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„Die Freiheit der Schule wiederhersteilen". Antwort auf Hartmut und Thilo Castners Kritik | APuZ 45/1975 | bpb.de

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APuZ 45/1975 Kirche, Gesellschaft und publizistische Medien „Statt Emanzipation wieder Restauration?" Entgegnung zu Hermann Boventers „Emanzipation durch Curriculum? — Kritik der Emanzipationspädagogik und die Frage nach den Erziehungswerten" (B 13/75) „Die Freiheit der Schule wiederhersteilen". Antwort auf Hartmut und Thilo Castners Kritik

„Die Freiheit der Schule wiederhersteilen". Antwort auf Hartmut und Thilo Castners Kritik

Hermann Boventer

/ 26 Minuten zu lesen

Mit einem freundlichen Gruß und der Bitte um eine Stellungnahme bekomme ich die Druck-fahnen von Hartmut und Thilo Castners „Entgegnung" ins Haus geschickt. Mehr oder weniger liebenswürdige Mutmaßungen sehe ich vor meiner Tür abgeladen, Klerofaschist, Reaktionär, Konservativer, der ich sein soll, „fatal an Metaphern Josef Goebbels" erinnernd. Die beiden Lehrer Hartmut und Thilo Castner muß der Ärger getroffen haben, daß sie es für nötig halten, so schwere Mörser aufzufahren gegen dieses verwerfliche Erzeugnis „konservativen Unternehmenstums und rechtsgerichteter Presse", in dem der bayerische Kultusminister Maier oder die rheinland-pfälzische Staatssekretärin Laurien „als Funktionsträger wichtiger katholischer Organisationen nur lobende Worte" erfahren. Katholisch? Zugunsten der beiden Autoren möchte ich annehmen, daß sie trotz gelegentlicher Ausfälle die notwendige Auseinandersetzung mit Curriculumtheorie und Emanzipationspädagogik fortzuführen suchen und ihnen nicht in erster Linie daran liegt, dem Kontrahenten den alten Hut eines Klerofaschisten aufzusetzen. Gesetzt den Fall also, die Kontroverse sei ernst gemeint, versetzen mich die beiden Autoren in eine gewisse Notlage, weil ihre „Entgegnung" in der Sache keine ist, zur Sache selbst nur Spärliches beisteuert und ich mich deshalb kaum angesprochen und betroffen fühle. Dennoch meine ich, daß es für Curriculum und Emanzipation in der Schule weiterzuverhandeln gilt, solange wir in diesem Land eine gemeinsame Schule und Erziehung unserer Kinder befürworten und nicht alle Verständigungsbrücken abbrechen wollen auf einen neuen Kulturkampf hin.

Was tun? Es mit Henri Nannen halten und jeder Behauptung die „Gegendarstellung“ auf dem Fuße folgen lassen? Das führt zu nichts. Statt dessen möchte ich einige weiterführende Überlegungen anbieten zu den Stichworten Curriculum, Emanzipation und Freiheit, ausgehend von dem Eindruck, daß Hartmut und Thilo Castner sich daran reiben, „die Entwicklung hin zu Restauration und Konservativismus" in der Pädagogik sei nicht unmaßgeblich den christlich-freiheitlichen Erziehungswerten anzulasten, die „in ihrer klerikal verengten Metaphysik kaum geeignet" seien, „der Diskussion über eine menschlichere Schule neue Impulse zu geben“.

Curriculum oder: Der Sinn von Schule

1971 hat Hartmut von Hentig einen Reise-und Erfahrungsbericht über seinen vierwöchigen Besuch bei Ivan Illich unter dem Titel „Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule?" veröffentlicht Das Buch erscheint mir heute nach vier Jahren noch fast lesenswerter als damals, hat es doch zu einem frühen Zeitpunkt, als fast das ganze Land noch in der Bildungseuphorie schwelgte, recht unbequeme Fragen gestellt.

Der Rückweg aus Mexiko führte Hartmut von Hentig über New York, wo er sich „L’Enfant Sauvage" angesehen hat, einen Film von Truffaut, der die Geschichte des wilden Knaben von Aveyron schildert. Im Film wird Bilanz gezogen zwischen dem, was wir gewinnen und dem, was wir verlieren, wenn wir die Natur verlassen und in die Gesellschaft mit ihrer Zivilisation und Kultur eintreten. Für Hentig war es qualvoll, in diesem Fall sehen zu müssen, wie sie dem Kind die Freiheit nehmen — aber sie nehmen ihm auch die Angst; qualvoll, wie sie den Knaben auf unsere Manieren ab-richten — aber sie geben ihm auch die Möglichkeit zu dauerhaften, artikulierten Beziehungen: das Kind lernt, zu weinen und zu lachen; und besonders qualvoll, wie sie es „moralisieren“ — aber es erwirbt dadurch, in den Grenzen dessen, was Menschen möglich ist, Vertrauen

Kann der Mensch ohne dieses Vertrauen leben? Kann die Schule ohne diese Widersprüche noch Schule sein? Hentig gibt auf diese Fragen eine indirekte Antwort, wenn er uns in die Gefahr Nietzsches versetzt, um einer Vision willen unmenschlich zu werden. Die Unmenschlichkeit der Gegenwart sei die große Abrichtung des Kindes durch das „eingebaute Curriculum" der „totalen Anstalt" Schule: seine Festlegung auf das, was wir schon sind, damit wir es verstehen, behandeln und benutzen können. Hentig fährt fort: „Die Unmenschlichkeit von morgen könnte sehr wohl die Auslieferung der Kinder an ihre Angst, an die Einsamkeit, an die traumatischen Erfahrungen, an die Ohnmacht im Dschungel einer Gesellschaft sein, in der keine gemeinsame Schule den Schutz der Gemeinschaft, die Ordnung durch gemeinsame Politik gelehrt hat."

Was mir an diesen Reflexionen bemerkenswert erscheint, ist die Blickrichtung auf den Menschen und das Kind. Brüsk und fast zynisch verweisen mich die Gebrüder Castner in ihrem Text auf die drängenden Konflikte und Gesetzmäßigkeiten industrieller Gesellschaften, gehe es doch nicht um das „Unbeschreibbare" und irgendwelche „Geheimnisse“ des Menschseins. Worum geht es denn, wenn es nicht um das zu erziehende Kind geht? Die unverzeihliche Naivität der Curriculum-Strategen besteht darin, daß sie die Schule am Fabrik-Modell messen und glauben, sie könnten mit Wissenschaft und Rationalität eben jene Antinomien der Schule, die nach Hartmut von Hentig im Humanen liegen, gänzlich auflösen in die lupenreine Organisation des Lernens. Das Denken und das Lernen sind höchst persönliche, verwickelte Vorgänge im Kind und Menschen. Die Wissenschaft kann diesen Vorgängen nur sehr unvollkommen gerecht werden, wenn überhaupt. Vertrauen ist auch nicht zuerst eine politische Kategorie, sondern eine seelische und moralische Kraft der Person. Für mich bleibt es eine zentrale Frage an jede Unterrichts-und Lerngestaltung: Wie kann Schule Vertrauen wecken und Angst reduzieren, damit das Kind zu eben jenem Selbstvertrauen gelangt, das ihm sagt, wer es ist, was den Menschen umgibt, was ihn antreibt, wohin es ihn führt?

Nach Hartmut und Thilo Castner enthält der curriculare Ansatz „nur eine Methode der Unterrichtsgestaltung". Dieser Ansatz sei „wertneutral". Im Rheinland pflegt man auf eine solche Behauptung zu antworten: Da lachen ja die Hühneri Wie vollgepfropft die ach so unschuldig-wertfreie Methode des Curriculums mit Wertungen und werthaften Prämissen ist, die ein ganzes Erziehungswesen auf den Kopf stellen, sei gern erneut aufgewiesen anhand des Cuemavaca-Berichts.

Hartmut von Hentig steht sicherlich nicht im Geruch, er wolle die Bildungspolitik der SPD in Nordrhein-Westfalen „diskriminieren", was die beiden Castners mir anlasten. „Wie hat das Wort . Curriculum'je einen so verheißungsvollen Klang bekommen können?" Hentig stellt diese Frage nicht mit dem Blick auf Reformtechnologen, Berufsfortschrittler und Technokraten, „bei denen man das sofort versteht". Er meine vor allem diejenigen, die eine „inhaltliche Veränderung der Schule durch Curriculumarbeit fordern“. Die Wissenschaft könne und müsse der Schule hierbei zur Hand gehen, aber sie werde nicht alles „vorschreiben" und alles „sichern" können, gerade weil sie sich als Wissenschaft ihrer Grenzen bewußt ist. Ihre Grenzen aber wären für das, was Schule tun muß, zu eng und zu streng. Hentigs Sorge gilt der Perfektionierung von Schule, daß man es nur mit dem gut sein läßt, was man nachgewiesenermaßen lernt und richtig „operationalisieren" kann, daß hier eine Prozedur aufgezwungen wird, die den Lehrer entmündigt, die Wissenschaftler überschätzt, die Irrationalität der menschlichen Verhältnisse unterschätzt und die Politik als Entscheidungsprozeß überflüssig zu machen scheint: „Pädagogik beschäftigt sich mit Pädagogik: mit den Folgen ihrer eigenen Existenz und ihren eigenen theoretischen und praktischen Möglichkeiten — und immer weniger mit den Kindern." Die Entschulung der Schule, wie Ivan Illich sie radikal gefordert hat, be-deute in erster Linie, die Freiheit der Schule wiederherstellen

Manche Fehlentwicklung, die uns heute im Schul-und Erziehungsbereich bedrängt, hat sich in den USA, woher die Curriculumtheorie viele ihrer abgenutzten Konzepte importiert hat, schon vor zwanzig Jahren angekündigt. Schule wird zum Verwaltungsprozeß, und das Verbum, mit dem die curricularen Prozeduren und Anweisungen verbunden werden, heißt stereotyp: to administer. „Hierauf", so meint Hentig, sei die Revolte der Schüler und Studenten in den USA erfolgt, nicht so sehr „hiergegen", denn die Curriculum-Reform sei nicht schuld an den Merkmalen der Schule, an denen sich das Unbehagen von jeher genährt hat, an Zwang und Langeweile, aber sie habe dieses Unbehagen jetzt sagbar gemacht und gänzlich entfesselt: „Die Schüler begehren auf gegen the System, das ihr Lernen und damit ihre Schülerexistenz entfremdet und zweifelhaft macht. Das systematische System drängt die Frage auf: wozu das alles?"

Wozu Curriculum, Programmierung, Technologie und systematische Effizienzsteigerung in diesem großen, anonymen Apparat Schule? Der Schüler wird zur Marionette in einem Frage-Antwort-Mechanismus unter dem Zwang vonUnterriditstedinologien. Er will etwas ganz anderes. Er will ernstgenommen werden als Person. Er sucht die personale Zuwendung eines Lehrers, der ihn kennt und versteht mit seinen Schwächen und Chancen. Was ist da „Wissenschaft“, wenn nicht ein lebendiger Mensch dahinter steht und sein Bestes vermittelt, was „zwischenmenschlich" möglich ist! Hartmut und Thilo Castner halten mir ein Zitat von Jürgen Habermas entgegen, wo ich angemerkt hatte, unter der Herrschaft des Curriculums werde der anthropologische Realitätsbezug „notleidend", weil die Vorläufigkeit und Begrenztheit der wissenschaftlichen Erkenntnis zu wenig bedacht sei und dieses Verfahren auf „Machbarkeit“ eingeschworen sei: Verplanung des Lernens, Verplanung des Menschen? Habermas habe sich schon 1965 gegen die Vergötzung der technologischen Planung ausgesprochen, daß wir eine „Rationalisierung der Herrschaft" nur erhoffen dürften von „Verhältnissen, die die politische Macht eines an Dialoge gebundenen Denkens begünstigen".

Gut so, aber Habermas sagt uns leider nicht, welchen Platz er dem Irrationalen zuweist. Darf man denn nicht mehr von Seele sprechen, von Angst und Vertrauen? Wir alle tragen dünne Kleider, was die Rationalität betrifft. Wenn wir den jungen Menschen mit nichts anderem versorgen als der „lösenden Kraft der Reflexion", geben wir ihm statt Brot nur Steine. Er wird dem nächstbesten Rattenfänger, der einen „Glauben" und eine Moral feilbietet, auf den Leim gehen. Marxisten und ihr geistiges Gefolge sagen „Wissenschaft" und meinen doch die „Wahrheit" über die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft und des Menschen formuliert zu haben, Habermas nicht ausgeschlossen. Wissenschaft, auch Wissenschaft von der Schule wird als Ersatz für Offenbarung verwendet, womit sie zur Ideologie degeneriert und sich den Sinn für die Realitäten verstellt. Die Schule hat in diesem ideologischen Kontext nicht nur den Menschen zu verändern, damit er ein „neuer Mensch" wird, sondern sie übernimmt auch die Rolle der Geborgenheit stiftenden „Kirche", womit sie völlig überfordert und entfremdet ist. Schule als Kirche der Neuzeit, das ist auch Ivan Illichs’ besonderer Angriffspunkt: Erziehung als Religion des technischen Zeitalters, Lehrer und Professoren als geweihter, weltweiter Klerus. Schule als die große Gegen-Instanz, zur Veränderung der bestehenden Gesellschaft und Verhältnisse, Garantin der Zukunft, Gewißheit und Freiheit von morgen: Wissenschaft als Theologie, Erziehung als Religion? Realitäten der Schule heute: Mehr als ein Viertel aller Hauptschüler in der Bundesrepublik erhält kein Abschlußzeugnis. Nicht nur hier stößt die zunehmende Verschulung an ihre Grenzen, wenn die Schule über das Leben zu herrschen beginnt, wenn, wie es Eduard Spranger warnend schon vor über vierzig Jahren angekündigt hat, „immer mehr Inhalte und Jahre des Lebens der Verschulung verfallen ..., wenn schließlich mehr Leute da sind, die zu leben lehren, als unmittelbar zu leben und zu schaffen begehren." Hartmut von Hentig teilt Sprangers und Ivan Illichs'Alptraum einer total verschulten Gesellschaft: „Immer mehr Länder werden zu der pädagogischen Folter greifen" in der Ritualisierung des Fortschritts. Man müsse zuerst „die Gesellschaft erziehlich machen", meint Hentig, bevor die Schule selbst ihren Anteil an der Veränderung der Gesellschaft übernimmt

Diese Flucht nach vom überzeugt nicht, und Hentig bietet einstweilen auch noch keinen Ausweg aus der progressiven Romantik, die Reform noch viel radikaler zu machen: Gebt uns die totale Schule So werden wir das humane Defizit nicht einholen. Hentigs glänzend formulierte und treffsichere Analyse der Fehlformen mündet ins Leere statt in die Nüchternheit, ja Bescheidenheit, was denn Schule überhaupt vermag, was nicht. Eine Pädagogik, die sich zum Traum radikalisiert, hat das Bewußtsein ihrer Grenze verloren. Traum ist die Vermessenheit der Pädagogen und Curriculumforscher, sie könnten den Schüler zu etwas „machen", das auf dem Reißbrett steht. Oder mit Bert Brecht das Innerste nach außen kehren: „Und nichts gelte als ehrenhaft mehr, als was diese Welt endgültig verändert: sie braucht es." Arme Schule, die in den Sog dieser Veränderungshysterie gerät, wenn die Pädagogik sich „etabliert", um ihre wichtigste Aufgabe zu verleugnen, nämlich dem Kind zu helfen beim Aufwachsen und seiner Selbstwerdung. Die Grenzen des Lernens liegen doch auf der Hand. Freude am Denken gewinnen, erfahren, wer der andere ist, ein Werk selbst und richtig machen, ist das nicht schon sehr viel für Kind und Schule?

Das Bestechende an dem Cuernavaca-Bericht, aus dem ich ausführlich zitiert habe, weil sich die Perspektiven mit meiner Kritik des curricularen Verfahrens im Schulunterricht weithin decken, ist es ja, daß die Fragen unbeantwortet bleiben. Allzu rasche Lösungsvorschläge, wie sie die Curriculumtheorie hervorzaubert, sind immer verdächtig im Erziehungsbereich. Hartmut und Thilo Castner polemisieren meines Erachtens in einer dürftigen Weise über die notwendigen Anfragen an Curriculumtheorie und daraus entstandene Rahmen-richtlinien hinweg. Sie bieten wenig Anhaltspunkte, ob sie die Fragen überhaupt rezipieren oder sämtlich für irrelevant halten. Die nagenden Selbstzweifel eines Hartmut von Hentig und Ivan Illich stünden uns allen gut an, wie das Curriculum mit seiner eingestifteten Fortschrittlichkeit und seinem Zwangscharakter, der verschleiert wird, auf ständige Veränderung drängt und damit die Schule zu einer politischen, mythenbildenden und gesellschaftsverändemden Macht entfremdet.

Der Sinn von Schule steht zur Disposition, wenn das Lernen, das ein persönliches, freies und spielerisches sein soll, verdorben wird, wenn die Schule, welche die Inhalte der geistigen und dinglichen Welt erschließen soll, damit der Mensch mit sich selbst und der Welt ins Reine kommt, zum Vehikel der Politik gemacht wird, wenn das Erfahren der Welt, das Erschrecken vor dem Selbst, das Abenteuer des Geistes, die Erprobung des Zusammenlebens oder die Einübung in Entscheidungen über meine Freiheit sich allesamt nicht mehr wiedererkennen lassen unter der kollektiven Subsumtion eines obersten, gemeinsamen Lernziels der totalen Schule. So abstrus die Thesen von Ivan Illich auch sind, wenn er die Schule „abschaffen" will, entbehren sie nicht einer gewissen Logik, sollte der curriculare Totalitätsanspruch anders nicht abzuwenden sein.

Emanzipation oder: Yü-kung versetzt Berge

Die „Entgegnung“ zu meiner Kritik an der Emanzipationspädagogik bringt uns auch im zweiten Kapitel leider um das Vergnügen, die Klingen richtig kreuzen zu können. Erneut wird ein Zitaten-Potpourri zusammengestellt, das jedoch wenig ergiebig ist für eine Auseinandersetzung, wie Hartmut und Thilo Castner das oberste Lernziel „Emanzipation" verstehen und im Schulalltag praktizieren wollen. Sie tun das an anderer Stelle in ihrer Eigenschaft als Autoren von Unterrichtsmaterialien, die ich hilfsweise und hoffentlich mit dem Einverständnis meiner Kontrahenten heranziehen möchte. Es handelt sich um Materialien zur Zeitgeschichte und politischen Bildung für den Schulgebrauch, 1974 im Schwann-Verlag unter dem Titel „Die Volksrepublik China — Ein sozialistisches Modell“ erschienen. Hier wird „demokratischer und emanzipatorischer Unterricht", wie die Gebrüder Castner ihn verstehen, anhand des unterrichtlichen »Neulands" China vorgeführt, die „ideologisch verzerrten Erdkundemodelle" abzulösen durch objektive Maßstäbe und Beurteilungen:

»Denn hier handelt es sich um ein gigantisches soziales Experiment, das, quasi modellhaft für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, versucht, die Utopie einer humanen Massengesellschaft zu realisieren." Nach dieser eindeutigen Absichtserklärung sind wir gespannt, auf welche Zielsetzung hin erzogen wird.

Der legendäre „Lange Marsch", der Maos Konzept der Guerilla-Kriegführung gegen Chiang Kai-shek zum ersten Mal erprobt, bildet ein Unterrichtsmodell in der „schülerzentrierten“ Didaktik der Gebrüder Castner. Das zuerst angesetzte, affektive Lemziel fordert: „Verständnis entwickeln für die ungeheure Solidarität und Opferbereitschaft der am . Langen Marsch'beteiligten Personen." Unter den pragmatischen Lernzielen wird folgendes für denkbar gehalten: „Diskussion darüber, inwieweit die Kriegsführung des Vietkong Maos Guerillakonzept übernommen oder weiterentwickelt hat; Schüler überlegen, ob sich der Guerillakampf auf westliche Industrieländer übertragen läßt (Problematik der RAF bzw. Baader-Meinhof-Gruppe)." Als ideale Ergänzung und Diskussionsimpuls empfehlen die Autoren den Film „Das Rote Frauenbataillon", weil hier „bestimmte revolutionäre und soldatische Tugenden propagiert werden." Bei . weitgehender Zurückhaltung des Lehrers“ wird für die Lernzielkontrolle schließlich die Analyse eines Gedichtes von Mao-Tse-tung „Der Lange Marsch" empfohlen, „eines Mannes, der als Schriftsteller, Philosoph, Militär-theoretiker und Revolutionär sozialistische Utopien eines freien Chinas Realität werden ließ" und sein Gedicht mit den Zeilen beginnt: „Die Rote Armee verachtet, weit marschierend, das Leid; zehntausend Gewässer, tausend Gebirg nur Müßiggang ..." Am Ende heißt es: „Nur froher geworden im Minshan, im Tausendmeilenschnee, drei Heere: ihr Weg ist zu Ende, gelöst ihr Gesicht."

Ob die Gebrüder Castner es wohl für wert und würdig hielten, der Bundeswehr, wenn ihr ähnliche poetische Ehren zuteil würden, Raum für ein Gedicht einzuräumen: Die Bundeswehr verachtet, weit marschierend, das Leid? „Emanzipation" besteht hier wohl primär in der Romantisierung des Fern-und Fernstliegenden. Leidgeprüfte Numerus-clausus-Studenten werden sich nach dieser „schülerzentrierten" Lernzielkontrolle für die prima Rote Armee — „Nur froher geworden ... gelöst ihr Gesicht“ — sofort freiwillig melden wollen, dem spätkapitalistischen Leistungsstreß zu entkommen. Die KPCh streckt möglicherweise die Reisekosten vor.

Aber es kommt noch viel „chinesischer", was das emanzipatorische Lernen in deutschen Schulen betrifft. Die affektive Zielsetzung der Unterrichtseinheit „Die chinesische Volks-kommune" ist so formuliert: „Abbau von Vorurteilen gegenüber kollektiven Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, in China ebenso wie in einzelnen westlichen Ländern." Weil sich die Schüler „wahrscheinlich", so meinen die Autoren, die Vorteile der Gruppenarbeit in der Kommune nicht recht vorstellen können, empfehlen sie für diesen Fall der Klasse die Gegenüberstellung einer Wallraff-Reportage, aus der hervorgeht, wie der bundesdeutsche Arbeiter in den bis zum äußersten rationalisierten Betrieben geschunden wird: „Ich stumpfe bei der monotonen Arbeit mehr und mehr ab......... Essen, trinken, schlafen zur Erhaltung der Arbeitskraft ...“ Der ultra-linke Wallraff, der sich als schlagzeilenfreudiger Polit-Clown heimlich in die Fabrikhöllen der Ausbeutung schleicht, sagt es den Schülern, wie’s wirklich ist. „Natürlich wäre es besser, wenn sich eine Betriebsbesichtigung durchführen ließe", fügen die Castners im vorsichtigen Konjunktiv hinzu. Nach der Wallraff-Lektüre allerdings I „Verständnissperren“ bei den Schülern vermuten die Autoren auch gegenüber der Tatsache, daß die Kommunemitglieder in Liu Ling alle das gleiche Grundeinkommen erhalten anstelle einer Bezahlung primär nach Leistung.

„Darum hilft wahrscheinlich auch hier nur weiter, wenn die Klasse dem sozialistischen Extrem — Einkommensgleichheit — das kapitalistische Extrem, nämlich Lohn-und Gehaltsunterschiede von 1 bis über 1 000 gegenüberstellt.“ wird Zum Beleg dieser aus einer WDR-Sendung zitiert, daß die 34 reichsten Familien der Bundesrepublik 1965/66 ein doppelt so hohes Einkommen versteuerten wie die 30 000 Thyssenarbeiter-und -angestellten. Der einzelne dieser 34 reichsten Bürger habe damit 1762mal so viel wie ein Thyssenarbeiter verdient; oder anders formuliert, in knapp 11/2 Stunden verdiente er, wozu ein Arbeiter 300 Tage ä 8 Stunden benötigte. Es folgt der Satz: „Anhand dieser Extremalternative können die Schüler entscheiden, welche Richtung sie für sozialer und humaner halten."

Dreimal dürfen Sie raten, liebe Eltern, wie Ihre Kinder sich in diesem „emanzipatorischen" Unterricht entscheiden werden, nachdem sie in dem folgenden Passus darüber aufgeklärt worden sind, inwieweit das Leben in einer „Kommune“ „leichter, angenehmer und sorgenfreier wird". Es „verbilligt sich die Lebensführung ... entkrampft sich die Erziehung, da ... keine Fixierung der Kinder auf die eigenen Eltern befürchtet werden muß." Daraus ergeben sich an pragmatischen Schlußfolgerungen für Klasse und Lehrer, „die Schüler anregen zu überlegen, inwieweit sie in ihrer eigenen Familie Störfaktoren feststellen können, die in der Volkskommune undenkbar wären; diskutieren, was Schüler machen sollen, die meinen, zu Hause unterdrückt zu werden, daß sie am liebsten Weggehen würden.“ Die tägliche gemeinsame Arbeit sowie der Fortfall von Privilegien hat die Menschen in den Volkskommunen nach dem Urteil von Hartmut und Thilo Castner zu echten Gemeinschaften zusammengeschweißt. „Konflikte zwischen den Generationen wie bei uns sind kaum bekannt ... und die Einführung kooperativer Arbeitsformen haben zur Aufhebung bestimmter Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen geführt. Besitzdenken weicht solidarischem Verhalten und kollektiven Entscheidungen."

Woher die Autoren das alles so genau wissen wollen, bleibt offen. Es lebe die VolkskommuneI Deren Abqualifizierung gehört nach Hartmut und Thilo Castner zu den „bösartigen Verleumdungen", wie sie als Mittel des Kalten Krieges gegen kommunistische Länder bis Mitte der 60er Jahre Verwendung gefunden hätten. Den» Syndrom, das sich grob mit „Kommunismus-Sozialismus-Hysterie“ bezeichnen lasse, möchten sie „in intellektuell redlicher Weise ein anschauliches Bild des heutigen China" gegenüberstellen, wo die Jugend „Sozialismus in der Praxis" erfährt, wo die Volksmassen über die Geschichte „entscheiden", wo „jeder normale Mensch über die Methode der Kritik und Selbstkritik zu wahrheitsgemäßen Erkenntnissen gelangt", wo „Arbeit und Alltag durchsetzt und humanisiert werden durch Kunst und Kultur", wo „Exzesse von Lernangst, Leistungsdruck und Zwang seit der Kulturrevolution der Vergangenheit" angehören und „die Geborgenheit in der kollektiven Lerngruppe Sicherheit, Selbstvertrauen und Gewißheit“ schafft, wo „die Armee primär in der Rolle des Dieners für die Menschen und ihre Gesellschaft" steht, wo „die Zurückstellung der Heirat bis zum 27. Lebensjahr“ lediglich „allgemeine Empfehlung, kein Zwang" (!) sei, wo „schließlich das Zusammenspiel zwischen Mao und den Massen aus der gleichgelagerten Absicht der politischen Motive und Bedürfnisse" resultiert

Die chinesischen Volksmassen hätten also damit den Habermas’schen Philosophenhimmel erreicht, denn: „In der Kraft der Selbstreflexion sind Erkenntnis und Interesse eins". Die Gebrüder Castner ließen diesen Satz gesperrt drucken, damit Boventer ihn endlich kapiert. Jetzt habe ich ihn „verstanden". Der Märchenonkel aus China zieht übers Land und erzählt den Schülern die Fabel von „Yü-kung versetzt Berge". Diese Fabel besteht darin, daß man „die Schattenseiten einer Gesellschaft, die dem egoistischen Profitstreben und individualistischer Ellenbogenfreiheit Tor und Tür öffnet", mit den Lichtseiten einer Volksrepublik, die als „sozialistisches Modell" vorgestellt wird, kontrastieren läßt. Es fällt den Gebrüdern Castner überhaupt nicht schwer, im selben Atemzug die westliche „Entindividualisierung und Entmündigung" anzuklagen und die Volkskommunen, wo von der Essenszeit bis zum Geschlechtsverkehr ein strenges Reglement herrscht, anzupreisen Hätten die Castners als Emanzipationshelfer der Bundesrepublik Deutschland auch nur einen kleinen Bruchteil jenes Wohlwollens entgegengebracht, das sie der Kommunistischen Partei Chinas, der Roten Armee oder Mao Tse-tung erweisen, müßte das Zuchthaus Bundesrepublik sofort in hellstem Licht erstrahlen.

Was kann wohl die Absicht dieser offenkundigen Diskrepanz sein, das eigene Land mit dem Sperrfeuer der Dauerkritik zu belegen, um den Gegenstand der heimlich-offenen Verehrung, der vom Alltagsleben eines hiesigen Schülers so weit entfernt ist wie Tibet vom Siebengebirge, in das rosigste Licht zu tauchen? Und welche pädagogischen Wirkungen hat dieser „demokratische und emanzipatorische" Unterricht?

Die Absicht ist jene Erziehung zum Mißtrauen, die den Haß auf die bestehenden Verhältnisse schürt und den Jugendlichen mit Adorno alle Dinge (der vertrauten Umwelt) so betrachten läßt, „wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten." Die negative Dialektik (des Elends in der Bundesrepublik) wird durch die Hoffnung auf das Heil (in der Volksrepublik China) getragen. Man kann hier überhaupt nur in eschatologischen Kategorien antworten, sehen doch die Autoren das China ihrer Träume, in dem sie niemals gelebt haben, aus der Perspektive der vollendeten „Endzeit" als Modell und Vision in einem. Die Bundesrepublik, nicht jedoch die Volksrepublik China, erscheint im Licht der Castnerschen Unterrichtsmaterialien als neue Form totalitärer Herrschaft, latent faschistisch und mit der parlamentarischen Demokratie als Fassade. Die Kulturrevolution — Zitat: „Auf die Gerüchte und Märchen über . barbarische'und . vandalische'Übergriffe seitens der Rotgardisten während der Kulturrevolution, die in der Presse der BRD lange Zeit lanciert wurden, wollen wir nicht weiter eingehen, weil hierzu einschlägige Untersuchungen vorliegen, die belegen, daß nicht Kulturzerstörung und körperliche Gewalt allgemeine Mittel dieser Jahre waren, sondern die Überzeugung anderer Menschen durch (herrschaftsfreie) Diskussion und das Zurückdrängen . bürgerlich-reaktionärer'Kulturüberlieferungen" — soll über die Schule in die politische Praxis getragen werden, damit sie das Bewußtsein der Massen in der Bundesrepublik ergreift. 15 Aus eben solchen Gründen möchte ich fortfahren, „emanzipatorischen Unterricht“ einen bösen Betrug an Jugendlichen und Kindern, an Schule und Erziehungsauftrag zu nennen. Vertrauen und die erstaunliche Tatsache, daß es überhaupt im Dschungel der modernen Industriegesellschaft immer noch ein erstaunliches Maß an gegenseitigem Vertrauen gibt, wird systematisch zerstört. Unsere Zivilisation wird gewissermaßen auf den Nullpunkt zurückgedreht, wo das Mißtrauen gegen alle herrscht. Beides, nämlich die Erziehung zum richtigen Vertrauen und die Erziehung zum richtigen Mißtrauen, gehört ins Schulprogramm, aber nur dann, wenn sie sich einigermaßen die Balance halten, die prekär genug ist. „Eine Entzügelung der Jugend, ihr Hineinstoßen in einen normenlosen Raum verstärkt auch die seelische Orientierungslosigkeit“, schreibt der Soziologe Helmut Schoeck. Es habe immer Personen gegeben, „denen es eine Befriedigung verschafft, Kinder und Jugendliche zum Brechen irgendwelcher Tabus, zum Verletzen irgendwelcher bislang verbindlicher Werte und Normen zu verleiten. Die Lust am Verführen ist ja nicht nur auf das Gebiet der Sexualität begrenzt. Vielmehr genießt ein Erzieher, ein älterer Mensch, der einen jüngeren dazu bringen kann, gegen irgendeine gesellschaftliche Norm zu verstoßen, auf jeden Fall das Gefühl seiner eigenen Macht"

Wenn es richtig ist, daß die Schule eine entscheidende Institution zur Vermittlung der gesellschaftlichen Normen ist: Was bleibt in den Köpfen der Schüler von unserem Begriff der Freiheit, wenn die Volksrepublik China als „Modell“ hingestellt wird und „kritische Distanz gegenüber solchen Gesellschaften, die das Individuum, die . Persönlichkeit'und den Individualismus zum Fetisch erheben“, als affektives und kognitives Lernziel auf fast jeder Seite an der Bundesrepublik vordemonstriert wird? Die Destruktion der eigenen kulturellen Gehalte und Normen ist die Folge. Freiheit wird als Grundnorm unserer Verfassung von den Anwälten der kulturrevolutionären Emanzipation so lange verdächtigt, bis das Wort selbst unbrauchbar geworden ist und überhaupt nicht mehr vorkommt. Dem Schüler wird suggeriert, daß unsere Gesellschaft im Ganzen „ohne Vernunft“ ist und sich auf die Katastrophe hin bewegt: Der Aufstand gegen unsere Gesellschaft ist gerechtfertigt! In der Tat, dies ist mehr als eine Irreführung und Täuschung der jungen Menschen, wenn man die pädagogischen Wirkungen bedenkt, ganz zu schweigen davon, daß in jeder Gesellschaft das Potential an Sinn, das in sittlichen Normen zu verläßlichen Lebensregeln gerinnt, nicht unausschöpflich ist.

Freiheit oder: Was bankrott macht

Nach Hartmut und Thilo Castner entspricht es der Vollreife des emanzipierten Menschen, daß er sich immun zeigt „gegenüber Aggression und Repression". Der Mensch erreicht diese Stufe „quasi als Endergebnis des zu lernenden Emanzipationsprozesses". Hartmut und Thilo Castner scheinen dieses Endergebnis noch nicht vorweisen zu können, hätten sie doch sonst bei erreichter Immunität gegenüber meinen Attacken nicht so gereizt und aggressiv reagiert. Ihre Reaktion ist noch ausgesprochen „bürgerlich", wenn sie mir böse Textmanipulationen, unbewiesene Anschuldigungen und nebulöse Verdächtigungen samt Verdrehungen und Verfälschungen in die Seelsorger-Schuhe schieben. Zur Verstärkung und zum freundlichen Vergleich holen sie die Metaphern eines ehemaligen Reichspropagandaministers heran.

Nur, an der Sache selbst reden sie auch hier wieder vorbei, denn das gahze letzte Kapitel meines Aufsatzes wird von der Frage nach den Möglichkeiten der Freiheitserziehung bestimmt. In der Castnerschen „Entgegnung“ ist davon keine Spur zu finden. Entweder können oder wollen sie diese Frage nicht rezipieren, wie nämlich heute die Erziehungswissenschaft und Pädagogik den Erziehungswert der Freiheit rehabilitieren kann. „Den Kindern wie den Lehrern“, schreibt Hartmut von Hentig, „muß die Zumutung der Freiheit gemacht werden" Aber wie soll das passieren, wenn das Wort „Freiheit" nicht mehr vorkommt? Die Befürchtung, daß es sich bei der Emanzipationspädagogik um ein anti-freiheitliches Konzept handelt, sieht sich bestätigt. Emanzipation mag, im recht verstandenen Sinn einer Mündigwerdung, ein legitimes Erziehungsziel sein. Aber hier zeigt ein Begriff, der seines Maßes an Vernunft und Wahrheit beraubt worden ist, als Resultat die „wilde, gesetzlose Freiheit" (Kant). Es bleibt nichts übrig an erzieherisch verwertbaren Maximen und Einsichten, sondern jeder pädagogische Bezug wird durch und durch politisiert und zur revolutionären Praxis korrumpiert. Das emanzipatorische Interesse errichtet seine neue Herrschaft in der Schule. Was unter dem Zeichen der „Befreiung" angetreten war, etabliert sich als psychische Gewalttätigkeit gegen die Gesellschaft, gegen ihre Rechtsordnung und ihre sittlich-geistigen Wertvorstellungen.

Die Zielsetzung der emanzipatorischen Pädagogik ist nicht die Erziehung zur Freiheit des einzelnen vor seinem Gewissen und der Rechtsordnung unseres Staates, sondern das elementare Freiheitsbedürfnis der Heranwachsenden wird verdinglicht für die Systemtransformation in der Mobilmachung gegen die Gesellschaft. Wie die solchermaßen restlos Aufgeklärten und Emanzipierten die Gesellschaft in die Barbarei steuern, ist bei Adorno nachzulesen. Er hat zugegeben, daß alles objektivierende Denken am Ende doch wieder einem Herrschaftswillen entspringt und neue Herrschaft hervorbringt: „Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System." Den selbstgewiß argumentierenden Emanzipationshelfern bleibt jedoch der Blick für diese Dialektik der Aufklärung versperrt, studieren die Damen und Herren Pädagogikstudenten und Curriculum-Strategen heute allenfalls noch die Soziologie, und davon die billigste Ausführung, wo sich alle Theoreme und Antworten auf „sozio-ökonomisch“ reimen. Kein Wunder, daß sich auch der letzte Rest an „kritischer" Theorie in Soziologie auflöst, was schon Horkheimer als „ein problematisches Unternehmen" gekennzeichnet hat. Sancta simplicitasl Das Erschreckende ist jedoch nicht die Unbekümmertheit, sondern die Arroganz, zu der erzogen wird, daß es auf jede Frage eine Antwort gibt, ein emanzipatorisches Patentrezept. Kant schreibt: „Alle Aufgaben auflösen und alle Fragen beantworten zu wollen, würde eine unverschämte Großsprecherei und ein so ausschweifender Eigendünkel sein, daß man dadurch sich sofort um alles Zutrauen bringen müßte."

Hartmut und Thilo Castner zitieren ihren Lehrer Adorno, Rationalität sei immer wesentlich auch Realitätsprüfung. Der Exkurs „Die Volksrepublik China — Ein sozialistisches Modell" hat mich von der Sorgfalt solcher „Realitätsprüfung" nicht überzeugen können.

Die Antworten waren längst parat, bevor die Reise auch nur angetreten ist. Im vorletzten Abschnitt ihrer Kritik geben die Gebrüder Castner eine weitere Probe ihrer „Realitätsprüfung" in einem Text, der es mit jeder päpstlichen Apodiktik aufnehmen kann. „Emanzipierte Bürger verhalten sich innen-, nicht außengelenkt", so wird verkündet. Wer frei ist von inneren Zwängen — und das ist der Emanzipierte! —, der erhalte auch die Fähigkeit, gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen zu erkennen und abzuwehren. Die Beherrschung der eigenen Triebdynamik gelingt ihm ebenso perfekt. Der mündige, kritische, autonome, lernwillige und auf Selbstbestimmung bedachte Schüler sei das Ziel der neuen Schule, so endet dieses Credo, aus dem wir schon zu Anfang dieses Kapitels zitierten Max Horkheimer hatte auch einmal die feste Überzeugung, die im Gang der Geschichte einzig wahre und fortschrittliche Partei ergriffen zu haben, die Partei für den natürlichen, diesseitigen Zarathustra-Menschen: Mündig, kritisch, autonom... Mit zunehmendem Alter weicht diese emanzipatorische Gewißheit bei Horkheimer der bedrängenden Frage, wie ungeheuer hoch der Preis ist, der für Fortschritte in Richtung auf Emanzipation, Entmythologisierung und Abbau der Religion bezahlt werden muß: „Ich trauere dem Aberglauben vom Jenseits nach, weil die Gesellschaft, die ohne ihn auskommt, mit jedem Schritt, mit dem sie dem Paradies auf Erden näher rückt, von dem Traum sich entfernt, der die Erde erträglich macht.“ Oder an anderer Stelle: „Das Verschwinden dessen, was in Europa Kultur hieß, ist eins mit der Verabsolutierung des Diesseits, die durch das Schwinden des Aberglaubens ans Jenseits entfesselt wird.“ Horkheimer findet aus seinem Pessimismus und aus der systematischen Begrenzung seines Denkens auf die Negation nicht heraus. Aber er läßt etwas von dem Horror vor den schrecklichen Vereinfachem spüren, die inzwischen ans emanzipatorische Werk gegangen sind, „alle Fragen auflösen und alle Fragen beantworten zu wollen", wenn sie im Fortschritt der Abschaffung der Transzendenz (durch die Negation der Negation) die Menschenwürde zu retten glauben, während sie sie in Wahrheit liquidieren. Horkheimer: „In dem Menschen liegt etwas, das mit Religion zusammenhängt. Es ist eine Sehnsucht nach dem, daß die Welt und das Grauen in der Welt nicht das absolut Letzte und Entscheidende in dieser Realität sein sollen, daß diese Realität nur ein Moment der ganzen Realität sein soll, die wir als das Ganze zu betrachten haben". Wissenschaft, so meint Horkheimer, heißt nichts anderes als herauszufinden, daß ich an der richtigen Stelle in Raum und Zeit das Richtige erwarte. Wahrheit sei etwas ganz anderes: „Wir können nur sagen, daß diese Welt nicht die letzte Wahrheit ist."

Wozu Horkheimer an dieser Stelle? Im „Menschenbild" der Emanzipationspädagogen kommt das Christentum nicht mehr vor. Der Mensch ist autonom und mündig. Er hat aufgehört, sich selbst in ein Höheres zu wandeln, will er doch nichts mehr als sich selbst. Er hat aufgehört, den Begriff der unsterblichen Seele auch nur noch zu denken. Wenn der Mensch an sich gut (emanzipiert) ist, wenn das Böse nur in den Verhältnissen liegt und ihren Fehlformen, dann ist das Christentum abgeschafft, „und der Terror hat ein gutes Ge-* wissen“ Hitler oder Stalin haben dem Christentum wenigstens noch die Ehre angetan, es zu ihrem Todfeind zu erklären. Die emanzipatorischen Curricula von heute gehen schweigend über das Christentum und seine zweitausend) ährige Geschichte hinweg. „Metaphysische, transzendierende Kategorien, getränkt mit der Milch der frommen Denkungsart, die einem Seelsorger wohl anstehen", sind im Urteil von Hartmut und Thilo Castner für den rauhen Boden der Schulwirklichkeit untauglich. „Dieser metaphysische Seinsbezug mag seine Berechtigung im Religionsunterricht haben", sonst doch wohl nirgendwo, fahren die Castners fort. Aber wohin mit der Angst des Menschen? Wohin mit den Zukunftsperspektiven einer verwalteten Welt, in der jeder Sinn erlischt? Wohin mit der Seele des Kindes? Wohin mit dem Preis, der für den (nach wie vor wünschenswerten) Fortschritt bezahlt wird? Wohin mit einem Denken, von dem Heidegger bemerkt, es sei keine bloße Technik, sondern ein „Ereignis“, indem es das unausgesprochene Wort des Seins zur Sprache bringt? Wohin mit Schuld und Versagen, die nicht bei „den anderen" zu suchen sind, nicht bei Feinden und Gegnern, nicht bei der Natur, dem Milieu, dem Kapitalismus? Wohin mit Dankbarkeit und Freude über die Welt als Schöpfung?

Fragen über Fragen, und wer wollte eine einzige von ihnen abschließend beantworten? Sollen dem Menschen alle diese Fragen verlorengehen, weil er jetzt für „mündig, kritisch, autonom" erklärt wird? Soll die neue Schule nicht mehr „die Freigabe des Menschen auf seine Menschlichkeit" (Theodor Ballauf) befördern, sondern nur noch diesen einen Satz lehren: Daß wir von allen Abhängigkeiten frei werden, wenn wir nur ihre materiell-ökonomischen Bedingungen überwunden haben?

Horkheimer bleibt zwar bei seinem „Aberglauben vom Jenseits", und doch läßt er das Erschrecken spüren angesichts der Folgen eines Prozesses, der das Unbegreifliche, was nicht „machbar“ ist, aus den Herzen und Hirnen vertreibt. Ist die Religion erledigt, wird jemand anders kommen, die Gesinnung zu re23 gulieren. Die Erziehung muß zur totalitären werden, wenn sie beansprucht, den Glauben ein für allemal durch Rationalität ersetzt zu haben. „Glücklicherweise", so schreibt der Pädagoge Wilhelm, „ist die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht beantwortet". Sie sei „offen" und müsse auch in der Schule offengehalten werden, „daß die Möglichkeiten des Menschen nicht zu kurz bemessen werden" Man könnte auch den alten Goethe für die Emanzipationspädagogen zitieren: „Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankrott.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hartmut von Hentig, Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule?, Stuttgart 1971.

  2. H. v. Hentig, a. a. O., S. 133.

  3. H. v. Hentig, a. a. O., S. 134.

  4. H. v. Hentig, a. a. O., S. 90, 91, 107, 124, 112. Hentig nimmt zu den radikalen Entschulungsthesen von Ivan Illich eine zwiespältige Haltung ein. Er sympathisiert mit Illichs'Alternativen und Infrage-stellungen, die so weit gehen, die Schulleute den Terroristen und Folterknechten der totalitären Regimes gleichzustellen. Schule ist zum Vehikel für alles Mögliche gemacht worden. Andererseits war Hentig selbst lange Jahre auf der anderen Seite, die Schule auf Fortschritt programmiert hat. Nach Cuernavaca sieht er in Illichs’ scharfer Kehrtwendung, die sich nicht zuletzt gegen die progressive Überforderung von Schule richtet, die Voraussetzung für eine Sichtweise, „die allein die Reform hervorbringen kann, um tatsächlich etwas zu ändern." Also doch Gesellschaftsveränderung über Schule? Der Bericht bleibt dennoch lesenswert und sollte jedem Emanzipationspädagogen zur Pflichtlektüre gemacht werden, damit die festgefahrenen Denkmodelle erschüttert werden.

  5. H. v. Hentig, a. a. O., S. 32.

  6. H. v. Hentig, a. a. O., S. 85, 53.

  7. Vgl. Hermann Boventer. Gebt uns die totale Schule — Pädagogik als Allmachtstraum, Zürich 1975.

  8. Hartmut und Thilo Castner, Die Volksrepublik China — Ein sozialistisches Modell, Düsseldorf 1974, S. 115, 143.

  9. H. und T. Castner, a. a. O., S. 119, 121, 114, 123.

  10. H. und T. Castner, S. 123— 125.

  11. H. und T. Castner, S. 125, 126. In dem Material-band häufen sich ähnliche pädagogische Empfehlungen. So erinnern die Verfasser daran, wie es ihnen in einer Nürnberger Volkshochschule gelang, die Besucher innerhalb kurzer Zeit davon zu überzeugen, daß „Rotchina" weder aggressiv noch kriegslüstern sei, weil sich unter den Hörem ein junger Chinese befand, „der unsere Ausführungen bestätigte und ergänzte“. Das schiefe Bild der „verinnerlichten westlichen Presseberichte" sei nachdrücklich erschüttert worden: „Daraus ließe sich die Erkenntnis ziehen, daß zum Abbau von Vorurteilen gegen die angeblich aggressive chinesische Außenpolitik nichts günstiger wäre als die Ausfindigmachung eines Vertreters der Volksrepublik China — z. B. über die chinesische Botschaft — für einen Unterrichtsbesuch."

  12. H. und T. Castner, a. a. O., S. 126, 55.

  13. H. und T. Castner, a. a. O., S. 143, 63 65, 68, 70, 74, 120, 109.

  14. H. und T. Castner, a. a. O., S. 136. Die Farben sind im Kapitel über die chinesische Volkskommune besonders leuchtend. Die „Utopia“ des englischen Lordkanzlers Thomas More trägt entschieden realistischere Züge. Am peinlichsten wirkt das starke, an eine gewisse DDR-Prosa erinnernde Moralin der eingestreuten Erlebnisberichte aus China: „Bei uns kommen ja nicht viel Streit und persönliche Reibereien vor, aber wenn es doch mal der Fall ist, greifen wir ein und versuchen, das Problem im Sinne Mao Tse-tungs zu lösen ..

  15. Vgl. Arnold Künzli, Aufklärung und Dialektik, Freiburg 1971, S. 137 f.

  16. H. und T. Castner, a. a. O., S. 66.

  17. Helmut Schoeck, Das Geschäft mit dem Pessimismus, Herderbücherei Freiburg 1975, S. 95.

  18. H. v. Hentig, a. a. O., S. 115.

  19. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Fischer-Bücherei Frankfurt 1971, S. 24.

  20. Zit. nach Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1963, S. 363.

  21. Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, Hrsg. Werner Brede, Frankfurt 1974, S. 191, 162.

  22. Zit. nach Otto B. Roegele, Max Horkheimer — das vorletzte Kapitel, in: Internationale katholische Zeitschrift „Communio“, Rodenkirchen 2/75, S. 186. Das Zitat stammt aus einem der letzten Vorträge Horkheimers.

  23. Vgl. Günter Rohrmoser, Die metaphysische Si-tuation unserer Zeit, Stuttgart 1975, S. 129.

  24. Theodor Wilhelm, Theorie der Schule, Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften, Stuttgart 1969 (2. Auflage), S. 231 ff., auch S. 245 ff.

Weitere Inhalte

Hermann Boventer, Dr. phil., geb. 1928 in Düsseldorf. Studium der Philosophie, Kunstgeschichte, Soziologie; drei Jahre Studium und Lehrtätigkeit in Nordamerika, USA-Vortragsreisen; zwölf Jahre Tätigkeit als Journalist (Chefredakteur der Jugendillustrierten „kontraste", freiberuflich); seit 1968 Akademie-leiter (Thomas-Morus-Akademie Bensberg); derzeit Vorsitzender der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands. Veröffentlichungen s. B 13/75.