregen. Wo er selbst politisch steht, ist in dieser Situation weniger wichtig, wird von Schülern vielleicht auch nicht für so wichtig gehalten. Lernen muß der Lehrer für diese Situation vielleicht noch am ehesten, daß seine eigene persönliche Meinung tatsächlich unwichtig ist und ihre Darstellung vielleicht in erster Linie Selbstdarstellung ist, aber nicht notwendiger Bestandteil der Lernprozesse bei den Schülern. Viel schwieriger sind andere Fälle unterrichtlicher Interaktion.
Im Fach „Politik" ist die Gefahr der Polarisierung in heterogenen Gruppen natürlich gege-ben. Nicht nur alle Kontroversen der Politik, schlagen sich in schulischen Prozessen nieder, auch alle Irrationalitäten finden sich hier. Eine solche politische Polarisierung (die leicht über das Spektrum der im Bundestag vertretenen Parteien hinausgehen wird) kann einen Grad an aggressiver Emotionalisierung bedeuten, daß der Lernprozeß nur noch gruppendynamisch zu verstehen ist Nur in wenigen Fächern ist der Zusammenhang zwischen affektiven oder sozialen Verhaltensweisen sowie kognitiven Leistungen so unmittelbar wie in „Politik"! In diesem Fall muß der Lehrer versuchen, einen Minimalkonsens inhaltlicher und formaler Art über prinzipielle Optionen in der Gruppe bewußt zu machen. Die besseren Arbeitsergebnisse im Sinne größerer Beherrschung der Gegenstände durch die Schüler müssen im Fortgang des Unterrichts diese friedlichere Interaktion als die sinnvollere erweisen. Die Repräsentanz des Konflikts bzw.der Kontroverse ist in diesem Fall — wie im vorhergehenden — normalerweise gesichert. Der Lehrer muß in erster Linie aufpassen, daß nicht bestimmte Schüler in ihren Chancen zur Darstellung benachteiligt werden (was im Kern ein gruppendynamisches Problem ist). Solange die Auseinandersetzung um kontroverse Auffassungen nicht als Kooperation, sondern als Kampf definiert wird, muß der Lehrer achtgeben, daß er sich nicht von einer Seite vereinnahmen läßt, also koaliert, und damit die Möglichkeit der Herstellung eines Konsensus verbaut. Parteinahme in diesem Schüler-Konflikt wäre nicht nur möglicherweise politische Einseitigkeit, sondern sicher gruppendynamische Unausgewogenheit mit dem Effekt der Polarisierung.
Fassen wir die ersten beiden Typen unterrichtlicher Interaktion zusammen: Die Lerngruppe repräsentiert selbst die politischen Kontroversen, so daß der Lehrer sich zurückhalten kann oder für einen angemessenen organisatorischen und gruppendynamischen Arbeitszusammenhang sorgen muß. These: Wenn die Schüler politisch sind, braucht der Lehrer es nicht zu sein — in heterogenen Gruppen. Darf er es sein? Da es nicht Ziel von Unterricht sein kann, daß ein Lehrer seine Anschauungen vererbt, sondern daß Schüler selbst — mit Hilfe anderer — zu Anschauungen gelangen, ist Distanz des Lehrers zu sich selbst nötig.
Andererseits ist der Lehrer ein gleichberechtigtes Mitglied der Gruppe; er verlöre im übrigen als politischer Abstinenzler in der Rolle des „Politik" -Lehrers leicht seine Glaubwürdigkeit. Deshalb ist auch für ihn die Äußerung einer politischen Meinung — schon gar, wenn er von Schülern gefragt wird — eine Notwendigkeit. Wichtig ist dabei, daß die Schüler diese Meinung nicht als das zu Lernende oder das Autorisierte auffassen. Ob das passiert, dürfte wesentlich von den im allgemeinen verfolgten Lernzielen und dem Stil der unterrichtlichen Interaktion abhängen.
Davon abgesehen ist es durchaus denkbar, daß der Lehrer seine eigenen Fragen, die er hat und die ihn zweifeln lassen, mitteilt. Zur Herstellung einer ausgewogenen Unterrichtsführung dürfte es dienlich sein, wenn der Lehrer der Lerngruppe seinen persönlichen Standort mitteilt, damit die Schüler ihn um so leichter . kontrollieren'können. Am ehesten geschieht das natürlich, wenn der Lehrer Mitglied einer Partei ist. Die Angabe erleichtert den Schülern, Fragen nach (unbewußter) Einseitigkeit zu stellen. Es fragt sich sogar, ob er seine eigene politische Grundentscheidung nicht mitteilen muß; denn sonst geriete er doch vielleicht in die Position des objektiv über allen Kontroversen schwebenden Wissenden, verkörperte so eine Spielart des Unpolitischen und wäre nur vermeintlich nicht ideologisch. Wo eine solche Mitteilung nicht möglich ist, wäre vielleicht eine Angabe, warum der Lehrer „Politik" -Lehrer geworden ist, eine Hilfe. Andersartige Interventionen als die beschriebenen werden in den folgenden zwei Klassen-typen nötig: Die politisch (fast) homogene Gruppe und die uninteressierte oder nicht-spontane Lerngruppe stellen Anforderungen, die das Problem parteilichen Lernens verschärft zeigen.
Oberflächlich gesehen, bietet die homogene Lerngruppe gar keine Probleme: Die Gruppe gelangt zu einem Konsensus, die Grundstim-mung ist wegen gemeinsamer Grundüberzeugungen vielleicht sehr gut. Die Gefahr dabei ist, daß gegebene politische Kontroversen gar nicht im Unterricht repräsentiert werden, und wenn doch, dann kaum den Stellenwert ernsthafter Probleme erhalten. Häufig zu beobachten ist, daß die andere Seite der Kontroverse zum Aufhänger für Polemik wird, mehr Kontrast als Kontroverse erzeugt, zur Grundlage für Selbstbestätigung wird. In diesem Fall muß der Lehrer „gegensteuern". Diese Lerngruppe kann man nicht einfach sich selbst überlassen, sondern hier müssen den Schülern die Implikationen ihres schnellen Urteilens klar und damit fragwürdig gemacht werden, hier muß u. U.der Lehrer über Strecken die den Schülern entgegenstehende Position verwalB ten, indem er sie zwar nicht zu seiner eigenen macht, sie aber in ihren inhaltlichen Aussagen vertritt. Er macht sich zum Anwalt einer politischen Anschauung, ist „politisch" im Sinne einer entschiedenen Stellungnahme. Es geht dabei nicht darum, daß die Schüler ihre eigene Auffassung ändern sollen, sondern es geht darum, daß unbewußte und vorbewußte Prozesse politischer Bildung — die immer schon abgelaufen sind — den Schülern selbst verfügbar werden, daß aus Vorurteilen im günstigen Falle Urteile werden.
Problematisch wird diese Strategie für den Lehrer, auch wenn man von den Anforderungen an seine Kenntnisse und seine Selbstbeherrschung absieht, weil er in den Augen der Schüler seine Identität gefährden kann. Ein Beispiel: Ich unterstützte in einer 9. Klasse in einer Debatte einmal die Vertreter einer politischen Seite, der ich nicht zuneige (was die Schüler wußten), weil diese Gruppe den anderen „Parteien" zahlenmäßig unterlegen war. Da diese Gruppe auch qualitativ schwach war, mußte ich aktiv werden und wurde schnell in „meine" Gruppe integriert. Nach Schluß der Debatte wurde ich gefragt, wie ich denn so etwas tun könnte — selbst der einen Seite angehören und trotzdem die andere vertreten. Es ergab sich eine sinnvolle Diskussion über das Ziel politischen Unterrichts und politischen Lernens. Ein solcher Prozeß kann die Grundlage für eine völlig unbefangene Einschätzung des Lehrers durch die Schüler sein: Jeder Schüler fühlt sich berechtigt, um Hilfe zu bitten.
Diese — oberflächlich gesehen — einseitige politische Intervention ist didaktisch begründet. Stärker methodisch begründet wird die Intervention im Falle der uninteressierten oder der wenig spontanen Klasse. Es kann geschehen, daß sogar spannendes Material, z. B. ein aktueller politischer Konflikt, der alle betrifft und der seiner Struktur nach zu anspruchsvoll ist, um sich selbst zu erläutern, nicht „ankommt", jedenfalls nicht ohne zusätzliche Anstöße. Die Provokation durch die Sadie reicht nicht; der Lehrer muß versuchen, diese Provokation auf eine andere Ebene zu transponieren, damit die Schüler sich mit ihr auseinandersetzen. Das Herstellen scheinbar paradoxer Bezüge zu Bekanntem, das Schildern dramatischer konkreter Konsequenzen, das überspitzte Umdeuten des Schweigens in eine inhaltliche Aussage („Sie sind also auch der Meinung, daß . . .") und schließlich die eigene Meinung des Lehrers (oder eine angebliche) können die Struktur der Sache im Bewußtsein der Schüler weiter erhellen und mit ihrer Person verknüpfen.
Vielleicht werden die hier gemachten Äußerungen der Meinung des Lehrers inhaltlich nicht entsprechen, sondern nur methodisch begründet werden können. So ist mir ein Fall bekannt, wo in einer Obersekunda ein Lehrer mit allem Nachdruck sagte: „Wenn der Bundesrat der Änderung des § 218 nicht zu-stimmt, dann bin ich jedenfalls dafür, daß der Bundesrat abgeschafft wird." (Methode: Fallstudie — Gegenstand: Änderung des § 218 StGb — notwendiges Orientierungswissen: institutioneile Regelungen im GG, die vorlagen.) Diese Provokation wirkte; es entstand eine sehr problemhaltige Bearbeitung der Institution „Bundesrat", deren Ergebnis viel differenzierter war als der Provokations-Satz. Dadurch wurde es möglich, die Provokation selbst wiederum im Unterricht aufzunehmen, zu reflektieren, als methodisch motiviert zu erläutern und von der eigenen Meinung abzugrenzen. Daß hier eine gefährliche Strategie vorliegt, bleibt aber trotzdem offensichtlich. Nicht immer gelingt es, die Provokation in ihrer Überspitzung aufzufangen. Und: Wer garantiert dem Lehrer, daß seine Differenzierung so gut ankommt wie die Provokation? Es ist nicht auszuschließen, daß bei Schülern lediglich die Überspitzung im Bewußtsein haften bleibt. Dann wäre ein didaktisch nicht vertretbarer Prozeß abgelaufen.
Fassen wir diese beiden Typen unterrichtlicher Interaktion zusammen: Die Lerngruppe repräsentiert nicht selbst die politischen Kontroversen, so daß der Lehrer sich in strategischer und taktischer Absicht engagieren muß. These: Wenn die Schüler unpolitisch oder einseitig politisch sind, muß der Lehrer politisch sein. Was dabei zählt, ist nicht das isolierte Ensemble von Lehrer-Sätzen, sondern das Gesamt der Interaktionen in der Lerngruppe. Erst die Betrachtung der Vorgänge in der Gruppe der Schüler macht es möglich, Lehrer-Äußerungen einzuordnen. Insofern wäre es wenig aussagekräftig, wenn isolierte Lehrer-Äußerungen zitiert würden mit der Ansicht, hier zeige sich Indoktrination, da die Äußerungen einseitig seien. Erst ihr Stellenwert in der komplexen Unterrichts-Interaktion kann ergeben, ob tatsächlich Einseitigkeit entstand. Ob sie beabsichtigt war, ist wieder eine andere Frage. Festzuhalten bleibt: Da der Lehrer jeweils die Funktion übernehmen muß, die die Lerngruppe nicht leistet, entsteht das Ergebnis prinzipieller Komplementarität: Gruppe ausgewogen — der Lehrer kann sich zurückhalten. Gruppe nicht ausgewogen — der Lehrer muß (provisorisch oder wirklich) Position beziehen und dadurch „politisch" erscheinen.
Mit diesen Überlegungen ist die Gefahr von Indoktrination nicht aus der Welt geschafft. Da wir kaum wissen, ob und wie stark Lehrer überhaupt Schüler beeinflussen können, kann man diese Gefahr sehr schwer abschätzen. Bisher können wir lediglich Unterrichtsprozesse reflektieren auf die Frage hin, welche didaktischen und methodischen Notwendigkeiten welches Verhalten bedingen. Parada xes Ergebnis dabei ist, daß gerade der Ver such, Einseitigkeit (Apathie muß man woh darunter zählen) zu korrigieren, am ehester zu einem Verhalten führt, das von Schülerr und Außenstehenden als einseitig interpre tiert werden könnte. Außerdem bleibt das Problem bestehen, das die zu Anfang geschil derte Szene zeigte, daß nämlich die Beurtei lung des Unterrichts keineswegs nur vom Un terricht abhängt, sondern auch von der Per spektive des Urteilenden.
II. Die Gefahr des Aktionismus
Politische Bildung muß politisches Handeln betreffen, sonst wäre Bürgeraktivität begrenzt auf Reflexion. Für die Didaktik des „Politik" -Unterrichts hat das die Konsequenz, daß die Ebene praktischen Handelns berücksichtigt werden muß, daß daraus aber ein Politisch-Werden unterrichtlicher Interaktionen folgt.
Giesecke hat im einzelnen begründet, warum die Formel „Lernen durch Aktion" naiv ist Für ihn sind . „Lernen'und . Aktion'anti-nomische soziale Verhaltensweisen .... die zueinander in erheblichem Widerspruch stehen" (S. 25). Zum Zwecke des Lernens müsse man Kommunikation so organisieren können, daß die Möglichkeit des Lernens — und damit die Fähigkeit zur Distanz von Aktivität — garantiert ist. Wenn die Gleichzeitigkeit beider Handlungstypen nicht möglich ist, muß nach einem Weg gesucht werden, der beide Ebenen doch miteinander vermittelt. Giesecke (S. 26) schlägt eine Umstrukturierung ins Nacheinander vor, wobei jede neue Phase die alte im dialektischen Sinne aufhebt. (Um jene Mißverständnisse auszuschließen, die in diesem Zusammenhang auch üblich sind, die aber das gravierende Problem gar nicht berühren: Daß Handeln nicht blind erfolgen darf, daß Verhalten in der didaktischen Diskussion nicht etwa einen Aktivismus meint, der in Wirklichkeit Flucht vor den Mühen des Lernens darstellt, sei am Rande vermerkt. „Natürlich ist damit auch kein Verzicht auf konkrete Kenntnisse gemeint."
Das gravierende Problem für den Lehrer lautet: Welche Aktionen sind im „Poli tik“ -Unterricht sinnvoll? Mit Hilfe konkrete: Hinweise in der Literatur können Strategie! entwickelt werden. Bei Giesecke selbst findet wir zwei — scheinbar paradoxe — Aussagen „Im allgemeinen hat der politische Unterrich in der Schule Planspielcharakter, d. h., er is nicht unmittelbar selbst auch einer politi sehen Praxis zugeordnet. Es kann jedoch sein daß die Schüler (z. B. in einem Schulkonflikt unmittelbar politisch tätig werden ... St wünschenswert diese ideale Kombination vor Lernen und Handeln auch sein mag, sie kant nicht vorweg als immer wiederholbare Chanct eingeplant werden." Und: „Gegenüber der sekundären Systemen der Gesellschaft ist dei Appell zur Aktivität nur mit äußerster Zu rückhaltung zu vertreten."
Einerseits bezeichnet Giesecke politischer Handeln der Schüler als Chance, andererseit warnt er vor der Aufforderung zur Aktion Ähnlich rät das Planungsmaterial „Maehl oder Ohnmacht des Bürgers nach der Wahl?“ „Jedoch muß der Lehrer auch die möglich« Auswirkungen dieses Vorhabens auf die Be Ziehung zwischen Schülern und Eltern, zwischen Schule und den gesellschaftlicher Gruppen bzw. politischen Institutionen beden ken.“
Welche Überlegungen liegen diesen zurück haltenden Äußerungen zugrunde? Wenn didaktisch gefordert werden muß, daß „Politik" -Unterricht die politischen Kontroversen nicht ausschaltet, sondern repräsentiert (Schule darf nicht das Recht haben, für die nächste Generation politische Streitfragen vorzuentscheiden), dann trägt dies nicht nur der Emanzipations-Chance der Jugendlichen Rechnung, sondern auch dem Eigenwert politisch-gesellschaftlicher Subsysteme. Schule ist nicht Aktionsfeld für das Austragen politischer Kontroversen — mit einer Ausnahme: schulischen Lernprozessen selbst. Für alle anderen Bereiche muß gelten: Vertrauen in den Sinn schulischer Sozialisation kann die Öffentlichkeit nur haben, wenn auf die Repräsentation gesellschaftlicher Konflikte gebaut werden kann. Aktion auf dem möglichen Hintergrund von Indoktrination macht die Problematik der Parteilichkeit verschärft spürbar.
Aus der Voraussetzung, daß gesellschaftliche Konflikte sich in der Schule wiederfinden, folgt ohnehin, daß eine gemeinsame Aktion von Schülern einer Lerngruppe bei sehr wenigen Problemen denkbar ist. Die Gefahr vereinheitlichender Indoktrination, die eine scheinhafte Aktionsbasis für gemeinsames Handeln ergäbe, muß keineswegs nur vom Lehrer ausgehen. Eventuell sind die Eigenprozesse der Lerngruppe in ihrer von sichtbarer Autorität ungelenkten Spontaneität viel wirksamer. Was ist in einer Lerngruppe passiert, wenn eine in der Kommune umstrittene Bürger-Initiative von einer Lerngruppe unterstützt wird? Ist es überhaupt denkbar, daß eine Lerngruppe in ihren Interessen so homogen ist, daß alle gemeinsam eine Null-Tarif-Demonstration unterstützten? Selbst wenn diese Voraussetzungen gegeben wären, würde die schulische Veranstaltung in der Öffentlichkeit, die das Problem als umstrittenes sieht, in Indoktrinationsverdacht geraten. Unter einer solchen Randbedingung Unterricht zu machen, der nicht ständigen Verdächtigungen ausgesetzt ist, dürfte kaum möglich sein. Die Auswirkungen für die gesamte Institution Schule müssen in die Kalkulation von Aktionen mit eingehen.
Wenn die Gründe stimmen, weshalb die genannten Autoren für Vorsicht plädieren, dann folgt daraus die Erläuterung, daß die angeführten Bedenken für den schulischen Raum häufig nicht zutreffen. Die Lerngruppe lebt, was Schule anbetrifft, in einer einheitlichen Situation. Interessen-Identität ist strukturell möglich, ohne daß gleich Schein-Einheitlichkeit befürchtet werden muß. Hinzu kommt, daß die Entscheidungen, die in diesem und für diesen Lebensbereich getroffen werden, zu ihrer Legitimation der Beteiligung der Betroffenen bedürfen. Und schließlich muß sich die Institution Schule, wenn sie Lernziele für „Politik" -Unterricht verfolgt, aus pädagogischen Gründen als Aktionsfeld in einem höheren Ausmaß zur Verfügung stellen, als dies von anderen gesellschaftlichen Bereichen verlangt werden kann.
In diese Überlegungen lassen sich die konkreten Vorschläge einordnen, die in den Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre (2. Ausl.) enthalten sind: „Schule wird ... als Erfahrungsraum direkt und indirekt zum Lerngegenstand . . . Handlungsorientierte Lernziele beziehen sich einmal auf die Organisation solcher Erfahrungen (z. B. Befähigung der Schüler zur Beteiligung an der Unterrichtsgestaltung oder zur Wahrnehmung ihrer Rolle in der Schülervertretung). Zum anderen geht es um die Möglichkeiten, verschiedene Beteiligungsformen bei der politischen Willensbildung im außerschulischen Bereich durch unmittelbare Erfahrung zu erschließen (etwa indem Schüler die Interessen der Schule in der Öffentlichkeit mitvertreten, sei es bei Baumaßnahmen oder bei der Einführung neuer Lerninhalte und Lernformen ...).“
Wenn die Rahmenrichtlinien nicht ausschließen, daß es auch um Vorhaben gehen könne, die spezifische Bedürfnisse der Heranwachsenden betreffen, also nicht mehr nur schulische Belange, dann liegt dieser Beschreibung immer noch derselbe Satz an Kriterien zugrunde (mit Ausnahme der im engeren Sinne pädagogischen Begründung): Interessen-und damit Aktionseinheit der Lerngruppe; Beitrag zu rationaleren und legitimeren Entscheidungen. Zusammengefaßt hat sich ergeben, daß politische Aktion dann, wenn sie als Solidarhan-dein der Lerngruppe im gegebenen institutioneilen Rahmen möglich ist, in der Regel aus politischen und soziologischen Gründen auch berechtigt ist.
Das weniger aufgearbeitete theoretische Problem enthält der im folgenden behandelte Bereich der „Indiskretion".
III. Die Gefahr der Indiskretion
„Emanzipation" im Sinne der Chance auf Selbst-und Mitbestimmung ist das weitgehend anerkannte handlungsleitende Interesse von Pädagogik. Dieses Ziel beinhaltet notwendigerweise, daß Schüler lernen, sich selbst, ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart zu begreifen. Damit wird die Frage brisant, inwieweit nicht nur Institutionen mit großer Distanz zum Schüler Gegenstand des Unterrichts werden, sondern auch die unmittelbar erlebte Welt des Schülers in Gleichaltrigengruppe, Familie und Schule.
Man mag fragen, was dieses Problem mit dem „Politisch-Sein" des Lehrers zu tun hat. Ein enger „Politik" -Begriff ist begrenzt auf Phänomene staatlicher Ordnung und staatlichen Handelns; in diesem Fall gibt es die hier gemeinte Gefahr der Grenzüberschreitung nicht. Ein weiterer „Politik" -Begriff liegt den „Richtlinien für den Politik-Unterricht" in Nordrhein-Westfalen zugrunde: „Qualifikation des Politik-Unterrichts sind die Fähigkeiten und Bereitschaften, die es dem Bürger ermöglichen, gesellschaftlich-politische Lebens-situationen zu bewältigen."
Dieses Verständnis von „Politik" ist umfassender pnd bringt das Problem mit sich, ob der Unterricht alle für den Schüler wesentlichen Bereiche behandeln darf.
Zum selben Gegenstand finden wir zwei auf interessante Weise unterschiedlich nuancierte Bemerkungen. Die Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre (1. Ausl.) plädieren für Vorsicht: „So kann die Reflexion auf die Bedingungen für das eigene Verhalten Prozesse in Gang setzen, die nicht nur sozialpsychologische Qualifikationen vom Unterrichtenden verlangen, sondern vor allem die Möglichkeiten einschließen, Auswirkungen des Unterrichts auf andere Sozialisationsfelder so zu kalkulieren, daß für die Schüler keine unzumutbaren Belastungen entstehen . . . Daher dürfte es in der Regel nur bedingt und wahrscheinlich nicht zu Beginn des Lernprozesses möglich sein, die unmittelbaren Sozialisationserfahrungen der Schüler direkt zu thematisieren (z. B. Erziehungsstile der Eltern; Zugehörigkeit zu einem C-Kurs" ...
Hanna-Renate Laurien glaubt nicht an die Ernsthaftigkeit dieses Plädoyers für Vorsicht: „Verzicht auf Entwicklungspsychologie bringt dazu, die Familie für Zehn-und Dreizehnjährige zu thematisieren, und wenn man auch behauptet, man wolle die direkte Thematisierung von Schülererfahrung vermeiden (wie wohl?), so weisen die Fragen (Wie haben Eltern sich entschieden? Wie verhält sich ihre Situation am Arbeitsplatz zu ihrem Erziehungsstil?) doch auf einen gezielten Einbruch in die Privatsphäre" . . .
Die unterschiedlichen Nuancen der beiden Äußerungen — gleichgültig, ob Frau Laurien die konkreten Fragestellungen zu Recht kritisierte oder nicht — liegen darin, daß einmal aus der Perspektive des Schülers zur Vorsicht geraten wird, daß zum anderem auch aus der Perspektive der Eltern geurteilt wird („Einbruch in die Privatsphäre" meint hier, wie die angeführten Fragen zeigen, Einbruch in die Privatsphäre der Eltern). Die Bedeutung der Familie für den Schüler und damit ihre Integration in die pädagogischen Bemühungen um des Schülers willen wird auch in den „Politik" -Richtlinien NRW betont: „Die Richtlinien setzen voraus, daß Lehrer wissen, welch eine entscheidende Schutzfunktion die Identifikation mit der Familie, insbesondere den Eltern hat"
In sehr vielen Fällen wird die Aussparung familiärer Vorgänge ganz eindeutig aus dem Interesse des Schülers heraus geboten sein; das Bedürfnis der Eltern nach Schutz ihrer Privatsphäre wird dieses Motiv in der Regel noch unterstützen. An einem fiktiven Beispiel kann dieser Punkt verdeutlicht werden: Nehmen wir an, ein Lehrer wollte nach dem NRW-Pla-nungsmaterial „Nur ein Mädchen“ unterrichten und hätte beschlossen, den Schwerpunkt auf Erziehungsvorgänge in der Familie zu legen. Angenommen, dieser Lehrer ließe als Hausaufgabe von den Schülern (übrigens in Verkennung der Bedenken in dem „Planungsmaterial") häusliche Szenen aufschreiben und machte diese Aufzeichnungen zum Gegenstand des Unterrichts. In aller Offent-lichkeit würde dann das Verhalten von Eltern problematisiert und evtl, verurteilt, so daß kaum kalkulierbare Folgen bei dem betreffenden Schüler entstehen könnten. Diesem pädagogischen Argument tritt das Argument von Eltern, ihr Privatleben habe nicht Gegenstand von Unterricht zu sein, zur Seite. Der erstrebte Lernprozeß läßt sich ohne diese Risiken auf andere Weise — nämlich mit verfremdeten Arbeitsweisen bzw. -materialien — erreichen; es liegt also kein notwendiger Konflikt zwischen den Lemund Diskretionsinteressen vor. Selbst wenn keine andere Methode zur Verfügung stünde, müßte u. U. allein die pädagogische — die am Interesse des Schülers orientierte — Überlegung ergeben, daß dieser Lernvorgang abzulehnen sei.
Komplizierter ist die Lage im folgenden Fall, der sich an einem Gymnasium in Wuppertal abgespielt hat. In einem Kurs „Sozialwissen-schäften" in Jahrgang 11 wurde im Anschluß an einen systematischen Lehrgang über empirische Sozialforschung ein Projekt begonnen. Hauptmerkmale dieser Methode sind bekanntlich u. a. Selbständigkeit der Schüler und ein konkretes Ergebnis Die Schüler beschlossen, selbst eine Umfrage durchzuführen, und zwar zum Thema „Wahlsoziologie" (der Zeitpunkt lag vor den NRW-Landtags-und Kommunalwahlen 1975). Ein Fragebogen wurde auf unterschiedliche Dimensionen hin konstruiert; die Auswertung der Ergebnisse sollte Aufschlüsse über Determinanten von Wahl-verhalten ergeben. Der Fragebogen enthielt einen psychologischen, einen soziologischen und einen kommunikationstheoretischen Ansatz. Die Lernziele erfaßten den methodischen Bereich (empir. Sozialforschung), den Sachaspekt (Wahlsoziologie) und den Bereich sozialer Kompetenz (Projekt). Befragt wurden ca. 200 Oberstufenschüler, und zwar in Kurs-gruppen. Die Befragung erfolgte ohne Namensnennung; sie wurde durchgeführt von Schülern des Sozialwissenschaftskurses; in einigen Fällen waren, Lehrer der befragten Kursgruppe anwesend. Druck wurde nicht ausgeübt; auf Anfragen, ob der Fragebogen ausgefüllt werden müsse, wurde auf das Recht der Verweigerung hingewiesen, aber um Ausfüllung gebeten. Der Fragebogen enthielt Fragen nach dem Beruf von Mutter und Vater (handschriftlich einzutragen), nach dem Einkommen der Familie (eine zutreffende Einkommensgruppe war anzukreuzen), nach den vermuteten politischen Präferenzen der Eltern, nach den politischen Auffassungen der Schüler u. a. m. Geplant war, die erhaltenen Individualdaten in Einzel-bzw. Kleingruppenarbeit in zusammenfassende Statistiken zu übertragen und diese dann zum Gegenstand der Reflexion im Unterricht zu machen.
Dazu kam es nicht. Von Elternseite aus wurde Widerspruch eingelegt, dessen Formulierung das vorliegende Problem sehr klar bezeichnet: Die didaktische Zielsetzung der Umfrage wird bejaht; beanstandet wird, daß „zwei wesentliche Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer solchen Umfrage nicht beachtet worden sind". Mit Verweis auf Artikel des Grundgesetzes wird gesagt, es „können Fragen nach dem Wahlverhalten anderer Personen (hier sowohl der Schüler als auch ihrer Eltern) und nach ihren persönlichen Verhältnissen (wie Familieneinkommen, Gruppen-engagement, Parteizugehörigkeit) nur dann zulässig sein, wenn a) dem Befragten zweifelsfrei klar ist, daß die Beantwortung der Fragen in seinem freien Belieben steht, b) die Anonymität der betroffenen Personen gesichert ist, soweit nicht Volljährige für ihre eigene Person bewußt auf die Wahrung der Anonymität verzichten".
Zu a) wird erläuternd gesagt, daß diese Voraussetzung durch das verwendete Verfahren nicht erfüllt war. Zu b) wird kommentiert, die Kombination der Angaben „gestattet es denjenigen, die mit den persönlichen Verhältnissen der befragten Schüler vertraut sind oder auch nur Einsicht in die Klassenbücher oder andere bei den Schulakten befindliche Personalunterlagen der Schüler nehmen können, ohne größere Schwierigkeiten, die befragten Schüler (und damit zugleich ihre Eltern, über deren Verhältnisse auch Angaben gemacht werden sollten), zu identifizieren". Betont wird, daß eine solche Identifizierung sicher nicht beabsichtigt war. Es sei jedoch „unvertretbar, eine Umfrage so anzulegen, daß sie . . . auch nur die Möglichkeit einer Identifizierung eröffnet...". Zusammenfassend heißt es zu b), es müsse bei einer solchen Umfrage „absolut sichergestellt (sein), daß die Anonymität der betroffenen Personen gewahrt bleibt, soweit nicht Volljährige für ihre eigene Person bewußt auf die Wahrung der Anonymität verzichten".
Was hier interessiert, ist nicht mehr der Fall selbst. Auch Punkt a) steht nicht im Zentrum.
Wesentlich ist die Forderung nach absolutem Schutz der Privatsphäre, wie sie in den Forderungen an die Umfrage zum Ausdruck kommt. In diesem Beispiel konfligiert diese Anforderung mit den didaktischen Zielsetzungen, denn die absolute Wahrung der Privatsphäre wäre nur unter Verzicht auf das Projekt und damit auf den Lernprozeß möglich
Im Rahmen des Unterrichts in „Politik“ und „Sozialwissenschaften" gehören Umfragen längst ins Repertoire. Aus technischen und motivationalen Gründen (Schülernähe) werden sich immer wieder Umfragethemen anbieten, die das skizzierte Problem aufwerfen. Wenn die referierte Auffassung gültig sein sollte, dann würde dies das Ende einer Unterrichtsmethode bedeuten, der wegen ihrer spezifischen Chancen ein nicht zu ersetzender Stellenwert zukommt. Für die Wissenschaftsorientierung und mehr noch für die Wissenschaftspropädeutik wären die Konsequenzen groß: Im Fach „Sozialwissenschaften“ ist die Einübung in Probleme empirischen Forschens geboten, solange sich die Möglichkeit auf Schüler-Seite ergibt (motivationale Rücksichten). Die Lernchancen der Schüler und ihre Erkenntnisbedürfnisse werden gerade in neueren Curriculum-Konstruktionen regelmäßig auch mit Verweis auf Grundgesetz-Artikel gerechtfertigt — die didaktische Argumentation dürfte sich auch in die Form der juristischen Argumentation fassen lassen. Dann haben wir aber einen Interessen-Konflikt: einerseits das Eltern-Interesse nach Schutz der Privatsphäre, andererseits das Schüler-Interesse nach Lernen. Wenn die Projekt-Methode der Umfrage pädagogisch nicht ersetzbar ist, dann muß gefragt werden, wie stark welches Interesse jeweils gefährdet wird und ob sich nicht doch ein vernünftiger Kompromiß finden läßt, der kein Interesse unzumutbar stark vernachlässigt.
Es muß, mit anderen Worten, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme gestellt werden. Der in der referierten Meinung geforderte absolute (!) Schutz des eigenen Bedürfnisses (auf Schutz der eigenen Privat-Sphäre) ist überzogen. Es bestand keinerlei konkreter Hinweis auf Mißbrauch der gesammelten Daten — die rein theoretische Möglichkeit allein sollte eine solche Unterrichtsreihe unzulässig sein lassen (die Reihe wurde aufgrund einer Verfügung der Aufsichtsbehörde abgebrochen). Daß empirische Sozialforschung — wie alles wissenschaftliche Arbeiten — selbstverständliche ethische Normen enthält und ihrer auch bedarf, sollte auch für Zwecke des unterrichtlichen Einübens bewußt bleiben. Daß jeder Befragte Anspruch auf Sorgfalt im Umgang mit solchen Daten hat, ergibt sich außer aus diesem Forscherethos auch aus dem Beamten-und Lehrer-Status des Unterrichtenden (mit letzterem ist nicht der Umgang der Schüler mit diesen Daten erfaßt). Daß aber auch Lehrer und Schüler einen Anspruch auf guten Glauben in ihr Vorgehen haben, muß ebenso evident sein. Eine bloß abstrakte Befürchtung ohne greifbaren Anlaß darf also kein Grund sein, einen für die Schüler sinnvollen Lernprozeß zu stoppen.
Für den Lehrer hat die Argumentation, es müsse vollständige Anonymität beim Registrieren des persönlichen Bereichs der Eltern garantiert sein, Konsequenzen, die weit über den geschilderten Fall hinausgehen. Es ist völlig unmöglich, ein Unterrichtsgespräch so zu führen, daß ganz bestimmt nie ein Schüler die politische Auffassung seiner Eltern preisgibt. Nicht nur sind völlig unbefangene Angaben im spontanen Schüler-Gespräch denkbar; ein „Politik" -Lehrer wird genug von politischen Auffassungen wissen, um anhand von inhaltlichen Ausführungen eines Schülers u. U. politische Sympathien erschließen zu können. Ist das aber überhaupt ein Problem? Für einen „Politik" -Lehrer ist die Notwendigkeit — und damit der positive Sinn — politischer Kontroversen eine Selbstverständlichkeit. Er hat gelernt, auf politische Meinungen nicht moralisch zu reagieren (abgesehen von Extremen). Diese Toleranzfähigkeit auch im jahrelangen Arbeiten mit Schülern zu festigen, ist eine seiner Aufgaben. Das wäre aber nicht möglich, wenn zwischen Person und Unterricht ein absoluter Trennstrich gezogen werden müßte. Wenn wir Erziehung in einer demokratischen Gesellschaft wollen, müssen wir spezifische Gefahren akzeptieren und versuchen, die Risiken möglichst klein zu halten. Sie total auszuschalten, bedeutet das Ende von Unterricht: Das Fach „Erziehungswissenschaft ist womöglich genau so betroffen wie „Politik" und „Sozialwissenschaften'Die Untersuchung von Sozialisationsprozessen ist dort eine Selbstverständlichkeit — wer kann als Lehrer garantieren, daß die Schüler-beiträge nicht auch erkennbar (für wen immer) mit der eigenen Erfahrung des Schülers und damit auch mit seinen Eltern zu tun haben? Darf es deshalb dieses Thema nicht geben?
Für andere Fächer ließen sich sicher ähnliche Aspekte zeigen. Am allgemeinsten zeigen sie sich dort, wo der Lehrer im engeren Sinne Pädagoge ist, nämlich in der auch persönlichen Beratung von Schülern. Wer verlangt, daß Lehrer über Eltern nichts erfahren dürfen, weiß nicht, wieviel Lehrer wissen. Sie müssen, wenn sie dem Schüler helfen wollen, sich seine Probleme anhören, die nun mal zu einem erheblichen Teil Probleme mit der Familie sind. Daß ein Lehrer mit diesem Wissen nicht hausieren geht, ist eine Selbstverständlichkeit. Man kann und muß dem Lehrer abverlangen, Diskretion im Umgang mit seinem Wissen zu üben, aber man kann von ihm nicht abverlangen, nichts zu wissen. Auf diesem Hintergrund zeigt sich die Beurteilung der Umfrage wohl noch deutlicher als überzogen: Beunruhigung löste schon die theoretische Möglichkeit aus, in Einzelfällen etwas in Erfahrung zu bringen, was Lehrer sonst in Einzelfällen durchaus wissen können — ohne daß auf Abschaffung von Klassenfahrten, Schülersprechtagen, Einzelgesprächen usw. gedrungen wird. Letzten Endes wäre diese Forderung die Konsequenz.
Fazit kann nur sein: Diskretion ist eine Selbstverständlichkeit. Aus dem pädagogischen Auftrag der Schule folgt notwendigerweise, daß Lehrer Information über die Privatsphäre von Schülern erhalten; sie müssen den Umgang mit diesem Wissen im Interesse von Schülern und Eltern verantworten. Die Organisation von Unterrichtsprozessen muß mit Sorgfalt geschehen, damit nicht überflüssige Offenlegungen provoziert werden. Diese Pflicht zur Sorgfalt kann das Kriterium sein, das an konkrete Fälle (wie die Umfrage) angelegt werden muß. In dem Konflikt zwischen dem Recht auf Lernen und dem Recht auf Schutz der Privatsphäre geht es aber nicht an, eine Seite zum absoluten Tabu zu erheben.