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Tendenzschutz in gewerkschaftlicher Sicht | APuZ 49/1975 | bpb.de

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APuZ 49/1975 Medienpolitik zwischen Theorie und Praxis Plädoyer für ein Gesetz Warum ein Presserechtsrahmengesetz? Die Meinung der Opposition Am Grundgesetz vorbei Rechtliche Schranken einer gesetzlichen Regelung der „Inneren Pressefreiheit" „Innere Pressefreiheit" in den Händen der Juristen. Rückblick auf die Gutachtenszene Tendenzschutz in gewerkschaftlicher Sicht Publizistische Mitbestimmung durch Redaktionsvertretungen Die Rolle von Wissenschaftlern im Streit um Medienpolitik. Anmerkungen zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung um den Entwurf eines Presserechtsrahmengesetzes Der Fall Hannover Ein Redaktionsstatut -hat es sich bewährt? Götter oder Knechte? Zum SelbstVerständnis der Journalisten

Tendenzschutz in gewerkschaftlicher Sicht

Eugen Stotz

/ 7 Minuten zu lesen

Seit Jahren wird bei uns behauptet, der Tendenzschutz im Betriebsverfassungsgesetz sei vor allem zu dem Zweck geschaffen, die Presseorgane vor dem Einfluß wildgewordener Drucker und Setzer zu schützen, die Pressefreiheit zu sichern. Eine Behauptung, der die historischen Grundlagen fehlen, denn im Betriebsrätegesetz von 1923, dessen Entstehung immer als Grundlage für die Tendenzschutz-regelung und deren Notwendigkeit für die Presse angesehen wird, ist von der Presse überhaupt nicht die Rede. Eine Behauptung bleibt auch, daß die Diskussionen im damaligen Reichstag die zu schützende Pressefreiheit als Grundlage für den Tendenzschutz belege, denn eine genaue Durchsicht der damaligen Sitzungsprotokolle gibt dafür keine Bestätigung. Doch diese Behauptungen über das Betriebsrätegesetz haben bewirkt, daß der Tendenzschutz für die Presse in das BetrVG aufgenommen wurde -— wie sich bisher allerdings zeigte, weniger zum Schutze der Pressefreiheit als vielmehr zum Schaden der Arbeitnehmer (Journalisten, Setzer, Drucker) in Presse-betrieben, letztlich zum Schaden der Betriebe selbst.

Weshalb dies so ist, zeigt ein genauer Blick in das Betriebsverfassungsgesetz. Der „Tendenzschutzparagraph" lautet: § 188 Geltung für Tendenzbetriebe und Religionsgemeinschaften (1) Auf Unternehmen und Betriebe, die unmittelbar Und überwiegend 1. politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder 2. Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung, auf die Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes Anwendung findet,

dienen, finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung, soweit die Eigenart des Unternehmens oder des Betriebs dem entgegensteht. Die §§ 106 bis 110 sind nicht, die §§ 111 bis 113 nur insoweit anzuwenden, als sie den Ausgleich oder die Milderung wirtschaftlicher Nachteile für die Arbeitnehmer infolge von Betriebsänderungen regeln. (2) Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform.

Der Paragraph schreibt also vor, daß in soge-nannten Tendenzbetrieben die §§ 106 bis 113 des BetrVG keine bzw. nahezu keine und die übrigen Paragraphen nur insoweit Anwendung finden sollen, als die Eigenart des Betriebes dem nicht entgegensteht. Es empfiehlt sich deshalb, die wichtigsten Paragraphen des BetrVG einmal durchzugehen und zu prüfen, inwieweit durch Mitwirkungs-bzw. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates die Pressefreiheit gefährdet werden könnte. Beginnen wir zunächst mit den in § 118 ausdrücklich erwähnten Paragraphen.

So heißt es in § 106 BetrVG (Wirtschaftsausschuß) : (1) In allen Unternehmen mit in der Regel mehr als einhundert ständig beschäftigten Arbeitnehmern ist ein Wirtschaftsausschuß zu bilden. Der Wirtschaftsausschuß hat die Aufgabe, wirtschaftliche Angelegenheiten mit dem Unternehmer zu beraten und den Betriebsrat zu unterrichten. (2) Der Unternehmer hat den Wirtschaftsausschuß rechtzeitig und umfassend über die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Unternehmens unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu unterrichten, soweit dadurch nicht die Betriebs-und Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens gefährdet werden, sowie die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Personalplanung darzustellen. (3) Zu den wirtschaftlichen Angelegenheiten im Sinne dieser Vorschrift gehören insbesondere

1. die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Unternehmens;

2. die Produktionsund Absatzlage;

3. das Produktions-und Investitionsprogramm;

4. Rationalisierungsvorhaben;

5. Fabrikationsund Arbeitsmethoden, insbesondere die Einführung neuer Arbeitsmethoden;

6. die Einschränkung oder Stillegung von Betrieben oder von Betriebsteilen;

7. die Verlegung von Betrieben oder Betriebsteilen;

8.der Zusammenschluß von Betrieben;

9. die Änderung der Betriebsorganisation oder des Betriebszwecks sowie 10. sonstige Vorgänge und Vorhaben, welche die Interessen der Arbeitnehmer des Unternehmens wesentlich berühren können.

Bisher konnte noch niemand sagen, durch welchen Punkt dieses Paragraphen die Pressefreiheit oder die Tendenz eines Presseunternehmens eingeschränkt oder beeinträchtigt werden könnte. Dieser Paragraph hindert auch bei seiner vollen Anwendung keinen Zeitungsunternehmer, die wirtschaftlichen Entscheidungen zu treffen, die er für richtig hält. Er verlangt nur eine rechtzeitige Information von ausgewählten, gewählten Arbeitnehmer-vertretern, die zudem Verschwiegenheitsregelungen unterworfen sind, damit sie rechtzeitig die sozialen Folgen für die Beschäftigten überblicken können. Das gleiche gilt für die auf § 106 folgenden §§ 107 bis 110. Unverständlich ist auch, wie durch eine rechtzeitige Information des Betriebsrates über geplante Betriebsänderungen, die Auswirkungen auf die Belegschaft haben, z. B. die Tendenz der „Bild-Zeitung“ oder des „Kölner Stadt-Anzeiger" beeinflußt werden könnte. Und dennoch sind die betreffenden §§ des BetrVG in sogenannten Tendenzbetrieben nur bedingt anzuwenden. Was hat es jedoch mit der Tendenz eines Blattes zu tun, wenn ein Verleger gezwungen werden kann, sich mit dem Betriebsrat darüber zu einigen, wie Beschäftigten eines Zeitungsunternehmens z. B. mit finanziellen Mitteln über den Verlust des Arbeitsplatzes wenigstens etwas hinweggeholfen werden kann?

Alle diese Bestimmungen zeigen die Absicht des BetrVG deutlich: Die Rechte der Arbeitnehmer beschränken sich auf soziale Belange. Dies machen auch andere §§ des BetrVG deutlich, so z. B.der § 99 (Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen): (1) In Betrieben mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber den Betriebsrat vor jeder Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung zu unterrichten, ihm die erforderlichen Bewerbungsunterlagen vorzulegen und Auskunft über die Person der Beteiligten zu geben; er hat dem Betriebsrat unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen Auskunft über die Auswirkungen der geplanten Maßnahme zu geben und die Zustimmung des Betriebsrats zu der geplanten Maßnahme einzuholen. Bei Einstellungen und Versetzungen hat der Arbeitgeber insbesondere den in Aussicht genommenen Arbeitsplatz und die vorgesehene Eingruppierung mitzuteilen. Die Mitglieder des Betriebsrats sind verpflichtet, über die ihnen im Rahmen der personellen Maßnahmen nach den Sätzen 1 und 2 bekanntgewordenen persönlichen Verhältnisse und Angelegenheiten der Arbeitnehmer, die ihrer Bedeutung oder ihrem Inhalt nach einer vertraulichen Behandlung bedürfen, Stillschweigen zu bewahren; § 79 Abs. 1 Satz 2 bis 4 gilt entsprechend. (2) Der Betriebsrat kann die Zustimmung verweigern, wenn 1. die personelle Maßnahme gegen ein Gesetz, eine Verordnung, eine Unfallverhütungsvorschrift oder gegen eine Bestimmung in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinba-rung oder gegen eine gerichtliche Entscheidung oder eine behördliche Anordnung verstoßen würde, 2. die personelle Maßnahme gegen eine Richtlinie nach § 95 verstoßen würde, 3. die durch Tatsachen begründete Besorgnis besteht, daß infolge der personellen Maßnahme im Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer gekündigt werden oder sonstige Nachteile erleiden, ohne daß dies aus betrieblichen oder persönlichen Gründen gerechtfertigt ist, 4.der betroffene Arbeitnehmer durch die personelle Maßnahme benachteiligt wird, ohne daß dies aus betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen gerechtfertigt ist, 5. eine nach § 93 erforderliche Ausschreibung im Betrieb unterblieben ist oder 6. die durch Tatsachen begründete Besorgnis besteht, daß der für die personelle Maßnahme in Aussicht genommene Bewerber oder Arbeitnehmer den Betriebsfrieden durch gesetzwidriges Verhalten oder durch grobe Verletzung der in § 75 Abs. 1 enthaltenen Grundsätze stören werde. (3) Verweigert der Betriebsrat seine Zustimmung, so hat er dies unter Angabe von Gründen innerhalb einer Woche nach Unterrichtung durch den Arbeitgeber diesem schriftlich mitzuteilen. Teilt der Betriebsrat dem Arbeitgeber die Verweigerung seiner Zustimmung nicht innerhalb der Frist schriftlich mit, so gilt die Zustimmung als erteilt. (4) Verweigert der Betriebsrat seine Zustimmung, so kann der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht beantragen, die Zustimmung zu ersetzen. Befürworter der bestehenden Tendenzschutz-regelung geben immer wieder vor, durch die Anwendung dieses Paragraphen könne der Betriebsrat ihm politisch unliebsame Redakteure ausschalten oder ihm politisch nahestehende begünstigen. Wie dies aus § 99 herausgelesen werden kann, ist allerdings unerfindlich. Auch hier zielt das Gesetz ausschließlich auf die soziale Sicherung der Arbeitnehmer ab. Publizistische Gründe sind nicht erwähnt, können also durch den Betriebsrat auch nicht vorgebracht werden. Allerdings macht gerade dieser Passus deutlich, daß auch nach dem Wegfall des Tendenzschutzparagraphen hier eine Mitbestimmungslücke bleibt, die durch die Einführung der publizistischen Mitbestimmung über Redaktionsvertretungen geschlossen werden muß.

Das gleiche wie für den § 99 gilt auch für den § 102, in dem Mitbestimmung und Widerspruchsrecht bei Kündigungen festgelegt sind. Beides läßt keinerlei politisch-publizistische Einmischung zu.

Bei Durchsicht des BetrVG wird also deutlich, daß eine Tendenz, soweit überhaupt vorhanden, durch dieses Gesetz nirgends beeinflußt werden kann. Es stellt sich deshalb die Frage, weshalb gibt es überhaupt diesen § 118?

Er wird von bestimmten Kräften nur deshalb verfochten, weil sich hinter seinem Schutz, unbeeinflußt von sozialen Interessen der Arbeitnehmer, notfalls sozialwidrig wirtschaften läßt. Weil wir jedoch meinen, daß die Arbeitnehmer nicht völlig untergebuttert werden dürfen unter die reinen Kapitalinteressen, sind wir gegen den Tendenzschutz!

Diese Behauptung ist zu beweisen an all den spektakulären Fällen in den letzten Jahren: Ob Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgarter Zeitungskonzentration, Hannover, Fulda, Göttingen, ob die Zeitschriftenstillegungsaktionen in München, ob Süddruck oder andere — nie ging es um Pressefreiheit oder Tendenz, sondern immer nur um wirtschaftlichen Profit ohne entsprechende Rücksicht auf die betroffenen Arbeitnehmer. Der § 118 war davor.

Neben der Forderung auf Zulassung von Wirtschaftsausschüssen steht unsere Forderung nach publizistischer Kompetenzverteilung, der Regelung der inneren Pressefreiheit.

Die Tendenz einer Zeitung oder Zeitschrift, ihre Haltung und Einstellung gegenüber und zu den Vorgängen in unserer Gesellschaft muß geschützt werden. Gegen Einflüsse von außen geschieht das durch die Bestimmungen des Grundgesetzes, von Einflüssen von innen, von Einflüssen aus rein kapitalwirtschaftlichen Prinzipien ist sie dagegen stärker denn je bedroht. Nicht mehr das publizistische Wollen der Träger der Pressefreiheit (Verleger und Journalist) ist in der heutigen Praxis die oberste Maxime, sondern eher die Frage, wie sich die Ware Zeitung und das in sie investierte Kapital optimal verzinsen läßt. Wem es ernst ist mit dem Schutz der Pressefreiheit als ideell und konstitionell notwendigem Element der Demokratie, muß endlich ernst machen mit dem Schutz der objektiven Information und der Meinungsfreiheit vor rein kommerziellen Interessen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Eugen Stotz, geb. 1927, von 1965 bis Sommer 1975 Mitglied des Geschäftsführenden Hauptvorstands der Industriegewerkschaft Druck und Papier; seit dem Sommer 1975 Geschäftsführer der Büchergilde Gutenberg in Frankfurt/M.