I.
Die angesehene Zeitschrift , Neues Hochland'widmete ihr letztes Heft, das im November/Dezember 1974 erschienen ist, dem Thema „Radikale". Dort wurde im Vorspann erklärt, es gäbe in der deutschen Sprache kaum einen anderen Begriff, der so gründlich mißverstanden werde wie der Begriff „radikal": „Nicht wenige Landsleute mögen dem Irrtum erliegen, radikal und Radau hätten dieselbe sprachliche Wurzel, obwohl das eine Wort aus dem Lateinischen und das andere aus der Berliner Umgangssprache abgeleitet wird." Zum Schluß hieß es dann: „Christ sein und radikal sein — das sind keine Gegensätze. Es sollte vielmehr dasselbe sein: denn Christus ist die Wurzel aller Dinge."
Immerhin ist denjenigen, die den Begriff „radikal" oder „Radikalismus" mißverstehen, zugute zu halten, daß der Terminus nicht ganz eindeutig ist. Dieses Schicksal teilt er mit so manchen anderen politischen bzw. in der Gesellschaft gebräuchlichen Begriffen. Wie vieldeutig solche Termini sind und wie sehr sie sich im Laufe der Zeit zu verändern vermögen, zeigt ja der Bedeutungswandel von Ausdrücken wie Demokratie und Diktatur, Liberalismus und Sozialismus. Unter Demokratie verstand man einst einen recht eindeutigen Sachverhalt — dieser wurde auf der Rechten verdammt, auf der Linken umjubelt. Heute dient Demokratie allzu oft als verschwommene Leerformel, zu der sich jeder zu bekennen vermag — rechts, in der Mitte und links. Auch die Ausdrücke Radikaler und Radikalismus sowie radikal sind kaum weniger verschiedenartiger Interpretation ausgesetzt. So hat Max Horkheimer zwischen „radikal" und „radikalistisch" unterscheiden wollen:
„, radikal'bedeutet, ein Ziel um der Sache willen verwirklichen zu wollen; Radikalismus'jedoch hat die Tendenz einer Gesinnung, der es nicht so sehr auf die Sache ankommt als vielmehr darauf, eine unerbittliche Haltung einzunehmen und unter keinen Umständen zu Konzessionen bereit zu sein. Das scheint mir der Unterschied zwischen . radikal'und . radikalistisch'zu sein."
In unseren Ohren klingt das Wort „radikalistisch" ähnlich schlecht wie der Terminus „liberalistisch", der von den Nationalsozialisten populär gemacht wurde. Wir ziehen daher die Bezeichnung „extrem" bzw. „Extremismus" vor, wobei wir Extremismus überwiegend negativ, Radikalismus verglichen damit, aber auch im Prinzip, eher positiv bewerten. Das bedarf natürlich einer Begründung. Bevor wir an Hand dieser die Problematik des Radikalismus weiter verfolgen wollen, seien jedoch zunächst einige Bemerkungen zur Geschichte des Begriffes Radikalismus gestattet.
II.
Dem irischen Historiker W. E. H. Lecky zufolge crurde in England das Wort „radikal" mit seinen Derivativen im 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Verbreitung demokratischer Ideen gebraucht. Als Geburtsjahr nennt er das Jahr 1769 mit dem vergeblichen Versuch einer Parlamentsreform. Da diese ausblieb, sprach noch ein Vierteljahrhundert spä-ter James Fox von der Notwendigkeit einer „radikalen Reform". Zwischen 1815 und 1832 wurde der Ausdruck häufiger gebraucht. Von England aus fand der Begriff auch Verbreitung in den Ländern, in denen die humanitären und demokratischen Ideale der vorrevolutionären französischen und englischen Aufklärer die Programme des sozialen Wandels prägten. Im Viktorianischen Zeitalter galten Bentham und seine Anhänger als „philosophical radicals". So bildet sich ein „radikaler" linker Flügel in der neuen Liberalen Partei, als diese die Erbschaft der alten Whigs antrat. Auch in der Schweiz, Dänemark und Frankreich heißen die Linksliberalen und entschiedeneren Demokraten bis auf den heutigen Tag Radikale. In Frankreich schlossen sich die die Tradition der Jakobiner, Gambettas und Clemenceaus fortführenden, sich auf das Kleinbürgertum und die Bauernschaft stützenden Parteien 1901 zur Parti republicain radi-cal et radical-socialiste zusammen, die in der Dritten Republik zur führenden Partei wurde. Sie stand trotz ihres Namens rechts von den eigentlichen Sozialisten, bildete freilich mit diesen und den Kommunisten 1936 die Volksfront. 1968 waren die Radikalen in der Nationalversammlung nur noch mit 13 Abgeordneten vertreten.
In der stets ganz locker strukturierten Partei bestanden meist erhebliche Spannungen zwischen einem rechten, eher bürgerlich-konservativen und einem linken reformerischen Flügel, zu dem Männer wie Herriot, Mendes-France und Servan-Schreiber gehörten, die aber auch nie Marxisten oder gar Kommunisten waren. Das Gros der radikalen Parteien hat in Frankreich und der Schweiz längst seinen Frieden mit dem Status quo einer bürgerlichen Demokratie und eines sozial temperierten Kapitalismus gemacht. Im Verlauf der „Verbürgerlichung" der Arbeiterparteien näherten sich jedoch sogar Parteien mit marxistisch-proletarischer Tradition wie die SPD der Programmatik der Radikalsozialisten an — das Godesberger Programm mit seinem Bekenntnis zum Privateigentum an den Produktionsmitteln und zum Wettbewerb hätte eigentlich auch von einer „radikalen" Partei stammen können.
Setzt sich das Godesberger Programm nicht ausdrücklich mit dem Radikalismus der verschiedenen Spielarten auseinander, so hat dieser doch schon früh Sozialisten beschäftigt. Bereits 1844 hat Marx in seiner „Einleitung — Zur Kritik der Hegelschen Rechts-philosophie" erklärt: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein, ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den
Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann, als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!"
Trotz dieses Bekenntnisses zur methodisch-philosophischen Erscheinungsform des Radikalismus — in diesem Sinne waren und blieben Marx und Engels stets „Radikale" — lassen sie keinen Zweifel daran, daß sich politisch ihre „Partei" von den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Radikalen abgrenzen muß. Im Kommunistischen Manifest von 1848 lautet die entsprechende Äußerung, die die „Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen Parteien" verdeutlichen soll, wie folgt: „In Frankreich schließen sich die Kommunisten an die sozialistisch-demokratische Partei an gegen die konservative und radikale Bourgeoisie, ohne darum das Recht aufzugeben, sich kritisch zu den aus der revolutionären Überlieferung herrührenden Phrasen und Illusionen zu verhalten. In der Schweiz unterstützen sie die Radikalen, ohne zu verkennen, daß diese Partei aus widersprechenden Elementen besteht, teils aus demokratischen Sozialisten im französischen Sinn, teils aus radikalen Bourgeois."
Ganz anders verhielt sich der „orthodoxe" Marxist Lenin zum Radikalismus. Nachdem er jahrelang erbittert gegen die „rechten" Revisionisten und Zentristen gekämpft hatte, schlug er nach der Machtübernahme in Ruß-land ähnlich wild auf seine „linken" Kritiker ein. Diese bildeten einen recht heterogenen Haufen — ihre Kritik reichte von der Opposition gegen Zugeständnisse an die Sozialdemokratie und Bündnisse mit dieser bis zur Bloßstellung der Diktatur der kommunistischen Führer in Partei und Räten, in Gewerkschaft und Betrieb. Gemeinsam war ihnen allen die totale Ablehnung jeder Art von Kompromiß. Gegen alle diese „Abweichler" publizierte Lenin im Jahre 1920 die Grundzüge seiner Strategie und Taktik in der bekannten Schrift: „Der . linke Radikalismus', die Kinderkrankheit des Kommunismus". Nimmt man diese Pu-blikation heute nach über fünfzig Jahren zur Hand, so ist man etwas verwundert, mit welcher Offenheit und Unbedenklichkeit Lenin seinen Standpunkt eines Realpolitikers darlegt. Er proklamiert urbi et orbi, daß ihm alle politischen und organisatorischen Mittel recht sind, die den Erfolg seiner Partei garantieren, unter deren Führung die Massen „aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit" (Engels) gelangen werden. Die Gegner auf der Linken vertreten dagegen angeblich nichts als einen „kleinbürgerlichen, halbanarchistischen (oder zum Liebäugeln mit dem Anarchismus neigenden) Revolutionarismus", sie halten sich für besonders „revolutionär" oder „linksradikal", da sie alle Konzessionen und Kompromisse ablehnen, während sie für Lenin nichts als verkappte Doktrinaristen sind. Hören wir das Fazit, das Lenin zieht „Die Kommunisten müssen alle Kräfte anspannen, um die Arbeiterbewegung und die gesellschaftliche Entwicklung überhaupt auf dem geradesten und raschesten Wege zum Sieg der Sowjetmacht und zur Diktatur des Proletariats in der ganzen Welt zu führen. Das ist eine unbestreitbare Wahrheit. Aber man braucht nur einen ganz kleinen Schritt weiter — scheinbar einen Schritt in derselben Richtung — zu tun, und die Wahrheit verwandelt sich in einen Irrtum. Man braucht nur wie die deutschen und englischen linken Kommunisten zu sagen, daß wir nur einen einzigen Weg, nur den geraden Weg anerkennen, daß wir kein Lavieren, kein Paktieren, keine Kompromisse zulassen — und das wird bereits ein Fehler sein, der dem Kommunismus ernstesten Schaden zufügen kann, zum Teil schon zugefügt hat und noch zufügen wird. Der rechte Doktrinarismus hat sich darauf versteift, einzig und allein die alten Formen anzuerkennen, und hat völlig Bankrott gemacht, weil er den neuen Inhalt nicht bemerkte. Der linke Doktrinarismus versteift sich darauf, bestimmte alte Formen unbedingt abzulehnen, weil er nicht sieht, daß der neue Inhalt sich durch alle nur denkbaren Formen Bahn bricht, daß es unsere Pflicht als Kommunisten ist, alle Formen zu meistern und es zu lernen, mit maximaler Schnelligkeit eine Form durch die andere zu ergänzen, eine Form durch die andere zu ersetzen, unsere Taktik einer jeden solchen Änderung anzupassen, die nicht durch unsere Klasse oder nicht durch unsere Anstrengungen hervorgerufen worden ist. — Die Weltrevolution ist durch die Schrecken, Gemeinheiten und Scheußlichkeiten des imperialistischen Weltkriegs, durch die Ausweglosigkeit der von ihm geschaffenen Lage so mächtig vorwärts-getrieben und beschleunigt worden, diese Revolution entwickelt sich mit einer so großartigen Schnelligkeit, mit einem so wunderbaren Reichtum an wechselnden Formen in die Breite und Tiefe, sie widerlegt in der Praxis so lehrreich jedweden Doktrinarismus, daß wir allen Grund haben, auf eine rasche und vollständige Heilung der internationalen kommunistischen Bewegung von der Kinderkrankheit des . linken'Kommunismus zu hoffen." In Parenthese sei vermerkt: Lenin gebraucht Ausdrücke wie links oder radikal stets in Anführungszeichen. So will er wohl andeuten, daß seine Gegner in Wirklichkeit Pseudoradikale und falsche Linke (oder auch „ultralinke") sind, dagegen er und seine Bolschewik! echte Radikale und wahre Linke.
III.
Kann man heute — ein halbes Jahrhundert nach dem Tode Lenins und zwei Jahrzehnte nach dem Ende Stalins — den leninistischen Kommunismus überhaupt noch als radikal qualifizieren? Hiergegen spricht, daß in allen kommunistisch beherrschten Staaten die Entwicklung seit Jahr und Tag von der radikalen Utopie weg zu einer neo-konservativen Ideologie verlaufen ist und noch weiter verläuft. Erinnert der stalinistische Terrorismus an Or-wells Gegenutopie, so ähnelt die Entwicklung der beiden letzten Jahrzehnte eher der westlichen „entideologisierten" Ideologie der neokonservativen Konsumentendemokrätie als der ursprünglichen radikalen Utopie. Damit vertieft sich aber die Kluft ziwschen einem technischen Pragmatismus des Alltags und einem ideologischen Dogmatismus für den Sonntag. Die technisch-industrielle Revolution, die aus dem unterentwickelten Zaren-reich die zweite industrielle Weltmacht mit ihrer Verheißung des höheren Lebensstandards gemacht hat, fasziniert so, daß der Abbau der vorhandenen, relativ starren Herrschaftsinstitutionen in eine immer fernere Zukunft verlegt wird. Die bestehenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen erfahren demgemäß eine ideologische Legitimierung auch durch das Dogma, daß die technische Entwicklung sie schon eines Tages automatisch überflüssig machen wird, voraus-gesetzt, daß die Führung stets in den Händen der Partei bleibt.
Niemand anders als Thomas Mann der Autor des nicht zu Unrecht oft zitierten Ausspruches vom Antikommunismus als der großen Torheit unseres Jahrhunderts, hat schon vor einem Vierteljahrhundert die Entrevolutionie-rung und „Klerikalisierung“ des orthodoxen Kommunismus glänzend charakterisiert:
„Der heilige Schrecken, die neue Kirche, der neue universelle Bindung bietende Glaube, welcher zu all seinen anderen Verheißungen Befreiung von der Freiheit verheißt, ist gefunden: Das byzantinische Rußland, wo es bürgerliche Demokratie nie gegeben hat und Despotie gewohnte Lebensluft ist, schuf ihn; auf dem Grunde einer durchaus nicht östlichen, sondern der Entwicklung des westlichen Industrialismus entstammenden pan-ökonomischen Welterklärung und Heilslehre von bedingtem Wahrheitsgehalt errichtete es seine recht-gläubige, angeblich allein seligmachende Kirche mit heiligen Büchern, einem sakrosankten Dogmengebäude und allem Zubehör. Da sie zugleich Staat ist, diese Kirche, so treibt sie Machtpolitik — wen wundert es? Welteroberung ist ein uralter Traum, und jeder Glaube will die Welt erobern — auf die Gefahr hin, daß er dabei zum bloßen Mittel der Welteroberung wird.
Ich möchte keinen Zweifel lassen an meiner Ehrerbietung vor dem meiner Zeit angehörigen historischen Ereignis der Russischen Revolution. Sie hat in ihrem Lande längst unmöglich gewordene, anachronistische Zustände beendet, ein zu 90 Prozent analphabetisches Volk intellektuell gehoben, das Lebens-niveau seiner Massen unendlich menschlicher gestaltet. Sie ist die große soziale Revolution nach der politischen von 1789 und wird wie diese ihre Spuren zurücklassen in allem menschlichen Zusammenleben. Wenn nichts anderes mir Achtung für sie geböte, so wäre es ihre unveränderliche Gegenstellung zum Faschismus italienischer oder deutscher Färbung, — dieser rein reaktiven und läppischen Nachäffung des Bolschewismus, einer After-revolution ohne jede Beziehung zur Idee der Menschheit und ihrer Zukunft. Eine solche Beziehung wird niemand der großen Russischen Revolution abstreiten. Was ihr das tragische Gepräge verleiht, ist, daß sie sich eben in Rußland vollzog und das spezifische Signum russischen Schicksals und Charakters trägt. Durch lange Jahrzehnte haben in dem ungeheuren Lande Autokratie und Revolution einen erbarmungslosen Kampf gegeneinander geführt, einen Kampf mit allen Mitteln — es gab keinen Terror, den sie verschmähten. In diesem Kampf waren die Sympathien der Demokratie, auch der amerikanischen, stets auf Seiten der Revolution; denn von ihrem Siege erwartete man ein freies Rußland, frei im Sinne der Demokratie. Das Resultat war anders, es war russisch. Autokratie und Revolution haben, im Ergebnis, einander gefunden, und was uns vor Augen steht, ist die autokratische Revolution, die Revolution im byzantinischen Kleide und als Welterlösungsanspruch, welcher dem westlichen Anspruch auf Welt-gewinnung und geistiger wie materieller Weltherrschaft in einem historischen Wettstreit größten Stils gegenübersteht.''
Was nun die kommunistischen Parteien des Westens anlangt, so folgen nach wie vor viele kommunistische Parteien noch recht unkritisch der Führung des Kreml. Bei den kleineren Parteien spielt dabei sicher die organisatorisch-finanzielle Abhängigkeit eine große Rolle; aber auch größeren Parteien wie der italienischen, die nach Selbständigkeit streben, fällt es außerordentlich schwer, wirklich eigenständig zu operieren, da gerade ihre Anhänger sich allzu lange daran gewöhnt hatten, die Mißerfolge im eigenen Lande durch den Glauben an die Allmacht, Allgüte und Allweisheit der fernen Sowjetunion zu kompensieren. Die Sowjetunion bleibt für sie immer noch das Paradies; ihre Führer sind die Götter, die ihnen den Weg zur Seligkeit ebnen helfen müssen. Immerhin kann man bei einigen Parteien wie der italienischen oder spanischen, der norwegischen oder schwedischen im Zeichen der Entstalinisierung Anzeichen einer Neuorientierung feststellen. Diese beruht sicherlich nicht zuletzt wohl auch auf den schlechten Erfahrungen, die die Kommunisten nach 1945 mit einer Strategie der Gewaltsamkeit nach dem Vorbild der bolschewistischen Revolution machen mußten. Denn wo ist es den Kommunisten überhaupt gelungen, mittels eines gewaltsamen Umsturzes an die Macht zu gelangen? Vielleicht in Asien; aber dort operierten die kommunistischen Parteien, die zudem alles andere als legale proletarische Massenparteien waren, in einem ausgesprochen vorindustriellen Gesellschaftsmilieu. Auch Kuba war alles andere als eine Industriedemokratie. Zudem hatte die KP hier nichts unternommen, um der Revolution zum Erfolg zu verhelfen — diese war das Werk des Individualisten Fidel Castro und seiner kleinen intellektuellen Freischar. Sogar in Osteuropa wären die Kommunisten mögli-cherweise 1945 dem Kampf um die Macht ausgewichen oder wären unterlegen, wären diese Gebiete nicht in die Interessensphäre Moskaus einbezogen und von den Sowjetarmeen besetzt worden. Abgesehen von Jugoslawien und Albanien erlebte sogar Osteuropa nicht so sehr eine echte Revolution der je nationalen kommunistischen Parteien aus eigener Kraft, als vielmehr eine mehr oder weniger versteckte Annexion durch die Sowjetunion. Auch deuteten bereits damals Österreich und Finnland darauf hin, wie gering die Chancen der Kommunisten überall dort waren, wo sie sich nicht auf die Bajonette der Roten Armee stützen konnten.
Die weitgehende „Domestizierung" der kommunistischen Bewegung in Westeuropa scheint angesichts des noch immer stark betonten Gegensatzes des Kommunismus zur Sozialdemokratie, vor allem aber auch im Hinblick auf die Gebrechen der spätbürgerlichen Gesellschaft, ein größeres Rätsel aufzugeben als die Integrierung der Sozialdemokratie von 1914 in den damals blühenden Hoch-kapitalismus. Die heutige Anfälligkeit des Kommunismus gegenüber dem bürgerlichen Milieu, in dem er operiert, dürfte sich zum Teil so erklären, daß im Westen immer noch objektiv fortschrittlich-sozialistische Tendenzen spürbar sind, so schwach die entsprechenden Kräfte und Gruppen auch zur Zeit sein mögen. Deutet man den Kommunismus in der westlichen Welt sozusagen als „Transmissionsriemen" zwischen Kapitalismus und Bolschewismus, so verläuft die Bewegung je nach Vitalität des jeweiligen Systems mehr in der einen oder anderen Richtung. Während der unmittelbaren Nachkriegskrise tendierten die kommunistischen Parteien daher stärker dazu, östliches Gedankengut nach dem Westen „einzuschleusen". Heute, da der westliche Kapitalismus noch immer einigermaßen stabil zu sein scheint, wirken dieselben Parteien eher als „Bazillenträger" für die „Infiltrierung" westlichen Gedankengutes in den Osten.
Diese Doppelrolle vermögen die kommunistischen Parteien um so eher zu spielen, als sie von jeher eine zwiespältige Charaktermaske trugen: Mit ideologisch-regressiv-totalitären Zügen vermischten sich stets utopisch-revolutionär-radikale Aspekte. Dies hat bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Richard Löwenthal richtig hervorgehoben: „Die entscheidende Energiequelle der kommunistischen Kader ist heute mehr als je der Glaube an die Erlösungsbedeutung der russischen Revolution und des aus ihr hervorgegangenen Sowjetstaates für die Proletarier aller Länder. Doch dieser Glaube hat für verschiedene Typen von Kommunisten zwei ganz verschiedene Bedeutungen. ... Die eine große Kraftquelle der kommunistischen Bewegung ist also der antifaschistische Kampf und die fortgesetzte Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den antidemokratischen Verteidigern des monopolkapitalistischen Eigentums.
Soweit die Kommunisten aus dieser Lage Kraft ziehen, gewinnen sie sie in den Reihen der Arbeiterbewegung und mit Argumenten, die nicht spezifisch kommunistisch, sondern im traditionellen Sinne revolutionär-sozialistisch sind. ... Die andere Form, in der die europäische Krise von heute die Kommunisten stärkt, ist genau die entgegengesetzte: Die Existenz einer großen Anzahl von Bewunderern der Diktatur als solcher, die durch die Niederlage des Faschismus politisch heimatlos geworden sind." Der Doppelcharakter sei auch Ausdruck „des Glaubens an die Sowjetunion, mit der sie in ihrer Politik und im Bewußtsein der Massen identifiziert sind: Als Glauben an die Revolution der arbeitenden Volksmassen gegen die Ausbeuter auf der einen Seite, als Glaube an die Großmacht der totalitären Diktatur und der bürokratischen Planung auf der anderen Seite. Als Organisation des revolutionären antifaschistischen Kampfes sind die Kommunisten ein Bestandteil der Arbeiterbewegung, und zwar ein militanter und darum oft höchst wertvoller Bestandteil. Als Organisation der Erziehung zur Verachtung der Demokratie, zum Glauben an die Autorität, zur Benutzung wechselnder demagogischer Mittel für gleichbleibende russische Staatsziele sind sie ein Fremdkörper in der Arbeiterbewegung, und zwar in manchen kritischen Situationen ein zersetzender und vergiftender Fremdkörper."
Welche dieser beiden Seiten überwiegt, hängt nun jeweils nicht nur von der historischen Situation, sondern auch vom Milieu und der durch dieses mitbestimmten Funktion ab. So konnten die kommunistischen Bewegungen in unterentwickelten Gesellschaften stets stärker als Triebkräfte technisch-industrieller Modernisierung wirken, während sie im industriell entwickelten Westen auch Produkte der Dekadenz der Gesellschaft waren. Solange sie nun leninistische oder gar stalinistische Ziele und Methoden kopierten, stärkten sie hier die reaktionär-nihilistischen Kräfte und Tendenzen, waren sie in der Tat in einem Prozeß der „Faschisierung" begriffen.
IV.
Verweilen wir kurz bei den wesentlichen Unterschieden zwischen Kommunismus und Faschismus: Selbst der russifizierteste Kommunismus — der Bolschewismus als Leninismus und Stalinismus — konnte die Utopie einer besseren Zukunft nicht total zerstören. Alles, was sich etwa seit 1917 in Rußland zugetragen hat, geschah ja im Zeichen der marxschen utopischen Vision. Die Schrek-kensmaßnahmen Stalins wurden unter der Berufung auf die „Klassiker“ Marx, Engels und Lenin gerechtfertigt. Möglicherweise wäre ein anderes Regime, das sich nicht so sehr auf eine utopische Lehre berufen hätte, nicht weniger terroristisch gewesen — man denke etwa an den Nationalsozialismus, dessen Archaismus ja Welten von der Utopie trennten. Der Stalinismus war aber nun einmal, um Arthur Koestler zu zitieren, eine „verratene Utopie", wobei die Enttäuschung über das Scheitern der großen Vision, vor allem aber der Versuch, das Versagen vor sich selber und den anderen (vor allem auch den Kritikern im eigenen Lager) zu verbergen, mit dazu beigetragen haben mögen, den Terror besonders infam und die Täuschung ungewöhnlich perfid zu machen. Insofern aber die neuen Machtträger (nach Toynbee immer noch Futuristen!) doch nicht einfach auf die Utopie verzichten wollen oder können, muß diese ihnen nun sogar zusätzlich zur ideologischen Rechtfertigung ihrer Machtpolitik dienen. So nimmt in der Tat der „Gott, der keiner war", die Züge
Luzifers an, verwandelt, sich die Zukunft der Utopie in die Gegenwart einer „Satanokratie", wird die Theodizee der Utopie zur „Satanologie".
Trotzdem bleibt, fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und pervertiert, eine andere Komponente erhalten. Einen letzten Überrest an Humanum vermag selbst ein Stalin nicht zu vernichten. Wie ließe sich sonst die noch so bescheidene Entstalinisierung nach dem Tode des Tyrannen, vor allem aber auch ein „Prager Frühling" erklären? Der Nationalsozialismus war dagegen nie ein gefallener Engel; er verkörperte immer nur das Böse schlechthin, bedeutete den endgültigen Ausbruch aus der Geschichte der Humanität. Mit der Formel „Destruction arrayed" hat Arthur Koestler den totalen Nihilismus und Atavismus, Irrationalismus und Extremismus von Nationalsozialismus und Faschismus angedeutet. Gegensätze wie Toynbees Futurismus und Archaismus, Koestlers „Utopia betrayed" und „Distruction arrayed" sagen Wichtiges zur Differenz von kommunistischem Links-und faschistischem Rechts-Extremismus aus. Aber auch Thomas Mann hat den letzteren wohl richtig eingeschätzt, wenn er dem Nationalsozialisten Blunck entgegenhielt, gerade Schriftsteller und Dichter sollten wissen, „daß zwar das Leben sich allerlei gefallen läßt, daß aber das ganz und gar Unsittliche nicht vor ihm besteht".
V.
Wie Horkheimer angedeutet hatte, impliziere Radikalität im guten Sinne, ein Ziel mit allen möglichen Mitteln um der Sache willen verwirklichen zu wollen. Die Zielgerichtetheit würden wir im Sinne einer besseren, das heißt menschlicheren und menschenwürdigeren Zukunft deuten, die Sachlichkeit und Möglichkeit der Mittel im Sinne einer dialektischen Interdependenz und Wechselwirkung von Mittel und Ziel. Radikal in diesem Sinne wäre dann die Linke, die den Status quo bis in seine Wurzeln in Frage stellt und der schlechten Vergangenheit und Gegenwart eine bessere Zukunft gegenüberstellt. Das geschieht zunächst einmal in Form der Utopie. Um L. Kolakowski zu zitieren: „Eine Utopie zu konstruieren, heißt immer die vorgefunde-ne Wirklichkeit verneinen, ihre Umwandlung wünschen . . . Aber eine negierende Haltung an sich ist nur der Gegensatz zu einer konservativen Haltung der Welt gegenüber, denn die Negierung an sich ist nur das Streben nach Veränderung . .. Die Linke ist — und das ist ihre unveränderliche und unerläßliche, wenn auch ungenügende Eigenschaft — eine Bewegung, welche die vorgefundene Welt negiert. — Eine Linke, die kein konstruktives Programm besitzt, könnte auch keine Negierung sein, denn diese beiden Ausdrücke bedeuten das gleiche. Der Mangel an Programm ist gleichzeitig ein Mangel an Negierung, das heißt das Gegenteil von Linkssein, das heißt Konservatismus" — oder könnten wir mit Karl Mannheim sagen: Ideologie. Mannheim unterscheidet ja zwischen ideologi-schem und utopischem Bewußtsein. Geistige Konstruktionen können zwei Formen annehmen: „Sie sind ideologisch’, wenn sie der Absicht dienen, die bestehende soziale Wirklichkeit zu verklären oder zu stabilisieren; . utopisch', wenn sie kollektive Aktivität hervorrufen, die die Wirklichkeit so zu ändern sucht, daß sie mit ihren die Realität übersteigenden Zielen übereinstimmt." Während die herrschende Gruppe allmählich zu rationalistischen Haltungen vordringt, indem sie die ursprünglich allen gemeinsamen symbolischen Surrogate in Instrumente, die bewußt zur Stütze ihrer Autorität genutzt werden können, verwandelt, sie „also in die Schutzfarbe der Ideologie hüllt, formen die Massen oft aus dem gleichen Grundstoff eine Utopie, die den Status quo durchbricht". Insoweit wird also Utopie „als Bewußtsein aufstrebender, das heißt beherrschter und sich von Herrschaft befreiender Klassen, Ideologie als das Bewußtsein herrschender Klassen bestimmt". Will die Ideologie den Status quo konservieren, so will die Utopie ihn transzendieren. Die Ideologie ist daher stets stark vergangenheitsgeprägt, die Utopie zukunftsgerichtet. Beide Begriffe sind zugleich Kampfbegriffe, die den Gegner entlarven wollen: „Den Begriff des Utopischen bestimmt stets die herrschende, mit einer bestehenden Seinsordnung sich in unproblematischer Deckung befindende Schicht; den Begriff des Ideologischen bestimmt stets die aufstrebende, zur bestehenden Seinswirklichkeit sich in existenzieller Spannung befindende Schicht." Insofern diese Schicht die Zukunft gestaltet, ist es möglich, daß die Utopien von heute zu den Wirklichkeiten von morgen werden können. „Les Utopies ne sont souvent que des vrits prematurees'(Lamartine)."
e Nun war es gerade Mannheim der bei aller Zukunftsoffenheit auf die Grenzen der Zukunftserkenntnis aufmerksam gemacht hat. Etwas mit totaler Sicherheit vorauszusagen, „wäre Prophetie ... jede Prophetie verwandelt aber Geschichte zwangsläufig in reine Determination und beraubt uns dadurch der Möglichkeit zur Wahl und zur Entscheidung, und es erstirbt daran der abwägende suchende Instinkt im Hinblick auf die stets sich neu gestaltende Möglichkeit. Denn die Form, in der die Zukunft allein sich gibt, ist die der Möglichkeit, das Soll aber ist die adäquate Zuwendung zu ihr."
Bei der Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit unterscheidet sich nun aber der Radikale sowohl vom Konservativen wie auch vom Extremisten. Für den Konservativen ist die Möglichkeit von morgen kaum verschieden von der Wirklichkeit von gestern und heute. Er mag quantitative Veränderungen hinnehmen. Im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution findet sich der Konservative schließlich auch damit ab, die technische Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen; ja, sie wird nun gelegentlich sogar verherrlicht, soll sie doch dazu dienen, die Probleme von morgen zu lösen, ohne daß die überlieferten sozio-kulturellen Verhaltensweisen und Institutionen grundsätzlich verändert werden.
Robert Jungk spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zeitgefängnis", „in das wir eingesperrt sind. Es verhindert den Einbruch und den Ausbruch radikal neuer Ideen, es verengt den Horizont und mag schuld daran sein, daß wir die Zukunft fast immer nur als eine ins überdimensionale vergrößerte Gegenwart sehen können. So wenig wie sich ein mittelalterlicher Mensch eine Welt hätte vorstellen können, in der die Kirchen und Klöster nur noch eine Nebenrolle spielen, so sind wir kaum imstande, uns die Welt kommender Jahrhunderte ohne Laboratorien und Fabriken auszumalen." Hiergegen appelliert Jungk vor allem an die schöpferische Phantasie. Mit neuen kreativen Methoden sollten wir Zukunftsentwicklungen freilegen, die jenseits des angeblich Möglichen liegen. Die intuitive Vorausschau, die zur suchenden und zielsetzenden Vorausschau hinzukommen muß, bedient sich sowohl des Wissens wie der Phantasie, „um auch überraschendes, im Grunde kaum logisch Vorhersehbares, in die Prognose einbeziehen zu können".
Der Radikale wird also vor dem, was üblicherweise als unmöglich gegolten hat oder noch gilt, nicht bedingungslos haltmachen. Er wird auch das angeblich oder auch zur Zeit noch wirklich Unmögliche in seine Reflexionen und Aktionen einbegreifen. Dies hat schon Max Weber deutlich erkannt, als er einmal gesagt hat: „. . . alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreicht hätte, wenn nicht immer wieder nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre. Aber der, der das tun kann, muß ein Führer, und nicht nur das, sondern auch — in einem sehr schlichten Wortsinn — ein Held sein." Auch Karl Liebknecht hat ähnlich argumentiert: „Die gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich hiernach auf der Linie des Kompromisses, unter scheinbarer Führung von Kompromißfaktoren. Oft wird daraus gefolgert: der Radikalismus sei sinnlos, wirkungslos, eine zwecklose Kraftvergeudung. Aber weit gefehlt! .. . Wer die Entwicklung jeden Augenblick bis zur Realisierung der äußersten Möglichkeit zu treiben bestrebt ist, muß sich anders verhalten. Er muß Ziel und Richtung seiner Politik weit jenseits noch der äußersten praktischen Möglichkeit nehmen. Das äußerste Mögliche ist nur erreichbar durch das Greifen nach dem Unmöglichen. Die verwirklichte Möglichkeit ist die Resultante aus erstrebten Unmöglichkeiten. Das objektiv Unmögliche wollen, bedeutet also nicht sinnlose Phantasterei und Verblendung, sondern praktische Politik im tiefsten Sinne. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung eines politischen Ziels aufzeigen heißt mitnichten seine Unsinnigkeit beweisen, höchstens die Einsichtslosigkeit der Kritikaster in die gesellschaftlichen Bewegungsgesetze, besonders in die Gesetze der gesellschaftlichen Willensbildung. Die eigentlichste und stärkste Politik, das ist die Kunst des Unmöglichen."
Nun wird aber der Radikale — und darin unterscheidet er sich vom Extremisten! — versuchen, so weit wie nur irgend möglich das Unmögliche auch als solches, zu erkennen und auszusprechen. Auch dort, wo er noch das Unmögliche anvisiert, wird er vor der Illusion warnen, dieses Unmögliche für das schon Vorhandene oder ohne weiteres leicht zu Verwirklichende zu halten oder auszugeben. Hier stoßen wir auf eine ähnliche Scheidelinie wie die zwischen der subjektiven Illusion und der konkreten oder realen Utopie. Das Verhältnis von Utopie und Ideologie steht auch im Mittelpunkt des Interesses einer radikalen Futurologie. In dieser sehen wir einen Versuch, über den total verabsolutierten Gegensatz von Möglichem und Unmöglichem, von Vergangenheit und Zukunft, von Ideologie und Utopie hinauszugehen, diese Gegensätze im Sinne von Hegel „aufzuheben", wobei der Unmöglichkeit gegenüber der Möglichkeit, der Zukunft gegenüber der Vergangenheit, der Utopie gegenüber der Ideologie, das heißt aber auch den Unterdrückten gegenüber den Unterdrückern, den beherrschten Massen gegenüber den herrschenden Eliten, der „Linken" gegenüber den „Rechten" ein relativer Vorrang einzuräumen ist. Das folgt letztlich aus dem unterschiedlichen Stellenwert, den Vergangenheit und Zukunft für den Menschen haben, wie das bereits Kant
gesehen hat, als er andeutete, Hoffnung und Zukunft wägen schwerer und die Waage sei doch nicht ganz unparteiisch. Nur die Zukunft ist ja der Ort, wo der Mensch versuchen kann, die Herrschaft der „Unwerte" — Unfriede und Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Unwahrheit — und der sich mit diesen identifizierenden Mächte abzubauen und die der „Grundwerte" — Friede und Gerechtigkeit, Freiheit und vor allem Wahrheit — zu stärken, das heißt dem Leben zu einem, wenn auch noch so prekären und ephemären Triumph über den Tod — nach Ernst Bloch „der stärksten Nicht-Utopie" — zu verhelfen.
Im Gegensatz zum Extremismus bleibt aber der humane und demokratische Radikalismus auch in seiner sozialistischen Spielart sich stets dessen bewußt, daß es zwar nötig sein mag, an die Stelle der bestehenden Gesellschaftsordnung eine radikal neue zu setzen, daß aber auch diese neue Gesellschaft nur in einigen wichtigen Aspekten neu sein kann, in anderen dagegen der Tradition der Geschichte verhaftet bleiben muß. Die neue Gesellschaftsformation mag besser, humaner, demokratischer sein als die alte Ordnung — aber auch sie wird kein vollkommenes Reich der Freiheit und des Glückes sein. Während der Extremist an einen absoluten und totalen Bruch zwischen allen Klassengesellschaften der Vergangenheit und der klassen-und herrschaftslosen Gesellschaft der Zukunft glaubt, die daher auch mit allen Mitteln erkämpft werden muß — ohne Rücksicht auf die Kosten und ohne Ansehen der Opfer—, glaubt der selbstkritisch-rationale Radikale, daß auch die bessere Gesellschaft von morgen immer noch im Zeichen letzter menschlicher Unzulänglichkeit und natürlicher Begrenztheit stehen wird. Hunger und Elend, Ausbeutung und Unterdrückung mögen nicht ewig mit dem Menschen sein — nichts spricht aber dafür, daß alle Erscheinungsformen von Ungleichheit und Unfreiheit, von Unglück und Vergänglichkeit abgeschafft werden könnten. „. . .der Welt-und Menschengeschichte gleich, enthüllt das letzte aufgelöste Problem immer wieder ein neues aufzulösendes", lautet eine beherzigenswerte Einsicht Goethes. Ernst Bloch hat an die Dialektik von Weg und Ziel erinnert. Beide sind „in einer so guten wie reinen Montage von Etappe und Ziel zu vereinen: einer Montage von Liberalität — ohne schlechtes „Von-der-Hand-in-den-MundLeben'— und . Invarianz'der Richtung und ihres allemal kritischen Maßes, also eines utopischen Totums ohne alle Leben vernichtende, gerade auch Utopie vernichtende Totalität" — was auch heißt, daß die Frage, wie Reform oder gar Revolution wo und wann politisch praktikabel ist, nur auf Grund einer konkreten Analyse der jeweiligen Konstella tion zu beantworten ist.
So kommt man zu der paradoxen Feststellung: Je radikaler die Politik auch in der Zielsetzung sein kann und wohl immer mehr sein muß, um so humaner müßten die Mitte] sein. Auch aus dieser Sicht heraus werden heute Terror und Täuschung, Gewaltsamkeit und Krieg immer „unmöglicher", während dynamischer Ausgleich und gewaltfreie Aktion nicht als verabsolutierte Ziele, wohl aber als Mittel einer radikalen Zielsetzung immer dringlicher werden.
VI.
Gerade hierin unterscheidet sich der Radikalismus vom rechten wie vom linken Extremismus. Dieser ist seinem Wesen nach extrem, illusionär und realitätsblind, subjektivistisch und dogmatisch, aber auch elitär und autoritär. So treibt ihn sein „falscher Maximalismus" (Yaak Karsunke 18a) ) um der Realisierung des absolut gesetzten Ideals willen immer wieder zu Terror und Täuschung. Damit nähert er sich aber wiederum durchaus der äußersten Rechten an. Der linke, revolutionäre Utopist und Illusionist verkennt die Grenzen politischen und gesellschaftlichen Handelns wie die menschlichen Schwächen seiner eigenen Gruppe so sehr, daß er immer wieder Reaktionen und Niederlagen provoziert. Und selbst dort, wo er einmal ausnahmsweise zu siegen scheint, ist sein äußerer Triumph identisch mit der furchtbarsten inneren Niederlage. Hinter der Maske der Revolution triumphiert die schleichende Gegenrevolution, übernehmen die neuen Machthaber die Haltungen und Gewohnheiten der gestürzten Herrn, ersticken die entmenschten Institutionen den humanen Geist.
Insofern — freilich auch nur insofern! — hat die „Mitte" recht gegenüber den Extremen (nicht „Radikalen"!) von rechts wie auch von links, wenn sie schon seit Aristoteles an den Vorrang der kühlen Überlegung gegenüber der blinden Emotion, der rationalen Hypothese gegenüber der dogmatischen These, des nüchternen Kompromisses gegenüber dem wilden Vernichtungskampf erinnert. Diese Momente sind in die Konzeption einer radikalen Futurologie einzubauen, die somit als solche einer „linken Mitte" oder besser „gemäßigten Linken" skizziert werden kann. In dieser Richtung dachten auch wohl Karl Mannheim und Walter Dirks als jener von einer „Entscheidung zur dynamischen Mitte", einer „Synthese vom jeweils möglichen umfassendsten und vorwärtstreibenden Standort aus" sprach, während Walter Dirks unterstrich, daß die „Mitte als Ausgleich jeweils ein Ergebnis sein kann, nicht aber ein Ziel, auf das hin man vernünftig handeln kann".
Vor einiger Zeit hat Peter Härtling die SPD wieder vor der Verabsolutierung der Mitte gewarnt. Das Schlagwort Mitte stehe für Ruhe und Abwiegelung, es markiere einen undeutlichen Konservatismus. Kein Zweifel, einer solchen Mitte gegenüber wollen wir auf die Radikalität der Linken weder methodisch noch inhaltlich verzichten — am wenigsten in einer Epoche radikalsten Wandels und radikalster Bedrohung. Die sich zuspitzenden globalen Herausforderungen (Übervölkerung und Umweltzerstörung, Unterentwicklung in der Dritten Welt und Krisenanfälligkeit der über-entwickelten Wirtschaften, Versagen des Territorialstaates nebst Rüstungswettlauf und der tradierten Familienstruktur nebst Persönlichkeitsverlust) verlangen nach radikalen Antworten. Heute mehr denn je müssen wir nach einem Dritten Weg suchen, der zwischen Konservativismus und Extremismus verlaufen müßte. Daß dieser Ausweg steil und steinig sein dürfte, ist kein Grund, auf ihn von vornherein zu verzichten. Es geht nur darum, die Hindernisse deutlich zu erkennen und zugleich den Mut zum Wagnis aufzubringen. Das wäre echter Radikalismus