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Hochschulreform als „Unruheherd" | APuZ 1-2/1976 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1-2/1976 Länderpartikularismus oder kooperativer Bildungsföderalismus? Kulturhoheit im Wandel Hochschulreform als „Unruheherd" Artikel 1 Selbstbestimmung statt Mitbestimmung an der Universität Von der DefizitVerwaltung zum marktorientierten Bildungsangebot

Hochschulreform als „Unruheherd"

Rainer Eisfeld

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zwei Entwicklungen lösten die Hochschulgesetzgebung der Bundesländer seit 1968/69 aus. Einerseits wurden die westdeutschen Universitäten in ihrer Verwaltungsund Ausbildungsstruktur (Rektoratsverfassung, Fakultätsund Ordinarienprinzip, fehlende Systematik des Lehrangebots) durch Wirtschaft und Parteien zunehmend als ineffektiv eingestuft. Andererseits wurden die Verhältnisse im universitären Personal-, Entscheidungs-und Lehrbereich (Ordinarienprinzip, fehlende Mitbeteiligung der übrigen Gruppen, diskussionslose Massenvorlesung, Orientierung von Lehrmeinungen'an herrschenden sozialen Interessen und Vorstellungen) in wachsendem Maße von Studenten und Assistenten als undemokratisch kritisiert. Der Möglichkeit nach standen die schließlich verwirklichten Ansätze einer Hochschulreform damit im -Zeichen einer ebenso institutionellen wie inhaltlichen Infragestellung überkommener Positionen. Tatsächlich aber hat sich die Tendenz durchgesetzt, institutionell und inhaltlich den Status quo ante der Macht-und Privilegienverteilung offen oder versteckt wieder einzuführen. Wo dennoch versucht wird, Hochschulreform weiter zu betreiben, gilt sie als der permanente „Unruheherd". Gegen die wenigen Fachbereiche (von ganzen Universitäten . kann gar nicht die Rede sein), die nach wie vor damit Ernst machen, werden zwei Hauptvorwürfe erhoben: institutionell der Vorwurf der Gleichmacherei zu Lasten der Professoren, inhaltlich der Vorwurf der Indoktrination zugunsten marxistischer Lehren. Gleichzeitig bietet sich inhaltlich der Rückgriff auf antisozialistische Beschwörungsformeln an, weil er auf der fehlenden Vertrautheit der Öffentlichkeit mit der kritischen Erörterung sozialistischer Programme fußt, dem eigenen „Lager" zur Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner verhilft und den politischen Kontrahenten zum Verfassungsfeind stempelt. Der „Radikalenerlaß" fördert diese Tendenz. Unter seiner Geltung wird die Einbeziehung marxistischer Ansätze zum beruflichen Risiko. Verdächtigungen und Gesinnungsausforschung, Angst und Anpassungsbereitschaft breiten sich aus und fördern die Abneigung gegen und Furcht vor Reformen überhaupt.

I. Vorbemerkung

In einem für die Angehörigen der westdeutschen Hochschulen beängstigenden Maße reagiert die breite Öffentlichkeit vornehmlich mit Unverständnis und Unruhe auf die Universitätsentwicklung seit 1968. Diese Universitätsentwicklung wurde ausgelöst durch fünf zwar miteinander zusammenhängende, aber keineswegs deckungsgleiche oder in gleicher Weise zu bewältigende Probleme:

1. Im Verwaltungsbereich war die Universitätsspitze — der ehrenamtliche, maximal auf zwei Jahre gewählte Rektor, zusammen mit dem Senat — gegenüber den Fakultäten zu schwach, die Kontinuität zu gering und die Personal-und Sachmittelverwaltung zu ineffektiv. 2. Im Organisationsbereich waren die klassischen „großen" Fakultäten (besonders die Philosophische Fakultät) immer heterogener geworden, die Zahl der in ihnen zusammengefaßten Sachgebiete, Institute und Studenten immer mehr angeschwollen und eine Problemrangfolge oder auch nur -einsicht bei den divergierenden Interessen nicht mehr möglich. 3. Im Personalbereich führte das Ordinarien-prinzip dazu, daß der „ordentliche öffentliche Professor" an der Spitze der Hochschullehrer-hierarchie im Berufungsverfahren die Personal-und Sachmittel „seines" Instituts mit der Landesregierung aushandelte, die addierten erufungszusagen den undiskutierten Kern der iniversitätshaushalte ausmachten, der Ordinarius nach den verschiedensten Gesichtspunkten Assistenten um sich gruppierte und diese Institutsmitarbeiter von ihm persönlich abhängig waren.

4. Im Entscheidungsbereich wurden weder Studenten noch Assistenten noch Nichtordinarien noch nichtwissenschaftliches Personal wirksam beteiligt. Sie wurden von Beschlüssen betroffen und durch sie gebunden, wirkten aber nicht an ihrem Zustandekommen mit.

Die Ordinarien tagten als „die" Fakultät und .der" Senat unter sich und ohne Öffentlichkeit. 5. Im Lehrbereich schließlich hielt der Ordinarius • Frontalunterricht" in Gestalt der Massenvorlesung ab, mit der sich den Studierende bei Ausbildungsanfang konfrontiert sah und in der er versuchte, Zuhören, Verstehen und Mitschreiben in Einklang zu bringen. Die Vorlesung verlief diskussionslos; eine Infragestellung der Gedankenführung des Vortrags (und des Vortragenden) war nicht vorgesehen. Geregelte Ausbildungsordnungen, eine durchschaubare Systematik des Lehrangebots, seine wechselseitige Abstimmung auf Fakultätsebene existierten nicht. Die Ausbildung war ineffektiv.

Rein unter Effektivitätsgesichtspunkten war also das Ausbildungsprinzip ebenso obsolet wie das Rektorats-, das Fakultätsund das Ordinarienprinzip. Das letztere, das so massiv den Personal-, Entscheidungsund Lehrbereich prägte, war aber auch unzweifelhaft undemokratisch, und hier setzte die weiterreichende Kritik von Studenten und Assistenten an. Sie erstreckte sich nicht nur auf den Entscheidungs-, sondern auch auf den Lehrbereich, und sie galt dort — besonders in den Geisteswissenschaften — nicht nur der problematischen Form, sondern auch dem problematisch werdenden Inhalt: Ausgehend von der Möglichkeit direkter oder indirekter Orientierung der Lehre an herrschenden sozialen Interessen wurde die Einbeziehung marxistischer Ansätze, vertreten durch mar-xistische Wissenschaftler, gefordert.

Die Hochschulgesetzgebung nach 1968 ging in den sozial-und den christdemokratisch regierten Ländern an die aufgezählten Probleme in sehr unterschiedlicher Weise heran. Folgende zusammenfassende Feststellungen lassen sich treffen:

1. Im Verwaltungsbereich wurde die Rektorats-durch die Präsidialverfassung ersetzt (mit einem hauptamtlichen, auf fünf bis sieben Jahre gewählten Präsidenten an der Spitze) und die Befugnisse des Senats sowie seiner Ausschüsse gestärkt.

2. Im Organisationsbereich wurden die Fakultäten durch kleinere, von der Fächerzusammensetzung her homogenere Fachbereiche abgelöst. 3. Im Personalbereich wurde das Ordinarien-prinzip grundsätzlich abgeschafft, für Institute eine Direktorialverfassung eingeführt, die Personal-und Sachmittelverwaltung den Fachbereichen zugewiesen und die Berufungsverhandlungen reduziert auf die Gehaltsvereinbarung. 4. Im Entscheidungsbereich wurde das Prinzip der Gruppenvertretung in den Selbstverwaltungsgremien eingeführt, dabei das Übergewicht der Professorengruppe gewahrt und Zahl wie Stimmberechtigung der übrigen Gruppenvertreter in unterschiedlicher Weise gestaffelt. Die politische Demokratisierung in Form der Wahlrechtserweiterung hatte in der Regel bewirkt, daß neue Parteien und neue Personen Einfluß in . Parlament’ und . Regierung'erlangten. Der hochschulpolitische Demokratisierungsansatz in Form der Gruppenbeteiligung und Paritätenfestschreibung für die Gre-mienzusammensetzung führte dazu, daß seine Verwirklichung entscheidend abhing von der Einsicht und dem Einsatz derselben Personen, deren Einfluß gemindert wurde. Dieser Einsatz erfolgte nur höchst begrenzt, zumal das neue Entscheidungsgefüge sich als anpassungsfähig erwies an den Status quo ante der Macht-und Privilegienverteilung.

5. Im Lehrbereich sind die Änderungsansätze steckengeblieben. Die anhaltenden Probleme zunächst für die Universitäten, die mit einer Ausbildungsreform ernst zu machen versuchen, heißen:

a) Ungünstige Betreuungsverhältnisse, d. h. die hohe Zahl der Lernenden, die pro Lehrenden anfällt;

b) überdurchschnittliche Belastung der Lehrenden, weil didaktische Konzepte fehlen und erst erarbeitet werden müssen; weil die an deutschen Hochschulen ungewohnte Zusammenarbeit der mühsamen Einübung bedarf; und weil Übungen, Kurse und Projekte mehr Zeit und Nerven kosten als Vorlesungen und Seminare. Dazu kommt die unzureichende Tutorenzahl, die noch nicht einmal in den Einführungsveranstaltungen die Bildung von genügend kleinen Arbeitsgruppen zuläßt. Diejenigen Fachbereiche oder Hochschulen, die sich den Problemen der Ausbildungsreform zu stellen versuchen, sind jedoch in der Minderheit. In der Regel schlägt die skizzierte Entwicklung im Entscheidungsbereich auf die Lehrund Prüfungsbedingungen durch. „Reformierte“ Universitäten, an denen eine Ordinarienpolitik betrieben wird, müssen zwangsläufig hinter die Erwartungen der Öffentlichkeit zurückfallen: ausbrechende Konflikte eskalieren, statt eindämmbar zu werden. Weil die öffentlichen Darstellungen derartiger Konflikte sich auf die Folgen konzentrieren statt auf die strukturellen Ursachen, werden die anhaltenden Schwierigkeiten ausschließlich einer „linken", „radikalen" Minderheit angelastet. Das fördert die Abneigung gegen und Angst vor Reformen überhaupt. Hochschulreform gilt als der permanente „Unruheherd" — ein Unruheherd, der (so der Tenor der Auseinandersetzung) endlich beseitigt werden müsse, indem man aufmüpfige Studenten unter mehr Leistungsdruck setze, Professoren — da sie angeblich als einzige über Sachkompetenz verfugten — in den akademischen Selbstverwaltungsgremien das Heft wieder in die Hand drücke und umstürzlerische, nämlich „linke", Ideologien aus den Hochschulen verbanne — kurz, indem man das Rad wieder zurückdrehe in die Jahre vor 1968.

Inzwischen scheint man auf dem besten Wege, dies alles nicht nur zu proklamieren, sondern auch zu erreichen — folglich dafür zu sorgen, daß hochschulreformerische Unruhe sich nicht nur nicht ausbreiten kann, sondern zunehmend zurückgedämmt wird. Um so dringlicher ist eine knappe Einschätzung der beiden zentralen Vorwürfe, die bei den konservativen Angriffen gegen die Hochschulreform immer wieder erhoben werden: Institutionell der Vorwurf der Gleichmacherei zu Lasten der Professoren, inhaltlich der Vorwurf der Indoktrination zugunsten marxistischer Lehren. Daß diese Vorwürfe nicht so knapp formuliert, sondern möglichst „eingängig" gefaßt und ausgeschmückt werden, versteht sich von selbst.

II. Partizipation als Strukturprinzip

Institutionelles Prinzip der reformierten Hochschulgesetzgebung war — wie skizziert — eine Machtverschiebung weg von der Gruppe der Professoren. Die Fachbereichskonferenzen wurden nach universitären Gruppen (Studenten, Assistenten, sonstige Mitarbeiter, Hochschullehrer) zusammengesetzt und nicht mehr ausschließlich von Professoren gebildet. Der Professor als Instituts-oder Seminardirektor qua Amt (der bisherige Ordinarius) wurde gestrichen; allenfalls möglich war noch der Professor als geschäftsführender Direktor einer Betriebseinheit qua Wahl. Dabei ging es zu keinem Zeitpunkt darum, vorhandene fachliche Qualifikationsunterschiede zu leugnen. Worum es ging, war die Konsequenz aus der Tatsache, daß Forschung und Lehre unter heutigen Bedingungen für die übergroße Mehrheit der Studierenden längst nicht mehr in der persönlichen „Zuordnung" zu einem Hochschullehrer erfolgen, sondern im Rahmen eines Verwaltungsapparates. Mit der Teilhabe-Lösung daraus entstehender Probleme wird wissenschaftliche Qualifikation in ihrem Rang weder verneint noch auch nur in Frage gestellt.

Dies gilt insbesondere auch für den Bereich, in dem der Ordinarius überkommener Prägung am hartnäckigsten zu beweisen trachtet, daß ihn gerade nicht betrifft, was für seinen lehrenden Kollegen an der Schule längst eine Selbstverständlichkeit ist: nämlich die Organisierung eines auf den Dialog hin angelegten Lernprozesses. Hier pflegt der Hoch-schul„lehrer" traditionellen Zuschnitts nach wie vor auf das Recht zu pochen, „seine" Veranstaltung unbefragt durch „Störer" abzuhalten — als Vorlesung und damit als Monolog, mindestens nach dem Prinzip der ungeteilten Entscheidung über Gegenstand und Reichweite der Debatte.

Die akademische Qualifikation als Hochschullehrer bedeutet demgegenüber, daß jeder Lehrende in der Lage und bereit sein muß, studentische Hörer als gleichberechtigte Partner zu akzeptieren. Das schließt ein, daß er die Berufung auf „seine“ Veranstaltung ersetzt durch das Prinzip des von Hochschullehrer und Studenten gemeinsam bestrittenen Lernprozesses im Dialog. Es schließt weiter ein, daß er den Studenten seine Reflexionen über die Gesellschaft vermittelt, die ihn als technologischen, bildungspolitischen oder wirtschaftspolitischen Experten in zunehmendem Maße beansprucht, statt die eigenen Wertungen entweder verdeckt oder apodiktisch in seine Lehre eingehen zu lassen. Und es schließt endlich ein, daß er die Hochschule als eingebettet begreift in das Spannungsfeld gesellschaftlicher Kräftekonstellationen, folglich bereit ist, die Relevanz aktueller politischer Probleme, die von studentischer Seite aufgeworfen werden, grundsätzlich auch für die Diskussion in Lehrveranstaltungen zu akzeptieren. Und zwar auch dann, wenn dies mühsam und zeitraubend ist und er sich „in Frage gestellt" fühlt.

Die Wahl eines Diskussionsleiters für die Lehrveranstaltung ist unter diesen Voraussetzungen eine selbstverständliche didaktische Methode zur freien Entfaltung des Dialogs, der erst dadurch nicht ständig an die Person des Hochschullehrers gebunden bleibt. Die Autorität des Hochschullehrers kann nur Sachautorität sein, die in seine Diskussionsbeiträge eingeht, nicht aber Amtsautorität, die bestimmte Diskussionsverläufe vorzuschreiben sucht.

III. Gleichmachereivorwürfe

Gerade der professoralen Sachautorität wird unter demokratischen Rahmenbedingungen also Gelegenheit zur Entfaltung geboten. Dennoch ließen emotional aufgeladene Angriffe auf die behauptete Abwertung „selbst der dienstältesten Professoren" nicht auf sich warten. Diese Angriffe entspringen beschnittener Selbstherrlichkeit ebenso wie gekränktem Selbstwertgefühl — und sie sind strukturell zumindest erklärlich: Die Verwirklichung demokratischer Mitwirkungsprinzipien an der sozialen Basis erlaubt in mancher Hinsicht den Vergleich mit der allmählichen Durchsetzung der gleichen Prinzipien auf politischer Ebene in Form des allgemeinen Wahlrechts im Laufe des letzten Jahrhunderts. Es ist mehr als eine terminologische Parallele, daß heute an den Hochschulen die „Geistesaristokratie" so betroffen (im doppelten Sinne) von derartigen Bestrebungen ist wie in jener Zeit die grundbesitzende Aristokratie. Das existentielle Unbehagen, das solche Bestrebungen damals wie heute auslösen, hat niemand so scharf gefaßt wie der britische Aristokrat und Unterhausabgeordnete Robert Lowe, als durch die Wahlreform von 1867 das Parlaments-wahlrecht von Adel und Großbürgertum auf die städtischen Handwerker und Kleingewerbetreibenden ausgedehnt wurde: „Das heroische Werk so vieler Jahrhunderte, die unübertroffenen Leistungen so vieler weiser Häupter und starker Hände, sie verdienen gewißlich, daß man ihnen ein würdigeres Erbe bereite, als sie auf dem Altar revolutionärer Leidenschaft zu opfern oder dem trunkenen Enthusiasmus falscher Menschenliebe. Die Geschichte mag andere Taten nennen, die von Unheil künden, aber keine darunter, die mutwilliger, keine, die schimpflicher wäre." Diese Sätze könnten von denjenigen, denen bis zur neuen Hochschulgesetzgebung die Freiheit der einsamen Entscheidung zustand, auch auf die Humboldtsche Universität und ihre Idee von „Einsamkeit und Freiheit" geB münzt sein. Die überkommene Zusammensetzung der Universitätsgremien sorgte dafür, daß sachliche und persönliche Betroffenheit des Hochschullehrers kaum trennbar verwoben waren. Die Infragestellung der Eigenposition wurde und wird damit für manchen Betroffenen zum geradezu existentiellen Problem — mit Folgen, die Universität und Ge-Seilschaft gegenwärtig als einen Schwall politisch gezielter Polemik gegen „links“ zu verkraften haben, dem sie nur allzu schnell nachgeben. Wer beschuldigt, hat es einfacher-, wer die „rabiate Linke", die „harten Marxisten" beschuldigt, kann fast sicher sein, die Affekte schon vorzufinden, auf die seine Polemik zielt.

IV. Indoktrinationsvorwürfe

in der deutschen Entwicklung sind die Undifferenziertheit und emotional aufgeladene Feindseligkeit, mit denen man „sozialistischen" Vorstellungen begegnet, bis in die Gegenwart hinein durchgehende Züge geblieben. Von der Brandmarkung der Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen" im kaiserlichen Deutschland führt eine nur scheinbar gebrochene Linie zu der Auffassung, Kommunismus sei der Inbegriff von Verderbtheit schlechthin, wie sie nach 1945 aus dem Dritten Reich nahtlos übernommen werden konnte. Der ständige Rückgriff auf antisozialistische Beschwörungsformeln bot und bietet sich an, weil er jede Infragestellung verfestigter Herrschaftspositionen abwehren hilft und somit eine wesentliche soziale Funktion hat: Er stempelt den politischen Gegner zum Verfassungsfeind, verhilft dem eigenen „Lager" zur Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und erspart eine inhaltsbezogene Argumentation. Zur Erinnerung: Die beiden Denkschriften „Hochschule in der Demokratie" des Sozialistischen Deutschen Studenten-bundes (SDS) sowie „Studenten und die neue Universität" des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) schlugen 1961 bzw. 1962 eine Dezentralisierung und Demokratisierung der Hochschulverwaltung und die institutioneile Verankerung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten auf Seiten der Lehrenden sowie studentischer Gruppenarbeit auf Seiten der Lernenden vor. Nach einem Urteil des Westberliner Abgeordnetenhauses von 1969 lösten sie „innerhalb der Westdeutschen Rektorenkonferenz, beim Wissenschaftsrat, bei den Regierungen und Parteien keine nennenswerte Resonanz aus".

Die Periode der Reaktionsunwilligkeit dauerte von 1961 bis 1969. Damit schließlich doch eine Resonanz einsetzte, bedurfte es des Offenbarungseides der Hochschulen hinsichtlich der Effektivität ihrer Verwaltung und Ausbildung (der interessierte Initiativen von Seiten der Wirtschaft auslöste) mindestens ebenso wie des massiven Drucks von unten. Diese Umstände förderten bei Teilen der Studenten die Frage nach den Gründen für die erfahrbare Misere und damit nach dem Charakter des herrschenden „Kartells der Eliten" (Dahrendorf 1965). Die schließlich verwirklichten Ansätze einer Hochschulreform standen damit zumindest der Möglichkeit nach im Zeichen ebenso einer institutioneilen wie einer inhaltlichen Infragestellung überkommener Positionen. Wo diese doppelte Möglichkeit ernst genommen wird, da entsteht ein „Unruheherd".

Die institutioneile Seite der Infragestellung wurde bereits erörtert, soweit sie die Professorengruppe betrifft," mithin inneruniversitären Zuschnitts ist. Sie reicht jedoch über den Hochschulbereich insofern hinaus, als wegen der unterschiedlichen Wahlvoraussetzungen und Wahlergebnisse in den Studentenparlamenten, Fachbereichskonferenzen und zentralen Hochschulgremien sozialistische und kommunistische Gruppen repräsentiert sind, die in den Bundestag und die Länderparlamente seit zwanzig Jahren nicht mehr eingezogen sind. Das hat dazu geführt, daß weder die breite Öffentlichkeit noch der größte Teil der Hochschullehrer die kontinuierliche Erörterung „sozialistischer" — im weitesten Sinne — Programme und den entsprechenden Begriffsgebrauch gewohnt sind, nunmehr jedoch mit beidem konfrontiert werden, allerdings nach wie vor beschränkt auf die Universität. Wegen dieser Unterschiedlichkeit in der Gremienstruktur wirken bestimmte Forderungen und Debatten an den Hochschulen auf große Teile des inner-wie außeruniversitären Publikums besonders provokativ, obwohl ihre ständige kritische Erörterung für das Selbstverständnis und die Entwicklung einer sozialen Demokratie nur förderlich sein könnte.

V. Einbeziehung marxistischer Ansätze

Die zweite, inhaltliche Seite der Infragestellung ist damit schon berührt. Sie betrifft (ganz besonders in den Sozial-, Wirtschafts-und Erziehungswissenschaften, in Geschichte, Philosophie und Psychologie) die Forderung nach Einbeziehung marxistischer Ansätze in die Lehrveranstaltungen — und zwar nicht im Sinne ihrer Behandlung als bloß ideengeschichtlich interessant, sondern als ein Instrument zur Gesellschaftsanalyse. Der damit verbundene Vorwurf an die überkommenen Theorien, nicht nur vorherrschend zu sein, sondern auch beherrschend zu wirken im Sinne einer ideologischen Verschleierung von Unterdrückungsverhältnissen im In-und Ausland — dieser Vorwurf mußte verunsichernd wirken: Entweder produktiv im Sinne einer Annahme der wissenschaftlichen Herausforderung oder verhärtend im Sinne des Rückzugs auf eine letztlich gefühlsmäßige Verweigerungshaltung gegen die Infragestellung. Inzwischen scheint im Licht der historischen Analyse klar, daß Marx, der die soziale Macht so scharf charakterisiert, die politische Macht und ihre institutionalisierte Einwirkung unterschätzt hat in ihrer Bedeutung für die Entwicklung vom ungeregelten zum staatsinterventionistischen Kapitalismus und dessen immer neue Teilstabilisierung. Der Rückzug „linker" Studenten-(Intellektuellen-) Gruppen auf die ritualisierte Beschwörung des „Bündnisses mit der Arbeiterklasse" hängt mit der Fortschreibung dieser Unterschätzung zusammen.

Klar scheint ferner — vergegenwärtigt man sich politische Strukturen an Hand der persönlichen Schicksale von Roger Garaudy, Ernst Fischer oder Zdenek Mlynar (um diese herauszugreifen) —, wie sehr Marx auch die Möglichkeit der Indienstnahme seiner Lehre durch einen etablierten „Sozialismus" und damit die Möglichkeit ihrer dogmatischen Verkrustung unterschätzt hat: Fischer — Journalist, Literat und Politiker—, wurde 1970 nach jahrzehntelanger Parteiarbeit aus der Kommunistischen Partei Österreichs ausgeschlossen, nachdem er sich leidenschaftlich für den 1968 unterdrückten Reformsozialismus in der CSSR und gegen den sowjetischen Einmarsch eingesetzt hatte. Garaudy, jahrelang „Cheftheoreti-

ker" der Kommunistischen Partei Frankreichs, widerfuhr der Ausschluß aus der KPF im selben Jahr und aus dem gleichen Grund. Mlynar leitete in der CSSR selbst eine vom ZK der KPC eingesetzte Studiengruppe zur Entwicklung des tschechoslowakischen Systems, die nach dem August 1968 aufgelöst wurde.

Gerade „linke" Kritik am institutionalisierten „Sozialismus" in der UdSSR, der DDR und anderswo fällt schneidend und unmißverständlich aus. Sie macht sich allerdings die Mühe, nach historischen Bedingungen zu forschen, die die sozialistische Norm in der Praxis deformiert haben; und sie vertritt zusätzlich die Meinung, daß, wer von Brasilien, Südafrika, dem Vietnamkrieg oder dem Putsch in Chile nicht reden wolle, auch von der CSSR schweigen solle.

Wenn dies so formuliert wird, soll nicht darüber hinweggegangen werden, in welchem Ausmaß Apologien des institutionalisierten „Sozialismus" existieren, Vertuschungen und Retuschen der politischen Wirklichkeit. Nur eben: die theoretische und politische Auseinandersetzung läßt auch „den" Marxismus nicht aus. Denn klar scheint weiter, daß die ebenso kritisch-humanistischen wie sozialistischen Vorschläge zur Gestaltung der Gesellschaft, die von Roger Garaudy, Ernst Fischer und Zdenek Mlynar stammen, sich auf Marx berufen und auf seiner Interpretation der Wirklichkeit basieren. Fraglos ist jedenfalls, daß der pluralistische Sozialismus, den Lucio Lombardo-Radice (Italien) und Svetozar Stojanovic (Jugoslawien) proklamieren, ohne den systematischen Rückgriff auf Marx nicht erörtert werden könnte.

Klar scheint ferner, daß die Kritik von Marx an den weiterwirkenden Gewalt-und Herrschaftsverhältnissen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft relevant bleibt für jede Analyse der Entfaltung dieser Gesellschaft. Nicht umsonst sprach der Soziologe Max Weber, den man Marx so gern entgegensetzt, von „Arbeitern, die sich formal freiwillig, tatsächlich durch die Hungerpeitsche gezwungen, anbieten", als Voraussetzung für das Entstehen des neuzeitlichen Kapitalismus. Klar scheint endlich die theoretische und praktische Bedeutung eines Geschichtsverständnisses, das sich konzentriert auf den historischen Prozeß der Entwicklung von Chancen größerer Freiheit — auf die „objektive Möglichkeit" (in den Worten des ungarischen Philosophen Georg Lukacs), die auf einer bestimmten Stufe materieller Entwicklung jeweils offensteht, dabei aber durch menschliches Erkennen und Handeln subjektiv eingelöst werden muß.

Man kann angesichts der Abwürgung von Freiheit auch in „sozialistischen" Ländern mit dem französischen Theoretiker Maurice Merleau-Ponty zu der Auffassung gelangen, daß der Marxismus in der Lage bleiben mag, als Kritik alle anderen Lösungen zu diskreditieren, ohne daß er doch selbst fähig wäre, der Weltgeschichte Form zu geben. Wer aber hinter der längst überfälligen Einbeziehung dieser kritischen marxistischen Ansätze in die Lehre an bundesrepublikanischen Universitäten nur „Linkshörigkeit" erspäht, der hat als Sozialwissenschaftler schon abgedankt. Freilich: Wer wiederum die Einbeziehung ernst nimmt, der wird in anderer Weise in Frage gestellt — für den wird sie unter der Geltung des „Radikalenerlasses" zunehmend zum beruflichen Risiko. Denn von der politischen Auseinandersetzung mit „dem" Marxismus ist zwar viel die Rede; geführt aber wird sie nicht — an ihre Stelle tritt der administrative Zwang.

VI. Berufsverbote als Bedrohung

„Der Regierung (müssen) solche Organe zur Verfügung stehen, welche bei Bekämpfung (...) Übergriffe und Auflehnungen sich nicht auf äußerliche und formale Ausführung ...der Gesetze beschränken . . . Bei der Ernennung und Bestätigung aller Beamten, welche irgendwie zu einer Betätigung in (...) politischer Hinsicht berufen sind, (darf) kein Kandidat zugelassen werde(n), dessen unbedingte Zuverlässigkeit einem Zweifel unterliegt." — Diese Sätze wurden von Fürst Bismarck verfaßt. Die Verfügung, die sie enthält, wurde 1875 erlassen. Die ausgesparten, durch Klammern gekennzeichneten Worte lauten: „.. . bei Bekämpfung geistlicher Übergriffe" und „. .. zu einer Betätigung in kirchenpolitischer Hinsicht berufen sind": Anlaß der Verfügung war der , Kulturkampf der Reichsregierung mit der katholischen Kirche. „Alle Geheimen Räte, die sich in dem Reichskanzleramt und (. . .) ministerium nicht öffentlich und rückhaltlos mit der (.. .) politik der Regierung identifizieren, (müssen) entweder ersetzt oder bewogen werden, den Abschied zu nehmen." — Auch diese Sätze wurden von Bismarck formuliert. Die betreffende Verfügung wurde 1879 erlassen. Die ausgesparten, durch Klammern gekennzeichneten Worte lauten: „... in dem Reichskanzleramt und Handelsministerium“ und „... mit der Zollpolitik der Regierung identifizieren": Anlaß der Verfügung war der Wechsel der Reichsregierung von der Freihandelszur Schutzzollpolitik. „Sollte ... ein Lehrer es an der von ihm zu fordernden Wirksamkeit fehlen lassen, weil er selbst der (...) zuneigt, (so würden Sie) uns unverzüglich Anzeige zu machen haben, damit sofort die gebührende Strafe eintreten kann." — Diese Sätze stammen vom Regierungspräsidenten in Düsseldorf. Die entsprechende Verfügung wurde 1878 erlassen. Das ausgesparte, durch Klammern gekennzeichnete Wort lautet: „weil er selber der Sozialde23 mokratie zuneigt": Anlaß der Verfügung war der Versuch einer Unterdrückung der Sozialdemokratischen Partei durch die Reichsregierung.

Im Verlauf von fünf Jahren wurde damit die — in den Worten Bismarcks — „Purifikation des Beamtenstandes" entsprechend der zunehmenden Konfliktintensität des Reiches nach innen ständig ausgeweitet: katholische, liberale und sozialdemokratische Beamte sahen sich nacheinander betroffen, die gesamte bisherige „Republik der Ministerialräte" (Bismarck) wurde in autoritärem Stil „geordnet". Nichts verdeutlicht die Dehnbarkeit und endliche Beliebigkeit der Merkmale, an denen derartige Verfahrensweisen — sind sie erst einmal eingerissen — ansetzen, mehr als diese hintereinander gestellte Folge der Erlasse. Der Sinn der Schaffung von Staats „dienern" an Stelle kritischer Bürger bleibt immer der gleiche.

Die Dehnbarkeit und endliche Beliebigkeit der Verfahrensweisen greift wieder um sich, seit erneut versucht wird, „sozialistische oder kommunistische Bestrebungen, (welche) den Umsturz der bestehenden Staats-oder Gesellschaftsordnung bezwecken", systematisch zu orten. Der zitierte Satz entstammt dem 1878 erlassenen Sozialistengesetz. Zwei Unterschiede zur Gegenwart sind festzuhalten: Erstens stand damals noch das Wort „sozialdemokratisch" bei den verpönten Bestrebungen vor sozialistisch bzw. kommunistisch an erster Stelle; zweitens wird gegenwärtig nicht mit dem Mittel des Parteiverbots gearbeitet, sondern man hält sich an Einzelne, und die Ortung des Verpönten bezieht sich „nur" auf den Staatsdienst. (Einen dritten Unterschied, daß nämlich diesmal das Verfahren sich auch gegen „rechts" richte, wird man nicht ernsthaft ins Feld führen können: dazu hätte entweder der Art. 139 des Grundgesetzes ausgereicht — also eine Norm von Verfassungsrang, die sich auf die Freihaltung des öffentlichen Dienstes vom Nationalsozialismus und Militarismus bezieht —, oder etwaige Ergänzungsgesetze und -bestimmungen wären 1966/67 erlassen worden, als der Stimmenzuwachs der NPD inner-und außerhalb der Bundesrepublik Anlaß zur Betroffenheit gab.)

Die ernsthafte Einbeziehung marxistischer Ansätze hat nicht nur insbesondere an Schulen, sondern auch an Hochschulen zunehmend berufs-und damit existenzgefährdende Folgen. Für den, der Studenten als spätere Lehrer ausbildet, stellt sich darüber hinaus das Problem der Verantwortung, wie weit er durch die Erziehung zur Kritikiähigkeit eigentlich noch die Lebenschancen dieser Menschen beeinflussen darf unter Umständen, die er zunehmend weniger einzuschätzen vermag.

Denn:

— Ein ständig sich ausweitender Kreis von Personen wird in die Überprüfung einbezogen: in mindestens zwei Bundesländern (Baden-Württemberg und Hessen) beispielsweise inzwischen auch die wissenschaftlichen Hilfskräfte an den Hochschulen.

— Bei einer stetig wachsenden Anzahl von Organisationen wird die Verfassungstreue in Frage gestellt: durch die CDU/CSU-Fraktion beispielsweise inzwischen (vgl. Bundestags-drucks. 7/2795 und 7/3222) auch beim Liberalen Hochschulverband, den Hochschulgruppen der Jungsozialisten und denjenigen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). — Eine immer weiter zerfließende Palette von Tatbestandsmerkmalen dient als Grundlage für Einstellungsverzögerungen und Anhörungsverfahren: nach vorliegenden Berichten (Frankfurter Rundschau vom 8. 2. und 15. 7. 1975) beispielsweise inzwischen auch die Teilnahme an Gruppenreisen in die DDR und die Einmietung in eine Wohngemeinschaft mit „Anhängern der Neuen Linken".

— Dies alles zusammengenommen, erhält ein stets breiteres Spektrum von Meinungen und Verhaltensweisen das Stigma tatsächlicher oder potentieller Verfassungsfeindlichkeit aufgedrückt.

Nicht disziplinarisch wird jedoch vorgegangen, und nicht einmal die öffentliche Meinung nimmt Notiz, wenn ein Angehöriger einer Uberprüfungsbehörde (Dr. Manfred Thier, Staatsministerium Stuttgart) 55 Bewerber, die in Baden-Württemberg nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt wurden, pauschal als potentielle Mörder abstempelt (Die Zeit’ vom 25. 7. 1975, S. 39): „Es handelt sich dabei um Leute, die ihrerseits keinen Moment davor zurückschrecken würden, Andersdenkende ohne rechtliche Grundlage, ohne förmliches Verfahren und ohne gerichtlichen Schutz zumindest in Konzentrationslager zu stecken, sofern sie diese überhaupt am Leben ließen." Wenn dies ungeahndet durchgehen kann, wenn dies gar nicht mehr auffällt, dann wird offenkundig, was hier schon zerstört ist. Telford Taylor, Brigadegeneral und Ankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, sprach 1954 im Zusammenhang mit der antikommunistischen Demagogie des Senators McCarthy, die in alle Bereiche der amerikanischen Verwaltung und Gesellschaft ausstrahlte, von einem „kalten Bürgerkrieg" und schrieb: „Es gibt ein Wort, das besser als jedes andere den Zustand beschreibt, zu dem diese vielfältigen und sich häufenden Bußen und Strafen führen. Das Wort heißt , Achtung’. Die Überprüfungen schaffen und vergrößern unablässig eine Kategorie von Bürgern, die niemals wegen irgendeines Vergehens verurteilt wurde und dennoch gebrandmarkt ist."

Die Aussprechung von Berufsverboten in Lehre und Forschung seit den Beschlüssen der Länder-Ministerpräsidenten-und -Innenministerkonferenz schafft noch mehr: Sie schafft und vergrößert einen Zustand der ängstlichen Anpassung. Verdächtigung und Gesinnungsausforschung bringen ein Klima hervor, das die Diskussionsmöglichkeit über einen freiheitlichen und demokratischen Sozialismus und am Ende über gesellschaftliche Veränderungen überhaupt einengt, weil niemand mehr weiß, was ihm als „sozialistisch" oder . „marxistisch" angekreidet werden könnte.

VII. Rückkehr zum Status quo ante

Die Angriffe auf die wenigen Fachbereiche — von ganzen Universitäten kann gar nicht die Rede sein —, an denen marxistische Ansätze ernst genommen werden, versuchen nicht nur den Eindruck zu erwecken, hier sei der Umsturz durch „beamtete Berufsrevolutionäre" auf dem Marsch. Sie versuchen vor allem so zu tun, als sei der Stand dieser Fachbereiche typisch für die westdeutsche Universität: Wenn man nicht die gesamte Hochschule in die „Radikalisierung" abgleiten lassen wolle, sei es fünf Minuten vor zwölf, um dem Unheil zu wehren. Diese Argumentation ist kalkuliert. Tatsächlich werden solche Fälle nicht attackiert, weil sie so typisch, sondern weil sie so untypisch für die Zustände an den Universitäten der Bundesrepublik insgesamt sind. Sie stören bei dem Versuch der offenen oder versteckten Wiedereinführung des institutioneilen wie inhaltlichen Status quo ante, der vor den Universitätsreformen bestehenden Situation der Jahre 1965/66. Dieser Versuch wird derzeit bundesweit betrieben.

Die Aussprechung von Berufsverboten wirkt sich auf die Inhalte der Ausbildung aus. Bereits die Möglichkeit einer Ausbildung wird immer mehr Studierwilligen durch die verschärfte Handhabung der Studienzugangsbe-schrärikung zu einer steigenden Anzahl von Fächern genommen. Zunehmend höhere Abiturdurchschnittsnoten müssen für die Studien-zulassung erreicht werden. Dies geht nicht nur auf die Kosten kritischer Erörterung von Stoffangebot und -auswahl; es trifft nicht nur in erster Linie jene Arbeiterkinder, deren Leistungen im bestehenden Bildungssystem ohnehin unterbewertet werden; es mutet auch den Lehrern in wachsendem Maße zu, durch ihre Leistungsbewertung über die Lebenschancen jedes einzelnen Schülers zu entscheiden. Das detaillierte Auswahlverfahren des Staatsvertrages zur Vergabe von Studienplätzen spiegelt eine gerechte Verteilung dieser Plätze vor und lenkt von der Notwendigkeit einer Ursachenbeseitigung der Zugangsbeschränkungen ab.

Mit dem „ Paritätsbesch]uß" des Bundesverfassungsgerichts schließlich, der erneut eine Professorenmehrheit in den Hochschulgremien vorschrieb, wurde das Prinzip der demokratischen Gruppenuniversität entscheidend beschnitten, die vorübergehend an die Stelle der Ordinarienuniversität getreten war. Weitergehende Demokratisierungsversuche wie die drittelparitätische Mitbestimmung von Studenten, Hochschullehrern und Bediensteten an der Universität Bremen gelten damit als verfassungswidrig. Mag auch irgendeine Form der Gruppenuniversität im Grundsatz noch akzeptiert werden — das Urteil setzt ein Signal für die Rückzugsgefechte in der Hochschulgesetzgebung. „Keine Toleranz gegenüber Radikalen!" lautet immer wieder der Ruf derer, die diese Rückzugsgefechte erzwingen. Nun: Radikale, „radicals“ hießen während des 19. Jahrhunderts in England Männer wie John Bright, die die Ausdehnung politischer Rechte zugleich theoretisch begründeten und praktisch-politisch zum Tragen zu bringen suchten. Von Bright, der die treibende Kraft liberaler Kabinette gerade auch bei der Reform des Erziehungswesens war, heißt es in seiner Biographie, er, der „Änderungen weitreichendster Art gefördert hat", habe sich den Ansichten anderer nie gebeugt; seine Landsleute hätten sich vielmehr zu seiner Denkweise bekehrt. Den „radikalen" Reformern unserer Tage wird ein solches Schicksal wohl kaum beschieden sein.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Rainer Eisfeld, Dr. rer. pol., geb. 1941; 1968 bis 1973 Assistent und Dozent an der Universität Frankfurt, seit 1974 o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück. Veröffentlichungen u. a.: Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialismus, Stuttgart 1972; Souveränität und Supranationalität (Beitrag zum DIFF-Fernstudienlehrgang Sozialkunde), Tübingen 1975.