über den Abschnitt „Schwerpunkibereiche" wird nicht so ausführlich berichtet wie über die drei einleitenden Kapitel. In der Diskussion der Kommission wurde zwar relativ früh beschlossen, Schwerpunktbereiche in das Programm aufzunehmen; die Diskussion über einzelne Schwerpunkte bewegte sich jedoch mehr am Rande der Generaldebatte und war insbesondere bei dem Abschnitt „Modernisierung der Wirtschaft" sehr eng mit der Diskussion über das Thema „Markt und Lenkung“ verbunden.
Im Zusammenhang mit dem Beschluß, den Orientierungsrahmen in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil zu gliedern, wurde in der Kommission eine Debatte über das Verhältnis zwischen beiden Teilen geführt, bei der insbesondere die Schwierigkeit der Verbindung zwischen den grundsätzlichen Forderungen des Allgemeinen Teils und den Einzelforderungen des Besonderen Teils auftrat. Um diese Schwierigkeit, die sich dann auch im Problem der Prioritätensetzung niederschlug, zumindest z. T. zu überwinden, sollte der Abschnitt Schwerpunktbereiche exemplarisch den Ansatz des Orientierungsrahmens aufzeigen: Es sollte versucht werden, in jedem dieser Bereiche von einer Analyse der tatsächlichen Situation auszugehen und dann aus dieser Analyse und unter Bezug auf die Grundwerte konkrete politische Forderungen abzuleiten; schließlich sollten Ansätze einer Strategie in den jeweiligen Bereichen aufgezeigt werden. — Diese Aufgaben konnten nur teilweise gelöst werden.
Erstaunlich ist, daß es innerhalb der Kommission eine kontroverse Diskussion darüber, welche Bereiche in das Kapitel Schwerpunkte aufgenommen werden sollten, eigentlich nicht gegeben hat. Von Anfang an standen die Abschnitte „Modernisierung der Wirtschaft", »Berufliche Bildung", „Humanisierung der Arbeitwelt" und „Gesundheitswesen" fest und sie wurden lediglich auf Vorschlag eines Kommissionsmitglieds um den Abschnitt „Städteplanung und Stadtentwicklung“ ergänzt. Die Kommission hat diese Auswahl damit begründet, daß in den Jahren bis 1985 für die Politik der Sozialdemokratie diesen Bereichen besondere Bedeutung zukomme. Damit sei nicht gemeint, daß sich die Masse der Finanzmittel auf diese Bereiche konzentrieren solle, wenn die sachliche Bedeutung dieser fünf Schwerpunkte sicher auch in der Haushalts-und Finanzpolitik ihren Niederschlag finden müsse. Gemeint sei vielmehr, daß die Diskussion und die Arbeit der Partei auf diese Schwerpunkte zu konzentrieren sei, weil ihnen für die in den Abschnitten 1 bis 3 analysierten Probleme beispielhafte und für deren Lösung strategische Bedeutung zukomme.
II .
Der Inhalt der Schwerpunktbereiche sei im folgenden stichwortartig skizziert:
Modernisierung der Wirtschaft
Sicherheit der Arbeitsplätze, künftiger Reformspielraum und Chancen für mehr soziale Gerechtigkeit'hängen entscheidend von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft ab. Der Sicherstellung eines stabilen außenwirtschaftlichen Gleichgewichts und konsequenter Wettbewerbs-und Verbraucherpolitik kommt besondere Bedeutung zu. Globale Wirtschaftspolitik ist zu ergänzen durch eine Struktur-politik, die für qualitativ sinnvolles Wachstum sorgt. Wichtig: Gezielter Ausbau der Infrastruktur, verstärkter Umweltschutz und planvolle Koordination aller öffentlichen Aktivitäten (Bundesentwicklungsplan).
Reform der Berufsausbildung
Eine qualifizierte Berufsausbildung ist für den einzelnen Voraussetzung zur selbstverantwörtlichen Gestaltung seines Lebens, zugleich aber Grundlage für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt. Deshalb soll niemand vor Ablauf von zehn Bildungsjahren gezwungen sein, sich endgültig für einen bestimmten beruflichen Bildungsgang zu entscheiden. Dies unabhängig davon, ob er eine betriebliche Berufsausbildung oder eine weiterführende Schule wählt. Das heißt aber: Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit von berufsbezogener und schulischer Bildung sollen gewährleistet sein. Voraussetzung dafür ist ein Finanzierungssystem der betrieblichen und überbetrieblichen Berufsbildung, das Chancen und Lasten gerechter verteilt als bisher.
Humanisierung der Arbeitswelt
Die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit darf nicht auf Kosten der arbeitenden Menschen erfolgen. Zur Zeit entsprechen die Arbeitsbedingungen dieser Fordüng nicht. Eine Politik, die eine Humanisierung der Arbeitswelt will, sollte deshalb folgende Ziele haben:
Durchsetzung der Mitbestimmung auf allen Ebenen;
Herstellung eines ausgewogenen Arbeitsplatz-angebots zur langfristigen Sicherung der Vollbeschäftigung;
Erweiterung der arbeitsrechtlichen Auflagen für die Betriebe (Gesundheitsschutz, Unfallverhütungsschutz, sozialer Arbeitsschutz);
Verstärkung in Forschung, Entwicklung, Erprobung neuer humaner Produktionstechniken. Wichtig zur Durchführung dieser Ziele ist eine gemeinsame Strategie von Gewerkschaften und SPD.
Reform des Gesundheitswesens
Integration, nicht Verstaatlichung — das ist der Leitgedanke für den Schwerpunktbereich Gesundheitspolitik. Anstelle der Aufsplitterung in ambulant^, teilstationäre und stationäre Behandlung wird ein einheitliches System medizinischer Versorgung vorgeschlagen. Damit soll auch der steigenden Kostenbelastung im Gesundheitswesen begegnet werden. Die vorwiegend naturwissenschaftliche Orientierung der Medizin soll überwunden, soziale und psychische Faktoren stärker berücksichtigt werden. Ferner soll die ärztliche Gebührenordnung zugunsten persönlicher Beratung umstrukturiert werden.
Städteplanung und Stadtentwicklung
Umweltbelastung, Verödung der Stadtkerne, Überbeanspruchung der Infrastruktur sind Hauptprobleme der Ballungszentren. Sie können — im Zusammenhang mit regionaler und sektoraler Wirtschaftsstrukturpolitik — gelöst werden durch städtebauliche Maßnahmen (Bedingung: neues Bodenrecht);
Ausbau von Entlastungszentren;
Verbesserung der Verkehrsverhältnisse, mit Vorrang für den öffentlichen Personenverkehr; Verbesserung des Umweltschutzes, Ausbau von Erholungsanlagen.
In besonders stark belasteten Ballungszentren soll die weitere Zunahme von Bevölkerung und Arbeitsplätzen verhindert werden.
III Die Kommission hat die einzelnen Schwerpunkte mit unterschiedlicher Intensität diskutiert und auch auf verschiedene Weise erarbeitet. Der Schwerpunkt „Modernisierung der Wirtschaft" wurde innerhalb der Kommission aufgrund von Arbeiten der Ad-hoc-Gruppe Wirtschaftspolitik selbständig erarbeitet. Die Abschnitte „Reform der Berufsbildung" und „Humanisierung der Arbeitswelt“ gehen auf Vorlagen sachverständiger Kommissionsmitglieder zurück. Die Kommission hat diese Vorlagen diskutiert und überarbeitet. Dabei fand eine sehr starke inhaltliche Veränderung vor allem bei dem Abschnitt „Humanisierung der Arbeitswelt“ statt. Die ursprüngliche Konzeption dieses Abschnitts, die auch in einem Kapitel des Arbeitsberichts der Ad-hoc-Gruppe IV zum Ausdruck kommt, hatte eine sehr viel umfassendere Bestimmung für den Begriff „Humanisierung der Arbeitswelt" zugrunde gelegt. Die Kommission hat sich aber für die engere Interpretation entschieden. Es bestünde sonst die Gefahr, daß unter dem Begriff Humanisierung der Arbeitswelt praktisch die überwiegenden Teile der Sozialpolitik abgehandelt würden.
Bei den Abschnitten „Reform des Gesundheitswesens" und „Städteplanung und Stadt-entwicklung" konnte die Kommission auf sehr gründliche und detaillierte Vorarbeiten anderer Kommissionen zurückgreifen, und zwar auf Vorlagen des Gesundheitspolitischen Ausschusses beim Parteivorstand der SPD und Ergebnisse des Kommunalpolitischen Kongresses der SPD in Nürnberg. Die Formulierungen der Kapitel gehen bis ins einzelne auf diese Vorarbeiten zurück. Sie wurden jedoch im Kapitel „Gesundheitswesen" insofern abgewandelt, als die Vorschläge zur gesundheitlichen Selbstverwaltung, so wie sie der Gesundheitspolitische Ausschuß erarbeitet hatte, nicht voll übernommen wurden.
R. E., H. H., H. L.
Literaturhinweise
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Läpple, Friedel: Profit durch Krankheit? Das Gesundheitswesen aus Arbeitnehmersicht, Bonn-Bad Godesberg 1975.
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