In einer Reihe von Zeitungsartikeln und Interviews sowie in einem Vorwort zu einem Buch seines Sohnes hat der ehemalige französische Stadtkommandant von Berlin (1964 bis 1967) und Altgaullist (Compagnon de laLiberation), General Binoche, seine Landsleute — wie bereits viele vor ihm — erneut vor der „deutschen Gefahr" gewarnt Die Franzosen, so der General, machten sich Illusionen über die Deutschen, nur weil es ein paar Städtepartnerschaften, Fußballspiele und deutsch-französische Clubs gäbe. „Sie benehmen sich wie ein junger Mann, der seinem Vater nicht glaubt, daß er sich die Hände auf der heißen Ofenplatte verbrannt hat und sie sich nun selbst verbrennt.“ In Wirklichkeit hätten sich die Deutschen seit Bismarck nicht geändert. Ihre Methoden haben sich zwar gewandelt, nicht aber ihre Ziele: sie strebten weiterhin die Vorherrschaft in Europa an
In der deutschen Frankreich-, Europa-und Ostpolitik sieht Binoche den Beweis für seine These: Sie diente und dient einzig und allein der Erneuerung der deutschen Großmachtstellung, nicht aber dem europäischen Frieden und der europäischen Einigung, wie die Deutschen vorgeben. Während Frankreich sich seit 1950 aufrichtig um eine Verständigung mit Deutschland bemühte, dachte dieses nur an seine eigenen Interessen: so bei der Schaffung der Montanunion, die ihm den Wiederaufbau seiner Schwerindustrie ermöglichte oder bei der EWG, die seinen Export stimulierte. Dort, wo die deutsch-französische Zusammenarbeit auch Frankreich hätte nützen können, wie etwa auf dem Gebiet der Luftfahrt oder der Rüstungstechnik, haben die Deutschen eine Zusammenarbeit stets abgelehnt und statt dessen mit den Amerikanern kooperiert, so etwa, als sie ihre Luftwaffe mit Starfightern ausrüsteten und nicht mit Miragejägern oder als sie für die Lufthansa die amerikanische Boing 737 kauften und nicht die französische Caravelle. Auch auf anderen Gebieten denken die Deutschen nur an ihren eigenen Vorteil und ihren eigenen Gewinn, z. B. beim Farbfernsehen durch die Entwicklung des PAL-Systems, das dem französischem SE-CAM-Verfahren überall in der Welt große Konkurrenz bereite, oder bei der Energieversorgung durch die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der französischen Erdölgesellschaft ELF, deren internationale Wettbewerbs-position dadurch erheblich geschwächt wurde
Aber nicht nur gegenüber Frankreich, auch gegenüber den übrigen europäischen Staaten denken die Deutschen einzig und allein an ihre Interessen. So benutzten sie die europäische Einigungsbewegung in den fünfziger Jahren, um außenpolitisch wieder handlungsfähig zu werden. Sie waren jedoch nicht bereit, als Gegenleistung wirklich Opfer für die europäische Einigung zu bringen, die sie stets nur von den anderen verlangten. So haben sie z. B. in keinem Vertrag seit 1945 die deutschen Nachkriegsgrenzen anerkannt, weder im Norden noch im Süden, weder im Westen noch im Osten. Adenauer verbrachte seine Zeit damit, Deutschland in den Grenzen von 1937 zu fordern, und Brandt wollte Deutschland durch eine Verständigung mit den Russen erneuern. Wie Adenauer hat auch er die bestehenden Grenzen nicht anerkannt, auch nicht die Oder-Neiße-Grenze, denn die Ost-Verträge mit der Sowjetunion und Polen schließen Grenzrevisionen nicht aus und die vier Großmächte sind weiterhin für Deutschland „als Ganzes“ verantwortlich. Der Westen hielt Brandt „für . einen . reumütigen Deutschen', aber in Wirklichkeit war er nur einfach ein Deutscher, der deutsche Politik wie gewöhnlich macht, lediglich mit anderen Methoden.“
Durch seine Ostpolitik habe Brandt den deutschen Einfluß in Osteuropa erheblich verstärkt und damit die Voraussetzungen für eine künftige Wiedervereinigung Deutschlands geschaffen. Eine deutsche Wiedervereinigung wäre jedoch nicht nur eine Katastrophe für Frankreich, sondern für ganz Europa, wie die Geschichte gezeigt hat. „Man darf niemals vergessen, was ein vereintes Deutschland im Zentrum des Kontinents bedeutet. Es entwickelt dort eine ökonomische und finanzielle Macht wie kein Zweiter, es übt einen starken Einfluß auf Österreich und andere Randgebiete aus und verstärkt gleichzeitig seine Autorität in der Tschechoslowakei und Polen." Deutschland muß daher gespalten bleiben. Im Augenblick sorgen zwar noch die Russen dafür, aber sie könnten eines Tages ihre Haltung ändern und so die Wiedervereinigung ermöglichen, denn ihr Hauptproblem ist China und nicht Deutschland. Außerdem fühlen sie sich durch die Deutschen auf eine geradezu mystische Weise angezogen, wie die Vergangenheit beweist. Sie ist voll von deutsch-russischen Verträgen, Abmachungen und Absprachen, die sich fast immer gegen den Westen, vor allem gegen Frankreich richteten wie z. B. die Konvention von Tauroggen oder der Hitler-Stalin-Pakt. Frankreich und seine westlichen Verbündeten sollten daher aufhören, das deutsche Streben nach Wiedervereinigung zu unterstützen. „Es wäre ein Verbrechen gegen künftige Generationen und gegen den Frieden der Welt, nicht alles Erdenkliche zu tun, um Deutschland davon abzuhalten, am Ende dieses Jahrhunderts zu werden, was es in der ersten Hälfte des Jahrhunderts war." Die Ursachen des unveränderten deutschen Machtstrebens und des daraus resultierenden deutsch-französischen Gegensatzes sieht Binoche im deutschen Volkscharakter, der sich fundamental von dem der Franzosen unterscheidet. Die Deutschen, so Binoche, denken dialektisch, nicht logisch wie die Franzosen. „Ihr Denken ist diskontinuierlich und daher unberechenbar. Sie streben nicht wie die Franzosen ein klar definiertes Ziel an, sondern wechseln ihre Ziele von Fall zu Fall, so wie es ihren Interessen, Launen und Einfällen entspricht. Die Franzosen bewegen sich dagegen in ihrem Denken von einem Punkt zum anderen. All ihre Aktionen sind auf den nächsten Punkt gerichtet. „Wir wissen, wohin wir wollen, und handeln folgerichtig. Wir gehen nicht so irgendwie vor, sondern logisch."
Das unterschiedliche Denken von Deutschen und Franzosen führt zu unterschiedlichem politischen Verhalten. Das deutsche Volk „hat eine besondere Art, sich hinter denen, die es führen, zusammenzuscharen. Diese Führer sind vom Volk designiert, es ist also das Volk, welches bestimmt und immer bestimmt hat ... Sicher ist Deutschland eine Demokratie, aber eine Demokratie besonderer Art. Es besitzt einen Volkskonsens, einen Gemeinschaftsgeist, die zu dieser Demokratie besonderer Art führen." Die Franzosen sind dagegen heimliche Monarchisten. Sie brauchen jemand, der für sie die Arbeit macht, eine Art Papst oder Hohenpriester. „Früher waren es die Könige, heute ist es der Präsident der Republik."
Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen jedoch in der Außenpolitik. Die Franzosen sind ein zufriedenes Volk. Sie sind friedliebend und fordern nichts von ihren Nachbarn. Die Deutschen sind dagegen unzufriedene Menschen. Sie akzeptieren nicht die Konsequenzen des Krieges. Sie finden sie ungerecht und wollen sie verändern. Deshalb hat auch die Bundesrepublik in ihren Ostverträgen die deutschen Ost-grenzen nicht endgültig anerkannt, sondern die Möglichkeit von Grenzrevisionen offen gelassen. Ihre Anerkennung der Oder-Neiße-Linie ist nicht endgültig. „Das ist eben die zwiespältige deutsche Politik. Im geeigneten Augenblick verlangen sie dann alles. Wir halten die Moskauer Verträge keineswegs für definitiv."
Frankreich, so folgert der pensionierte General, muß deshalb weiterhin vor den Deutschen auf der Hut sein. Deutsche und Franzosen „können parallel nebeneinander in Frieden leben, aber nicht Hand in Hand zusammen gehen, weil wir verschiedene Richtungen haben“
General Binoches Argumente zeugen zwar nicht gerade von der kartesianischen Logik, die er als ein wesentliches Merkmal des französischen Nationalcharakters betrachtet, aber sie sind doch typisch für das Denken eines Teils der französischen Machtelite, wie Untersuchungen der französischen Massenmedien zeigen Sie müssen daher ernst genommen werden und können nicht einfach als die Meinung eines Einzelgängers oder gar Spinners abgetan werden, wie dies teilweise durch die deutschen Massenmedien geschehen ist Denn nur wenn wir Deutschen uns vorurteilslos und kritisch mit allen Strömungen der französischen Politik auseinander-setzten, vermögen wir Fehlurteile und Fehlverhalten vermeiden, die sich verhängnisvoll auf die deutsch-französischen Beziehungen auswirken könnten.
Die ideologische Grundlage des Denkens von Binoche und von Teilen der französischen Machtelite bildet der antideutsche Nationalismus. Dieser ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion des französischen Bürgertums auf die angenommene Bedrohung durch das Wilhelminische Deutschland entstanden. Er verband den auf die französische Revolution zurückgehenden republikanischen Patriotis-mus mit der Revancheidee von 1871 sowie mit einigen Elementen des Konservatismus und Liberalismus. Durch den Gaullismus erhielt er später noch zusätzlich eine soziale und eine cäsaristische Komponente, änderte jedoch nicht wesentlich seine Inhalte. Seine zentralen Aussagen sind daher die gleichen geblieben 1. Das Denken und Handeln von Nationen wird durch ihre Geschichte, ihre Kultur und ihre geopolitische Lage bestimmt. 2. Jede Nation besitzt daher ihren eigenen unverwechselbaren Charakter und ändert sich in ihrer Substanz nie. 3. Nationen lassen sich in ihrem Handeln nur von ihren Interessen leiten und nicht von irgendwelchen abstrakten Ideen. Hinter den Ideologien und Regimen steht daher stets das nationale Interesse. 4. Die Welt ist ein Dschungel, in dem die Gesetze des Dschungels herrschen. Die Beziehungen zwischen den Völkern werden daher in letzter Instanz allein durch Macht bestimmt.
Von diesen allgemeinen Aussagen leitete der antideutsche Nationalismus einige spezifische Aussagen über Frankreich und über das deutsch-französische Verhältnis ab: 1. Frankreich verkörpert die Essenz der christlich-abendländischen Kultur und die Ideen der Französischen Revolution, Deutschland dagegen das genaue Gegenteil. Es ist in seiner Substanz stets barbarisch, kriegerisch, aggressiv, herrschsüchtig, autoritär und militaristisch geblieben. 2. Frankreich strebt lediglich die Bewahrung seines geistig-kulturellen Erbes und die Garantie seiner Sicherheit an. Deutschland will dagegen die Weltherrschaft. Die Interessen beider Nationen sind daher unvereinbar. Zwischen ihnen kann es höchstens einen Waffenstillstand, niemals aber einen dauerhaften Frieden geben. 15 Der antideutsche Nationalismus diente der französischen Bourgeoisie außenpolitisch zur Mobilisierung der nationalen Energien gegen den äußeren Feind und innenpolitisch benutzte sie ihn zur Integration der Mittelschichten, der Bauern und der Arbeiter in die von ihr beherrschte Staats-und Gesellschaftsordnung. Er besaß somit sowohl eine äußere als auch eine innere Funktion, wobei je nach der internationalen bzw.der innerfranzösischen Lage einmal die eine, einmal die andere dominierte. Seit dem Ausbruch des Ost-West-Konflikts trat die äußere Funktion mehr und mehr hinter die innere zurück, da Frankreich und Deutschland nun zum ersten Mal in der neueren Geschichte einen gemeinsamen Gegner, die Sowjetunion, besaßen, dessen Hilfstruppen — die deutschen und französischen Kommunisten —: auch ihre innere Ordnung bedrohten. So richtete sich z. B. das gaullistische , Rassemblement du Peuple Franais’ (RPF), dessen ideologische Basis und historische Tradition der antideutsche Nationalismus bildete, in erster Linie gegen die Kommunistische Partei Frankreichs, die de Gaulle stets nur „le parti de l'etranger“ nannte.
Während des Gipfels der deutsch-französischen Zweisamkeit unter de Gaulle und Adenauer Anfang der sechziger Jahre schien der französische Nationalismus völlig seine antideutsche Stoßrichtung verloren zu haben. Aber es zeigte sich bald, daß dies eine Täuschung war, denn seit der Mitte der sechziger Jahre erlebt der antideutsche Nationalismus eine erneute Renaissance Vordergründig beruht diese Renaissance auf der Verschiebung des deutsch-französischen Kräfteverhältnisses zugunsten der Bundesrepublik, besonders auf wirtschaftlichem und monetärem Gebiet. Die tieferen Ursachen sind jedoch in den gesellschaftlichen Auswirkungen des von de Gaulle forcierten wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsprozesses zu suchen. Dieser förderte besonders die Entwicklung der modernen Wachstumsindustrien (Atom, Datenverarbeitung, Petrochemie, Flugzeugbau), die Konzentration in den traditionellen Wirtschaftszweigen und die Mechanisierung der Landwirtschaft. Die französische Wirtschaft vermochte so im Laufe der sechziger Jahre teilweise ihre traditionellen Strukturschwächen überwindet und den Anschluß an die führenden Volkswirtschaften des Westens (USA, Bundesrepu blik Deutschland, Japan) finden
Das rasche Wirtschaftswachstum der sechziger Jahre verschärfte jedoch die sozialen Gegensätze sowohl zwischen den besitzenden Klassen und den Lohnabhängigen als auch zwischen den traditionellen und den modernen Wirtschaftsgruppen. De Gaulle vermochte diese Gegensätze zunächst durch sein persönliches Charisma, seinen autokratischen Führungsstil, die Ausschaltung der traditionellen Eliten und seine nationale Prestigepolitik zu überdecken. Es kam zwar häufig zu sozialen Protesten, besonders der Bauern und Kleinhändler, sowie zu Streiks, aber die gesellschaftliche Lage blieb trotzdem weitgehend stabil. Erst im Mai 1968 entlud sich der angestaute Unwille in Massenstreiks und in der Studentenrevolte
Die Mai/Juni-Revolte von 1968 sprengte die gaullistische Herrschaftssynthese und zwang die Gaullisten zu einer neuen Befriedungsstrategie. Pompidou, damals noch Premierminister, löste die Krise durch eine direkte Verständigung zwischen Unternehmern, Arbeitern und Staat mit dem Abkommen von Grenelle. Dieses brachte den Arbeitern erhebliche materielle Vorteile, so z. B. eine 13°/oige Lohnerhöhung, die vor allem von den Unternehmern getragen werden mußten. Während die modernen Unternehmen dank ihrer Rentabilität die neuen Belastungen verkraften konnten, waren die traditionellen Unternehmen dazu meist nicht fähig Die Opposition der tra-ditionellen Wirtschaftsgruppen gegen die gaullistische Modernisierungspolitik nahm daher seit Mai/Juni 1968 erheblich zu Gleichzeitig verloren die Gaullisten durch den Rücktritt de Gaulles 1969 weitgehend ihren Rückhalt in der Arbeiterschaft. De Gaulles Nachfolger, Pompidou, war daher weit stärker als de Gaulle auf die Unterstützung der besitzenden Klassen und Schichten angewiesen. Um ein Auseinanderfallen seiner Regierungskoalition zu verhindern, forcierte Pompidou einerseits das Wachstum sämtlicher Wirtschaftszweige, verlangsamte jedoch gleichzeitig den sozialen Modernisierungsprozeß. Er vermochte dadurch vorübergehend die Gegensätze zwischen den modernen und den traditionellen Wirtschaftsgruppen zu überdekken, weil auch letztere am allgemeinen Boom teilnahmen, aber er vertiefte erneut die Gegensätze zwischen den besitzenden Schichten und den Lohnabhängigen der mittleren und unteren Einkommensstufen, denn der Wirtschaftsboom führte zu einer galloppierenden Inflation, von der vor allem die Bezieher mittlerer und kleinerer Einkommen betroffen wurden
Pompidous Wirtschafts-und Sozialpolitik beschleunigte die Annäherung zwischen Kommunisten und Sozialisten, die 1972 zur Bildung der „Union de la Gauche" (Linksunion) führte; sie spaltete das Regierungslager in einen orthodox-gaullistischen Flügel um Chaban-Delmas und einen modernistisch-liberalen Flügel um Giscard d'Estaing. Dadurch ergab sich zum ersten Mal seit 1936 in den Präsidentschaftswahlen von 1974 die Möglichkeit eines Sieges der vereinten Linken. Dieser hätte diesmal weitreichendere Folgen gehabt als 1936, weil innerhalb der Linksunion die Kommunisten eine weit stärkere Position einnahmen als in der Volksfront von 1936, und weil der Präsident der V. Republik über wesentlich mehr Befugnisse und reale Machtchancen verfügt als der Regierungschef in der III. Republik. Deshalb unternahm die französische Macht-elite alles, um einen Erfolg der Linken zu ver-hindern. So unterstützte sie bereits im 1. Wahlgang der Präsidentschaftswahlen massiv den Kandidaten des modernistischen Flügels des Regierungslagers, den Rechtsliberalen Giscard d'Estaing, weil sie überzeugt war, daß dieser aufgrund des weitverbreiteten Verlangens nach gesellschaftlichen Reformen mit seinem liberalen Modernismus größere Erfolgsaussichten habe als sein orthodoxer Konkurrent innerhalb des Regierungslagers, Chaban-Delmas, mit seinem vagen Projekt einer „neuen Gesellschaft". Ihre Rechnung ging auch auf, denn Giscard vermochte sich nicht nur gegen Chaban-Delmas, sondern auch gegen seinen Konkurrenten im zweiten Wahlgang, den Kandidaten der vereinten Linken, Mitterand, durchsetzten. Allerdings errang er nur eine hauchdünne Mehrheit und im Parlament blieb er von den Gaullisten abhängig, die weiterhin die stärkste Regierungsfraktion bildeten Sein Handlungsspielraum ist daher erheblich enger als der seiner beiden Vorgänger. Er vermag sein Modernisierungsprogramm jedoch nur durchzusetzen, wenn er sich auf eine breite Mehrheit sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit und unter den Verbänden stützen kann. Deshalb bemüht er sich seit seiner Wahl um die Ausweitung seiner politischen Basis durch die Zusammenfassung aller nichtgaullistischen und nichtkommunistischen Gruppierungen in einer breiten Zentrumsunion. Diese Bemühungen sind indes bisher ohne großen Erfolg geblieben. Die Sozialisten halten trotz eines wachsenden Selbstbewußtseins an ihrem Bündnis mit den Kommunisten fest und die verschiedenen Gruppierungen der Mitte (Centristen, Reformatoren, Radikale) lehnten einen Zusammenschluß mit den Unabhängigen Republikanern, der eigentlichen Hausmacht Giscards, ab. Lediglich die mit den Sozialisten in einer Wahlkoalition lose verbundenen Linksliberalen (Radicaux de Gauche — MRG) zeigten sich zu einer begrenzten Zusammenarbeit mit dem Staatschef und zur Aufnahme eines offiziellen Dialogs mit ihm bereit. So ließ sich ein Linksliberaler im Department Tarn-et-Garonne am 28. September von der Regierungsmehrheit zum Senator wählen und sein Parteivorsitzender, Robert Fabre, folgte am 30. September einer Einladung Giscards in den Elysees-Palast zu einem einstündigen Gespräch über die Beziehungen zwischen Regierungsmehrheit und Opposition sowie über aktuelle Wirtschaftsfragen Diese Initiativen der Linksliberalen bedeuten jedoch noch nicht ihren Bruch mit der Linksunion. Vielmehr verfolgen sie den Zweck, ihre Stellung in dieser zu stärken. Im übrigen würde ihr Anschluß an die Regierungsmehrheit die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse kaum ändern, da sie nur über wenige Abgeordnete verfügen und auch ihr Rückhalt in der Wählerschaft gering ist (etwa zwei bis vier Prozent)
Unter diesen Umständen zielt Giscards Strategie heute mehr denn je auf eine Spaltung der Gaullisten. Bereits nach seiner Wahl versuchte er über seinen ehemaligen gaullistischen Staatssekretär im Finanzministerium und heutigen Regierungschef, Chirac, den modernistischen Flügel der Gaullisten an sich zu ziehen. Dieser Versuch ist jedoch gescheitert, da das gaullistische Establishment die Kontrolle über den gaullistischen Parteiapparat behaupten konnte, auch wenn es vorübergehend den Vorsitz der UDR an Chirac abtreten mußte. Deshalb versucht Giscard nun, dieses Establishment zu entmachten, in dem er seine Repräsentanten aus dem Staatsapparat entfernt. So benutzte er z. B. einige kritische Äußerungen des ehemaligen Generalsekretärs der U. D. R., Alexandre Sanguinetti im Rundfunk (Europe 1) am 30. Oktober, um diesen aus einem wichtigen Regierungsgremium zu werfen
Auf diese Angriffe reagiert das gaullistische Establishment mit einem Appell an die historischen und geistigen Grundlagen des Gaullismus, „l'autorite de l'Etat, l'unite de la nation et la necessite des reformes" sowie den latenten Antigermanismus breiter Bevölkerungskreise. Während es die geistigen Grundlagen des Gaullismus offen verkünden kann, muß es sich beim Appell an den latenten Antigermanismus aus diplomatischen Gründen Mittelsmänner bedienen, von denen es sich jederzeit distanzieren kann, wenn die politische Situation dies erfordert. Typisch für diese Vorgehensweise ist die Reaktion auf die antideutschen Ausfälle Binoches. Während sich das gaullistische Traditionsblatt „L'Appel" voll hinter den pensionierten General stellte nahm Michel Debre, der Gralshüter der gaullistischen Lehre, in „le Monde" eine nuancierte Haltung ein. Dort schrieb er (hier teils sinngemäß und teils wörtlich wiedergegeben) u. a.: Das deutsch-französische Gipfeltreffen zwischen Giscard und Schmidt sowie die Konferenz von Helsinki haben alle Franzosen daran erinnert, daß es ein deutsches Problem gibt und ihnen gezeigt, daß die Beziehungen mit Deutschland determinierend für ihre Zukunft sind. Das Schicksal Deutschlands und Frankreichs sind sowohl im Guten als auch im Schlechten eng miteinander verbunden. Die Zukunft beider Länder, und damit die Europas, hängt von ihrem gegenseitigen Verständnis und gutem Einvernehmen ab. „Aber die Politik besteht nicht aus Absichten. Die herzlichen Beziehungen zwischen den Regierenden, die guten Gefühle zwischen den Völkern vermögen nicht die Tatsache aus der Welt zu schaffen, daß Frankreich eine Nation ist, daß Deutschland ebenfalls eine Nation Ist. Da die Supranationalität teils ein Traum, teils ein Hirngespinnst ist, ist die Zukunft Frankreichs und die Deutschlands die zweier verschiedener, ja zutiefst unterschiedlicher Nationen, deren häufig widersprüchlichen Forderungen, Interessen und Hoffnungen ... jedesmal neu harmonisiert werden müssen.“ Deutschland und Frankreich haben gemeinsame Wirtschaftsinteressen. Ihre Binnenkonjunktur beeinflussen sich gegenseitig sehr stark. Wenn ein Land in eine Wirtschaftskrise gerät, hat dies unmittelbare Folgen für das andere. Aber beide Länder sind auch wirtschaftliche Konkurrenten, besonders auf Drittmärkten. „Man kann annehmen, daß in Zukunft die Solidarität zwischen ihnen zuneh-men wird, aber auch der Wettbewerb, mit all dem politischen und kulturellen Einfluß, der damit verbunden ist." Beide Länder haben ein gemeinsames Interesse an der Stärkung der wirtschaftlichen und finanziellen Potenz Europas. „Aber die Versuchung ist für die Großunternehmen beider Länder sehr groß, mit amerikanischen, ja selbst mit britischen Großunternehmen zu kooperieren, um sich gegenseitig auszustechen."
Deutschland und Frankreich haben eine gemeinsame Hoffnung auf Sicherheit und Frieden in Europa. „Aber unsere Hoffnung besteht in der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Lage Europas, während die Deutschlands in der Veränderung besteht. Die Teilung Deutschlands irritiert die Deutschen. Die Tendenz zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, oder einfach die Annäherung zwischen ihnen, ängstigt die Europäer, besonders uns Franzosen."
Die Beziehungen zwischen den Völkern werden allein von ihren Interessen bestimmt, nicht von Worten oder von frommen Wünschen. „Jede der beiden Nationen 'verspürt die Versuchung, ihre Macht zu mißbrauchen, wenn sie sich stark fühlt. Das ist die Realität von heute und von morgen, so wie es die Realität von gestern und von vorgestern war. Fliehen wir nicht vor der Wahrheit. Es führt zu nichts." „Um sich gegenüber Deutschland behaupten zu können, muß Frankreich seine Wirtschaftskraft, seine soziale Geschlossenheit und seine nationale Macht entwickeln, damit die Zusammenarbeit zwischen beiden Nationen im Interesse beider liegt." Zwischen 1958 und 1968 war Frankreich dank de Gaulle in der Lage, die deutsche Wirtschaftsmacht auszugleichen. Seit 1968 aber wird das Ungleichgewicht zwischen beiden Nationen wieder größer. Frankreich muß daher alles daransetzen, um mit Deutschland wieder gleichzuziehen
Debres Artikel ist ein intelligenter, weil nuancierter, aber trotzdem massiver Angriff auf die pro-deutsche Politik Giscards. Er leugnet, nicht wie Binoche die Notwendigkeit einer deutsch-französischen Zusammenarbeit, aber er betont gleichzeitig immer wieder die unterschiedlichen Interessenlagen, Hoffnungen und Zielsetzungen beider Länder und leitet daraus die Notwendigkeit, ja Unentbehrlichkeit der nationalstaatlichen Eigenständigkeit ab, denn ohne sie ist Frankreich seiner Meinung nach Deutschland nicht gewachsen. Nun will auch Giscard nicht auf die französische National-staatlichkeit verzichten, wie er immer wieder betont, aber im Gegensatz zu Debre und den orthodoxen Gaullisten ist er bereit, Teile der nationalen Souveränität im Interesse der internationalen, speziell der deutsch-französischen Kooperation, aufzugeben. Hinter dieser unterschiedlichen Einstellung stehen nicht nur unterschiedliche Auffassungen über die Rolle des Nationalstaates im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, sondern ebenfalls unterschiedliche Modernisierungskonzeptionen. Die orthodoxen Gaullisten um Debre wollen die Modernisierung nur im nationalstaatlichen Rahmen, um ihre gesellschaftlichen Auswirkungen mit politisch-administrativen Mitteln unter Kontrolle halten zu können. Die modernen Liberalen streben dagegen die Modernisierung im europäischen und atlantischen, ja weltweiten Rahmen an, wie ihre ständigen Bemühungen um multinationale Kooperation beweisen. Gewiß wollen auch sie ihre gesellschaftlichen Auswirkungen unter Kontrolle halten, aber sie vertrauen dabei mehr auf gesellschaftliche als auch politisch-administrative Steuerungsmittel
Diese Unterschiede zwischen den beiden Hauptfraktionen des Regierungslagers beruhen teilweise auf unterschiedlichen Staats-und Gesellschaftskonzeptionen, teilweise aber auch auf unterschiedlichen sozio-ökonomischen Interessenlagen. Die orthodoxen Gaullisten vertreten yor allem die traditionellen Wirtschaftsgruppen. Diese sind hauptsächlich auf den Binnenmarkt orientiert und noch immer gegenüber der ausländischen, speziell deutschen Konkurrenz nur beschränkt wettbewerbsfähig. Sie bedürfen deshalb nach wie vor des staatlichen Schutzes. Die modernen Liberalen repräsentieren dagegen die dynamischen Wirtschaftsgruppen, die stark exportorientiert sind und den internationalen Wettbewerb nicht zu fürchten haben. Dieser Dualismus existiert im Grunde genommen schon seit dem Beginn der zweiten Industriealisierungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts. Er hat jedoch heute eine neue Qualität erhalten. Bis Mitte der sechziger Jahre vermochten sich die modernen Wirtschaftsgruppen nicht gegenüber den traditionellen Wirtschaftsgruppen durchzusetzen, sondern waren gezwungen, eng mit diesen zusammenzuarbeiten. Ihre staatliche Förderung seit 1944, besonders aber seit 1958 hat sie heute zur dominierenden Kraft innerhalb der französischen Wirtschaft gemacht Die französische Gesellschaft wird jedoch noch immer von den traditionellen Gruppen beherrscht. Daraus erklärt sich der erbitterte Machtkampf zwischen ihnen, der sich politisch in den Auseinandersetzungen zwischen den orthodoxen Gaullisten und den modernen Liberalen widerspiegelt. Infolge der weitgehenden Zweiteilung Frankreichs in zwei fast gleichstarke politisch-gesellschaftliche Blöcke, können sie ihren Machtkampf jedoch nicht offen austragen, weil sie sonst den Verlust der Macht riskieren. Vielmehr sind sie gezwungen, sich indirekt zu bekämpfen. Dafür eignet sich in besondere Weise die Außenpolitik, da sie im Bewußtsein der Massen, und das heißt letzten Endes der Wähler (scheinbar) mit gesellschaftlichen Fragen nichts zu tun hat, sondern über diesen steht. In der Außenpolitik aber spielen das Nationalbewußtsein und die latente Furcht vor Deutschland nach wie vor eine zentrale Rolle. Der Appell an beide bildet somit eine wirkungsvolle Waffe auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich die orthodoxen Gaullisten ihrer erneut bedienen. Erfolg oder Mißerfolg ihrer Strategie wird in erheblichem Maße von der Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen abhängen. Verläuft diese weiterhin trotz aller objektiven Gegensätze etwa in monetären Fragen im großen und ganzen positiv, dann dürfte die neo-gaullistische Strategie scheitern, weil dann der Appell an latente antideutsche Gefühle, Ressentiments und Befürchtungen keinen Widerhall findet. Kommt es jedoch erneut zu offenen Konflikten zwischen Bonn und Paris wie etwa im September 1974 anläßlich der Agrarpreisverhandlungen, dann muß mit einem partiellen Erfolg der gaullistischen Strategie gerechnet werden. Der Ausgang des innerfranzösischen Machtkampfes zwischen orthodoxen Gaullisten und modernen Liberalen hängt somit teilweise auch vom deutschen Verhalten ab. Daran sollten nicht nur die Verantwortlichen in Bonn, sondern auch die federführenden Redakteure in den Zeitungsredaktionen und in den Fernsehanstalten denken.