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Vietnam und die Folgen | APuZ 38/1975 | bpb.de

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APuZ 38/1975 Einige Bemerkungen aus polnischer Sicht zum Thema „Informations-, Meinungsund kultureller Austausch" Praktische Probleme bei der Begegnung, beim Dialog und beim Informationsaustausch zwischen Ost und West Vietnam und die Folgen

Vietnam und die Folgen

Earl C. Ravenal

/ 34 Minuten zu lesen

Dieser — leicht gekürzte — Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung von United Press International entnommen und übersetzt aus „Foreign Affairs“, Juli-Heft 1975.

I.

Als im März/April dieses Jahres die letzten amerikanischen Stützpunkte in Vietnam aufgegeben werden mußten, machte die Regierung dafür den Kongreß verantwortlich, brandmarkte gewisse Politiker als uneinsichtige „Isolationisten" und beschwor die folgen-reichsten Konsequenzen im Hinblick auf die nun vergeblichen Bemühungen, den Zusammenbruch Südvietnams noch eine Weile hinauszuzögern. Es gab jedoch auch andere Stimmen — unter ihnen optimistische Politiker und weitblickende Journalisten—, die derartige Anklagen und Unterstellungen entschieden ablehnten. Sie wiesen darauf hin, daß Vietnam nicht nur wenig mit der Position der Vereinigten Staaten in der übrigen Welt zu tun habe sondern im Gegenteil der Rückzug aus Vietnam den Amerikanern im allgemeinen mehr nützen als schaden werde. Vielleicht kann erst jetzt die Analyse und die Diskussion über die Ereignisse in Vietnam unvoreingenommen und mit mehr Objektivität geführt werden. So lassen sich beispielsweise einige Gründe dafür nennen, daß die alte „Domino-Theorie“ nicht gänzlich irreal war. Die Gründe haben dabei u. a. zu tun mit dem politischen Entscheidungsprozß in den USA, den Reaktionen darauf von selten ihrer Verbündeten als auch ihrer Gegner sowie der daraus wiederum resultierenden Struktur des internationalen politischen Systems. All diese Faktoren wurden durch das Ende in Vietnam nicht nur tangiert, sondern in starkem, Maße beeinflußt. Dabei hat es sicherlich mancher amerikanische Kommentator oder Regierungsbeamte bedauert, daß diese Faktoren nicht stärker unter Kontrolle zu halten waren. Ob bedauerlich oder nicht — wir können nun eben nicht das Unglück von Vietnam auf das Maß unserer Hoffnungen oder unseres Gewissens verkleinern.

Wir Amerikaner sind es müde, Lektionen über Vietnam anhören zu müssen — über diesen Krieg, bei dem zu häufig die rückblicken-den Schuldbekenntnisse und Anklagen den eigentlichen Ereignissen vorauseilten. Es ei scheint vielmehr notwendig zu fragen: welch Schlußfolgerungen und Entscheidungen könn ten heute anders ausfallen als beispielsweisi im Herbst 1974 oder vor den Ereignissen in März und April 1975, auf die der endgültig» Zusammenbruch folgte? Was wissen wir jetzt was wir damals nicht wissen konnten? -, ode besser noch: was wissen wir jetzt, was da mals nur zu vermuten war? Nun, immerhir war damals bereits bekannt, daß die Mach der Exekutive stark eingeschränkt war durct den Antrag des Kongresses vom August 1973 der eine nochmalige Intervention in Südost asien ablehnte. Vielleicht hätten wir damals bereits auch in der Lage sein können, das endgültige Scheitern des amerikanischen Engagements vorherzusagen angesichts der vom Kongreß 1974 vorgenommenen Kürzungen dei Vietnam-Hilfen von den ursprünglich von dei Regierung geforderten 1, 4 Milliarden Dollai auf 700 Millionen Dollar und seiner Weigerung im Winter 1975, diese Kürzungen wieder rückgängig zu machen. Auch Watergate hat seine Rolle bei all dem gespielt. Aber hier waren die möglichen Rückwirkungen bis zum Schluß nicht völlig zu übersehen; wir konnten lediglich darüber spekulieren, welchen Effekt der Widerstand des Kongresses und das Verfahren gegen den Präsidenten auf das Recht der Exekutive zur Kriegsführung haben würden. Was folgte, hatte dann in der Tat nur noch die bereits im Vorjahr sich ankündigenden Tendenzen verstärkt. Wir nahmen teil am Schauspiel eines sich sehr „konstitutionell" gebenden Präsidenten (der erste nach Eisenhower, der anläßlich der Indochina-Krise im April 1954 in ähnlicher Weise gehandelt, genauer: auf das Handeln verzichtet hatte), der sich damit begnügte, die Entscheidungen über Vietnam und Kambodscha dem Kongreß zu überlassen. Der politische Tatbestand, dem wir uns nun seit dem Frühjahr 1975 gegenübersehen, ist wohl so zu charakterisieren, daß die Konsequenzen unseres demonstrativen Nichthandeins — so richtig und gerechtfertigt dieses als Entscheidung auch gewesen sein mag — nunmehr sehr viel wichtiger geworden sind als der unmittelbare „Verlust" von Vietnam selbst.

II.

Die Mehrzahl der Schlußfolgerungen und Überlegungen, die von liberalen oder unvoreingenommenen Beobachtern angestellt worden sind, geht dahin, daß der Verlust von Vietnam tragbar sei, wenn nicht sogar wünschenswert, daß das Engagement dort ein Fehler gewesen ist, daß der Rückzug uns in unseren internationalen Beziehungen zugute kommt und daß wir schließlich zumindest darauf Einfluß nehmen könnten — sowohl als wie der Zielsetzung als Ausdruck Zuversicht—, den Schaden für Amerikas Prestige, seinen Einfluß und seine strategischen Positionen nicht nur einzudämmen, sondern darüber hinaus die Bedeutung dieser Werte Wieder zu festigen. Im folgenden einige Beispiele für derartige Stimmen: „Die Fehler der Vergangenheit dürfen nicht durch eine einseitige Interpretation für die Zukunft festgeschrieben werden. Die Mißerfolge dieses Landes in Indochina bedeuten nicht, wie Präsident Ford es so bündig formuliert hat, das Ende der Welt noch das Ende der Aufgaben Amerikas in der Welt... Die so tragischen Rückschläge unseres Landes in Indochina beeinträchtigen keineswegs die Notwendigkeit, internationale Verpflichtungen aufrechtzuerhalten und zu erweitern.“ „Henry Kissinger handelte wie ein Kind, das aufgrund eines lädierten Selbstbewußtseins seinen Verlust übertrieb: , Seht, wie unzuverlässig wir sind', verkündete er der Welt, , seht das Unglück an, das durch unseren Treuebruch verursacht wurde'." .... die entscheidende Tatsache ist, daß die Ereignisse in Vietnam keine lebenswichtige Bedeutung für die gegenwärtigen Probleme der Vereinigten Staaten haben" „Die Fundamente der US-Macht sind intakt — trotz Vietnam.“ »Schließlich gab es keinen Grund dafür, das Ende noch schlimmer zu machen, indem man so etwas wie eine (umgekehrte) Domino-Theorie für die USA konstruierte."

Nach ihren politischen Mißerfolgen im März und Anfang April 1975 sowie weiteren Rückzugsaktionen in Vietnam machte sich auch die Regierung diese Interpretationen zu eigen. In seiner Rede vor dem Kongreß am 10. April, in der er die Bewilligung von Geldern für Vietnam in Höhe von 722 Millionen Dollar er-bat, nutzte Ford die Gelegenheit, um an Amerikas Position der Stärke zu erinnern und er-neut die Einhaltung der Bündnisverpflichtungen zu betonen. Für diese Haltung wurde er von der „Washington Post" mit Lob bedacht: „Präsident Ford beseitigte stillschweigend die Domino-Theorie aus seiner Politik." Etwas später, am 23. April, gab der Präsident in einer Rede an der Tulane-Universität die Strategie der fortgesetzten Klagen und Beschuldigungen gegen den Kongreß auf und gesellte sich zu seinen liberalen Kritikern, indem er deren Zielsetzungen übernahm, die Konsequenzen. aus dem Vietnam-Debakel so klein wie möglich zu halten: Die Ereignisse in Indochina „bedeuten weder das Ende der Welt noch das Ende der amerikanischen Führungsrolle in der Welt". Wieder fand der Präsident weithin Zustimmung — beispielsweise in der „New York Times“: „Das Ende des fehlgelei-teten militärischen Abenteuers in Indochina sollte es erleichtern, wieder zu Lincolns Vision der eigentlichen Bestimmung Amerikas zurückzukehren." Und wenige Tage später, in der Nacht vor der allerletzten Evakuierungs-Aktion vom Dach der US-Botschaft in Saigon, wies der Präsident nun selber im Sinne Lincolns den Weg: „Die Zeit ist gekommen, um an einem Plan für die Zukunft zu arbeiten, um wieder Einigkeit zu schaffen, die Wunden der Nation zu heilen, ihre Wohlfahrt und ihr Selbstvertrauen wieder herzustellen."

Das gesamte politische Machtzentrum der Vereinigten Staaten hat sich aus Besorgnis um Prestigeverlust in den Beziehungen nach außen und aus Furcht vor inneren Spannungen daran begeben, einen neuen Mythos zu schaffen: nämlich daß Vietnam im Grunde niemals wichtig war; daß sein Verlust eigentlich heute nicht mehr zähle; daß es ein besonderer Fall war und überdies unnötig; daß die Folgen übersehbar und einzudämmen seien; daß der Verlust von Vietnam sogar ein Segen und eine Quelle neuer Stärke sei, indem Amerika nun stetiger und zuverlässiger sein könne und seine Verpflichtungen und Garantien glaubwürdiger seien, nachdem diese „irrationale" und „abwegige" Situation jetzt vorüber wäre; daß ferner die Vereinigten Staaten nun ihre militärische Rolle allmählich zugunsten einer mehr funktional geprägten Führungsmacht aufgeben könnten — sei diese diplomatischer, ökonomischer oder ideologischer Art; daß schließlich alles, was wir jetzt tun müßten, die Überwindung unserer „Hybris" sei, die Erkenntnis, daß wir nur begrenzte, wenn nicht gar keine Interessen in Südostasien besitzen. Vermutlich werden uns dann unsere Gegner nicht mehr herausfordern, unsere Freunde werden nicht länger mehr unseren festen Willen, unsere guten Absichten sowie unseren politischen Verstand anzweifeln und unser eigenes Volk wird sein Vertrauen in die Regierung wieder herstellen. Kurzum: keine Folgen.

Es wurden weder Erinnerungen geweckt noch frühere Beurteilungen revidiert, wie sie etwa typisch waren wie der folgende, zwölf Jahre alte Kommentar der, „New York Times" (vom 3. November 1963): „... falls Südvietnam an die Kommunisten verlorenginge, könnte dies in der gesamten Welt Zweifel an dem Wert der Verpflichtungen Amerikas erregen, die Völker gegen die kommunistische Aggression zu verteidigen ... Die Wirkung auf die revolutionären Bewegungen in der gesamten Welt würde unübersehbar sein. Die weitere Ausbreitung des Neutralismus im Ost-West-Konflikt wäre eine noch relativ erträgliche Folge. In weiten Teilen Asiens würde sich die Überzeugung verfestigen, daß die Kommunisten — unter der Führerschaft und ideologischen Leitung Pekings — die Zukunft repräsentieren."

Und es gab auch keine Widerrufe von seifen Präsident Fords und Außenminister Kissinger in bezug auf ihre damaligen Erklärungen, in denen sie die unvermeidlichen und unausweichlichen Reaktionen der Verbündeten, der Gegner sowie des eigenen Volkes beschrieben. So sagte beispielsweise Kissinger, seinerzeit Präsidentenberater, in einem kurzen Pressegespräch in San Clemente am 26. Juni 1970: ..... wir müssen in jedem Fall davon ausgehen, daß die Russen uns generell nach den Zielsetzungen unserer Politik beurteilen.“ In einer Pressekonferenz erklärte Außenminister Kissinger am 26. März 1975: „Wir müssen begreifen, daß der Frieden unteilbar ist. D Vereinigten Staaten können nicht eine Polit abgestufter Zuverlässigkeit betreiben. W können nicht Freunde in einem Teil der We aufgeben, ohne die Sicherheit der andere Verbündeten zu beeinträchtigen... (Obwoh wir nicht meinen, daß jeder Teil der Welt i gleichem Maße von strategischer Bedeutun für die Vereinigten Staaten ist wie ander Teile, so bedeutet doch das Problem, dem wi uns in Indochina gegenübersehen, eine grüne sätzliche Frage danach, was für ein Volk wi sind... Es ist eine entscheidende Frage, wi wir von den anderen Völkern beurteilt wer den, die nichts mit der Frage zu tun hat, o wir uns dort überhaupt hätten engagieren sol len... Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Ei eignisse in Portugal, Griechenland, der Türke und in Indochina einen Einfluß auf unser Verhandlungen im Nahen Osten gehabt ha ben. Bei unseren Freunden dort führten sie zi der Frage, ob unsere eingegangenen Verpflich tungen auch dauerhaft seien...“ Und Präsi dent Ford äußerte auf einer Pressekonferen in San Diego am 3. April 1975: „Ich bin de Auffassung, daß überall dort, wo die Verei nigten Staaten ihre moralischen oder vertrag liehen Verpflichtungen nicht einhalten, die: einen sehr negativen Einfluß auch auf alb übrigen Verbündeten der USA haben wird.“ Wer sagt nun, daß’die Logik dieser damaligei Erklärungen falsch war? Vielleicht waren nu die daraus gezogenen Schlußfolgerungen un haltbar: daß die Position der USA in Indochi na, die als wesentlich für den globalen Ein fluß und die Führungsrolle der Vereinigter Staaten aufgefaßt wurde, gesichert sei, odet daß diese Position jene Güter wert gewesei wäre, die geopfert werden mußten, um sie zi erhalten: Menschenleben, Material unc Glaubwürdigkeit.

Es mag wahr sein, daß die ständigen Wiederholungen der „Domino-Theorie" und die Hinweise auf die absehbaren Folgen einer Verletzung der Bündnisverpflichtungen Amerikas zu einer Art „self-fulfilling prophecy" wurden — und damit schließlich das erreichten, was sie vermeiden wollten. Bei denjenigen Staaten, auf die wir keinen Einfluß haben, ist das wohl leider auch in dieser Weise geschehen. Es ist in diesem Zusammenhang bedauerlich, daß das entgegengesetzte Denkmodell unserer liberalen Kritiker und letztens auch der Pragmatiker in unserer Regierung — die Vorstellung, Vietnam habe überhaupt keine Konsequenzen — sich leider gar nicht in derart selbsttätiger Weise bewahrheitet. Im günstig ten Falle ist es eine Selbsttäuschung; in der Tat ist dieses Modell mehr für den innenpoli-ischen Gebrauch konstruiert, als Balsam für mseren verwundeten Stolz und als Dämpfer für mögliche Anklagen. Im ungünstigsten Fal-le könnte es sich jedoch als ein sehr schwerwiegendes Problem erweisen, und zwar sowohl für diejenigen unserer Verbündeten, die daran glauben und weiterhin von den amerikanischen Zusicherungen abhängig sind, wie auch möglicherweise für uns, wenn wir in der Zukunft aufgefordert werden, unsere jüngst bekräftigten Hilfeleistungsversprechen doch einzulösen.

Die hartnäckigen „Falken“ neuester Zeit (wie auch ihre spiegelbildlichen Widerparts: unsere jugendlichen Radikalen) sind immer etwas näher an der eigentlichen Wahrheit gewesen. Sie haben weiterhin ihrer ursprünglichen Analyse vertraut, die früher einmal auch von einer größeren Mehrheit der Amerikaner für „richtig gehalten worden war: daß nämlich Vietnam eine Rolle spielte, daß sowohl die politischen Zielsetzungen Amerikas in einem Teil der Welt wie auch umgekehrt die Unterlassungen oder die fehlgeschlagenen Bemühungen der Vereinigten Staaten ihre Wirkungen auf andere Teile der Welt und auf andere Beziehungen gehabt hätten. Sie haben einen Einfluß auf die Position der USA in der Welt und dementsprechend auf das internationale System überhaupt. Die Frage war daher immer, ob wir diese Konsequenzen anerkennen oder ob wir uns mit dem Verlust arrangieren — mit all den Folgen. In jedem Fall scheint die liberale und . gemäßigte'Prognose über die voraussichtlichen Folgen des Endes in Vietnam genauso vordergründig zu sein wie ihre Diagnose über die Bedeutung von Vietnam. Das von ihnen konstruierte „damage-

limiting-scenario“ ist zu schön, um wahr zu sein.

III.

Bevor wir den möglichen Reaktionen unserer Verbündeten nachgehen sowie den noch zu ziehenden Lehren für die Vereinigten Staaten selbst, sollen noch einige Problembereiche erwähnt werden, für deren Lösung das spezifische Ende in Vietnam nicht entscheidend ist. Es sind dies Probleme, die mehr am Rande liegen, die jedoch bereits intensiv diskutiert worden sind — allerdings in einer Weise, die konsequent von den zugrunde liegenden Ursachen (und den daraus zu ziehenden Lehren) abzulenken suchte. Einer dieser Problembereiche — vielleicht der drängendste in dem zu Ende gehenden Krieg — war das Bemühen, unsere Ehrenschuld gegenüber denjenigen Vietnamesen zu begleichen, die an unsere Sache geglaubt und uns unterstützt hatten. In der letzten Zeit hat sich diese Sorge auf den humanitären Aspekt verlagert, nämlich wie wir die vietnamesischen Flüchtlinge in unserem Lande eingliedern können. So drängend diese Sorge auch ist, so hat dieses Problem zu vielen nur dazu gedient, die Bedeutung unserer Niederlage in Vietnam für unsere strategische Position möglichst im dunkeln zu lassen.

Ein anderer derartiger Problembereich, der wieder häufiger diskutiert wird, ist die Frage, 0b es richtig war — oder wir ein Recht hatten — in Vietnam zu intervenieren; ob unsere ntervention eine Verletzung internationalen

Rechts war oder eine mit guten Absichten vorgenommene nationale Handlungsweise; ob — unabhängig von den Wirkungen und dem Ergebnis— unsere Motive einwandfrei wa--ren. Dieser Problemkreis kann auf sehr verschiedene Weise behandelt werden, ohne einen entscheidenen Effekt auf die tatsächlichen Konsequenzen von Vietnam zu haben. Eine weitere, vom Zentrum des Themas wegführende Frage ist die nach den Verantwortlichen für die Niederlage in Vietnam. Viele meinen, daß dies die wesentlichste Frage sei, die entweder gelöst oder verdrängt werden müsse, wenn wir ähnlich anhaltende Beschuldigungen vermeiden wollen, wie sie damals nach der „Niederlage" in China 1949 erhoben wurden. Es gibt unterschiedliche Ansätze zur Beantwortung dieser Frage, aber keiner von ihnen ist schlüssig oder umfassend genug. So geht einer dahin, daß die Niederlage das Ergebnis von Thieus militärischer Inkompetenz war — einigen Berichten zufolge sogar nur das Resultat eines einzigen Fehlers eines einzelnen Kommandeurs, der durch seinen „un-geordneten Rückzug" das gesamte militärische Verteidigungssystem Saigons zunichte gemacht habe. Andere . Interpretationen bemühen sich darum, das gesamte Spektrum von Möglichkeiten auszufüllen: so etwa die allgemeine Unfähigkeit der südvietnamesischen Armee; ihre fortwährende Abhängigkeit von amerikanischer Unterstützung im Kampf und in der Logistik; der geringe Kampfgeist der Südvietnamesen bzw. das Fehlen entsprechender Motivationen. Schließlich im eigenen Lande: die Weigerung des Kongresses, weitere Unterstützungen zu gewähren, sowie die hinderlichen Wirkungen des Waffenstillstands.

Ein weiteres Diskussionsthema ist, ob Thieus Regime überhaupt unsere Unterstützung „verdient" habe, ob'wir nicht unsere Macht dazu hätten benutzen können, sein Einverständnis mit dem Pariser Übereinkommen zu erzwingen und ob ein solches Vorgehen Thieus Regime verlängert oder, im Gegenteil, zu seinem Sturz geführt hätte. Eine solche Argumentation würde beinhalten — allerdings wohl nicht immer bewußt—, daß wir kurz vor seiner Niederlage noch etwas hätten retten können und daß wir in zukünftigen Fällen mehr Gebrauch von der Macht Amerikas machen sollten.

Ein weiteres derartiges Thema ist, daß wir eigentlich genug für Südvietnam, für die Saigo-ner Regierung bzw. für Thieu getan haben. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß dieses „genug" vielleicht ein Kriterium für unsere Maßstäbe ist, diese aber nicht unbedingt zugleich auch den objektiven Gegebenheiten der Situation angemessen sind. Diese These beinhaltet, daß wir uns nicht ausreichend um die Ergebnisse gekümmert haben, um mit den sparsamsten Unterstützungsmaßnahmen das zu erhalten, was wir bereits dort investiert hatten.

Das gewichtigste dieser Diskussionsthemen ist die Frage, ob Vietnam überhaupt jemals von wirklichem Interesse für die Vereinigten Staaten gewesen sei. Die Behauptung, daß Vietnam es nicht war, ist eine der zentralen Thesen derjenigen, die den Schaden möglichst gering halten wollen. Wenn Vietnam niemals von wirklichem Interesse für uns gewesen sei, dann brauchen wir nur noch unseren Fehler einzugestehen; die zukünftige Entwicklung wird dann unproblematisch für uns sein, ja, sie wird sogar aufgrund der revidierten Politik uns bessere Möglichkeiten bieten. Doch dies alles könnte uns lediglich eine Art Absolution einbringen, nicht jedoch eil Schutz gegenüber den Nachwirkungen i Zusammenbruchs in Südvietnam. Ein oft wähnter Gesichtspunkt dieser These, c Vietnam von eigentlich nur geringem Inter se für die USA gewesen sei, ist der, daß un re Intervention auf der falschen Einschätzu beruhte, der Kommunismus sei ein monolit scher Block. Was hier allerdings überseh wird, ist die Tatsache, daß Herausforderung an eine Großmacht niemals einzeln und all« kommen — oder es handelt sich nicht 1 wirkliche Herausforderungen. So kann m bezweifeln — wie ich es tue—, ob die Inf grität der Vereinigten Staaten durch ein nichtbekämpften nationalen vietnamesisch Kommunismus wesentlich beeinträchtigt wo den wäre. Aber diese Zweifel berühren nie das eigentliche Problem, nämlich, was d Vereinigten Staaten nun tun können, um ih verschiedenen Interessenbereiche — w auch die ihrer Verbündeten — gegen die u terschiedlichsten Bedrohungen zu schützen. Diese Überlegung erhält um so mehr Gewic als in der nahen Zukunft sich die Ursach« für politische Unruhen vervielfachen werde sie müssen dabei nicht unbedingt von ideol gischen Motiven oder von strategischen E Wägungen begleitet sein. Es wird Revolutit näre und eifrige Nationalisten geben — n türlich auch in den nicht-kommunistische Staaten — sowie opportunistische Regierur gen. Die Heterogenität des Kommunismt wird diese Situation für die USA noch ei schweren, denn regionale kommunistisch Gruppierungen werden von Moskau, das in merhin die Entspannung wünscht sowie ein gewisse Weltordnung, wahrscheinlich nick unter Kontrolle gehalten werden können. Was all diese zweitrangingen Diskussionsthe men letztlich beweisen, ist, daß man au falsch gestellte Fragen zumeist die fälschet Antworten erhält. Die Fragen sind deshali falsch, weil sie keine handlungsorientiertei Fragen sind und sich nicht mit den zukünfti gen Problemen der USA befassen, wie sie auch nicht auf die Reaktionen anderer Staa ten eingehen, die, insgesamt gesehen, die Um risse eines internationalen politischen Systems ausmachen.

IV.

Es gibt zwei wichtige Gesichtspunkte über die Nachwirkungen des Endes in Vietnam, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll. Sie führen zu der Schlußfolgerung, daß diese Wirkungen nicht durch unser Wollen oder Wünschen beeinflußbar, sondern objektiv bedingt sind 1. durch unser eigenes politisches System und 2. durch das internationale System.

Der erste Aspekt ist, daß das amerikanische Engagement in Vietnam verdeutlicht hat, wie unser Staat, unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft als politisches Entscheidungssystem arbeiten— illustriert beispielsweise an den Beschränkungen, die der Kongreß und die öffentliche Meinung dem Regierungshandeln auferlegt hatten. Wir sollten deshalb die Frage stellen, welcherart unsere Verhaltensweisen in zukünftigen Situationen sein werden, die nicht unbedingt dem Vietnam-Problem ähnlich sein müssen. Schließlich sind es oft die unvorhergesehenen Reaktionen einer Nation, die ihre „Politik" bestimmen. So ist es beispielsweise ein interner politischer Prozeß, der gegenwärtig den Umfang der amerikanischen Zusicherungen und Verpflichtungen bestimmt — etwa die jüngsten Zusicherungen unserer politischen Führung anläßlich des Rückzuges aus Vietnam. In dieser Hinsicht besteht die Problematik des neuen Mythos von der Möglichkeit der größtmöglichen Schadensbegrenzung vor allem darin, daß er den prozessualen Charakter politischer Entscheidungen außer acht läßt. Es wird hier nicht ausreichend berücksichtigt, daß Politik ein Produkt von Systemen ist und nicht von einzelnen Willensäußerungen; daß diese Systeme komplexer Natur sind mit zahlreichen einschränkenden, aber auch mit motivierenden Elementen. Die besten Absichten, die unerschütterliche Glaubwürdigkeit und Ehre sowie die größte Humanität einzelner Politiker sind verletzlich und vermögen oft nichts gegen die Zwänge des gesamten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems auszurichten.

Nur diejenigen, die keinen Einblick in die Komplexität des außenpolitischen Entscheidungsprozesses der Vereinigten Staaten haben, können sich durch Versprechungen die unserer politischen Führung beruhigt fühlen. Um was es hier geht, ist nicht der gute Wille oder die besten Absichten des Präsidenten oder seiner Berater. Was die Politik Amerikas in Südostasien so beeinträchtigt hat, war nicht das Widerstreben der Exekutive, den Bündnispflichten nachzukommen. Es war mehr als nur eine Willensfrage. Was die amerikanischen Bemühungen im eigenen Lande so erschwerte, das waren die möglichen Widerstände des Kongresses, und hinter dem Kongreß die der Öffentlichkeit, gegenüber den lang anhaltenden Opfern an Menschen und Material für Zwecke, die nicht unmittelbar einsichtig oder zwingend erschienen. Es ist aber nicht die Erfahrung von Vietnam allein, die in Zukunft die politischen Reaktionen Amerikas behindern wird. Ausschlaggebend ist vielmehr die strukturelle Ähnlichkeit zukünftiger Herausforderungen — wie sie von der amerikanischen Bevölkerung und ihren Repräsentanten empfunden wird —, die die gleichen Reaktionen bzw. Behinderungen zur Folge haben werden und damit dieselben wirksamen Einschränkungen der Macht Amerikas. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß — nach Vietnam — diese Faktoren irrelevant geworden seien. Die Zuverlässigkeit der Reaktionen Amerikas war das eigentlich erste Opfer von Vietnam, mehr aber noch in der Endphase während des Rückzugs.

Der zweite Aspekt ist, daß die Wirkungsweise des amerikanischen Systems in Vietnam einen spürbaren und nachhaltigen Effekt auf die Politik anderer Länder — seien es Verbündete oder Gegner— haben und damit die Struktur des internationalen politischen Systems verändert wird. Die anderen Nationen können nicht einfach über die zukünftigen Verhaltensweisen der USA nur Spekulationen anstellen; sie müssen darauf einzuwirken versuchen. Diejenigen Nationen, die zu uns enge Beziehungen haben, werden versuchen, sich gegen unsere Versäumnisse abzusichern; diejenigen Nationen, die bisher unsere Reaktionen eher gefürchtet haben, werden nun versuchen, unsere Reaktionsweisen auf die Probe zu stellen. Jede Nation wird hier unterschiedlich vorgehen — jeweils entsprechend der eigenen strategischen Situation. Hier wird auch deutlich, warum die „Domino-Theorie" weder als eine Analogie perfekt war, noch als ein Tatbestand Plausibilität besaß. Dennoch wird ebenso sichtbar, warum sie nichtsdestoweniger eine gewisse Realität enthält.

Die allgemeinste und unverbindlichste Behauptung auf dem Gebiet der Außenpolitik ist, daß nicht nur die Integrität von Bündnis-47 sen sondern das gesamte internationale politische System eine Funktion ist der Erwartungen der einzelnen Länder gegenüber den Verhaltensweisen der Großmächte. Denn dieses internationale System besteht im Grunde aus zwei Elementen: 1. was die einzelnen Staaten sich einander zufügen können und 2. was sie gegeneinander beabsichtigen. Und diese beiden Elemente werden unausweichlich beeinflußt durch die Funktionsweise des innenpolitischen Systems der USA. Wir können diese Wirkungsstruktur nicht auflösen, da sie nicht von uns allein abhängig ist.

Die Führungsrolle der USA in der Welt — während der langen Zeit des bipolaren Systems und jetzt dem des globalen Gleichgewichts — war gegründet auf unsere Fähigkeit wie auf unseren Entschluß, unseren Freunden oder Verbündeten zu helfen, wenn sie oder ihr Wertsystem bedroht wären. (Unter dem Aspekt der Gleichgewichtspolitik trifft diese Hilfe sogar für eigentliche Gegner zu, um das System des Gleichgewichts zu stabilisieren). Es gibt jedoch keinen Grund, anzunehmen, daß unsere Gegner uns helfen würden, indem sie ihre Aktivitäten auf einen weniger gefährlichen Wettbewerb verlagern würden. Die Erfahrung von Vietnam hat die Vereinigten Staaten eines Besseren belehrt — und das wohl zu Recht —, was die Wirksamkeit von Macht betrifft; aber Form und Wesen des internationalen Systems beruhen immer noch auf der Fähigkeit und der Neigung, Macht zu nutzen oder mit ihr zu drohen, um im Ernstfall die Verbündeten, strategische Positionen oder politische Werte zu verteidigen. Sowohl das bipolare System wie auch die derzeitige Politik des Gleichgewichts sind charakterisiert gewesen dutch die hohe Wahrscheinlichkeit der Intervention von Seiten einer der Supermächte, in diesem Fall der Vereinigten Staaten. Im bipolaren System wurde eine derartige Intervention dazu benutzt, um Verbündete gegen die Bedrohung durch eine Großmacht zu schützen; im Rahmen der Gleichgewichtspolitik hingegen ist das wichtigste Ziel, die Stabilität des Systems zu bewahren, die wiederum Voraussetzung ist für die Unabhängigkeit der einzelnen Staaten. Der Zusammenbruch in Vietnam hat jedoch nicht nur die Prämissen der Nixon-Doktrin in Frage gestellt, sondern auch der Instabilität des Gleichgewichtssystems den Weg bereitet: Die Ausdünnung der amerikanischen Garantien macht es sowohl notwendig wie auch möglich für die Verbündeten, im Eventualfall die Protektion des bisherigen Gegners zu suchen, bzw. diesen zu beschwichtigen, ferne eine neutrale Position anzustreben, um die Distanz zwischen den Supermächten zu ver größern, oder aber die eigene Sicherheit zi verstärken — bis hin zum Aufbau einer natio nalen Atomstreitkraft. Die Gestalt des inter nationalen Systems, die sich aus diesen Be Strebungen herauskristallisieren wird, dürfte nicht jene übersichtliche Struktur eines lenk baren Pluralismus besitzen, wie sie noch voi fünf, sechs Jahren von Henry Kissinger unc Richard Nixon vorausgesehen wurde. Sie wird vielmehr geprägt sein von einem extremen Pluralismus allgemeiner Bündnislosigkeit Ausschlaggebend im Hinblick auf die amerikanische Politik beim Rückzug aus Vietnam ist also nicht, daß die USA einer Fortsetzung des Kampfes aus dem Wege gingen, sondern daß die Vereinigten Staaten in zukünftigen ähnlichen — oder auch unterschiedlichen — Situationen dem gleichen innenpolitischen Druck unterworfen sein würden. Es spielt dabei keine Rolle, daß die USA nach wie vor spezielle „Interessen" in verschiedenen Teilen der Welt besitzen oder daß sie zweifellos die materielle Fähigkeit für einen wirksamen Gegenschlag behalten. Sicherlich wird es auch nicht von großer Bedeutung sein, wenn den Verbündeten von amerikanischen Politikern zahlreiche Zusicherungen gegeben werden. Denn jene würden unklug handeln, wenn sie sich in dem gleichen Umfange wie früher von den amerikanischen Garantien abhängig machten. Die Verbündeten können auch weniger als früher eigene strategische Positionen zugunsten zukünftiger amerikanischer Garantien eintauschen . . . kurz, sie müssen sich mehr denn je vor einem Versagen des amerikanischen Beistandes zu schützen suchen. Die eigentliche Lehre von Vietnam —die man ignorieren, der man sich aber nicht entziehen kann — ist also, daß sowohl die Rolle Amerikas wie die Struktur des internationalen Systems — so, wie es in den vergangenen 25, 30 Jahren gewesen ist — sich unwiderruflich verändert hat: durch das Ende in Vietnam wie vor allem auch durch die Art der amerikanischen Reaktionen in den letzten kritischen Wochen dieses Krieges. Für diese Be-teilung spielt es keine Rolle, daß wir nichts wirklich Effektives tun konnten oder daß unsere Unterstützung nichts Dauerhaftes geschaffen haben könnte — diese Faktoren verschärfen nur noch das negative Urteil Die Schlußfolgerung lautet also, daß die Abhängigkeit unserer Verbündeten von unseren Bündniszusagen und die Wirksamkeit dieser Bündnisverpflichtungen im Hinblick auf eine Stabilisierung des internationalen Systems das zweite Opfer des Endes in Vietnam bil-den.

Wenn wir die Dinge in dieser Weise betrachten — unter dem Aspekt der Struktur und von Ursache und Wirkung—, so kann das Fazit sicherlich nicht „Isolationismus" heißen. Dieser leichtgängige Begriff simplifiziert und entstellt die amerikanische Haltung, wie er auch die Diskussion auf eine falsche Ebene verlagert. Denn wir haben es hier nicht mit einem unbestimmten, undifferenzierten Phänomen oder einem Gegenstand der politischen Philosophie über eine ideale internationale Ordnung zu tun. Der Sachverhalt ist sehr viel konkreter: er ist begründet in den spezifischen Bedingungen des amerikanischen politischen Entscheidungssystems, d. h. auch, in dessen restriktiven Elementen. Aber auch die Verhaltensweisen der Verbündeten ebenso wie die voraussichtlichen Strategien der Gegner spielen eine gewichtige Rolle hierbei.

In der Tat beginnen sich die Folgen des Zusammenbruchs von Vietnam und Kambodscha auszubreiten. Wir waren Zeugen des Wiederauflebens von Unruhen in Laos, die die Übereinkommen von 1973 zunichte machen. In Thailand sind die eifrigen Bemühungen zu beobachten, sich nicht nur mit China zu arrangieren — was schon seit der Nixon-Doktrin und Amerikas Annäherung an Peking bekannt ist — sondern neuerdings auch mit Hanoi. So hatte der thailändische Außenminister jüngst die Vereinigten Staaten als ein Land bezeichnet, das „keinerlei Grundsätze in dieser Beziehung hat" — und höhnisch die Zusicherungen Verteidigungsministers Schlesinger zurückgewiesen. Der Premierminister Thailands hat die 27 000 Angehörigen der US-Luftwaffe aufgefordert, bis zum 17. März 1976 das Land zu verlassen und die fünf US-Luftbasen dann der thailändischen Kontrolle zu übergeben.

Auch die Regierung der Philippinen hegt eigene Absichten gegenüber den beiden größten US-Stützpunkten in diesem Land — Clark Air Base und die Marine-Einrichtungen in der Subic Bay, und Präsident Marcos hat den gegenseitigen Beistandspakt mit den Vereinigten Staaten in Frage gestellt. Dieser Wandel begann — ähnlich dem Thailands — zur Zeit der Pariser Verhandlungen.

Der Präsident von Singapur, Lee Kuan Yew, hat kürzlich vor der Presse erklärt: ..... das, was jetzt geschieht (in Südvietnam und Kambodscha), wird einen nachhaltigen Eindruck auf die politischen Vorstellungen in den übrigen Staaten Südostasiens hinterlassen, vor al-lem bei den unmittelbaren Nachbarn Kambod-schas, den Thais." Lee hält die USA „nicht länger mehr für fähig, in Südostasien zu intervenieren" und sieht dort einen regionalen Konflikt voraus „vor allem zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion" Taiwan gibt noch vor, der Sicherheitsgarantie Amerikas weiter zu vertrauen — vielleicht, weil Taiwan die Amerikaner kaum für eine Verteidigung benötigen wird. Dennoch ist die Regierung gespannt darauf, welche der Inter-essen Taiwans Präsident Ford bei seiner noch in diesem Jahr stattfindenden Reise nach Peking opfern wird — zumal es völlig klar ist, daß die Vereinigten Staaten niemals etwas von Peking ohne Gegengabe bekommen könnten.

Südkorea ist besorgt über den nordkoreanischen Vorstoß von Anfang dieses Jahres hinsichtlich einer gewaltsamen Wiedervereinigung der Halbinsel und wiederholt daher seine Wünsche nach einer nationalen Verfügungsmacht über Atomwaffen. Der ausgedehnte Besuch des nordkoreanischen Premier-ministers Kim II Sung in Peking (18. bis 26. April) mag im Hinblick auf die spezifischen Verhandlungsthemen nicht eindeutig erklärbar sein, dennoch war er keineswegs ein Zufall. Zumindest, was aus der chinesischen Presse über diesen Besuch zu entnehmen ist, scheint Peking gegenüber den USA einen härteren Ton anschlagen zu wollen und die Ergebnisse in Südostasien in einer Weise zu interpretieren, die kaum ein amerikanischer Beobachter akzeptieren würde: daß beispielsweise Südkorea ein „Domino" sei — wenn auch vielleicht noch nicht der nächste, und daß wir wohl Chinas „Bedürfnis" nach einer stillschweigenden Zusammenarbeit mit Amerika im Hinblick auf eine stabile Gleich-gewichtspolitik in Nordostasien überschätzt hätten. Japan, das allgemein nervös reagiert, sandte uns seinen Außenminister nach Washington Mitte April 1975, um einen öffentlichen Vertrauenserweis für den Sicherheitspakt zu erbitten.

In einer anderen Region — im Nahen Osten — dürfte es wohl noch so sein, daß die Scheichtümer am Golf weiterhin Amerikas Macht respektieren. Doch der entscheidende Konfliktfall wird hier jene Nation sein, die sich jetzt diesem Handel von territorialen und strategischen Positionen gegen amerikanische Garantien gegenübersieht. Dieser exemplarische Fall ist natürlich Israel. Man kann darüber streiten, ob der Zusammenbruch in Vietnam und Kambodscha im März dieses Jahres einen Einfluß hatte auf die gleichzeitig stattgefundene Entscheidung des israelischen Kabinetts, Kissingers Verhandlungsgrundlagen und Versicherungen abzulehnen — sicherlich aber besteht hier ein Zusammenhang.

nochmals Es sei wiederholt, daß es nicht das Verlassen amerikanischer Positionen in Südostasien ist, was die Dispositionen und Entscheidungen zahlreicher Nationen nahezu rund um den Globus direkt tangiert, sondern daß ausschlaggebend ist spezifische Verhaltensweise Amerikas sowie die Demonstration der Funktionsweise des politischen Entscheidungsprozesses der Vereinigten Staaten. Worum es letztlich also geht, sind nicht die guten Absichten der Exekutive, ihre Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten einzuhalten, denn die glühenden geschweige Mannes. Versprechungen eines einzelnen Es geht vielmehr um die objektiv einschätzbare Fähigkeit der Exekutive, die von ihren politischen Führern abgegebenen Versprechungen auch abzusichern — entweder, indem die amerikanische öffentliche Meinung mobilisiert oder aber sie umgangen wird durch Täuschungsmanöver bzw. durch das Schaffen vollendeter Tatsachen.

Selbst in Europa hat der amerikanische Rückzug aus Vietnam indirekt Spuren hinterlassen. Zweifellos aber ziehen es die europäischen Politiker vor, die Ereignisse in Vietnam nicht mit den Verhältnissen in Europa zu vergleichen. Sie halten auch nicht viel von einer übereilten und drastischen Neueinschätzung ihrer Beziehungen zu Amerika — so mühsam und anfällig sie im einzelnen auch sein mögen —, da jede andere Alternative noch problematischer sein würde. Es ist von den europäischen Politikern auch nicht anzunehmen, daß sie ihre möglichen Zweifel zu hörbar artikulieren, wie auch umgekehrt amerikanische Politiker sich gegenüber ihren europäischen Kollegen höchst zuversichtlich zeigen, was die Bündnistreue betrifft. So sind beispielsweise die Vereinigten Staaten gegenwärtig dabei, der NATO drei zusätzliche Divisionen zur Verfügung zu stellen, wie sie auch derzeit die Schnelligkeit von Truppen-transporten nach Europa verbessern. Und mehr noch: Senator Mansfield zeigt sich zum ersten Mal seit acht Jahren sehr zurückhaltend gegenüber zu raschen Truppenreduzierungen in der derzeitigen Situation; er verzichtete auch auf seinen sonst alljährlich eingebrachten Zusatzantrag bzw. Resolution bezüglich der Truppenverminderungen in Europa. Aber selbst Senator Mansfields gegenwärtige Passivität dürfte nicht für eine längere Zeit die wachsende Zahl derjenigen Amerikaner aufhalten, die aufgrund der Erfahrungen in Vietnam Truppenverminderungen in großem Umfang für Europa fordern — ohne Rücksicht auf die strategischen Konsequenzen. Diese mögliche konventioneller amerikanischer Streitkräfte in Europa hat zur Folge, daß nun verschiedene Vorschläge und Pläne diskutiert werden, die einen nuklearen Ersatz vorsehen (z. B. die Inanspruchnahme des amerikanischen Nuklear-Arsenals in bestimmten Fällen oder die Entwicklung einer neuen atomaren Strategie mit den entsprechenden Waffen). — All dies wird neuen Befürchtungen Raum geben, daß Amerika sich doch einmal vom Schicksal Europas lossagen könnte. Es nimmt daher nicht wunder, daß das Interesse an einer europäischen Atommacht als strategischer Alternative wieder wach geworden ist.

VI.

Es gibt noch eine weitere Lektion, die unsere Verbündeten aus den Ereignissen in Vietnam — insbesondere aus unserem Rückzug dort — lernen werden: daß nämlich die Vereinigten Staaten ihre Verbündeten nicht unbedingt so verteidigen, wie diese es gern möchten. Es ist immer noch durchaus möglich, daß wir in einem Konflikt intervenieren — besonders dort, wo wir annehmen, daß die Sowjetunion der eigentliche Kontrahent ist oder auch der mög-iche Nutznießer der Situation. Aber die Verinigten Staaten werden den Kampf dann auf hre Weise führen.

gibt so etwas wie den „american way of is var": er resultiert aus den Bedingungen unseer Gesellschaft wie auch unserer Wirtschaft; r ist . kapitalintensiv', indem er dem Einsatz ron amerikanischen Dollars gegen amerikanische Menschenleben einen hohen Wert zu-nißt; er verwendet nicht immer jenes Zerstörungspotential, das man vielleicht von ihm erwartet, wirkt aber dort in vernichtender Weise, wo er es für angebracht hält. Eine Schlußfolgerung daraus ist, daß es unseren Fähigkeiten und unserem System nicht entspricht bzw. dieses . unterfordert', einen so . un-amerikanischen'Krieg zu führen wie in Vietnam. Wir und andere sollten uns dessen bewußt sein, daß unser System die Wiederholung einer solchen Kriegsführung nicht erlaubt, es sei denn zu Kosten, die kaum zu tragen wären.

Dieser Sachverhalt hat eine weitere Konsequenz. Die gesamten amerikanischen Verteidigungsbemühungen sind nicht Ausdruck einer weltweit engagierten imperialen Macht, die jederzeit und in allen Teilen der Welt ihr Kampfpotential demonstriert. Sowohl die geographischen Verhältnisse wie die Geschichte unserer Staatsgründung und Nationwerdung haben uns — zu Gutem oder Schlechtem — eine „Festungs" -Mentalität hinterlassen. Wir kämpfen, wenn es not tut und wenn wir provoziert werden. Wir nehmen zumeist unseren Verbündeten Einfluß wahr, um bei unseren gewisse Reformen anzuregen, damit das Bündnis unseren Vorstellungen besser -ent spricht. Wir führen den Kampf bis zu einem bedingungslosen — oft unnötigen — Ende;

oder aber wir verlassen dann das Kampffeld, wenn es unseren Zwecken am besten nützt — wenn wir beispielsweise glauben, nun . genug'

getan zu haben. (Präsident Thieus Klagen waren — obwohl mürrisch und undankbar — in diesem Sinne berechtigt: Schließlich gingen die Vereinigten Staaten bei den Verhandlungen um die Freilassung ihrer Gefangenen eigene Wege; sie einigten sich mit dem Todfeind ihres Verbündeten, indem sie ohne ihn ein oberflächliches, unvollkommenes Abkom-

wen aushandelten und dieses dem Verbündeten aufoktroyierten). Fazit: unsere weltweiten Verteidigungsbemühungen haben wahrscheinlich längst den Höhepunkt überschritten, sie sind eigennützig und dabei überwältigend und zerstörend — und vor allem: sie können ganz ausbleiben. Potentielle Verbündete sollten also mehr bedachtsam sein, die Vereinigten Staaten zu bitten, sich in ihren Konflikten zu engagieren.

Die Erfahrung des Krieges in Vietnam und insbesondere seines Endes hat die Wahlmöglichkeiten der USA im Hinblick auf den Modus der Kriegsführung weiter eingeschränkt. So war eines der Resultate des Vietnamkrieges, die These von der leichteren Durchführbarkeit eines begrenzten, konventionellen Krieges, in Frage zu stellen. Während der sechziger Jahre war die begrenzte Kriegführung als beste Alternative zu einem Weltkrieg und damit -Untergang angesehen worden. Folgerichtig sollte ein begrenzter Krieg eigentlich noch passender sein für das Zeitalter eines weltweiten Gleichgewichtssystems. Aber diese Schlußfolgerung ist durch die Erfahrung von Vietnam beeinträchtigt worden.

Was immer auch die speziellen oder generellen Gründe gewesen sein mögen — gegen Ende der ersten Präsidentschaftszeit Nixons war die amerikanische Regierung zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Intervention, wenn sie unternommen wird, entschlossen fortgeführt werden muß und daß eine Eskalation zielbewußt zu sein habe. In der Tat: wenn die große nordvietnamesische Offensive im Frühjahr 1975 auf unbestimmte Zeit verschoben worden wäre und wenn wir damit unsere Erfahrungen auf eine frühere Phase des Vietnamkrieges stützen könnten — beispielsweise diejenige, die die Abwehr der kommunistischen Frühjahrsoffensive 1972, die Verminung des Hafens von Haiphong, die Bombardements von Hanoi und die Pariser Vereinbarungen vom Januar 1973 umfaßt —, dann wären wir wohl zu dem Schluß gekommen, daß die entschiedene Anwendung von Gewalt und die weitere Drohung mit Vergeltung und Eskalation die erfolgreichen Lehren von Vietnam gewesen wären. Jetzt aber können wir nur noch die Lehre ziehen, daß die Wahl für die Vereinigten Staaten lediglich heißen kann: Entschlossenheit oder Unentschiedenheit. Aber keine dieser Reaktionsweisen ist abgestimmt auf die Verteidigungskonzeptionen unserer Verbündeten.

VII.

Je ernsthafter wie die Lehren aus dem Ende in Vietnam aufzeigen, desto mehr müssen wir den Politikern aus der Zeit Anfang und Mitte der sechziger Jahre recht geben, die die Herausforderung in Vietnam annahmen, wie auch der Regierung Nixon/Kissinger, die versuchte, die offensichtliche Niederlage zu vermeiden. Diese Politiker waren der Auffassung, daß Vietnam eine Herausforderung bedeutete, die mehr war als ein nur lokaler oder regionaler Konflikt — eine Herausforderung, die aus mehr als nur innenpolitischen Gründen nicht umgangen werden konnte — Gründe, die in der Struktur des internationalen politischen Systems ebenso zu suchen sind wie in der Aufrechterhaltung des amerikanischen Einflusses. Heute zu unterstellen, daß diese Politiker die Herausforderung vielleicht unterschiedlich eingeschätzt haben, daß sie beispielsweise die Risiken eines Nicht-Engagements hätten auf sich nehmen können, ist zum mindesten anachronistisch. Wie auch immer die Ergebnisse dieser schicksalsschweren Entscheidungen waren, so können diese jedoch nicht als zynisch bezeichnet werden, auch nicht als ein psychologischer Irrtum oder Ausdruck eines bürokratischen Automatismus. Die nachhaltigen Beteuerungen und Versicherungen unserer uneingeschränkten Beistandsverpflichtungen, wie sie jetzt von denjenigen Mitgliedern des Kongresses und anderen Personen abgegeben werden, die vorher den Vietnamkrieg scharf kritisiert und verurteilt hatten, sind ein zwiespältiger Beitrag für die Ernsthafigkeit jener Umstände, die damals unsere Politiker zur Intervention veranlaßt hatten.

Falls nun unsere Position in der internationalen Politik prekär werden sollte und der Zusammenbruch in Vietnam die Entwicklung eines internationalen Systems außerhalb unserer Kontrollmöglichkeiten zur Folge hätte, — dann würden ironischerweise die Entscheidungsgremien der Regierungen Kennedy und Johnson sowie Nixon/Kissinger — sozusagen entgegen ihren eigenen ursprünglichen Absichten — im nachhinein gerechtfertigt sein. Man muß nicht unbedingt die Klugheit der Entscheidungen über die Intervention und Eskalation in Vietnam akzeptieren. Wenn man aber so weit geht und die damaligen Entscheidungen für falsch hält (wie ich es tue), dann muß man auch bereit sein, sämtliche sich aus dem Nicht-Engagement ergebenden Konsequenzen zu akzeptieren.

Aus den außen-und militärpolitischen Erfah rungen der Vereinigten Staaten in den letztei Jahren können zwei unterschiedliche, ja ent gegengesetzte Verhaltensmuster für die Zu kunft entnommen werden. Das eine würde zum Inhalt haben: aktive Unterstützung de amerikanischen Positionen in der Welt; Neu tralisierung und Abwehr gegenläufiger Ten denzen einschließlich der Möglichkeit einei demonstrativen Konfrontation; Wiederaufbau des amerikanischen Bündnissystems; Wiederherstellung unserer Glaubwürdigkeit; die Bereitschaft, unsere Entschlossenheit nach außen hin stärker zu akzentuieren. Dieses Verhaltensmuster würde ferner implizieren einen deutlich höheren Verteidigungsetat; des weiteren müßte die von Kissinger begonnene Gleichgewichtspolitik aufgegeben und das internationale System wieder zu einem bipolaren System zurückgeführt werden.

Das hierzu gegensätzliche Verhaltensmuster würde eine Art „Heulen mit den Wölfen“ bedeuten: sich einer zunehmenden Konfusion der Verhältnisse anpassen; anerkennen, daß der eingetretene Schaden nicht auf Saigon oder Phnom Penh einzugrenzen ist, daß wir nicht länger mehr die Ereignisse beeinflussen oder die Reaktionen unserer Verbündeten kontrollieren können, so, wie es vor dem Zusammenbruch in Südvietnam der Fall war. Auch dürften wir unser eigenes politisches System nicht mehr völlig beherrschen bzw. nicht mehr in der Lage sein, hier einen ausreichenden Konsensus insoweit herzustellen, daß wir relativ kleinen Herausforderungen — die in ihrer Art derjenigen in Vietnam ähneln — begegnen könnten. Dieses Verhaltensmu-ster würde also „disengagement" bedeuten und soweit verfolgt werden, bis wir eine neue, offensichtlich zu verteidigende Abgrenzung gefunden haben. Wir müßten uns ferner abfinden mit einer geringeren Position im Rahmen des internationalen Systems und mit einer selbständigeren Politik unserer Verbündeten bis hin zu eigenen Schutzmaßnahmen gegen deren politische Mängel. Kurz: wir vermöchten mit diesem Verhaltensmuster auch unseren Gegnern einmal Gelegenheit zu geben, eine Zeitlang sich mit den Betrübnissen der Welt auseinanderzusetzen.

Ich gebe diesem zweiten Verhaltensmuster den Vorzug — einem substantiellen politisch-militärischen „disengagement". In der Tat ist es aber wohl nicht so sehr ein Vorzug denn eine Vermutung, daß die Vereinigten Staaten — obgleich sie natürlich Widerstand leisten könnten — vielleicht zu einer solchen Politik gezwungen sein werden. Denn eine derartige Politik könnte auf das nach dem Ende in Vietnam neu sich herausbildende internationale System adäquater reagieren: auf die neuen Machtverschiebungen bis hin zu dem Punkt, wo die Macht unregierbar wird und andererseits Macht das Verhalten der Staaten nicht mehr beeinflussen kann. Solch eine Politik könnte auch besser eine innenpolitische Situation berücksichtigen, in der eine amerikanische Regierung kaum die Legitimität besitzen würde, von ihren Wählern die Unterstützung von Maßnahmen zu verlangen, die nicht ihrem augenblicklichen Interesse sondern der Erhaltung einer abstrakten, internationalen Ordnung dienen.

Dieses letztgenannte Verhaltensmuster bedeutet nicht, die Vereinigten Staaten zu schutzlos lassen. Es bedeutet lediglich die Erkenntnis, daß, wenn man den sogenannten „Domino-Effekt“ vermeiden will, man vor allem eine ausreichende Distanz zwischen den einzelnen „Dominos" schaffen muß; dann nämlich werden die ersten auf eigenen Füßen stehen müssen und der letzte „Domino" — wir selbst — wird gefeit sein gegenüber Erpressungsversuchen und dementsprechend auch der Versuchung zu neuer Intervention widerstehen können.

Es gibt sicherlich noch ein drittes Verhaltensmuster, einen „dritten Weg", der von vielen vorgeschlagen wird und der eine Art Kompromiß ist. Er würde für die Vereinigten Staaten die Aufrechterhaltung von Engagements bedeuten, jedoch mehr „ausgewählter“ Art; er würde die Fortführung einer aktiven Außenpolitik der USA beinhalten, jedqch mit weniger Risiken und niedrigeren Kosten; er würde die Bündnisverpflichtungen gegenüber zuverlässigen Partnern bestärken, aber die daraus möglichen kostspieligen Folgen möglichst gering zu halten suchen. Die Befürworter einer derartigen politischen Orientierung — zumeist „liberale Realisten" — kritisieren das Engagement in Vietnam vornehmlich unter dem Gesichtspunkt seiner Disproportionalität im Hinblick auf die allenfalls marginalen Interessen der USA in dieser Region. Ihre Diagnose des Fehlschlags in Vietnam beruht auf der Annahme, daß es sich hier um einen Einzelfall handelte, begleitet von besonders schwierigen Umständen.

Dieses Verhaltensmuster scheint jedoch weniger eine politische Konzeption sondern mehr Ausdruck einer Hoffnung zu sein, daß nichts geschehen werde, die gegenwärtige Gelassenheit und den sich anscheinend neu herausbildenden Konsensus zu stören. Das Problem dabei ist nur, daß es nicht allein bei den Vereinigten Staaten liegt, über die nächste Herausforderung oder Bedrohung zu entscheiden. Auch dürften die Vereinigten Staaten nicht in der Lage sein, ihre Verpflichtungen so kunstvoll zu beschneiden und zurechtzustutzen, daß sie — so Walter Lippmanns klassische Mahnung — endlich auch den tatsächlichen Fähigkeiten der USA angepaßt sind. Unsere Gegner werden kaum auf diese Auswahlprinzipien Rücksicht nehmen und unsere Verbündeten dürften wohl sehr zurückhaltend sein, derart eingeschränkte Garantieversprechen von einer Nation entgegenzunehmen, die weder den grundsätzlichen Willen noch im Einzelfall die Absicht hat, diese Garantien zu erweitern. Wenn die Vertreter dieses „dritten Weges“ diejenigen tadeln, daß sie unbeirrt zu unserem Engagement in Vietnam standen, so lassen sie dabei außer acht, daß man im allgemeinen die Kriege so nehmen muß wie sie sich ereignen — mit ihren unlenkbaren Eigenheiten, ihren Unsicherheiten und manchmal auch mit ihren lange andauernden Ungewißheiten im Hinblick auf einen eindeutigen Sieg. Oder aber Kriege müssen grundsätzlich vermieden werden, lange bevor sie erste Gestalt annehmen, und zwar durch eine langfristig geplante Politik. Das bedeutet jedoch letztlich eine generelle Einschränkung unserer Verpflichtungen. Der Kompromißvorschlag, der auf eine Auswahl unserer Verpflichtungen hinzielt, scheint mir Teil eines größeren Syndroms von Mythen — vor allem bei den Liberalen und Pragmatikern — zu sein, eines Syndroms, das sowohl den Mythos beinhaltet, der Schaden von Vietnam sei einzugrenzen, wie auch den schon früher aufgetauchten Mythos, daß Vietnam ein „Fehler" gewesen sei und damit im Grunde unwesentlich für uns.

Die Mythen einer Nation haben eine funktionale Bedeutung. Sie sind Halbwahrheiten wie Halblügen, die die Spaltungen in einer Nation zu überbrücken und eine Gesellschaft zusammenzukitten vermögen. Man sollte sich daher sehr zurückhalten, sie in Frage zu stellen. Aber vielleicht sollten wir mit den „neuen" Myhten über Vietnam nicht so sorgsam verfahren. Denn sie beabsichtigen vor allem, das Debakel unserer politischen Ziele und Absichten in Vietnam loszulösen von unserer prinzipiellen Fähigkeit zu weiteren Interventionen. Es gibt sicherlich die Hoffnung, daß die mögliche neue, weltweite Führerschaft Amerikas eine Wohltat sein könnte — in humanitärer, wirtschaftlicher, diplomatischer Hinsicht —, aber nur ja kein militärisches Engagement. Diese Befürworter einer erneuten amerikanischen Weltmachtrolle, die die Erfahrungen von Vietnam möglichst rasch vergessen machen wollen, glauben in der Tat offenbar, daß der Kardinalfehler unserer vorherigen Politik ihre . Militarisierung" gewesen sei.

Mit diesem Ruf nach einer erneuten Vormachtstellung der USA in der Welt geht, nicht von ungefähr, die Forderung nach einer Stärkung der Position des Präsidenten einher. Nach der rituellen Reinigungszeremonie in Form des Rücktritts von Richard Nixon sind bereits viele Bedenken laut geworden, daß das Pendel nun zu sehr zugunsten des Kongresses ausgeschlagen habe und daß wir parlamentarische Hemmnisse und Ungereimtheiten gewärtigen müßten, falls diese Entwicklung nicht aufgehalten werde.

Wir müssen wahrscheinlich gegenwärtig zwischen zwei Arten „tödlicher Gefahren" wählen. Zum einen sind da die neuen Mythen über Vietnam, deren heilende Absichten es sind, Beschuldigungen und Spaltungen zu vermeiden, statt dessen die Nation zu einer neuen Einheit zu befähigen, damit alles wieder seinen Gang geht. — Dies ist die Gefahr des Vergessens. Die andere Gefahr besteht im Verdunkeln der Ursachen und der Konsequenzen des Konfliktes in Vietnam, ferner in dem Ausweichen vor hinlänglich differenzierten Schlußfolgerungen sowie fundamentaler Veränderungen der außenpolitischen Zielsetzungen. Dadurch aber besteht die Gefahr, daß dieses Land die tödlichen Konsequenzen eines neuen Konfliktes erleiden muß, eines Konfliktes, der durchaus anders sein kann — in einer anderen Region und unter anderen Umständen als der vergangene. Kurz, wir haben wohl zu wählen zwischen der Klärung von Streitpunkten und dem Risiko eines „neuen Vietnam" .

Fussnoten

Fußnoten

  1. „After Vietnam", The New York Times, 4. 5. 1975.

  2. Anthony Lewis, Hubris, National and Personal, in: The New York Republic, 3. 5. 1975.

  3. Joseph Kraft, Letting Go of the Vietnam Issue, ini The Washington Post, 6. 5. 1975.

  4. So Henry Brandon in der New Yorker Times Vom 13. 4. 1975.

  5. Stanley Hoffmann, The Sulking Giant, in: The New Republic, 3. 5. 1975.

  6. Address to the New Zealand National Press Club vom 7. April 1975; The Washington Post, 13. April 1975.

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