In Bertolt Brechts «Geschichten vom Herm Kenner" wird Herr K. gefragt: „Woran arbeiten Sie?“ — Herr K. antwortete: „Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor."
Die sympathisch-selbstironische Skepsis des in Irrtümern erfahrenen Herrn K. ist für die Geschichtsdidaktik nicht ganz belanglos. Vor dem Hintergrund der Geschichte des Geschichtsunterrichts gehört die Suche, ja geradezu die Fahndung nach dem möglichen neuen Irrtum zu ihren ständigen Aufgaben als Wissenschaft. Sie kann sich von dieser Aufgabe um so weniger dispensieren, weil sie es unter anderem auch mit Schülern zu tun hat.
Die Geschichte des Geschichtsunterrichts ist gekennzeichnet durch permanente Versuche, Schüler auf vorgeblich allgemein gültige Identifikationsbasen zu verpflichten. Geschichtsunterricht war und ist eine obligatorische Veranstaltung des Staates. Im öffentlichen, staatlich dekretierten und observierten Geschichtsunterricht versuchten der Staat und die in ihm dominierenden gesellschaftlichen Machtgruppen, ihr Selbstverständnis in die Köpfe unterschiedslos aller Schüler umzusetzen Im Gesinnungsfach Geschichte vermittelten sie den Standort, den sie sich selber im historischen Prozeß zuschrieben, an alle Schüler, verordneten sie Loyalität und verfügten sie verbindliche Identifikationen. Geschichtsunterricht sollte die Identität des bestehenden sozialen Systems stiften, indem er dessen Vernünftigkeit historisch legitimierte; er sollte als Geschichtsunterricht den Status quo verbürgen, indem er zu ahistorischem „Denken" erzog. Wenn der preußische oder der deutsche Schulmeister je eine Schlacht gewonnen haben sollte, dann auch durch einen Geschichtsunterricht, der den Untertanen und später den loyalen Staatsbürger hervorbrachte, der bereit war, seine Interessen, die er als Individuum oder als Angehöriger einer sozialen Gruppe hatte, fraglos dem „Ganzen" unterzuordnen.
Streng genommen gab es zu dieser Zeit — d. h. vom 19. Jahrhundert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein — noch keine Geschichtsdidaktik, wenn man unter Geschichtsdidaktik eine Disziplin versteht, die wissenschaftlich danach fragt, aus welchen Gründen welcher historische Themenkomplex für gegenwärtig lebende und in die Zukunft hinein handelnde Schüler wissenswert und wissensnotwendig ist Streng genommen gab es nur eine Geschichtsmethodik als die Lehre von den Methoden und Medien, über die eine optimale Realisierung der ahi-storischen staatlichen Verordnungen gewährleistet zu sein schien Analog gibt es bis heute in der DDR keine Geschichtsdidaktik im genannten Sinne: das Standardwerk von Bernhard Stohr heißt nicht zufällig „Methodik des Geschichtsunterrichts"
Erst mit der Ausbildung der Geschichtsdidaktik entsteht dem Staat und den gesellschaftlichen Machtgruppen gegenüber eine wissenschaftliche Instanz, die qua Definition — als Wissenschaft — nicht der Büttel ist. Mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ist das zentrale wissenschaftliche Selbstverständnis — die Freiheit der Wissenschaft — mitgesetzt und als Verpflichtung übernommen. Die Freiheit der Wissenschaft bewährt sich dort, wo Wissenschaft sich nach vollzogener Reflexion ihrer gesellschaftlichen Implikationen gegen illegitime außerwissenschaftliche Zugriffe wehrt, wo sie sich Zumu-tungen verweigert und innerwissenschaftliche Irrtümer aufdeckt
Zumutungen werden wie eh und je an den Geschichtsunterricht herangetragen: durch wohlmeinende Planungsbehörden, durch gesellschaftliche Machtgruppen und durch Geschichtsdidaktiker. Geschichtsdidaktik hat diese Zumutungen zu prüfen, um den nächsten Irrtum noch in seiner Entstehung zu verhindern. Dem allgemeinen Sphärenumschwung in der Gesellschaft entsprechend, ist die gegenwärtige Diskussion über Geschichtsunterricht wieder weitgehend durch die Setzung politischer Normen ohne wissenschaftliche Dignität bestimmt. Dazu einige Indizien.
Politisch gefundene Sollwerte bestimmen die öffentliche Diskussion So fordert Hanna-Renate Laurien vom Geschichtsunterricht und von der Gesellschaftslehre allgemein die Erziehung zur „Loyalität“ und die Darstellung der „Faszination unserer Gesellschaftsordnung“ So beklagt Werner Conze in der „Frankfurter Rundschau", die Lernziele der hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre liefen „nicht auf Identifikation mit der parlamentarischen Demokratie, sondern auf Mißtrauen gegenüber unserer Staatsform" hinaus. Er moniert, es gehe „offenbar nicht darum, 10-bis 16jährige zu kritisch pflichtbewußten Staatsbürgern, sondern zu individuellen und kollektiven Nutznießern der reichlichen Chancen, die das freie System der Bundesrepublik bietet, heranzubilden": die Rahmenrichtlinien betrieben „Anspruchswekkung", seien auf „Chancengewinnung", „Solidarisierungs-und Konfliktbefähigung" gerichtet So vermissen andere in den Rahmen-richtlinien die „Identifikation mit dem Staat"
Was so im außerwissenschaftlichen Bereich veröffentlicht wird, bezeichnet eine Tendenz, die bereits in die geschichtsdidaktische Diskussion eingeflossen ist. Auch dazu einige Indizien.
Siegfried Graßmann, Vorsitzender des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands, spricht 1974 von der Notwendigkeit, im Geschichtsunterricht „Identifikationsmuster“ zu schaffen und „Normenbildung" zu betreiben Er will dabei „offenlassen, ob es wünschenswert ist, in der Bundesrepublik Deutschland eine nationale Identität zu erzeugen oder ob ein europäisches Bewußtsein mit einer supranationalen Identität nicht erstrebenswert wäre" Wie auch immer die Antwort auf diese Frage ausfalle, „in jedem Fall wird es erforderlich sein, diese Identität durch Geschichtsunterricht an den Schulen zu fundieren“ Nicht zufällig spricht Graßmann in diesem Zusammenhang von der „Schulung junger Menschen"
Graßmanns Unentschiedenheit zwischen nationaler und supranationaler Identität erfährt bei Erich Kosthorst eine Entscheidung zugunsten der nationalen Identität. 1974 konstatiert er „die deutsche Identitätskrise" und schreibt er der geschichtlichen Aufklärung in der Schule die „Funktion einer identitätsstiftenden Funktion" zu 1975 wird ihm in einseitiger Auslegung des didaktisch höchst brisanten Problems der „Zeitperspektive" „die nationale Identität" zum zentralen Problem einer Didaktik der Zeitgeschichte gerät ihm „die Entfaltung eines neuen, sozial und demokratisch festgegründeten Patriotismus" zu jener Zukunftsperspektive, ohne die es nach Lewin keine Handlungsmoral im Sinne einer Handlungsmotivation gibt
Die Terminologie hat sich gewandelt: Identifikation, Identitätsfindung, Identität sind neue Vokabeln in der geschichtsdidaktischen Diskussion. Die prinzipielle Affinität dieser Normsetzungen zu den Normsetzungen, die aus der Geschichte des Geschichtsunterrichts bekannt sind, ist frappierend: die Überantwortung der Individuen an die Nation, die nationale Identität als geschichtsdidaktische Zielsetzung, die grundsätzliche Forderung nach Normenbildung im Geschichtsunterricht im Sinne einer inhaltlichen Normativität — als habe es historische Erfahrungen nie gegeben und als gebe es keine Ideologiekritik als wissenschaftliche Fragehaltung und als wissenschaftliches Verfahren, die nach der gesellschaftlichen Funktion, nach den gesellschaftlichen Auswirkungen von übergeordneten Identifikationsbasen fragen kann
Es ist Friedhelm Streiffeier (1972) durchaus darin zuzustimmen, daß der bisherige Geschichtsunterricht durch die gesellschaftlich ja nicht exterritoriale Fixierung auf eine nationale Identität die Ausbildung von Klassenidentität verhindert hat Dies war sicherlich auch sein ideologischer Sinn. Aber Streiffeier, nach Rolf Schörken (1970) der einzige, der die Bedeutung des Identifikationslernens für den Geschichtsunterricht betont hat, stürzt die Geschichtsdidaktik nur in das Wechselbad einer Kontra-Indoktrination, wenn er vom Geschichtsunterricht die Herstellung von Klassenidentität als richtiger Identität fordert Er geht aus vom Paradigma des Identifikationslernens auf Ähnlichkeitsbasis. Dieses Lernen hat zur Voraussetzung, daß zwischen Ego und Alter, sprich: zwischen Schüler und historischen Akteuren eine Ähnlichkeit besteht, die der Lernende wahrnehmen kann. Die Ähnlichkeit führt zu Identifikationsprozessen, in denen auch Eigenschaften oder Wertvorstel-lungen assimiliert werden können, die das Ego, sprich: der Schüler nicht hat Streiffeier zieht aus diesem Paradigma, aus diesem vielversprechenden lerntheoretischen Ansatz eine unerlaubte Konsequenz: „Es ist nun von größter Wichtigkeit, keine falschen Identifikationen aufkommen oder fortwirken zu lassen, die auf oberflächlichen Ähnlichkeiten beruhen. Als eine solche ist von einem kritischen Standpunkt aus die nationale Identifikation anzurechnen. Demgegenüber erscheint von einem kritischen Standpunkt aus als wesentliche Ähnlichkeit und damit Identifikationsbasis die Klassenzugehörigkeit. Da man annehmen kann, daß die meisten Schüler nicht der gegenwärtig herrschenden Klasse angehören, bilden die unterdrückten Klassen (u. U. auch Völker) früherer Zeiten oder der Gegenwart die geeigneten Identifikationsobjekte." Weiter führt Streiffeier aus: „Wenn die Identifikationsfrage geklärt ist, sind die Ereignisse aus der Perspektive des gewählten Modells zu berichten und zu interpretieren."
Es zeigt sich also: auf der einen wie auf der anderen Seite wird viel Mühe darauf verwandt, neue Irrtümer vorzubereiten. Linker Oktroi unterscheidet sich von rechter Indoktrination sicherlich durch eine größere Sensibilität für die soziale Frage und für die Legitimität sozialer Ansprüche. Er bleibt Oktroi. Es dürfen in Erziehungsprozessen „keine Generationen verheizt, aufgeopfert werden, um eine künftige Harmonie zu düngen" Ebensowenig wie die Legitimität von Nationalbewußtsein kann die Rechtmäßigkeit von Klassenbewußtsein geleugnet werden. Aber Kurt Gerhard Fischer, der kürzlich auf diesen Sachverhalt eindringlich aufmerksam gemacht hat, hat klar die Grenze gezogen, die für Erziehung — für Politische Bildung wie für Geschichtsunterricht gleichermaßen — gilt: „Die öffentliche Schule hat Menschen zu begaben, sich eine Gesinnung zu bilden; aber sie kann nicht die Aufgabe haben und wahrnehmen, Gesinnungen zu vermitteln." Damit sind wir beim Kem der Sache. Neuere geschichtsdidaktische Konzeptionen hantieren zwar mit dem begrifflichen Instrumentarium des Identitätskonzepts. Sie haben aber die grundsätzliche Problematik nicht zur Kenntnis genommen, die Klaus Mollenhauer in dem Satz zusammengefaßt hat: „Wo immer Lernerwartungen entstehen oder an Individuen gerichtet werden, steht deren Identität zur Diskussion." Wer die nationale Identität oder die Klassenidentität als obligatorischen Bezugspunkt von Geschichtsunterricht setzt, vergißt darüber die Ich-Identität der Schüler. Die meisten geschichtsdidaktischen Konzeptionen und der Geschichtsunterricht verstanden den Schüler bislang als lernfähiges Objekt, durch das hindurch Systemidentität gestiftet werden sollte. Der Schwerpunkt im Bildungsprozeß lag dabei auf sozialer Identität, indem bedingungslos auf die wertmäßig absolut übergeordneten Identifikationsobjekte Staat, Volk, Gemeinschaft und neuerdings „die" Demokratie abgezielt wurde.
Die Ich-Identität, die Identität der Schüler galt als etwas, über das verfügt werden durfte zugunsten der Identität des sozialen Systems, d. h. zugunsten der Stabilisierung des sozialen Systems. Der Bildungsprozeß war gelungen, wenn der Schüler als loyaler Staatsbürger seine eigenen Ansprüche und die historischen Rechte seiner Bezugsgruppen im Zweifelsfäll dem „Ganzen" unterordnete. Tendenziell war in solchen Konzeptionen die Gefahr enthalten, daß die personale Identität zugunsten der sozialen Identität vernichtet wurde.
Der Versuch, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht vom Identitätskonzept her zu begründen, steht noch aus. Schörkens erster Ansatz (1970) war noch unzureichend und ist auch nicht weiter verfolgt worden. In den Sozialwissenschaften ist die Diskussion dagegen bereits so weit vorgetrieben, daß Habermas apodiktisch behaupten kann: „Nur der Begriff einer Ich-Identität, die zugleich Freiheit und Individuierung des einzelnen in komplexen Rollensystemen sichert, kann heute eine zustimmungsfähige Orientierung für Bildungsprozesse angeben." Geschichtsdidaktik, die ebenso wie die Geschichtswissenschäft sich zu den Sozialwissenschaften hin öffnet, kann vom Identitätskonzept her sinnvoll neu begründet werden Was im folgenden vorgelegt wird, ist ein erster knapper Aufriß, ein notwendigerweise noch stark begrifflich und theoretisch orientierter Rahmen — Ansicht eines geschichtsdidaktischen Programms.
Der Aufriß beginnt mit der Begriffsbestimmung von Identität. Alle bisherigen geschichtsdidaktischen Konzeptionen haben das fundamentale Problem der Ich-Identität verkannt: die empfindliche Balance zwischen personaler Identität und sozialer Identität Unter „Identität" ist der „durch Sprache dem Bewußtsein verfügbar gemachte Ort der einzelnen Person in einem sozialen Beziehungssystem" zu verstehen Dieses Verständnis der Individuen von sich selbst — ihre Selbstlokalisierung als Individuum und als Mitglied sozialer Gruppen in einem bestimmten sozialen System, enthält die Aspekte der personalen Identität und der sozialen Identität. Die Eigenleistung, die das Individuum beim Aufbau und bei der Aufrechterhaltung der Ich-Identität aufbringen muß, liegt in seiner Fähigkeit, personale und soziale Identität in Balance zu halten Personale Identität erlangt das Individuum, wenn es ihm gelingt, in lebensgeschichtlicher Perspektive eine unverwechselbare Biographie aufzubauen. In den wechselnden Situationen seiner Lebensgeschichte muß das Individuum die Kontinuität des Ichs wahren und mit sich selber identisch bleiben, sich gewissermaßen selber treu bleiben
Soziale Identität erlangt das Individuum durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen Bezugsgruppen. Es bewahrt seine soziale Identität, wenn es in seiner Zugehörigkeit zu verschiedenen, oft „inkompatiblen" Bezugsgruppen die ihm zugemuteten Rollen zu einer Einheit integrieren kann Der Aufbau der Ich-Identität erfolgt in Identifikationsprozessen. In diesen Identifikationsprozessen übernimmt das Individuum Züge, Eigenschaften, Wertvorstellungen des Identifikationsobjekts oder der Identifikationsobjekte und integriert sie in seine Persönlichkeitsstruktur, ohne sich selber dabei untreu zu werden. Die Identifikation mit anderen Personen und mit sozialen Gruppen ist dabei ein fortlaufender Prozeß in der Lebensgeschichte des Individuums, das sich in diesem Prozeß zwar verändert, aber in der Regel mit sich identisch bleibt
Die Kenntnis des Balance-Problems zwischen sozialer und personaler Identität verbietet es, daß dem Schüler eine soziale Identität öffentlich oder institutionell verordnet wird; das Recht auf eigene Identifikationen muß ihm vorbehalten bleiben. Das gilt auch und besonders für den Geschichtsunterricht, für ein traditionelles Gesinnungsfach. Ich-Identität ist der zentrale Bezugspunkt einer weder indoktrinierenden noch manipulierenden Geschichtsdidaktik.
Um das Identitätskonzept geschichtsdidaktisch fruchtbar zu machen, sind der Begriff und das Problem der historischen Identität als eines Bestandteils von Ich-Identität einzuführen. Historische Identität meint eine Selbstlokalisierung von sozialen Gruppen und ihren Mitgliedern im historischen Prozeß. Vom Individuum her meint sie eine selbstidentifikatorische Zuordnung zum historischen Selbstverständnis sozialer Bezugsgruppen. Diese Selbstlokalisierung ist von kognitiven Inhalten her allein nicht erklärbar: eine genaue Kenntnis historischer Zusammenhänge, Verläufe, Entscheidungen liegt solcher Selbstlokalisierung selten zugrunde. Sie geschieht eher dadurch, daß symbolisch vermittelte und sprachlich ungefüg verfügbare Erfahrungen eingebracht werden, die Negt im Begriff der „sozialen Topik" festgehalten hat Solche sprachlich ungefügen Topoi, aus denen historische Erfahrungen und ihre Internalisierung durchschimmern, sind etwa: „die da oben, wir hier unten“, „die machen ja doch mit uns, was sie wollen", „da kann man gar nix machen", „der Arbeiter ist immer der Dumme", „man muß sich halt anpassen" — Spruchweisheiten, in denen eine diffuse, wenn nicht ge42) brochene Identität zum Ausdruck kommt
Historische Identität ist nicht etwas, das im Geschichtsunterricht neu angelegt würde. Subjekte werden in das historische Selbstverständnis sozialer Gruppen, Schichten und Klassen gewissermaßen hineingeboren. Es ist ihnen vorgegeben. Im Verlaufe ihrer Lebensgeschichte, die in diesem Zusammenhang nur als Sozialisationsprozeß begreifbar ist, rezipieren die Individuen die historische Identität ihrer sozialen Bezugsgruppen, machen sie sich zu eigen oder werfen sie in Lebenskrisen ab. Rezeption von Geschichte und historischer Identität meint dabei die in jeder Lebensgeschichte zu jedem Zeitpunkt stattfindende, also auch vorschulische und außerschulische Rezeption jeder Form von Geschichte Diese Rezeption vollzieht sich über sozialspezifische Sprache und die in ihr gespeicherten historischen Erfahrungen, über sozialspezifische Verhaltensweisen, sozialspezifische Normen, Wertvorstellungen und Deutungsmuster. Der gesamte vor-und außer; schulische Sozialisationsprozeß ist ein je und je sozialspezifischer Einfädelungsprozeß in eine randvoll mit Geschichte angefüllte Gesellschaft. In dieser Gesellschaft ist die bisherige Geschichte auf vielfältigste Weise materiell und ideell, realiter und als utopischer Entwurf akkumuliert — eine Welt von historischen Erarbeitungen Im Sozialisationsprozeß werden Individuen so in diese Gesellschaft und in diese Welt historischer Erarbeitungen eingefädelt daß diese historische Umwelt ihnen ausschnitthaft zur Inwelt wird. Der zeitliche und der soziale Standort des Individuums im historischen Prozeß bestimmen darüber, welchen Anteil es an den geschichtlich erarbeiteten und erreichten Möglichkeiten hat, was es rezipiert und welche Identität es unter Einschluß der entsprechenden historischen Identität für sich ausbildet.
Diese Erkenntnis ist grundsätzlich wichtig: Schüler bringen — wie diffus auch immer — historische Identität in den Geschichtsunterricht von Hause aus mit. Der Schüler, der im Geschichtsunterricht Geschichte rezipieren soll, hat bereits Geschichte in Form einer bestimmten sozialen Geschichte internalisiert; er hat bereits ein klassen-, schichten-und/oder gruppenspezifisches Geschichtsbewußtsein vorgebildet und eine historische Identität angelegt — wie unstrukturiert, ja wie gebrochen, wie heterogen sie auch immer ist. Dieses bereits angelegte Geschichtsbewußtsein, das noch weitgehend frei ist von kognitiven Inhalten, bestimmt die Zeitperspektive des Schülers, seine Identifikationen, seine Wertvorstellungen und seine Einstellung zur politischen Praxis. Zeitperspektive, Identifikationen, Wertvorstellungen und Einstellung zur politischen Praxis können generell als kategoriale Bestandteile von Geschichtsbewußtsein verstanden werden, die die fortlaufende Rezeption von Geschichte im Geschichtsunterricht — und außerhalb des Gesichtsunterrichts — bestimmen
Die im Geschichtsunterricht vermittelten Inhalte und die Art der Geschichtsdarstellung im Geschichtsunterricht sind nach diesen Befunden vor der Lebensgeschichte der Individuen und vor der objektiven Struktur der Gesellschaft nicht neutral. Dieser Tatsache hat sich jeder Geschichtsunterricht zu stellen, der den wissenschaftlichen Irrtum der politischen Indoktrination und das pädagogische Vergehen gegen die rechtmäßige, gegen die legitime Ich-Identität der Schüler vermeiden will. Die gegenwärtig noch immer dominanten geschichtsdidaktischen Konzeptionen laufen auf einen funktional-affirmativen Geschichtsunterricht hinaus, auch wo sie die Sozialisation von Schülern mitbedenken Sie planen die individuelle Lebensgeschichte des Schülers und die darin vorschulisch erfolgte und außerschulisch erfolgende Rezeption von Geschichte und historischer Identität als Lernwiderstand, als potentiellen Störfaktor ein. Sie sind so konzipiert, daß sie den Schüler nur als Objekt von Lernprozessen begreifen Die intendierten Lernprozesse können dabei nur dann annäherungsweise realisiert werden, wenn der Störfaktor „historische Identität" wie auch immer umgangen oder ausgeschaltet wird. Die Überwindung dieses Lernwiderstandes entfremdet die Schüler ihren vorgängigen Identifikationsbasen. Sie beschädigt oder zerstört damit ihre Identität, die immer auch historische Identität ist. Ein Geschichtsunterricht, der die vorgängige sozialspezifische Rezeption von Geschichte nur als Lernwiderstand aufzufassen vermag, ist indoktrinierender Geschichtsunterricht: er stellt die dekretierte Identifikationsbasis über die Ich-Identität. Es ist dabei nicht durchgängig so, daß die Identität des Schülers als unerlaubt gilt, aber sie wird als störend empfunden bei dem Ziel, die gesellschaftlich vorherrschende historische Selbstvergewisserung zu vermitteln. Eine so konzipierte Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis sind von ihrer Anlage her indoktrinierend.
Ein Ausweg aus diesem traditionellen Dilemma ist nur möglich über einen Geschichtsunterricht, der die sozial-spezifische Sozialisation und die angelegte, noch diffuse oder bereits gebrochene historische Identität der Schüler als einen notwendigen und ins Bewußtsein zu hebenden Lern gegenstand begreift. Unter dem Aspekt der balancierten Identität und der historischen Identität stellt sich für Geschichtsunterricht die komplexe Aufgabe, — Hilfen beim Aufbau von Ich-Identität zu geben, — Identitätsbeschädigungen zu verhindern, — eingetretene Identitätsbeschädigungen aufzuheben.
Er will die historische Identität nicht beschädigen, zerstören oder auch nur ausschalten; er will sie vielmehr ins Bewußtsein überführen, zum Reflexionsgegenstand machen und dem Schüler über die Reflexion kognitiver Inhalte ermöglichen, seine eigene individuelle Lebensgeschichte und kollektive Sozialgeschichten für sich aufzuarbeiten — und zwar gleichzeitig, weil die Lebensgeschichte mit der Sozialgeschichte verwoben ist Wenn Identität über Identifikationsprozesse aufgebaut, vertieft, erweitert oder auch modifiziert wird, -so ist daran geschichtsdidaktisch wichtig, daß die Identifikationsobjekte nicht aus der Gegenwart stammen müssen So wie Identität in der Interaktion mit gegenwärtig lebenden Individuen und mit gegenwärtig bestehenden sozialen Gruppen aufgebaut werden kann, so kann auch das Identifikationsobjekt oder können auch die Identifikationsobjekte der Vergangenheit entnommen sein. Die historische Identität läßt sich klären oder vertiefen über das Nachdenken der möglichen entscheidenden Lerninhalte, über die je und je individuelle rückschauende Solidarisierung in prospektiver Absicht
Ein Geschichtsunterricht, der in Kenntnis der Identitätsproblematik konzipiert ist, macht den Schülern Angebote, statt verordnete Prägungen anzustreben. Er bietet Inhalte an, an denen sich Identifikationsprozesse von Schülern entzünden können. Die angebotenen Inhalte werden nicht vermittelt, sondern verhandelt. Ein solcher Geschichtsunterricht hält Geschichte als einen reflexionswürdigen, in diesem Sinne immer unerledigten Prozeß, offen indem er historische Sachverhalte aus vielen Perspektiven betrachtet und durchdenkt. Geschichte enthält ein Reflexionspotential, das erst dann voll erschlossen werden kann, wenn es systematisch aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und bedacht wird
Damit sind wir bei der Frage der Geschichtsdarstellung im Unterricht angelangt. Gerade* vor einem geschichtsdidaktischen Identitätskonzept ist Multiperspektivität als entscheidendes Moment des Geschichtsunterrichts anzusehen. Die Betrachtung eines historischen Sachverhalts aus vielen sozialen Perspektiven bringt historische Wertvorstellungen und Handlungsmuster in den Unterricht ein, für die Schüler sich auf der Grundlage ihrer historischen Identität in Identifikationsprozessen entscheiden können, die sie aber auch für sich verwerfen können. Und wenn sie sie für sich verwerfen, so verbürgt ein multiperspektivisch angelegter Geschichtsunterricht doch zugleich, daß auch fremde historische Identität mitbedacht wird; oder genauer: unter den operationalisierbaren Lernzielen eines multi-perspektivischen Geschichtsunterrichts kann die Kenntnis der Wertvorstellungen und der Handlungsmuster auch derjenigen historischen Akteure dem Schüler abverlangt werden, mit denen er sich nicht identifizieren mag oder kann.
Ein derart nach dem Identitätskonzept angelegter Geschichtsunterricht ermöglicht den Schülern, nationale Identität oder Klassenidentität zu entwickeln; er verbietet sich, Nationalbewußtsein oder Klassenbewußtsein zu vermitteln. Er ist nicht parteilich, aber er hilft Schülern, Partei ergreifen zu lernen. Er anerkennt keine Höherwertigkeit einer Identifikationsbasis gegenüber einer anderen, anerkennt aber die Notwendigkeit, verschiedene Identifikationsbasen anzubieten. Er zwingt die Schüler nicht, sich für eine bestimmte Identifikationsbasis zu entscheiden; er hält sie allerdings dazu an, sich mit fremden Wertvorstellungen auseinanderzusetzen. —
Aber auch für dieses Konzept gilt letztlich, daß es mit viel Mühe möglicherweise nur den nächsten Irrtum vorbereitet hat.