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Der Wehrbeauftragte muß sich etwas einfallen lassen! Bemerkungen zum Verhältnis von Wehrbeauftragtem und Parlament | APuZ 37/1975 | bpb.de

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APuZ 37/1975 Der Wehrbeauftragte muß sich etwas einfallen lassen! Bemerkungen zum Verhältnis von Wehrbeauftragtem und Parlament Die Bundeswehr als Objekt von Meinungen und Einstellungen

Der Wehrbeauftragte muß sich etwas einfallen lassen! Bemerkungen zum Verhältnis von Wehrbeauftragtem und Parlament

Bernhard Fleckenstein

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Am 19. März 1975 wählte der Deutsche Bundestag seinen fünften Wehrbeauftragten. Karl Wilhelm Berkhan, bis dahin Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, wird bis Ende dieses Jahrzehnts darüber wachen, ob die Grundrechte und die Grundsätze der Inneren Führung in der Bundeswehr respektiert und praktiziert werden. Die Wahl des fünften Wehrbeauftragten ist Anlaß für eine Rückschau auf die Vorgänger in diesem Amt, auf ihre Wahl, ihre Amtsführung und ihr Verhältnis zu Verteidigungsausschuß und Parlament. Die Wirksamkeit der verfassungsmäßig verankerten Kontrollinstitution „Wehrbeauftragter“ hängt davon ab, ob der Bundestag sein Kontrollorgan überhaupt nutzt und ernst nimmt, ob der Wehrbeauftragte Gehör findet und seine Vorschläge und Empfehlungen aufgegriffen werden. Fritz-Rudolf Schultz, Berkhans Vorgänger, beklagt sich in seinem letzten Jahresbericht 1974 über „das distanzierte Verhältnis von Parlament und Wehrbeauftragtem" und wirft den Abgeordneten ein „allgemeines Desinteresse" an der Tätigkeit des Wehrbeauftragten vor. Es wird gefragt, ob dieser Vorwurf berechtigt ist, wo die Gründe für die vorhandenen Probleme liegen und was künftig getan werden kann, um Volksvertretung und Öffentlichkeit stärker für die Arbeit des Wehrbeauftragten zu interessieren. Im Ergebnis zeigt sich, daß es in der Tat Kooperationsprobleme gibt und die Zusammenarbeit verbesserungsbedürftig ist. Von einer bewußt demonstrierten Interesselosigkeit der Abgeordneten oder gar einer Distanzierung vom Wehrbeauftragten kann aber keine Rede sein. Die Ursachen der Probleme liegen keineswegs nur beim Parlament. Der Wehrbeauftragte hat ein gerütteltes Maß Anteil daran, wenn er sich über Vernachlässigung und Desinteresse beklagen muß. Seine eigentliche Kontrollaufgabe ist zugunsten eines zunehmenden militärischen Lobbying in den Hintergrund gerückt. Der Jahresbericht ist mehr ein sozialpolitischer Report als ein politischer Tätigkeitsbericht. Er ist überdies zu unübersichtlich, verwendete Zahlenmaterialien sind nur ungenügend aufbereitet und verwertet. Klagen des Wehrbeauftragten über Desinteresse und Distanzprobleme nützen wenig. Man sollte sich im Amt des Wehrbeauftragten selbst etwas einfallen lassen, wie das Verhältnis zu Parlament und Öffentlichkeit verbessert und aktiver gestaltet werden kann. Dazu werden abschließend einige Anregungen vorgetragen.

I. Der neue Mann

Am 19. März 1975 wählte der Deutsche Bundestag seinen neuen Wehrbeauftragten. Karl Wilhelm Berkhan, bis dahin Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, kann sich als fünfter Wehr-beauftragter des Parlaments auf die eindrucksvolle Zustimmung von 418 Abgeordneten stützen. Nur 21 stimmten gegen ihn, ebenso viele enthielten sich, 4 Stimmzettel waren ungültig. Berkhan erhielt mit diesem Stimmergebnis auch das Vertrauen weiter Teile der Opposition.

Sein Vorgänger im Amt, Fritz-Rudolf Schultz, mußte sich seinerzeit mit einer weit schmale-ren Basis zufriedengeben. Bei seiner Wahl am 11. März 1970 gaben ihm nur 268 Abgeordnete ihre Stimme, 127 waren gegen ihn. Dazu kamen 50 Enthaltungen und ebenfalls 4 ungültige Wahlzettel. Und im Dezember 1964, bei der Wahl des dritten Wehrbeauftragten Matthias Hoogen, war das Stimmverhältnis gar noch ungünstiger: Hoogen wurde damals mit 270 gegen 174 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen gewählt.

Beide, sowohl Hoogen als auch Schultz, haben ihre jeweilige Amtsperiode durchgestanden. Es war besonders Fritz-Rudolf Schultz, der das Amt nach allerlei Querelen konsolidieren konnte, nachdem bereits gegen Ende der Ära Hoogen eine Phase der Festigung und Stabilisierung eingesetzt hatte. Ihre beiden Vorgänger Heye und von Grolman waren in dieser Beziehung weniger glücklich, obwohl sie sich bei Amtsantritt auf wesentlich breitere Parlamentsmehrheiten stützen konnten.

Helmuth von Grolman wurde im Februar 1959 mit 363 gegen nur 16 Stimmen bei 32 Enthaltungen zum ersten Wehrbeauftragten des Bundestages gewählt. Ungeachtet der persönlichen Gründe, die bereits im Juli 1961 zu seiner Entlassung führten, sah sich von Grob man schon bei der Vorlage seines ersten Jahresberichts im April 1960 härtesten Pressionen ausgesetzt. Der damalige Verteidigungsminister Strauß ging voll auf Konfrontationskurs, unterstützt von Abgeordneten der CDU/CSU, und es gelang ihm dabei auch, den Verteidigungsausschuß größtenteils auf seine Seite zu ziehen. Von Grolmans Vertrauenspolster im Bundestag war schon nach einem Jahr stark geschrumpft; damit waren zugleich auch schon die Weichen gestellt für die sog. Heye-Affäre

Hellmuth Guido Heye, zweiter Wehrbeauftragter des Parlaments, erhielt sein Amt mit der Zustimmung sämtlicher Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Am 8. 11. 1961 wurde er durch Zuruf einstimmig gewählt. Fast auf den Tag genau drei Jahre später, am 10. 11. 1964, bat er um seine Entlassung. Die Ära Heye war zu Ende; das Vertrauen des Parlaments, das ihn einstimmig gewählt hatte, war im Streit um die von ihm inszenierte Artikelserie in der . QUICK'-Illustrierten nahezu restlos geschwunden

In diesen einleitenden Bemerkungen geht es nicht darum, eine Konfliktanalyse des Amtes des Wehrbeauftragten zu liefern oder seine wechselvolle Geschichte nachzuzeichnen. Es kann und soll hier auch nicht darüber gerechtet werden, wie und warum die anfangs überaus breite Vertrauensbasis der ersten beiden Wehrbeauftragten so rasch zerbröckelte. Die Zielsetzung ist weit bescheidener: Es geht um die schlichte Erkenntnis, daß eine breite 'Mehrheit bei der Wahl eines Wehrbeauftragten noch lange nichts darüber aussagt, wie sich das Verhältnis von Parlament und Wehr-beauftragtem schließlich entwickeln wird.

Von Grolman und Heye hatten jeweils die Abgeordneten der Koalition wie der Opposition hinter sich. Sie waren damit bei ihrer Bestallung in der Tat Wehrbeauftragte des Bundestages, wie es Artikel 45 b des Grundgesetzes im Wortlaut vorschreibt. Hoogen und Schultz verdankten ihr Amt in erster Linie den jeweiligen Regierungsparteien. Bei ihrer Wahl übertrafen sie mit 270 bzw. 268 Ja-Stimmen nur knapp die, erforderliche Mehrheit von 261 bzw. 260 Mitgliedern des Bundestages Die Anzahl der Nein-Stimmen war beträchtlich. Paradoxerweise waren es aber gerade von Grolman und Heye, die nicht zuletzt an Verteidigungsausschuß und Paria ment scheiterten, während es den mit knap pen Mehrheiten gewählten Wehrbeauftragte: Hoogen und vornehmlich Schultz gelang, ihr fünfjährige Amtszeit durchzustehen und di Institution zu festigen.

Der fünfte Amtsträger ist wieder ein Wehrbe auftragter des Bundestages: 418 Abgeordnet haben ihn gewählt; Sprecher aller drei Frak tionen schenkten ihm ihr Vertrauen und ihn guten Wünsche für eine erfolgreiche Arbeit In seiner „Jungfernrede" als Wehrbeauftragte am 18. 1975 anläßlich der „ersten Lesung des noch von seinem Vorgänger erstattetet Jahresberichts 1974 hat Karl Wilhelm Berkhat sein Amtsverständnis in einigen Punkten be reits verdeutlicht und einige Markierungs bojen für seine künftige Arbeit gesetzt. Insge samt läßt sich aus der Rede eine Strategie dei Kooperation mit Legislative und Exekutive aber auch der Bereitschaft zum begrenzter Konflikt herauslesen. Er will „die Mäuse dor fangen, wo sie über Gebühr in Bereiche ein dringen, wo sie nichts zu suchen haben“, sie aber „dort auch leben lassen, wo sie zurr natürlichen Leben und zur Entwicklung unserer Umwelt gehören" 4). Und wenn der neue Wehrbeauftragte mit bekanntem Humor vor sich selbst sagt, daß die Katze das Mausen nicht lasse, so erinnere man sich, daß Exemplare der Gattung Felis silvestris domestica sowohl schnurren als auch kratzen können — und dies sogar gleichzeitig.

II. Die Aufgabe

Die Aufgaben des Wehrbeauftragten sind in Art. 45 b Grundgesetz und im Gesetz über den Wehrbeauftragten des Bundestages (WbG) niedergelegt. Er ist Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle. Dafür erhielt er die „Generalkompetenz eines Hüters der Grundrechte und der Grundsätze der Inneren Führung" (Eckart Busch) zugewiesen. Auf diesem Gebiet wird er nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen tätig. Darüber hinaus kann er zur Prüfung bestimmter Vorgänge angewiesen werden, die sich irgendwo im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung ereignen, also nicht nur Grundrechtsverletzungen oder Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung zum Gegenstand haben. Im Unterschied zum Grundrechtsschutz, der einen verfassungsrechtlich festgeschriebenen Dauerauftrag darstellt, handelt es sich hier um Einzelaufträge, die prinzipiell das gesamte Verteidigungsressort umfassen können. Schließlich schreibt das Wehrbeauftragten-Gesetz vor, daß nach Schluß des Kalenderjahres ein schriftlicher Gesamtbericht zu erstatten ist.

Die Aufgaben des Wehrbeauftragten werden im wissenschaftlichen Schrifttum in allen Einzelheiten behandelt und diskutiert Auf eine breitere Erörterung kann deshalb verzichtet werden. Formuliert man etwas knapper und handfester, soll der Wehrbeauftragte die gesetzlich garantierten Rechte des einzelnen Soldaten gegenüber Übergriffen schützen, ein Wiederaufleben von „Militarismus" und „Kommißdenken" verhindern und rechtzeitig Alarm schlagen, wenn die Bundeswehr in dieser Hinsicht aus dem Ruder zu laufen droht.

Das war der zentrale Beweggrund, warum die Institution seinerzeit überhaupt eingerichtet wurde; er stand Pate an der aus Skandinavien importierten Wiege des Wehrbeauftragten. In der Praxis verlagerte sich der Tätigkeitsschwerpunkt schon bald von den Grundrechten und den Grundsätzen der Inneren Führung im Verhältnis Vorgesetzter: Untergebener hinüber auf das administrative Problem-feld Fürsorge und Betreuung. Diese Schwerpunktverlagerung war nicht immer unumstritten. Es gibt auch gegenwärtig noch Kompetenzstreitigkeiten zwischen Exekutive und Wehrbeauftragtem auf dem Fürsorgesektor. Gelegentlich spricht man von unterschiedlichen Wertigkeiten: Fürsorge, Betreuung und Soziales seien sekundäre Aufgaben des Wehrbeauftragten, die sich auf Kosten seiner Primärfunktion in den Vordergrund geschoben hätten; die eigentliche Kontrollaufgabe werde von der Sachwalterfunktion weithin überlagert. Man nannte den Wehrbeauftragten in diesem Zusammenhang gar den „bestbezahlten Bonner Staatslobbyisten"

In der Tat sind die Zweifel nicht ausgeräumt, ob hier nicht im Laufe der Jahre eine Aufgabenverschiebung und -ausweitung stattgefunden hat, die gesetzlich nicht völlig abgesichert ist und den Wehrbeauftragten vor allem in seinem Selbstverständnis von der primären Kontroll-und Überwachungsaufgabe entfernt. Dafür ein Beispiel:

Vor dem Hintergrund des Militärputsches in Chile gab es Ende 1973/Anfang 1974 — ausgelöst durch kritische Verlautbarungen der Mitglieder des Verteidigungsausschusses Erwin Horn und Karl-Heinz Hansen sowie des ehemaligen Vorsitzenden der Jungsozialisten Karsten Voigt — eine erregte Diskussion über die demokratische Zuverlässigkeit der Bundeswehr Der Vorgang beschäftigte seinerzeit auch den Deutschen Bundestag. Die Jahresberichte 1973 und 1974 des Wehrbeauftragten enthalten darüber so gut wie nichts, obwohl es sich doch um ein Thema handelt, das die Institution unmittelbar angeht. Hier war sozusagen der „nervus rerum" des ganzen Unternehmens angesprochen. Statt dessen finden sich auf der letzten Seite des Berichts 1973 unter der Rubrik „Schlußbemerkungen" ganze vierzehn Zeilen, mit denen das Problem abgehandelt wird. Fürsorge-und Betreuungsfragen waren dem Wehrbeauftragten dagegen mehr als zwanzig Druckseiten wert.

Der Abgeordnete Professor Dr. Schäfer (SPD) hat bei der Beratung des Jahresberichts 1974 ausgeführt, daß der „große Bereich des Fürsorgewesens ..., streng genommen, durch Art. 45 b des Grundgesetzes und durch die Formulierung des Gesetzes über den Wehrbeauftragten in dieser Weise eigentlich nicht abgedeckt (ist)" Andererseits haben Verteidigungsministerium und Bundesregierung im Weißbuch 1971/1972 selbst erklärt: „Fürsorge ist ein wichtiges Führungsmittel, ein Element (!) der inneren Führung.“ Wenn das so ist, dann fällt sie auch in den Kompetenzbereich des Wehrbeauftragten.

Betrachtet man die Situation nüchtern, so haben die jeweiligen Amtsinhaber die starke Betonung der Sachwalterfunktion sicher nicht mit planvoller Absicht vorgenommen. Die Entwicklung, die „Kraft des Faktischen", hat sie in diese Rolle gedrängt. Es gab keine Wiedergeburt von „Kommiß" und „Militarismus"; der Wehrbeauftragte wurde nicht „zu einer Klagemauer für entrechtete Wehrpflichtige“, wie es der Abgeordnete Lothar Krall (FDP) formulierte, sondern entwickelte sich eher zu einer zentralen Clearingstelle für Bundeswehr-Sozialfragen im weitesten Sinne. Das machte es auch der Truppe verhältnismäßig einfach, die Institution Wehrbeauftragter zu akzeptieren. Es kann eigentlich allen nur recht sein, wenn Grundrechtsverletzungen und Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung in Fragen der Ausbildung, Erziehung und Dienstgestaltung demgegenüber nur etwa ein Fünftel der Eingaben ausmachen. Im Amt des Wehfbeauftragten sollte man jedoch überlegen, ob man der Bundeswehr und der eigenen Institution — vom Staatsganzen nicht zu reden — langfristig wirklich einen Gefallen tut, wenn man die Kompetenzen in Fürsorge-und Betreuungsfragen, in Haushaltsund Finanzangelegenheiten auszuweiten sucht und sich in mancherlei Hinsicht als He-bel und willkommenes Druckmittel für ganz handfeste materielle Interessen zur Verfügung stellt, die beim Deutschen Bundeswehrverband besser aufgehoben wären. Die Sachwalterfunktion darf die Kontrollaufgabe nicht überwuchern. Der Augenblick ist gekommen, hier etwas gegenzusteuern.

III. Der Konflikt

Fritz-Rudolf Schultz hat seinen letzten Tätigkeitsbericht für das Jahr 1974 über die aktuelle Berichterstattung hinaus als eine Art Gesamtbericht über seine fünfjährige Amtszeit als Wehrbeauftragter konzipiert. Seine Absicht war, „den Blick des Parlaments auch auf allgemeine und zeitlich übergreifende Probleme der Institution des Wehrbeauftragten zu lenken" Zentrales Thema dieser gesammelten Erfahrungen ist das Verhältnis von Wehrbeauftragtem und Parlament. Fritz-Rudolf Schultz beklagt sich in seinem Schlußbericht über „das distanzierte Verhältnis von Parlament und Wehrbeauftragtem" sowie über „das allgemeine Desinteresse des Parlaments" an seinem Kontrollorgan Der Verteidigungsausschuß habe jeweils nur wenige Stunden zur Beratung der Jahresberichte erübrigt, das Plenum interessierten die Darlegungen des Wehrbeauftragten nur am Rande; sein Rederecht habe sich als unzureichend erwiesen und schließlich hätten Parlament und Verteidigungsausschuß praktisch auf ihr Weisungsrecht verzichtet: In 15 Jahren sei die Institution nur 16 mal zur Untersuchung bestimmter Vorgänge angewiesen worden. Sprecher aller drei Parteien haben den Generalvorwurf, das Parlament sei an seinem Kontrollorgan Wehrbeauftragter nicht interessiert, während der ersten Behandlung des Jahresberichts 1974 im Bundestag zwar zurückgewiesen, zugleich aber auch Besserung gelobt und einen Prozeß des beiderseitigen Nachdenkens empfohlen. Im folgenden geht es deshalb um die Beantwortung dieser drei Fragen:

1. Ist der Vorwurf der Interesselosigkeit berechtigt? 2. Wenn ja, wo liegen die Gründe für das „distanzierte Verhältnis" der Parlamentarier gegenüber dem Wehrbeauftragten?

3. Was ist zukünftig zu tun, was kann getan werden?

Bevor diese Fragen diskutiert und beantwortet werden, verdient ein anderer Sachverhalt Erwähnung: Während Schultz das Parlament attackiert, lobt er zugleich das „praktische Miteinander" von Wehrbeauftragtem, Verteidigungsministerium und Truppe. Dieses Miteinander wird als insgesamt „problemlos" dargestellt — eine im Grunde erstaunliche Aussage. Die natürliche Bruchstelle, der eigentliche Konfliktherd, wäre schließlich im Verhältnis von Kontrolleur und Kontrolliertem zu erwarten gewesen, im gleichsam natürlichen Bemühen des Observierten, sich der Kontrolle zu entziehen. Statt dessen wird ihm ein derart gutes Zeugnis ausgestellt. Den tieferen Grund für das „problemlose Miteinander" liefert Schultz selbst, wenn er im Jahresbericht 1974 bemerkt, daß sich das Verhältnis in dem Augenblick spürbar gewandelt habe, als „der Wehrbeauftragte seinen Aufgabenbereich nicht nur als einseitige Kontrolle des Verteidigungsbereichs ansah, sondern zunehmend auch die Interessen der Streitkräfte im parlamentarischen Raum als deren Sachwalter wahrzunehmen begann" Während dieser Sachverhalt wieder auf die vorher diskutierte Sachwalter-Problematik zurückführt, geht es nun also um das Verhältnis von Wehrbeauftragtem und Parlament. Der Vorwurf mangelnder Unterstützung und Nutzung der Institution ist nicht neu. In einer Reihe von Literaturbeiträgen über das Amt des Wehrbeauftragten wird diese Ansicht ebenfalls vertreten Das soll uns jedoch von einer nüchternen'Prüfung nicht abhalten. Die meisten Autoren sind mit ihrem Urteil immer noch an der längst Geschichte gewordenen „Heye-Affäre" und den Skandalen der Ära Hoogen orientiert. Inzwischen hat sich aber einiges geändert. Wer heute über dieses Thema schreiben will, muß die Dinge differenzierter angehen.

Geändert haben sich zunächst einmal die äußeren Bedingungen: Die Dienststelle des Wehrbeauftragten, ursprünglich als kleiner persönlicher Arbeitsstab konzipiert, hat sich längst zu einer auch personell beachtlichen Bürokratie gemausert. Die Zahl der Mitarbeiter ist unter Schultz um etwa ein Drittel angewachsen, obwohl das Eingabeaufkommen seit 1971 nicht mehr gestiegen ist. Im Amt des Wehrbeauftragten konnte man es zu et-was bringen, dank Haushaltsausschuß und Parlament, die den Haushalt im allgemeinen ohne große Abstriche passieren ließen. Der jahrelange „Kolonialstatus" der Dienststelle in der Mehlemer Deichmanns Aue ist inzwischen beendet. Im vergangenen Jahr bezog man ein neues Quartier am Godesberger Rheinufer. Es dürfte im Bonner Raum kaum eine andere Behörde geben, die so gut, so aufwendig und so teuer untergebracht ist. Das läßt nicht gerade auf Desinteresse und distanzierte Haltung der Parlamentarier schließen.

Die Jahresberichte des Wehrbeauftragten, früher nur als unansehnliche Bundestags-Drucksache erhältlich, werden seit 1970 vom Presse-und Informationszentrum des Deutschen Bundestages in buchähnlicher Ausgabe breit publiziert. Sie sind heutzutage praktisch jedermann kostenlos zugänglich — auch dies ein immerhin erwähnenswerter Vorgang.

Seit 1967 hat der Wehrbeauftragte ein Rederecht im Plenum des Bundestages. Er kann seinen Tätigkeitsbericht persönlich vertreten.

Voraussetzung ist, daß ein Mitglied des Bundestages dies verlangt und soviel anwesende Mitglieder des Bundestages zustimmen, wie einer Fraktionsstärke entspricht (§ 116c der Geschäftsordnung des Bundestages). Fritz-Rudolf Schultz meint dazu in seinem Jahresbericht 1974, daß sich dieses Rederecht als unzureichend erwiesen habe: „Der Wehrbeauftragte kann weder selbst bei der Beratung seiner Berichte um das Wort bitten, noch kann er auf Vorwürfe und Beanstandungen reagieren." Diese Feststellung ist so sicher nicht richtig. Dem Wehrbeauftragten dürfte es immer möglich sein, die erforderlichen zwei Dutzend Abgeordneten hinter sich zu bringen, falls er das Wort zu ergreifen und beispielsweise auf Vorwürfe und Beanstandungen zu reagieren wünscht. Es ist jedenfalls von Schultz kein Fall bekannt, wo er sich um das Wort bemüht hätte, aber an dieser Be‘immung gescheitert wäre. Es gibt also bis-her keine einzige negative Erfahrung, die dazu berechtigen würde, die derzeitige Regelung als „unzureichend" zu bezeichnen. Wie es funktioniert, hat Karl Wilhelm Berkhan demonstriert: Er war gerade einen Monat im Amt, als er am 18. April 1974 erstmals im Plenum sprach.

Im übrigen sollte nicht vergessen werden, daß die eigentliche Beratung der Jahresberichte im Verteidigungsausschuß stattfindet, die Hauptarbeit also dort geleistet wird. Bei den Ausschußsitzungen hat der Wehrbeauftragte vor allem in den letzten Jahren immer Gelegenheit gehabt, ohne Formalitäten zu Wort zu kommen, Ergänzungen, Berichtigungen und Klarstellungen abzugeben sowie auf Fragen der Ausschußmitglieder zu antworten. Das läßt der Jahresbericht 1974 unerwähnt.

Wie steht es nun aber mit der Ausübung des Weisungsrechts durch Parlament und Verteidigungsausschuß? Fritz-Rudolf Schultz mißt diesem Sachverhalt zentrale Bedeutung zu: Ein wesentlicher Bereich der Aufgabenstellung des Wehrbeauftragten, und zwar die Unterstützung des Parlaments aufgrund weisungsgebundener Tätigkeit, sei ungenützt geblieben In der Tat gab es seit Bestehen der Institution insgesamt nur 16 Weisungen. Diese Zahl spricht für die These der Vernachlässigung. Aber auch hier werden wesentliche Dinge nicht genannt. Seit 1967 gibt es eine Regelung, wonach der Wehrbeauftragte bestimmte Vorgänge, die keine Verletzung der Grundrechte oder Verstöße gegen die Innere Führung darstellen, ihm aber prüfenswert erscheinen, dem Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses in einer monatlichen Übersicht mit der Bitte zuleitet, die nach § 2 Abs. 1 WbG erforderliche parlamentarische Weisung zu erteilen. Falls sich der Verteidigungsausschuß innerhalb von vier Wochen nicht äußert, gilt die Weisung als erteilt. Betrachtet man die fünf Jahre, in denen Schultz als Wehrbeauftragter amtierte, so ergibt sich für dieses Verfahren einer quasi stillschweigenden Weisungserteilung folgende Statistik:

1970 = 7 Ersuchen, allen entsprochen, 1971 = 25 Ersuchen, allen entsprochen, 1972 = 35 Ersuchen, allen entsprochen, 1973 = 54 Ersuchen, allen entsprochen, 1974 = 50 Ersuchen, allen entsprochen.

Während der fünfjährigen Amtsperiode von Fritz-Rudolf Schultz sind also insgesamt 171 Ersuchen um Weisungserteilung gestellt worden, denen der Verteidigungsausschuß sämtlich entsprochen hat. Es ging dabei um Schadensersatzansprüche von und gegen Soldaten sowie um Eingaben im Zusammenhang mit Musterung, Einberufung oder Wehrübung. Vielfach waren es Vorgänge, zu deren Untersuchung Parlament und Verteidigungsausschuß von sich aus gar keine Weisungen erteilen konnten, weil die Probleme dort nicht aufliefen, man überhaupt nicht davon wußte. Das 1967 vereinbarte Verfahren einer durch den Wehrbeauftragten initiierten Weisungserteilung wird der Praxis im Grunde viel besser gerecht. Der Wehrbeauftragte ist „Auge und Ohr" des Parlaments. Er hat durch seine Amtsbefugnisse und seine Behörde weit mehr Möglichkeiten, Konflikte zu erkennen als der mit einer Vielzahl von Aufgaben und Verpflichtungen belastete einzelne Abgeordnete. In diesem Zusammenhang ist das Amt ja auch als „soziales Frühwarnsystem" bezeichnet worden. Die Tatsache, daß der Verteidigungsausschuß allen Weisungsersuchen entsprochen hat, widerlegt die Vermutung, die Abgeordneten wollten den Wehrbeauftragten auf Distanz halten. Wenn Bundestag und Verteidigungsausschuß ihr Weisungsrecht insgesamt eher passiv ausgeübt haben, dann wohl vor allem deshalb, weil die Probleme dort anders oder auch gar nicht gesehen wurden, nicht aber, um den Wehrbeauftragten von der Bundeswehr fernzuhalten. Im übrigen dürfte Schultz die Möglichkeiten seiner Dienststelle überschätzt haben, wenn er das Schießunglück in Bergen-Hohne als Beispiel für eine ausgebliebene Weisung bemüht. Nichts gegen die Mitarbeiter des Wehrbeauftragten, aber zur Untersuchung eines Schießunglücks gehört sicher mehr als juristischer Sachverstand.

Unerwähnt bleibt schließlich auch, daß sich Jahr für Jahr eine ganze Reihe von Bundestagsabgeordneten persönlich an den Wehrbeauftragten wenden. Nimmt man wiederum die letzten fünf Jahre, die Amtsperiode von Fritz-Rudolf Schultz, dann waren ausweislich der Statistik der Jahresberichte unter den Einsendern von Eingaben und sonstigen Vorgängen:

1970 = 46 Abgeordnete des Bundestages, 1971 = 21 Abgeordnete des Bundestages, 1972 = 23 Abgeordnete des Bundestages, 1973 = 52 Abgeordnete des Bundestages, 1974 = 47 Abgeordnete des Bundestages

Auch in diesen Zahlen dokumentiert sich das Interesse des Parlaments an seinem Wehrbeauftragten. Zwar handelte es sich dabei kaum um spektakuläre Untersuchungsaufträge. Meist ging es um Anliegen, die den Abgeordneten aus ihren jeweiligen Wahlkreisen vorgebracht wurden. Aber auch diese Kontakte beweisen, daß die Institution Wehrbeauftragter seitens des Parlaments nicht ungenutzt bleibt.

Und schließlich hat der Bundestag erst in neuerer Zeit recht deutlich gezeigt, daß ihm das Amt durchaus nicht gleichgültig ist. Das haben die Vorgänge um die Wahl des fünften Wehrbeauftragten augenfällig bewiesen. Die Abgeordneten haben deutlich gemacht, daß sie auf diesem Posten eine profilierte Persönlichkeit sehen wollen und schließlich den Mann gewählt, der auch in der Öffentlichkeit als der geeignetste Nachfolger angesehen wurde.

Nun soll dieser Beitrag auch wieder nicht zu einer unkritischen Apologie des Parlaments geraten. Die Abgeordneten hätten sich in den vergangenen 15 Jahren schon etwas häufiger mit ihrem Wehrbeauftragten beschäftigen können. Da ist dem ehemaligen Wehrbeauftragten Schultz durchaus zuzustimmen. Aber so gering, wie im Jahresbericht 1974 dargestellt, ist das Interesse des Parlaments an sei-ner Kontrollinstitution nun auch wieder nicht. Schultz ist hier allzu pauschal und undifferenziert vorgegangen. Von einer bewußt demonstrierten Interesselosigkeit oder gar einer Distanzierung der Abgeordneten von der Institution des Wehrbeauftragten kann keine Rede sein.

Die Probleme sind vielschichtiger, sie gründen eher in der Sache selbst. Und da sollte man sich auch im Amt des Wehrbeauftragten einmal selbstkritisch fragen, ob man seinerseits nicht ein gerütteltes Maß Anteil daran hat, wenn die Kooperation nicht so recht funktioniert. Schultz klagt darüber, daß seine „teilweise recht umfangreichen" Jahresberichte nur unzureichend beraten und verwertet worden sind. Das trifft zu, liegt aber zu einem ganz erheblichen Teil an den Berichten selbst.

Es gibt keine Vorschriften darüber, wie der jährliche Tätigkeitsbericht des Wehrbeauftragten auszusehen hat. Aber es gibt gewisse Erfahrungsgrundsätze. Und da ist es nun einmal so, daß ein Bericht um so weniger Chancen hat, auch gelesen zu werden, je umfangreicher er sich präsentiert. Man könnte auch sagen: Je mehr Seiten, desto größer die Abschreckungswirkung. Gegen diese Grundregel wird im Amt des Wehrbeauftragten sozusagen Jahr für Jahr erfolgreicher verstoßen. Die Jahresberichte unterliegen offenbar einem schier unaufhaltsamen Umfangswachstum. Wer von den Abgeordneten des Bundestages, die doch die Zielgruppe, den gesetzlich verordneten Adressaten darstellen, hat die Berichte eigentlich gelesen? Allenfalls die kleine Gruppe, die dem Verteidigungsausschuß angehört! Es ist kein Geheimnis, daß die große Mehrheit ihre Informationen über den Jahresbericht in erster Linie aus den Meldungen und Kommentaren der Presse bezieht.

Von der Form zum Inhalt: Die Berichte lassen keine Schwerpunkte, keine Generallinie erkennen. Das macht sie unübersichtlich. Vor allem stimmen die Gewichtungen nicht mehr: Die wirklichen Probleme gehen in der Vielfalt unter. Der Wehrbeauftragte sollte nicht versuchen, neben der Hardthöhe nun auch seinerseits eine Art Weißbuch zu produzieren. Das derzeit übliche „Prinzip der bunten Palette" verführt dazu, Themen anzuschneiden und Probleme abzuhandeln, die längst bekannt und andernorts bereits erschöpfend dargestellt sind Das Thema Fürsorge, das in jedem Bericht breiten Raum einnimmt, vermag die Abgeordneten nicht von den Sitzen zu reißen. Es hat zur Folge, daß der Jahresbericht des Wehrbeauftragten zu großen Teilen kein politischer Bericht ist, allenfalls ein sozialpolitischer Sachstandsreport.

Hinzu tritt die ungenügende Aufbereitung und Verwertung der Zahlenmaterialien. Dies ist zweifellos der gravierendste Einwand gegenüber den derzeitigen Tätigkeitsberichten. Die Berichte stellen dort, wo generalisierende Aussagen gemacht werden, allzusehr subjektive Meinung dar. Sie sind empirisch zu wenig abgesichert, gelegentlich fehlt es auch am theoretischen Zugang. Was in den letzten Jahresberichten zum zivil-militärischen Verhältnis ausgesagt wurde, befindet sich nicht mehr im Einklang mit dem fortgeschrittenen Erkenntnisstand der internationalen Militär-soziologie. So muß bezweifelt werden, ob die Jahresberichte das sind, was sie vornehmlich sein sollten, nämlich zutreffende — das heißt aber: möglichst objektivierte — Berichte über den inneren Zustand der Bundeswehr.

Karl Wilhelm Berkhan hat diese überstarke subjektive Prägung der Jahresberichte selbst bestätigt, als er der Kritik seines Vorgängers am Parlament die eigene Auffassung gegenüberstellte und dazu meinte, dies sei „nicht ungewöhnlich; denn der Bericht des Wehrbeauftragten wird sicher sehr von seiner Person beeinflußt, und zwei Personen haben sehr häufig zu dem gleichen Problem unterschiedliche Meinungen."

Nun ist Meinungsvielfalt in der Demokratie eine gute Sache, nicht aber für den Jahresbericht des Wehrbeauftragten. Dieser Bericht, der ja aufgrund der Anregungskompetenz des Wehrbeauftragten zugleich auch Planungsdokument und Entscheidungsgrundlage für das Parlament sein soll, muß sich durch ein möglichst hohes Maß an Objektivität und Wirklichkeitsnähe auszeichnen. Erst dann wird er seinem Anspruch gerecht.

IV. Was tun?

Der Kritiker einer Sache muß nicht zugleich auch Lösungen mitliefern. Dennoch bleibt es unbefriedigend, wenn er es nicht wenigstens versucht. Der Leser, der bis hierher gefolgt ist, erwartet etwas Handfestes. Auch ist die dritte Frage noch offen, in der es darum ging, was konkret getan werden kann. Der Titel deutet bereits die Grundrichtung an: Der Wehrbeauftragte muß sich etwas einfallen lassen! Klagen darüber, daß man sich vernachlässigt fühlt, bewirken wenig. Sicher könnte auch das Wehrbeauftragten-Gesetz novelliert werden. Da gibt es einige brauchbare Anregungen. Aber eine Erweiterung der Kompetenz oder eine Besoldungsanhebung ändern nichts an der Frage, wie man Volksvertretung und Öffentlichkeit stärker an der Arbeit des Wehrbeauftragten interessieren könnte. Da muß man im Amt des Wehrbeauftragten schon selbst etwas tun, seinerseits Aktivität entwickeln. Dazu abschließend einige Anregungen. 1. Der Wehrbeauftragte sollte sich wieder stärker auf seine eigentliche Kontrollaufgabe besinnen und damit den Tätigkeitsbericht wie seine gesamte Arbeit wieder mehr „politisch" machen und verstehen.

2. Der Jahresbericht, wichtigstes Instrument der Kontrolltätigkeit, sollte kürzer werden. Überlegenswert wäre, die wichtigsten Erkenntnisse, die systematischen und grundsätzlichen Aussagen auf wenigen Druckseiten zusammengefaßt voranzustellen, wie das etwa in den verschiedenen Kommissionsberichten an den Bundesminister der Verteidigung vorexerziert worden ist.

3. Es muß nicht Jahr für Jahr die ganze Breite der Themen angesprochen werden. Schwerpunktbildung käme der Sache wahrscheinlich mehr zugute, weil ein Thema dann wirklich ausgelotet und von allen Seiten betrachtet werden kann, Verbesserungen aufgrund präzis entwickelter Anregungen eher zu erwarten sind.

4. Die Jahresberichte müssen klare Empfehlungen und Vorschläge an die Adresse des Parlaments enthalten. Diese Vorschläge sollten an herausragender Stelle zusammengefaßt plaziert, nicht über den ganzen Berichtstext verstreut werden.

5. Die Berichte und Stellungnahmen müssen stärker objektiviert und statistisch abgesichert werden, dürfen weniger bloß subjektive Meinungsäußerung darstellen. Das setzt den Ausbau der sozialwissenschaftlichen Kapazität voraus, eine bessere Nutzung der eigenen wie der amtlichen Statistik sowie eine Intensivierung der Kontakte zu Institutionen und Einrichtungen, die sozialwissenschaftliche Umfrageforschung betreiben und über verwertbare Daten und Informationen verfügen. 6. Die eigene Statistik muß verbessert werden. Es sollten Vergleichswerte herangezogen und Indices entwickelt werden, die fundiertere Aussagen, tiefere Einsichten erlauben sowie Fortschreibungen, Trendbeobachtungen, Zeitreihenvergleiche und Erfolgskontrollen tatsächlich möglich machen. Das kann derzeit nicht geleistet werden und ist zweifellos ein ernstes Manko der Berichte. Die angefallenen Zahlenwerte erfüllen noch immer nur „dekorative Zwecke" (Wolfgang R. Vogt). Zu Text-aussagen werden sie kaum verwertet.

7. Neben die gesetzlich vorgeschriebenen Jahresberichte könnten kurze Einzelberichte und Stellungnahmen zu jeweils aktuellen Themen treten. Es sollte möglich sein, im Laufe der Zeit unter den Abgeordneten einen festen „Kundenstamm" zu finden, der den Wehrbeauftragten als Informationsquelle nutzt und für die eigene Meinungsbildung in Erfahrung bringen möchte, wie ein bestimmtes Problem dort gesehen wird.

8. Der Wehrbeauftragte sollte weiterhin und noch intensiver als bisher bestrebt sein, in bestimmten Bereichen, die andernorts ausgeblendet sind, Pilotfunktionen wahrzunehmen, ohne daß sich das unmittelbar im Jahresbericht niederschlagen muß und dort vermarktet wird. Die Operationalisierung und Weiterentwicklung der Inneren Führung oder die Problematik Wehrpflichtarmee versus Freiwilligenarmee sind Themen, über die auch zukünftig nachgedacht werden sollte. Das Amt wäre ein Ort, eine Adresse für derartige Gedanken-arbeit. Es könnte so zu einem Kristallisationspunkt, zu einem Zentrum für die Probleme des Soldaten und einer „peace-seeking society" werden, wie es ihn andernorts nicht gibt, unter den gegenwärtigen Bedingungen wohl auch nicht geben kann. Dem Wehrbeauftragten gebührt „nicht politische Macht, sondern geistiger Einfluß" (Wolfram von Raven) — ein Weg, der letztlich mehr und gewichtigere Autorität verleiht als das Gerangel um Kompetenzerweiterungen. 9. Die Öffentlichkeit sollte vom Wehrbeauftragten nicht nur einmal jährlich hören, wenn er seinen Jahresbericht präsentiert. Das erfordert gelegentliche „Mitteilungen an die Presse" ebenso wie hie und da intelligente Diskussionsbeiträge zur Sozialfigur des Soldaten in der Gegenwart, ein Thema, über das viel zu wenig gearbeitet wird und das in der Presse immer einen Markt hat. 10. Schließlich sollte das Amt von seiner bisherigen, oft ideenlosen und wenig wirksamen Öffentlichkeitsarbeit abgehen. Der Wehrbeauftragte erreicht kaum die Zielgruppen, die wirklich relevant sind. Sein Bekanntheitsgrad ist niedrig; das Amt hat kein „Image". Hier wird es ebenfalls nicht genügen, auf Nachfrage zu warten. Das Verfahren muß umgekehrt werden, auch Angebot schafft Nachfrage. Die öffentliche Selbstdarstellung sollte professioneller gehandhabt werden. Dazu gehört eine enge Kooperation mit der Bundeszentrale und den Landeszentralen für politische Bildung, die Herstellung von Kontakten zu Kultusministern, Schulen und Schulbuchverlagen sowie die Herausgabe einer ansprechend aufgemachten Informationsschrift über Amt und Aufgaben des Wehrbeauftragten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu: „Grolman gerät in die Schußlinie", in: Bonner General-Anzeiger vom 16. 5. 1960; „Grolman ging der CDU zu weit", in: Der Mittag vom 17. 5. 1960 sowie „Kritik am Wehrbeauftragten", in: Süddeutsche Zeitung vom 17. 5. 1960.

  2. Vgl. dazu Bundestags-Drucksache IV/2795 (Schriftlicher Bericht des Verteidigungsaussdiusses über den Jahresbericht 1963 des Wehrbeauftragten).

  3. Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Bundestages (WbG) vom 26. 6. 1957 wird der Wehrbeauftragte vom Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt. Der IV. Bundestag setzte sich aus 521, der VI. aus 518 Abgeordneten zusammen.

  4. Deutscher Bundestag, 165. Sitzung vom 18. 4. 1975, Stenographischer Bericht, S. 11570.

  5. Statt vieler siehe Eckart Busch, Das Amt des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Bonn 1969. Diese Monographie über Amt und Aufgaben des Wehrbeauftragten bedarf allerdings dringend einer Überarbeitung und Aktualisierung.

  6. Paul Ohusta, Wer kontrolliert den Wehrbeauftragten?, in: Streitkräfte und Strategien, NDR/WDR-Hörfunksendung am 15. März 1970, 21. 45 Uhr, I. Programm.

  7. Vgl. dazu Jakob Moneta, Erwin Horn, Karl-Heinz Hansen, Bundeswehr in der Demokratie — Macht ohne Kontrolle?, Frankfurt am Main/Köln 1974.

  8. Deutscher Bundestag, 165. Sitzung vom 18. 4. 1975, Stenographischer Bericht S. 11557.

  9. Weißbuch 1971/1972, S. 81.

  10. Die Bundeswehr in Staat und Gesellschaft (VI). Jahresbericht 1974 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages vom 27. Februar 1975, hrsg. vom Presse-und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, S. 11; im folgenden als Jahresbericht 1974 zitiert.

  11. Vgl. dazu sowie für den gesamten Absatz S. 13— 17 des Jahresberichts 1974.

  12. Jahresbericht 1974, S. 19.

  13. Vgl. dazu vor allen anderen Wolfgang R. Vogt, Militär und Demokratie. Funktionen und Konflikte 1972 Institution des Wehrbeauftragten, Hamburg

  14. Jahresbericht 1974, S. 16.

  15. Jahresbericht 1974, S. 17.

  16. Die Statistik der Jahresberichte sagt nicht eindeutig aus, ob sich z. B. im vergangenen Jahr 47 einzelne Abgeordnete des Bundestages an den Wehrbeauftragten gewandt haben oder aber Abgeordnete in 47 verschiedenen Eingaben. Die im Anhang jeweils abgedruckten Übersichten lassen beide Deutungen zu.

  17. Der Jahresbericht 1974 referiert z. B. über Seiten hinweg Ergebnisse einer Studie zum Freizeitverhalten der Soldaten, die vom Bundesminister der Verteidigung 1969/1970 in Auftrag gegeben wurde. Der Anstoß dazu kam vom Verteidigungsausschuß. Die Studie wurde bereits 1973 veröffentlicht (Udo Etienne, Heinz Renn, Alois Rosner, Der Soldat und seine Freizeit. Eine soziologische Analyse, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, Fü S I 7, Bonn 1973).

  18. Deutscher Bundestag, 165. Sitzung vom 18. 4. 1975, StenBer S. 11568.

Weitere Inhalte

Bernhard Fleckenstein, Dipl. -Soziologe, geb. 1940. Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und Politik in Frankfurt am Main; 1969 bis 1972 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt des Wehrbeauftragten; seit 1972 im Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung. Veröffentlichungen u. a.: Bundeswehr und Industriegesellschaft (Hrsg.), Boppard 1971; Aufsätze zu soziologischen und militär-soziologischen Themen, zuletzt: Die Bürger, die Bundeswehr und der Staat, in: Bundeswehrverwaltung 1/1975, S. 12— 16; Frauen im Dienste der Bundeswehr, in: Zivilverteidigung 11/1975, S. 39— 42; Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee?, in: marineforum 5/1975, S. 117— 120; Jugend und Militärdienst, in: Sicherheitspolitik heute, 11/1975, S. 374— 395.