I. Zur Entstehungsgeschichte
Das mögliche, jedenfalls vorläufige Scheitern der Gipfelkonferenz aller kommunistischen Parteien Europas ist um so bedeutsamer, als es zur Zeit eher so aussieht, als ob das Treffen vor dein 25. Parteitag der KPdSU (Ende Februar 1976) überhaupt nicht mehr stattfinden wird. Allerdings laufen die intensiven gegenwärtigen Versuche der KPdSU wie der SED darauf hinaus, doch noch ein wenigstens symbolisches Zusammentreffen vor dem KPdSU-Parteitag zustande zu bringen
Dieser kurze Beitrag trägt analytisch-zusammenfassenden Charakter. Zahlreiche Einzelprobleme mußten aus Platzgründen ausgespart bleiben. Ein ausführlicher Beitrag soll im Laufe des Jahres 1976 in dieser Zeitschrift folgen.
Bei Berücksichtigung dieser Situation ist daran zu erinnern, daß unter den kommunistischen Parteiführungen seit Ende 1973 darüber diskutiert wird, warum und worüber ein solches Gipfeltreffen abgehalten werden soll. Besonders die KPdSU-Führung war bereits 1973 an einem solchen Treffen interessiert. Jedoch auch Repräsentanten anderer Parteiführungen, so der DKP-Vorsitzende Herbert Mies, mahnten, daß es hohe Zeit sei, nach den Weltkonferenzen der kommunistischen Parteien aus den Jahren 1957, 1960 und 1969 einen neuen, die aktuellen weltpolitischen Probleme untersuchenden „Gipfel" einzuberufen. Für die KPdSU schien es wichtig, die Ergebnisse der Detente seit 1969/70, die Spannungen mit der Volksrepublik China, die veränderten Beziehungen zu den USA und zur Bundesrepublik Deutschland, die formale und inhaltliche Präzisierung des Konzepts der „friedlichen Koexistenz" und damit das kompliziert gewordene Verhältnis zur amerikanischen Präsenz in Europa sowie zur NATO, die neue internationale Rolle der DDR und die sich wandelnden weltweiten politischen und wirtschaftspolitischen Verpflichtungen der Sowjetunion im Rahmen einer kommunistischen Gipfelkonferenz zu erläutern und damit die eigene politische Linie absichern zu lassen. Die KPdSU-Führung wollte also vor allem außenpolitische — und zwar weltweite wie europapolitische — Fragen in den Mittelpunkt stellen. Folgerichtig sah die Moskauer Zeitplanung während des Jahres 1974 und des ersten Halbjahres 1975 vor, möglichst bald nach Abschluß der KSZE-Beratungen in Helsinki (Juli 1975) ein kommunistisches Gipfeltreffen abzuhalten. Für die KPdSU drängte die Zeit — nicht zuletzt auch im Hinblick auf ihren bevorstehenden 25. Parteitag. Diesem Zeitdruck beugte sich die SED, die z. T. gegen den gereizten Widerstand be-sonders der Vertreter Jugoslawiens alles in ihren Kräften Stehende unternahm, und auch noch weiterhin unternimmt, um die Vorbereitungen für die Konferenz voranzutreiben
Für die west-und südosteuropäischen kommunistischen Parteiführungen, vor allem für die italienischen, spanischen und französischen, jedoch auch für die jugoslawischen Kommunisten, stellte sich die politische Situation dagegen gänzlich anders dar. Für diese Parteien wurde es zunehmend wichtiger, die innenpolitischen und innerparteilichen Kräfteverhältnisse in ihren eigenen Gesellschaften sowie deren europapolitische Konsequenzen im Kreise der „Bruderparteien" zu diskutieren. Immer weniger vermochten insbesondere die Italiener und Franzosen seit Ende der sechziger Jahre einzusehen, daß sie sozusagen blind der Einschätzung der westeuropäischen politischen Situation durch die KPdSU zu folgen hätten. Je stärker das politische Gewicht der KPI in Italien und der KPF in Frankreich wurde, desto mehr fühlten sich deren Parteiführungen in der eigenen Beurteilung der Lage, die von der der Sowjets abwich, bestätigt.
Die europäischen kommunistischen Parteiführer, jedenfalls die „Autonomisten" unter ihnen, sahen deshalb dem Gipfeltreffen und besonders der Zeitfrage mit erheblich größerer Gelassenheit entgegen als die KPdSU und die SED. Sie konnten dies um so eher, nachdem sie sich in den Jahren 1974/75 zu einer Reihe von bilateralen Unterredungen zusammengefunden hatten. So trafen sich Vertreter der KPI mit Abgesandten der KPF, der KP Spaniens und dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ); so fanden Begegnungen zwischen jugoslawischen, rumänischen und japanischen Kommunisten statt.
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß in den Jahren 1973 bis 1975 Spitzengespräche nicht nur der Autonomisten untereinander geführt wurden. Es begegneten sich u. a. auch Politbüromitglieder der KPdSU (Kirilenko) und der KPI (Berlinguer); Politbüromitglieder der SED (Axen, Hager) trafen im September 1975 mit Vertretern der KPI (Berlinguer) und im Juli 1975 mit jugoslawischen Parteifunktionären zusammen.
Ohne Zeitdruck operien wollen insbesondere die Italiener und die Jugoslawen, die inzwischen Wege gefunden haben, nicht nur untereinander in einem intensiven Gedankenaustausch einzutreten, sondern auch ihre eigenen innenpolitischen Probleme ohne die Ratschläge der KPdSU immer stärker in den Griff zu bekommen.
Die skizzierten unterschiedlichen Blickrichtungen haben sich u. a. in der Frage „Weltkonferenz" contra „Europäische Konferenz" niedergeschlagen. Bei den unter diesen Stichworten zu erwartenden Diskussionen geht es keinesfalls um Scheinprobleme. Dies gilt insbesondere für die KPdSU, die zu Recht glaubt, ihren Führungsanspruch auf einem Weltkongreß eher durchsetzen zu können als auf einer europäischen Konferenz. Denn nur auf einem Welttreffen hat sie gewisse Chancen, die öffentliche Verdammung Chinas zu erreichen. Gerade eine gemeinsame Anprangerung des „Maoismus" war jedoch schon seit den ersten Gesprächsrunden Ende 1974/Anfang 1975 immer unwahrscheinlicher geworden.
Die KPdSU zögerte dann allzu lange, welcher Konferenz sie unter den gegebenen Umständen den Vorzug geben sollte. Wahrscheinlich schätzte sie das Kräfteverhältnis unter den kommunistischen Parteien der Welt falsch ein. Diese Fehleinschätzung wurde dadurch begünstigt, daß bis zum Sommer 1975 eine stattliche Reihe anderer kommunistischer Parteien für die Abhaltung einer Weltkonferenz eintrat. Diese können allerdings fast ausnahmslos als „Moskau-treu" bezeichnet werden. Es handelt sich u. a. um die kommunistischen Parteien Polens, der CSSR, Bulgariens, Un-garns, der DDR, Dänemarks, Irlands, Österreichs und der USA, weiterhin um zehn arabische und 24 süd-und mittelamerikanische kommunistische Parteien. Zählt man alle Organisationen, die sich im Lauf der Jahre 1973 bis 1975 für eine Weltkonferenz aussprachen, zusammen, so kommt man auf die überraschend hohe Zahl von 55
Im Laufe des Jahres 1975 wurde dann mehr und mehr deutlich, daß, wenn überhaupt, eine europäische kommunistische Gipfelkonferenz und — zunächst — keine Weltkonferenz abgehalten werden würde. Dennoch hat die KPdSU es bisher wohl nicht aufgegeben, auch ihr Fernziel, die Weltkonferenz, zu verfolgen. Um so bedeutungsvoller ist es, daß man sich in Moskau zunächst für den europäischen Gipfel entschieden hat — bedeutungsvoll deshalb, weil damit bereits die weltweit sichtbare Verurteilung Chinas unwahrscheinlich geworden ist; bedeutungsvoll auch deshalb, weil der Kreml offenbar erkannt hat, wie stark die autonomistischen Tendenzen der wichtigsten kommunistischen Parteien in West-, Nord-und Südeuropa inzwischen geworden sind und daß es zunächst darauf ankommen müsse, mit diesen Parteien eine — wenigstens symbolische — Einheitsfront noch vor dem 25. Parteitag der KPdSU zu bilden.
Zu der letzten gesamteuropäischen Konferenz der kommunistischen Parteien, die im April 1967 in Karlsbad stattgefunden hatte, hatten 24 der damals in Europa bestehenden 31 kommunistischen Parteien Delegationen entsandt. Nicht erschienen waren seinerzeit die Vertreter Jugoslawiens, Rumäniens, Albaniens, Hollands und Norwegens. Schweden nahm nur als Beobachter teil. Auf der Moskauer Welt-konferenz von 1969 waren 75 kommunistische Parteien vertreten — 36 fehlten, darunter fünf regierende: die KPs Albaniens, der Volksrepublik China, Nordkoreas, Nordvietnams und Jugoslawiens. In der Gruppe der nicht-regierenden kommunistischen Parteien fiel die Abwesenheit Japans auf. Schließlich haben nur 61 der 75 teilnehmenden Parteien das Moskauer Schlußdokument unterschrieben.
Neben zahlreichen bilateralen und multilateralen Vorbesprechungen in den Jahren 1973 bis 1975 sind als direkte Vorbereitungstreffen für einen europäischen Gipfel der kommunistischen Parteien die Zusammenkünfte von Warschau (Oktober 1974) und Budapest (Dezember 1974) anzusehen. Nach Warschau hatten die Polen und Italiener zusammen eingeladen. 28 Delegationen waren dieser Einladung gefolgt; nicht erschienen waren lediglich die Albaner, die Holländer und die Isländer. Auf dem Budapester Treffen wurde die Bildung von „Arbeitsgruppen" zur Vorbereitung der Konferenz beschlossen. Diesen Arbeitsgruppen gehörten die Vertreter von zunächst 16 und 20, schließlich, seit Mai 1975, von acht kommunistischen Parteien an. Von letzteren konnten ursprünglich
Als Hauptthema für die Konferenz kristallisierte sich heraus: „Der Kampf für Frieden, Sicherheit, Zusammenarbeit und sozialen Fortschritt". Hinter dieser ebenso komplexen wie vagen Formel verbarg sich, wie die Geschichte der Interpretationen vor allem während des Jahres 1975 im einzelnen belegt, eine Fülle von Auslegungsmöglichkeiten, die von den einzelnen Parteiführungen in unterschiedlichem Maße auch voll ausgeschöpft wurden. Die fast leerformelhaft anmutende Parole scheint jedoch der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle einigen konnten, zu sein.
Die Arbeitsgruppen (bzw. das Plenum) trafen sich zum erstenmal Ende 1974 unmittelbar nach dem Budapester Treffen, dann insgesamt sieben Mal, nämlich Mitte Februar, vom 8. bis 10. April, Mitte Mai, Anfang und Mitte Juli, vom 9. bis 10. Oktober und Mitte November 1975 (in unterschiedlicher Besetzung und Stärke) in Ost-Berlin — der Stadt, die auch als Konferenzort vorgesehen ist. Nicht zuletzt durch die Wahl des Konferenzortes wünschte Moskau die Rolle der SED als der für die Konferenz federführenden Partei auf-zuwerten. Nach dem internationalen politischen Durchbruch der DDR seit 1973 waren maßgebliche Politbüromitglieder der SED immer wieder in Moskau vorstellig geworden und hatten verlangt, der gewachsenen Bedeutung nicht nur des DDR-Staates, sondern auch der SED als einer der mitgliederstärksten Parteien Europas (1975: rd. 2 Millionen Mitglieder) Rechnung zu tragen. Während die Bestimmung des Konferenzortes sozusagen symbolisch dem internationalen staatlichen Gewicht der DDR entsprach, besaß und besitzt die Tatsache, daß die SED unter Leitung von Politbüromitglied Hermann Axen den Delegationen inzwischen fünf Fassungen eines „Dokumentes" unterbreitete, die bisher freilich sämtlich keine Zustimmung fanden, eine faktisch-politische Bedeutung. Nicht zuletzt ist dadurch auch der fehlende politische Spielraum der SED im europäischen Rahmen, also unter den kommunistischen Parteien Europas, allgemein sichtbar geworden.
Dem Vernehmen nach ist der Entwurf des Dokuments, das in seiner ersten Fassung rd. 50 Seiten umfaßte, auf der Sitzung der Arbeitsgruppen schon im Oktober 1975 auf 12 bis 15 Seiten geschrumpft
II. Die unterschiedlichen politischen Standorte
Die zu unterschiedlichen Zeitpunkten von unterschiedlichen Interessenten in den Jahren 1973 bis 1975 hervorgehobenen Probleme, die auf der Konferenz angesprochen bzw. ausgeklammert werden müßten, können in allen ihren Nuancierungen, Neueinschätzungen der Lage und Neuformulierungen hier nicht im Detail, vor allem nicht in ihrem historischen Ablauf und ihren politischen Zusammenhängen dargestellt werden. Es kann sich vielmehr nur darum handeln, das Argumentationsprofil der wichtigsten Wortführer unter den kommunistischen Funktionären herauszuarbeiten und die zwei Gruppen von Problemkomplexen, nämlich die prozeduralen und die politisch-inhaltlichen, aufzuweisen.
Unter Berücksichtigung dieser begrenzten Aufgabenstellung stehen sich zweifellos die KPdSU und die SED als Wortführer der Masse der Parteien des Ostblocks auf der einen Seite und die kommunistischen Parteien Italiens und Spaniens sowie, in etwas unterschiedlicher Weise, Jugoslawiens und, weniger profiliert, Rumäniens auf der anderen Seite gegenüber. Die Rolle der KPI als Hauptgegenspieler Moskaus im allgemeinen und die politische Strategie des „lateinischen" oder „Euro-Kommunismus" hatten sich entscheidend dadurch gefestigt, daß der Generalsekretär der spanischen KP, Santiago Carillo, schon im Sommer 1975 den Vorstellungen Belinguers zugestimmt hatte
Die ausdrückliche Forderung nach dem eigenen, nationalen Weg zum Sozialismus einigt die Autonomisten. Sie bekennen sich ferner zu den konstitutionellen Grundrechten von der Meinungs-bis zur Religionsfreiheit, zur weiteren — über die Ausdehnung der Partizipationsrechte vorzunehmenden — Demokratisierung der westlichen Industriegesellschaften, zur Autonomie der Gewerkschaften und zum politischen Pluralismus zwischen Regierung und Opposition.
III. Die Position der KPdSU und der SED
Obwohl die SED als deutschlandpolitischer Gegenspieler der SPD ein Interesse daran haben müßte, sich gegenüber den Ansprüchen der KPdSU wenigstens partiell durchzusetzen und dadurch ein eigenes Profil zu gewinnen, hat ihre Verhandlungsstrategie unter H. Axen und ZK-Sektretär Paul Markowski, dem langjährigen Leiter der Abteilung „Internationale Beziehungen" im Zentralkomitee der SED, in den Monaten Februar bis Dezember 1975 keine Ansätze einer eigenen Linie erkennen lassen. Die Positionen der KPdSU und der SED werden deshalb im folgenden stets zusammen behandelt. 1. Prozedurale Fragen Gemäß dem Diskussionsstand bei der Vorbereitung des Gipfeltreffens sind prozedurale und inhaltlich-politische Fragen zu unterscheiden. Hinsichtlich des Prinzips der „friedliehen Koexistenz" gehen beide Fragenkomplexe ineinander über. Dies zeigt sich bei den weiter unten wiedergegebenen Zitaten aus einem Entwurf der SED ebenso wie bei den Ausführungen des Generalsekretärs der französischen kommunistischen Partei. —-Die KPdSU-Führung strebte nach der Schlußakte von Helsinki, gewissermaßen als Analogon zu dieser, für das Gipfeltreffen vor allem ein Dokument an („Schlußdokument''), in dem formal die ideologische und politische Generallinie für die nähere Zukunft festgeschrieben werden sollte. Dabei sollte vor allem an der Formel von der „Einheit des Weltkommunismus" festgehalten werden. Das Schlußdokument sollte ferner den historischen Legitimationsanspruch und die aktuelle Führungsrolle der KPdSU für den internationalen Kommunismus bestätigen. Es sollte also — nach der Schlußakte von Helsinki, die, sowjetischer Auffassung zufolge, in starkem Maße die Handschrift des „Staatsmannes" Breshnew trägt — einen weiteren Erfolg der sowjetischen Außenpolitik herbeiführen. — Das „Prinzip der friedlichen Koexistenz", dessen Auslegung nicht nur westlichen Analytikern Schwierigkeiten bereitet, sollte auf dem Gipfeltreffen in seinen verhaltensregeln-den Aspekten präzisiert werden. Die strategisch-taktische Umsetzung dieses Prinzips besitzt natürlich im wesentlichen politisch-inhaltliche Aspekte. Insbesondere ist die Frage, ob die Lage in Westeuropa künftig in Richtung auf Stabilität oder auf Verschärfung der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Krise konzipiert werden soll, zu klären. Von solchen inhaltlichen Fragen abgesehen, mußte es der KPdSU darauf ankommen, den europäischen Kommunisten überzeugender als bisher die „revolutionären" und die auf Entspannung ausgerichteten Elemente des Prinzips der „friedlichen Koexistenz" zu erläutern. Damit sind formale Strukturen Rieses Prinzips auf Parteiebene — dem „sozialistischen Internationalismus" — ebenso angesprochen wie auf der staatlich-völkerrechtlichen Ebene, wo es sich um den Grad an völkerrechtlicher Verbindlichkeit (Kodifizierbarkeit) dieses Prinzips, auch — und gerade — vor den kritischen Augen westlicher Kommunisten, handelt. Mit „formalen Strukturen" sind die verschiedenen Elemente bzw. Dimensionen dieses Prinzips, ihr Verhältnis in bestimmten Zeitabschnitten zueinander, kurz: die Kalkulierbarkeit des Grades ihrer Anwendung gemeint
Gerade diese Ansprüche erfüllten die von der SED vorgelegten Formulierungen, soweit sie sich auf das Prinzip der „friedlichen Koexistenz“ bezogen, nicht. Der für die im Oktober 1975 in Ost-Berlin tagende Redaktionskommission ausgearbeitete Entwurf besagte zum Thema „Friedliche Koexistenz": „Für die Kommunisten bedeutet die friedliche Koexistenz nicht die Aufrechterhaltung des Status quo. Sie sind überzeugt, daß der Klassenkampf mit dem Triumpf des Sozialismus in Europa und der Welt enden wird. Friedliche Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Systeme bedeutet Kampf auf internationaler Ebene, in verschiedenen Domänen, mit Ausnahme des Krieges."
Diese hier nur in einer Auswahl aufgeführten und nicht gewichteten Einzelkomplexe deuten bereits darauf hin, daß es der KPdSU-Führung bei der geplanten Konferenz im wesentlichen darauf ankam, ihren Führungsanspruch auf Parteiebene erneut durchzusetzen und zu bestätigen sowie vor allem die westeuropäischen kommunistischen Parteien und den BdKJ zu disziplinieren
IV. Die Position der autonomistischen Parteien
1. Prozedurale Fragen — Vor allem in der jugoslawischen Partei, in geringerem Maße auch in der KPI und in der KP Spaniens, herrschte von Anfang an eine starke Abneigung gegen ein nach dem Willen der KPdSU homogenisiertes, für alle kommunistischen Parteien gleichermaßen verbindliches „Schlußdokument"
Es ist kein Zufall, daß die Vertreter des BdKJ, die im Umgang mit Moskau seit 1948 die meisten Erfahrungen gesammelt haben, auf solche prozedurale Fragen ein so starkes Gewicht legen. Für Jugoslawien ist die Beziehung zur Sowjetunion aus ideologischen Gründen komplizierter als für die großen kommunistischen Parteien des Westens. Ein isoliertes bilaterales Verhältnis kann es hier schwerlich geben, weil bereits die marxistischleninistische Ideologie mit ihren zahlreichen Verhaltensregeln das Verhältnis der beiden Staaten zueinander sowie zum gesamten Ostblock enger gestaltet als etwa die Beziehungen der KPdSU zur KPL Die strikte Weigerung, sowjetische Verhaltensregeln a priori zu akzeptieren, ist auch als Ausdruck der stärkeren Bedrohung Jugoslawiens durch die Sowjetunion zu begreifen
Im einzelnen befaßt sich die Führungsgruppe um Berlinguer vor allem mit folgenden theoretischen und politisch-praktischen Gesichtspunkten: — Der Suche nach neuen Formen der Anpassung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie an die wichtigsten gesellschaftspolitischen Probleme. Dabei geht etwa Segre durchaus davon aus, daß die parlamentarische Demokratie eine Zukunft besitzt, sofern es ihr gelingt, die „Basis des Konsensus zu verbreitern und mit neuen Formen zu organisieren"
Damit sind die — bei der Vorbereitung des/Gipfels so kontroversen — inhaltlichen Fragen der Interpretation von „Demokratie“ und „Sozialismus" klar angesprochen. — Eng mit dieser innenpolitischen Konzeption hängt das (bereits erwähnte) Bekenntnis zu den Freiheitsrechten des Individuums (besonders Meinungs-und Religionsfreiheit) sowie zu einem pluralistischen demokratischen Sozialismus zusammen. — Im außenpolitischen Raum akzeptiert Berlinguer EG und NATO. Ein einseitiger Austritt Italiens aus diesen Organisationen kommt für die KPI (spätestens seit 1974) nicht mehr in Frage. Hinsichtlich der positiven Einschätzung der EG hat der italienische KP-Führer die Jugoslawen und die Führungsgruppe der KPF um Georges Marchais überzeugt. Hinsichtlich der NATO tritt die KPF, im Unterschied zur KPI, für eine asymmetrische Abrüstung ein. Andererseits hatte sie selbst, bereits 1965, einen einseitigen Auszug Frankreichs aus der Atlantischen Allianz abgelehnt
— Hinsichtlich der Frage der „Machtergreifung" oder Beteiligung an der Macht zeigen die italienischen, französischen wie die spanischen KP-Führer eher Gelassenheit. Sie wenden sich gemeinsam gegen das — selbst in der KPdSU umstrittene — Konzept der sofortigen Ausnutzung jeder Gelegenheit, die sich zur Machtübernahme oder -beteiligung an den westeuropäischen Regierungen bietet.
V. Der kleinste gemeinsame Nenner
Die vielfältigen Einwände der west-und der südosteuropäischen Parteiführungen gegen das von Moskau und Ost-Berlin geplante Gipfeltreffen hat die Vorgespräche immer stärker zu einem Anlaß für das Aussprechen von Divergenzen als zu einem Einigungsprozeß werden lassen. Nur noch Reste eines Solidaritätsempfindens hinderten offenbar maßgebliche Sprecher der west-und südosteuropäischen Parteien in häufig gewährten Interviews daran, das völlige Fiasko der bisherigen Vorbereitungen und die Unakzeptierbarkeit der von der SED fertiggestellten Entwürfe für das „Schlußdokument" offen einzugestehen. In der Tat: Wenn die verschiedentlichen Auslassungen der italienischen Parteiführer Enrico Berlinguer, Sergio Segre, Gian Carlo Pajetta, des Mitgliedes des Exekutivkomitees (Politbüros) der KP Spaniens, Manuel Azcärate, des französischen KP-Generalsekretärs Georges Marchais sowie des ZK-Mitgliedes und Leiters der Abteilung „Internationale Beziehungen" im ZK-Sekretariat der KPF, Jean Kanapa, wenn ferner die Verlautbarungen des Mitgliedes des Exekutivkomitees des BdKJ, Aleksander Grlickov, analysiert werden, so wird deutlich: Fast alle von der SED in den bisher vorgelegten Entwürfen angesprochenen Einzelfragen sind strittig. Was bisher unter dem Prinzip des Konsensus erhalten geblieben ist, ist minimal. Zu den Punkten, über die wenigstens noch eine gewisse Einmütigkeit herrscht, gehören vermutlich einmal die geplante Dreigliederung des Dokuments in: a) Probleme der Entspannung, der Sicherheit, der friedlichen Koexistenz und des internationalen Klassenkampfes;
b) Probleme des Sozialismus, der Demokratie und des sozialen Fortschritts heute;c) die Rolle der KPdSU und der europäischen kommunistischen Parteien.
Zum Minimalkonsensus gehört, zweitens, die von Moskau indessen akzeptierte Unabhängigkeit der einzelnen, vor allem westeuropäischen Parteien, wenn diese Unabhängigkeit auch nach wie vor auf der Grundlage nicht mehr des „sozialistischen Internationalismus“, sondern, wie es im Novemberentwurf abgeschwächt heißt, auf der „freundschaftlichen Zusammenarbeit" beruhen soll
Zu diesen Problemen gehört, drittens, statt der — offenbar nicht mehr vorhandenen — gemeinsamen „ideologischen Basis" und eines „Aktionsprogrammes" die Suche nach nicht verbindlichen, jedoch mehr oder minder lokker formulierten „konkreten Vorschlägen" für künftiges gemeinsames Handeln. In diesem Zusammenhang mag eine Formulierung aus dem von der SED für die Tagung der Redaktionskommission am 18. und 19. November 1975 vorgelegten Entwurf zitiert werden: Als Ziel wird definiert: „Ausarbeitung entsprechender Vorschläge zur Verstärkung und Vertiefung der Entspannung in Europa."
Zu den Punkten möglicher Übereinkunft zum gegenwärtigen Zeitpunkt gehört schließlich die — am wenigsten konkret verpflichtende — Unterstützung der „Befreiungsbewegungen" vor allem in Afrika und Asien.
Bereits ein erster Blick auf diesen Minimalkonsensus verdeutlicht, daß die KPdSU mit einer solchen voraussichtlichen Bilanz die Konferenz nicht hat eröffnen können, ohne ein Kommunique zu produzieren, das ihr einen schweren internationalen Prestigeveflust eingebracht hätte. Dies wird noch deutlicher, Wenn die vier Punkte, über die, jedoch auch nur durch ihren formalen Charakter und ihre vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten bedingt, unter den Parteien einigermaßen Übereinstimmung zu bestehen scheint, mit den ursprünglichen Zielen der KPdSU verglichen werden. Lediglich die Tatsache, daß auch das Nicht-Zustandekommen des europäischen Gipfels für Breshnew persönlich ein zu großer Prestigeverlust wäre, könnte die Konferenz — mit wenigstens einer symbolisch gezeigten Solidarität — Ende Januar oder Anfang Februar 1976 doch noch möglich machen.
Auch die Autonomisten können an einer Konferenz, die einen solchen Minimalkonsensus produziert, schwerlich interessiert sein. Denn ihre eigenen prozeduralen und politisch-inhaltlichen Vorstellungen fänden in dem voraussichtlichen Kommunique ebenso wenig Berücksichtigung wie die der KPdSU und der SED.
VI. Zusammenfassung
1. Gegenwärtig scheint die Realisierung einer europäischen kommunistischen Gipfelkonferenz in weite Ferne gerückt. Zahlreiche Beobachter rechnen nicht vor April oder Mai 1976 — also erst nach dem 25. Parteitag der KPdSU — mit dem Zustandekommen der Schlußsitzung