Eines der ersten Reaktionsstatute für eine Tageszeitung in Deutschland wurde am 23. Dezember 1969 zwischen Verleger Gustav Schmidt-Küster und den Redakteuren der SPD-eigenen Hannoverschen Presse (HP) abgeschlossen. In seinen Kernpunkten machte das Statut Aussagen über die grundsätzliche Haltung der Zeitung, die Kompetenzen von Verleger und Chefredakteur im Verhältnis zueinander und gegenüber der Redaktion sowie über die Zusammensetzung und Zuständigkeiten des Redaktionsbeirates, der die Interessen der Redaktion gegenüber Verlag und Chefredakteur wahrzunehmen hatte.
Die Rechte des Beirates beschränkten sich im wesentlichen auf Beratung mit sowie Unterrichtung und Anhörung durch Verlag und Chefredaktion, wobei die Möglichkeiten der Durchsetzung dieser Rechte ungeregelt und daher der Initiative des jeweiligen amtierenden Beirates überlassen blieben. Sanktionen bei Nichteinhaltung des Statuts waren darüber hinaus nicht vorgesehen.
Echte Mitwirkungsrechte des Beirates in für den Fortbestand der Zeitung bedeutsamen Fragen ergaben sich allerdings in zwei Punkten: Ziffer 6 c) des Statuts nannte als eine Zuständigkeit die „Mitwirkung in allen seitens des Verlages die Redaktion betreffenden grundsätzlichen Dispositionen (insbesondere bei Änderungen der Struktur der Zeitung)" und die Ziffer 7 regelte, daß „Maßnahmen, die dazu angetan sein können, die Richtlinien der Zeitung zu verändern, einzuschränken, aufzuheben oder in ihrem Bestand zu gefährden, ... nur im Benehmen mit der Mehrheit der Mitglieder des Beirats erfolgen" können.
Diese Regelung bedeutete zweifellos eine gewisse Einschränkung des § 118 (Tendenzschutzparagraph) des Betriebsverfassungsgesetzes, denn im Gegensatz zum Betriebsrat mußte hier der Redaktionsbeirat vor einer Betriebsänderung, soweit sie die Zeitung betraf, gehört und seine Zustimmung erlangt werden. Der erste ernsthafte Versuch des Beirates, dieser Bestimmung auch Geltung zu verschaffen, sollte allerdings auch schon zur Kündigung des Statuts führen.
Zu Beginn des Jahres 1971 war der ehemalige Springer-Personalchef und heutige Präsident des Hamburger Sportvereins, Dr. Peter Krohn, zunächst als Mit-Geschäftsführer und schon bald als Nachfolger von Gustav Schmidt-Küster zur HP-Herausgeberin Hannoversche Druck-und Verlagsgesellschaft (HDVG) gekommen. Mit ihm unternahm der für die Pres-seuntemehmen zuständige SPD-Schatzmeister Alfred Nau den letzten Versuch, die durch Fehlinvestitionen (z. B. Unterhaltung und Kauf unrentabler Bezirksausgaben) und Auflagenschwund (1950: 350 000; 1971: 150000) und kaufmännisches Ungeschick in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene HP aus eigenen Kräften zu sanieren. Krohns erste Tat: Er stellte die gleichfalls schwindsüchtige und im Verlag der HDVG erscheinende Hannoversche Rundschau (Auflage unter 30 000) ein und vereinigte ihren Titel mit dem der HP zur „Neuen Hannoverschen Presse“ (NHP). Gleichzeitig wurden acht der 23 Bezirksausgaben verkauft bzw. eingestellt. Die Rundschau-Redakteure, die das Schicksal ihrer Zeitung einer dpa-Meldung entnahmen, wurden von der NHP übernommen, die ihrerseits eine Reihe von Redakteuren entließ. Der Redaktionsbeirat war vorher nicht informiert worden, beließ es jedoch bei einem schwachen Protest, um die Zusammenarbeit mit dem neuen Geschäftsführer nicht von vornherein zu belasten. Unter diesem Gesichtspunkt wurden zunächst auch Eingriffe Krohns in redaktionelle Angelegenheiten — ein neues redaktionelles Konzept, personelle Veränderungen — hingenommen, zumal sich auch Chefredakteur Wolfgang Fechner ohne Protest überrumpeln ließ.
Erst als Krohn im Dezember 1971 Fechner nach Bonn abschob und sich mit Billigung der HDVG-Gesellschafter (Fritz Heine, Alfred Nau, Gustav Schmidt-Küster, Hans Striefler) auch zum kommissarischen Chefredakteur ernannte, um „das für die Neue HP entwickelte Gesamtmarketing-Konzept, in das Vertriebs-, Anzeigen-, Werbe-und Redaktionskonzept integriert sind, beschleunigt zu realisieren", meldete sich der Beirat wieder zu Wort. Er forderte und erhielt am 21. Dezember 1971 eine schriftliche Absichtserklärung Krohns, sich bei Interessenkollisionen zwischen den von ihm vertretenen Aufgabenbereichen Verlag und Chefredaktion — auch in Grenzfällen jedweder Art — auf die Wahrnehmung des Verlages beschränken zu wollen.
Tatsächlich hat sich Krohn im Zweifelsfalle nie an diese Zusage gehalten, was in den folgenden Monaten zu wachsendem Unmut in der Redaktion und zu einem verstärkten Interesse an Fragen der betrieblichen Mitbestimmung führte.
Am 14. April 1972 wurde ein neuer Beirat gewählt, der den Auftrag erhielt, sich um eine bessere Ausschöpfung der im Statut zugestandenen Mitwirkungsrechte und eine Überarbeitung des gültigen Statuts zu bemühen. Außerdem sollte der Beirat mit Krohn eine Klärung darüber herbeiführen, wann der als Interims-lösung deklarierte Zustand einer Perwonal-Union zwischen Verleger und Chefredakteur beendet sei. Zwei Wochen später wählten die 1 100 Beschäftigten der HDVD einen neuen Betriebsrat, in den der Sprecher des Redaktionsbeirates sowie drei weitere Redakteure einzogen, nachdem die Redaktion im vorigen Betriebsrat überhaupt nicht vertreten war. Die Bemühungen der Verlagsleitung, einen Spalt zwischen Betriebsrat und Redaktionsbeirat zu treiben, waren damit endgültig gescheitert, nachdem sich zwischen den Redakteuren und den übrigen Betriebsratsmitgliedern eine vorbildliche Zusammenarbeit entwickelte.
Von nun an überschlugen sich die Ereignisse. Am 5. Mai wurde dem Betriebsrat unter Verpflichtung aus dem Geheimhaltungsparagraphen (§ 79) des BetrVG die bereits beschlossene Einstellung von weiteren acht Bezirksausgaben sowie die beabsichtigte Kündigung von rund 300 Mitarbeitern des Verlages mitgeteilt. Die vom Sprecher des Redaktionsbeirats schriftlich geäußerte Bitte, der Verlag möge den Beirat zumindest noch vor der öffentlichen Bekanntgabe seiner Entscheidung informieren, wurde von Dr. Krohn ignoriert. Am 8. Mai, vormittags, erfolgte die offizielle Pressemitteilung des Verlages über die Einstellung weiterer Bezirksausgaben, am Nachmittag traten die fünf Beiratsmitglieder und ihre Stellvertreter geschlossen zurück.
Als Grund wurde die Nichtbeachtung des Statuts durch die Verlagsleitung angegeben. In der Tat war es ein letzter Versuch des Beirats, demonstrativ auf die mangelnde Zusammenarbeit zwischen Verlag und Redaktion aufmerksam zu machen und dadurch für die Zukunft vielleicht doch noch eine Besserung zu erreichen.
Das erkannten auch die Teilnehmer an der kurzfristig für den 10. Mai einberufenen Redaktionsvollversammlung, die den Rücktritt des Beirats mit großer Mehrheit billigten und bei der anschließenden Neuwahl den sieben wieder kandidierenden Beiratsmitgliedern erneut das Vertrauen aussprachen.
In einem darauf folgenden Gespräch mit dem Beirat gab Dr. Krohn die Zusage, sich in Zukunft an das Statut zu halten, doch eine Woche später stand erneuter Ärger ins Haus: Auf Anordnung des Chefredakteurs Dr. Krohn und ohne Rücksprache mit dem zuständigen Ressortleiter , wurde ein Redakteur und Betriebsratsmitglied über Nacht aus der politischen in die Lokalredaktion versetzt — nachdem ein von diesem verfaßter Kommentar in der Pfingstausgabe der NHP den Unwillen Krohns erregt hatte.
Der Beirat beantwortete diesen neuerlichen Affront mit der ultimativen Aufforderung an Krohn, ihm unverzüglich die Gründe für die Versetzung des betreffenden Kollegen schriftlich mitzuteilen. Außerdem solle er nunmehr — dem Wunsche der Redaktionsvollversammlung entsprechend — einen endgültigen Termin für die Neubesetzung des Chefredakteur-Postens nennen.
Zwei Tage später erfolgte die Kündigung des Statuts der NHP zum 31. Dezember 1972 mit dem nachfolgenden Schreiben, dessen Inhalt für sich spricht: Hannoversche Drudeund Verlagsgesellschaft mbH Großdruckerei und Verlag 3 Hannover • Postfach 149 • Goseriede 10/12
An den Redaktionsbeirat der Neuen Hannoverschen Presse 3000 Hannover Sehr geehrte Herren, die internen Vorgänge der letzten Tage und Wochen, die zum Schaden unseres Hauses — teilweise in entstellender Form — nach draußen gedrungen sind, haben gezeigt, daß unstr Redaktionsstatut auch unter dem Gesichtspunkt des Verlages dringend einer Modernisierung und Überarbeitung bedarf. Insbesondere muß dabei das neue Betriebsverfassungsgesetz berücksichtigt werden, damit es nicht zu unfruchtbaren Überschneidungen zwischen den Aufgaben des Betriebsrats und des Redaktionsbeirats kommt.
Aus diesem Grunde kündige ich das Statut zum 31. 12. 1972 der Form halber fristgerecht auf. Ich hoffe sehr, daß aufgrund der für den Sommer fest verabredeten Verhandlungen ein die Redaktion und den Verlag zufriedenstellendes neues Statut zum 1. 1. 1973 in Kraft treten kann.
Mit freundlichen Grüßen Ihr gez. Dr. Peter Krohn Das Angebot, ein „modernisiertes“ Statut abzuschließen, darf mit Fug und Recht als Witz bezeichnet werden. In dem Verlagsentwurf war ausschließlich von den Pflichten der Redakteure und den Rechten des Verlages die Rede, von Leserservice, von Geheimhaltungspflicht. Alle Andeutungen einer echten Kompetenzabgrenzung oder einer Mitbestimmung, wie sie das gekündigte Statut enthalten hatte, waren getilgt. Nach einigen Verhandlungsrunden wurden die Gespräche denn auch ohne Ergebnis abgebrochen.
Der von Dr. Krohn „strafversetzte" Redakteur wurde auf Intervention auch des Betriebsrates alsbald in sein angestammtes Ressort zurückversetzt. Der vielfach zugesagte Chefredakteur der NHP ist allerdings niemals aufgetaucht. Krohn übergab jedoch dieses Amt im Herbst 1972 an ein Drei-Mann-Kollegium. Als Geschäftsführer der NHP überlebte er das Statut nur um vier Wochen. Am 30. Januar 1973 — anläßlich der Kooperation der NHP mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung — wurde er von seinem Posten beurlaubt, von denselben Gesellschaftern, die ihm die Zustimmung zur Kündigung des Statuts erteilt hatten. Die Bemühungen um ein neues Statut wurden in den folgenden zwei Jahren unter Hinweis auf die neuen Besitzverhältnisse abgelehnt.
Am 10. Februar 1975 stellte die NHP ihr Erscheinen als unabhängige und selbständige Zeitung ein. Sie erscheint jetzt lediglich noch mit einem eigenen Lokalteil für die Stadt Hannover und bezieht alle übrigen Seiten von der Hannoverschen Allgemeinen (Verlagsgesellschaft Madsack & Co.), in deren Druckzentrum sich auch die Redaktionsräume befinden und wo HAZ und Neue HP gemeinsam hergestellt werden. Nach neuesten Aussagen der GeschäftsleTtung befindet sich die NHP heute im lOOprozentigen Eigentum von Madsack & Co. Statut der Hannoverschen Presse 1. Die Hannoversche Presse ist eine werktäglich erscheinende regionale Abonnentenzeitung für die Familie. Sie ist in ihrer Haltung sozial-liberal. Sie ist politisch und wirtschaftlich unabhängig. Leitlinie ihrer Aussage ist die im Grundgesetz begründete Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. 2. Die gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik weist Verleger und Redaktion eine gemeinsame öffentliche Aufgabe zu. Diese Aufgabe ist nur in einer vertrauensvollen Wechselbeziehung zu erfüllen. 3. Im Rahmen dieser vom Verleger bestimmten grundsätzlichen Haltung der Hannoverschen Presse (Richtlinien) sind die Redakteure bei der Gestaltung des redaktionellen Teils der Zeitung frei. Kein Redakteur kann gezwungen werden, gegen seine Überzeugung zu schreiben bzw. für seiner Überzeugung widersprechende Veröffentlichungen die Verantwortung zu übernehmen.
Jeder Redakteur hat neben seiner journalistischen Aufgabe auch das geschäftliche Interesse des Gesamtunternehmens zu beachten.
Veröffentlichungen, bei denen der Verdacht oder Zweifel bestehen, daß sie der grundsätzlichen Haltung widersprechen oder den wirtschaftlichen Interessen unzumutbaren Schaden zufügen können, sind zwischen Chefredakteur und Verleger vorher abzustimmen. 4. Der Chefredakteur ist dem Verleger gegenüber für die Gesamtredaktion und für die Einhaltung der Grundsätze verantwortlich.
Den Chefredakteur bestimmt der Verleger. Die Ressortleiter werden im Einvernehmen mit dem Chefredakteur vom Verleger berufen. Die Verantwortung der Ressortleiter ergibt sich aus dem an sie vom Chefredakteur delegierten Entscheidungsbereich. Veränderungen und Entlassungen innerhalb der Redaktion können nur auf Vorschlag und mit Zustimmung des Chefredakteurs erfolgen.
Der Chefredakteur bestimmt in Zusammenarbeit mit der täglichen Redaktionskonferenz die redaktionelle Linie. 5. Zur Vertretung der Interessen der Redaktion wählt die Redaktion einen Beirat aus fünf Mitgliedern.
Der Beirat besteht aus fünf Redakteuren.
Für jedes Mitglied wird ein Stellvertreter gewählt, der in Abwesenheit des Mitgliedes volles Stimmrecht hat. Wählbar ist, wer als Redakteur länger als zwei Jahre der Redaktion angehört. Wahlberechtigt ist, wer mindestens ein Jahr Redakteur der Hannoverschen Presse ist.
Die Mitglieder sind in geheimer Wahl für die Dauer von zwölf Monaten zu wählen. Einzelheiten regelt eine Wahlordnung.
Der Beirat tritt mindestens zweimal jährlich zusammen.
Die Volontäre wählen aus ihrem Kreis einen Vertrauensmann, der mindestens neun Monate der Redaktion angehört und zu den Sitzungen des Beirats hinzugezogen wird.
Durch seine Tätigkeit darf dem Mitglied seitens des Verlages keine berufliche Benachteiligung erwachsen. 6. In Wahrnehmung der Interessen der Redaktion hat der Beirat insbesondere folgende Zuständigkeiten: a) Den Chefredakteur in der Beachtung der Richtlinien zu unterstützen;
b) Mitwirkung an der Gestaltung der Zeitung sowie an der Disposition über den Redaktionsetat; c) Mitwirkung in allen seitens des Verlages die Redaktion betreffenden grundsätzlichen Dispositionen (insbesondere bei Änderungen der Struktur der Zeitung);
d) Übersicht über alle die Zeitung betreffenden werblichen und publizistischen Initiativen sowie deren Auswertung zu dem Zweck, die journalistische Aufgabe entsprechend wahrnehmen zu können;
e) Delegationen von Vertretern des red. Beirats zu den Sitzungen, in denen der Verleger den Betriebsrat über die wirtschaftliche Situation und Planung des Verlages unterrichtet.
Diese Sitzungen können auch auf zwingenden Wunsch des Beirats einberufen werden.
f) Mitwirkung bei der Ausbildung von Volontären;
g) Schlichtung von Streitigkeiten innerhalb der Redaktion, wenn eine Übereinstimmung anders nicht zu erreichen ist. 7. Maßnahmen, die dazu angetan sein können, die Richtlinien der Zeitung zu verändern, einzuschränken, aufzuheben oder in ihrem Bestand zu gefährden, können nur im Benehmen mit der Mehrheit der Mitglieder des Beirats erfolgen.
Der Chefredakteur unterstützt die Tätigkeit des Beirats und steht ihm erforderlichenfalls beratend zur Verfügung. 8. Gesprächspartner des Beirats ist der Verleger (oder dessen Beauftragter) unter Hinzuziehung des Chefredakteurs.
Die Gesprächspartner können eine verbindliche Vertraulichkeit vereinbaren. 9. Dieses Statut ist Bestandteil aller Anstellungsverträge zwischen Verlag und Redakteuren sowie aller Ausbildungsverträge mit Volontären. 10. Dieses Statut hat eine Gültigkeitsdauer von einem Jahr. Es verlängert sich stillschweigend um ein weiteres Jahr, wenn es nicht sechs Monate vor Ablauf gekündigt wird. Änderungen können in beiderseitigem Einvernehmen jederzeit schriftlich getroffen werden.
Hannover, 23. Dezember 1969 gez. Konsul Gustav Schmidt-Küster Verleger gez. Hans Freter gez. Rudolf Mangold gez. Hans-Heinrich Mertens gez. Wulf Röhnert Für die Redaktion:
gez. Marieluise Schareina gez. Helmut Müller gez. Horst Brünig gez. Wolfgang Scholber Als Berater: gez. Peter Leger