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Die Diskussion über den Abschnitt „Bedingungen und Bezugsrahmen" | APuZ 36/1975 | bpb.de

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APuZ 36/1975 Vorwort Artikel 2 Vorwort Artikel 4 Die Diskussion über den Abschnitt „Die Ziele des demokratischen Sozialismus" Die Diskussion über den Abschnitt „Bedingungen und Bezugsrahmen" Die Diskussion über den Abschnitt „Markt und Lenkung" Die Diskussion über den Abschnitt „Die Durchsetzung einer Politik des demokratischen Sozialismus als Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei" Anmerkungen zum Abschnitt „Schwerpunktbereiche"

Die Diskussion über den Abschnitt „Bedingungen und Bezugsrahmen"

Heiner Lindner

/ 29 Minuten zu lesen

I. Zum Auftrag von Hannover

Die Äußerungen zu den Zielen des demokratischen Sozialismus sind neu in den Orientierungsrahmen hineingekommen. Neu am Orientierungsrahmen aber ist auch das Kapitel „Bedingungen und Bezugsrahmen“, in dem auf einige grundsätzliche Voraussetzungen sozialdemokratischer Politik eingegangen wird.

Der Parteitag von Hannover hatte die neue Kommission Orientierungsrahmen '85 hierzu mit klaren Aufträgen versehen. Insbesondere sollte der erste Entwurf durch Aussagen zu folgenden Problembereichen ergänzt werden:

— Präzisierung des Begriffs „Lebensqualität";

— überdenken der Rolle des wirtschaftlichen Wachstums; — Verteilung des Sozialprodukts auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung;

— Beantwortung der Frage nach der demokratischen Qualität des Staates;

— Darstellung und Beteiligung der übernationalen Bedingungen für eine sozialdemokratische Politik in der Bundesrepublik Deutschland.

Ohne auch nur annähernd auf alle Diskussionen, Methoden und Ergebnisse der Kommission Orientierungsrahmen ‘ 85 zum Thema „Bedingungen und Bezugsrahmen" eingehen zu können, soll im folgenden versucht werden, die wichtigsten Diskussionabläufe und -ergebnisse unter Berücksichtigung der angewendeten Methoden darzustellen.

II. Die wichtigsten Inhalte des Kapitels „Bedingungen und Bezugsrahmen"

Um dem Leser das Verständnis der Diskussionsabläufe und -methoden zu erleichtern, sei im folgenden zunächst eine kurze Inhaltsangabe des zur Diskussion stehenden Kapitels vorgelegt. Dabei wird entsprechend der Gliederung des Orientierungsrahmens '85 vorgegangen, wobei das Kapitel „Markt und Lenkung" in einem gesonderten Aufsatz besprochen wird.

1. Weltpolitik, Weitwirtschaftspolitik, Europa

Eine der wichtigsten Bedingungen, unter denen in der Bundesrepublik Deutschland Politik betrieben wird, ist nach dem Verständnis des Orientierungsrahmens die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Weltpolitik und die Weltwirtschaftspolitik. Da beides nur in begrenztem Maße beeinflußt werden kann, müssen die Handlungsmöglichkeiten realistisch beurteilt werden. Dauerhafter und gesicherter Frieden gehört zu den unerläßlichen Vorbedingungen, ohne die die Ziele des demokratischen Sozialismus nicht zu verwirklichen sind.

Eine große Reihe bedrückender Probleme kann — so folgert der Orientierungsrahmen — nur durch weltweite internationale Zusammenarbeit gelöst werden. Dies gilt besonders auch für den Abbau der Nord-Süd-Spannungen zwischen den hochentwickelten Industriestaaten und den Entwicklungsländern, vor allem aber für die mit dem explosiven Bevölkerungswachstum verbundenen Ernährungsprobleme.

Entsprechendes gilt für die Weltwirtschaftspolitik. Die Krise des Weltwährungssystems, die weltweite Umweltgefährdung, die Rohstoffverknappung und -Verteuerung, die absehbare Erschöpfung vieler Naturschätze sowie die sich aus diesen Entwicklungen ergebende Änderung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung: dies alles hat erheblichen Einfluß auf die Wirtschaftslage, so daß zahlreiche Probleme in der Bundesrepublik nur in begrenztem Maße durch isolierte politische Aktivitäten abgefangen werden können.

Als ein Beispiel dafür, wie wenig es bisher gelungen ist, die politischen Maßnahmen der Einzelstaaten Im Rahmen eines internationalen Konzepts abzustimmen, führt der Orientierungsrahmen das Problem der Kontrolle multinationaler Konzerne an. Eine der Organisation dieser Konzerne entsprechende internationale Organisation der politischen Kontrollmechanismen konnte bisher weder geschaffen noch initiiert werden.

Der Orientierungsrahmen folgert daraus:

, In der Welt nehmen also zur Zeit die Probleme schneller zu als die Bereitschaft und die Fähigkeit, die vorhandenen Lösungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Wir müssen uns daher freihalten von jedem dogmatischen Fortschrittsglauben, gleichgültig, ob er auf traditionellen Überzeugungen oder aber nur auf der Gewöhnung an die stetige Erhöhung des materiellen Lebensniveaus in der Nachkriegszeit beruht; freilich besteht auch kein Anlaß zu Untergangs-Pessimismus, wenn wir bereit sind, die politischen Gestaltungsmöglichkeiten wahrzunehmen. ... Von diesem Ausgangspunkt her müssen wir für die Lösung national nicht mehr zu bewältigender Fragen systematischer und intensiver als bisher Instrumente der internationalen Kooperation und Koordination entwickeln. Vor allem aber müssen wir den Prozeß der politischen Einigung Europas mit Nachdruck und Ausdauer weiterführen“ (Kapitel 2. 1. 3 und 2. 1. 4). — Mehr als 20°/der bei uns produzierten Güter und Dienstleistungen — in wichtigen Industriezweigen sogar mehr als 50 °/o — werden heute exportiert. Würden unsere Handelspartner den freien Warenverkehr einschränken, könnte dies die Funktionsfähigkeit des europäischen Marktes sowie die Sicherheit unserer Arbeitsplätze gefährden; — die wirtschaftlichen und sozialen Un-gleichgewichte in Europa haben zu einer starken Wanderung von Arbeitskräften in die Bundesrepublik geführt. Langfristig führt dies zu erheblichen Strukturproblemen, wie die mangelnde Strukturentwicklung in den Auswandererländern, die Konzentration der Produktion in industriellen Ballungsgebieten sowie die Entstehung eines Ausländerproletariats minderer sozialer Stellung in der Bundesrepublik zeigen.

Die Kommission Orientierungsrahmen '85 folgert aus diesen Fakten, daß unter den heutigen Bedingungen der Staat die Wirtschaft nicht sich selbst überlassen oder sich auf die Beseitigung der Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen beschränken kann. Lösungsmöglichkeiten sieht sie in der Weiterentwicklung unserer gemischten Wirtschaftsordnung.

2. Probleme moderner Industriegesellschaften

Hochentwickelte Industriegesellschaften stehen heute — unabhängig von ihrer Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung — vor bestimmten gleichartigen Problemen, die sich in aller Kürze wie folgt umreißen lassen:

— Die Beherrschung von Konjunkturschwankungen und strukturellen Krisen ist erschwert; — die Eindämmung der offenen oder verdeckten Inflation ist weitgehend mißlungen;

— es ist bisher nicht gelungen, ein quantitativ und qualitativ ausgewogenes Wirtschaftswachstum langfristig zu steuern;

— die Kontrolle wirtschaftlicher Macht und ihrer Verknüpfung mit politischer Macht ist bisher unzureichend, was besonders am Beispiel multinationaler Organisationsformen der Wirtschaft deutlich wird.

In der Bundesrepublik Deutschland stellen sich zwei weitere Probleme mit besonderer Schärfe:

3. Bedingungen und Aufgaben der Reform-politik in der Bundesrepublik Deutschland

Der Orientierungsrahmen vertritt die Auffassung, daß ohne — stetige, qualitativ sinnvolle Wirtschaftsentwicklung, — eine Modernisierung der Wirtschaft, — eine wirksame demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Macht erfolgreiche Gesellschaftspolitik nicht möglich ist.

Wirtschafts-und Reformpolitik müssen daher nach Auffassung des Orientierungsrahmens Hand in Hand gehen: Dabei geht es z. B. darum, daß wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht mit der Zerstörung unserer natürlichen Umwelt erkauft wird, daß die Sicherung der Vollbeschäftigung durch eine verstärkte Humanisierung der Arbeitswelt und eine Erweiterung der demokratischen Mitbestimmung, gerade auch am Arbeitsplatz, ergänzt wird und daß die Erhöhung des Lebensstandards mit der Verwirklichung von mehr sozialer Gerechtigkeit einhergeht.

Der Orientierungsrahmen beruft sich auf das Godesberger Programm, wenn gesagt wird, es sei „der Widerspruch unserer Zeit, daß der Mensch die Produktivkräfte aufs Höchste entwickelte, ungeheure Reichtümer ansammelte, ohne allen einen gerechten Anteil an dieser gemeinsamen Leistung zu verschaffen". An der Aktualität dieses Satzes hat sich bis heute nichts geändert: „Die Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie die teilweise damit verbundene Verteilung von Lebenschancen führt noch immer zu krassen Ungerechtigkeiten ... Je größer die Ungleichheit in der Teilhabe der Bürger an den Gütern und Leistungen unserer Gesellschaft ist, desto größere Interessengegensätze trennen sie und desto weniger Verständnis und Solidarität ist zwischen ihnen möglich. In diesem Sinne ist die Bundesrepublik eine Klassengesellschaft geblieben" (Kapitel 2. 3. 2).

Der Orientierungsrahmen sieht soziale Sicherheit als eine Grundvoraussetzung für die Selbstbestimmung des Menschen an. Auf diesem Gebiet ist die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung weit vorangekommen. Soziale Sicherheit gehört zur solidarischen Gesellschaft. Diese Solidarität muß — so der Orientierungsrahmen — vor allem auch gegenüber den nicht mehr oder noch nicht im Arbeitsleben Stehenden, den Kindern, den Kranken, den Alten und den Behinderten, gelten.

Der Orientierungsrahmen stellt aber auch fest:

Sozialdemokraten müssen sich bei ihrer Reformpolitik immer wieder gegen konservative und reaktionäre Kräfte in der Bundesrepublik durchsetzen. Diese versuchen mit ihren publizistischen Möglichkeiten, an die Eigensucht der gesellschaftlich Bevorrechtigten oder sich zumindest bedroht fühlenden Gruppen zu appellieren. Eine auf mehr soziale Gerechtigkeit zielende Politik wird von ihnen dadurch verdächtigt, daß sie sie für undurchführbar, politisch gefährlich oder gar rechtlich unerlaubt erklären.

Der Orientierungsrahmen folgert daraus, daß die SPD diesen falschen Behauptungen und Angstkampagnen durch geduldige Aufklärungs-und Vertrauensarbeit noch energischer entgegentreten muß als bisher.

4. Die Rolle des Staates

In den letzten Jahrzehnten sind dem Staat immer neue Aufgaben zugewachsen. Heute besitzt die Bundesrepublik eine Wirtschaftsordnung, in der Markt-und Lenkungselemente gemischt sind. Der Staat ist weder allmächtig, noch hilfloses Instrument bestimmter Interessen. Der Orientierungsrahmen meint: „Es gibt heute keine wichtigen gesellschaftlichen Problemfelder mehr, einschließlich der Verteilungsprobleme, für die der Staat nicht zuständig geworden wäre und für die er nicht verantwortlich gemacht würde. Mit dieser Verantwortlichkeit für gesellschaftliche Probleme haben die Möglichkeiten der Politik zur Steuerung nicht Schritt gehalten. Inflation und Rezession, Arbeitslosigkeit und Strukturkrisen müssen heute politisch bearbeitet und gelöst werden, ohne daß der Politik entsprechende Einwirkungsmöglichkeiten auf Unternehmensstrategien und Investitionsentscheidungen, auf Preise und Löhne zugestanden würden" (Kapitel 2. 4. 1).

In einer Gesellschaft, in der durch Mißbrauch privatwirtschaftlicher Macht auch heute noch die demokratische Bestimmung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung durchkreuzt wird, in der durch Konzentrationsprozesse die Vermachtung unserer Märkte wächst, in der durch eine reformbedürftige Struktur des Bankensystems diese Konzentration noch zusätzlich gefördert wird und in der durch finanzkräftige konservative Interessengruppen und Pressemonopole eine gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung Einfluß auf die demokratische Willensbildung des Volkes genommen wird, muß nach Auffassung des Orientierungsrahmens die staatliche Fähigkeit zur Beeinflussung und Lenkung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im Interesse des Gemeinwohls verbessert werden.

Der Staat muß aber auch zu den gesellschaftlichen Kräften und Gruppen ein Verhältnis sowohl der Aufgabenteilung wie der Zusammenarbeit suchen. Er muß gruppenegoistischen Erpressungsversuchen (Beispiel: Fluglotsen) erfolgreicher entgegentreten können.

Der Orientierungsrahmen betont, daß staatliches und ganz allgemein politisches Handeln seine tiefere Rechtfertigung erst dann erhält, wenn demokratische Zustimmung vom Geist solidarischer Verpflichtung erfüllt ist: „Die Bereitschaft des Bürgers, getroffene Entscheidungen solidarisch zu tragen, wird um so größer sein, je durchsichtiger die Prozesse der Willensbildung und Entscheidung für ihn sind und je mehr Möglichkeiten der Mitwirkung er am Zustandekommen der Entscheidung hat. ... Nur durch bewußte soziale Erziehung und freiwillig gewonnene praktische Erfahrung können solidarisches Verhalten und nicht auf Zwang beruhende Autorität neu entstehen. .. . Hierin wurzelt die Notwendigkeit einer Erziehungs-und Bildungsreform ebenso wie die einer breit und langfristig angelegten Vertrauensarbeit der Partei in der Bevölkerung" (Kapitel 2. 4. 9).

5. Wachstum und Reformen

Die Kommission Orientierungsrahmen vertritt die Auffassung, daß wirtschaftliches Wachstum nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ im Sinne höherer Lebensqualität verstanden werden muß. Sie macht aber auch deutlich, daß stetiges, qualitativ sinnvolles Wachstum die Durchführung von Reformen ebenso erleichtert wie umgekehrt viele Reformvorhaben auf unterschiedliche Weise die Voraussetzung für künftiges Wirtschaftswachstum sind.

Die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik ist heute allerdings auf lange Sicht kaum vorausschätzbar. Zwar steht die Bundesrepublik keineswegs ungünstiger da als andere Länder, die zweite Kommission „Orientierungsrahmen“ kann aber dennoch nicht — wie die erste Kommission — zuverlässige Aussagen über die künftige Entwicklung der Wirtschaft machen. Sie rechnet allerdings gegenüber dem ersten Orientierungsrahmen mit einem geringeren wirtschaftlichen Wachstum bis 1985. Entsprechend wird es wahrscheinlich erforderlich werden, eine geringere Erweiterung des öffentlichen Korridors als im ersten Orientierungsrahmen einzuplanen. Hieraus folgert die Kommission, daß eine gezielte und sparsame Verwendung öffentlicher Mittel noch dringender ist als bisher:

— Es ist zu überprüfen, in welchen Bereichen der Staat von nicht notwendigen Aktivitäten durch eine Arbeitsteilung zwischen Staat und gesellschaftlichen Kräften entlastet werden kann.

— Durch eine gerechtere Primärverteilung von Einkommen und Vermögen würden aufwendige korrigierende Eingriffe des Staates teilweise entfallen.

— Durch eine Stabilisierung der Personalkostenentwicklung im öffentlichen Dienst könnte der Spielraum zur realen Ausweitung des staatlichen Leistungsangebots erhöht werden.

III. Die Entstehung des Kapitels „Bedingungen und Bezugsrahmen'

1. Methodisches Vorgehen der Kommission

Die Entstehung des Kapitels „Bedingungen und Bezugsrahmen“ vollzog sich in mehreren Etappen, die teils zeitlich nacheinander lagen, sich teils aber auch überschnitten.

a) Prozeß der Planung, Erarbeitung des Ausgangsmaterials

Schon vor der konstituierenden Sitzung der Kommission Orientierungsrahmen ‘ 85 am 14. /15. September 1973 in Bergneustadt waren von den Vorsitzenden der Kommission in Zusammenarbeit mit dein Planungsbüro erste Entwürfe eines Arbeits-und Zeitplans erarbeitet worden, die dann der Kommission auf ihrer Sitzung vorgelegt wurden. Diese Vorarbeiten waren insbesondere deshalb notwendig, weil der Hannoversche Parteitag die Kommission Orientierungsrahmen ‘ 85 mit einer Vielzahl von Aufträgen versehen hatte, für deren Bewältigung die Zeit äußerst knapp war. Schon damals war klar, daß dem Thema „Bedingungen und Bezugsrahmen einer Politik des demokratischen Sozialismus" besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden mußte, da gerade hierzu der Parteitag in Hannover konkrete Arbeitsaufträge erteilt hatte. Es wurden erste Pläne diskutiert, die Arbeit auf verschiedene Arbeitsgruppen aufzuteilen, wobei ein ständiger Rückkoppelungsprozeß zur Gesamtkommission (Plenum) gewährleistet sein müsse.

Die konstituierende Sitzung der Kommission in Bergneustadt legte dann die wichtigsten Arbeitsschritte für die ersten neun Monate der Kommissionsarbeit fest. In bezug auf das Kapitel „Bedingungen und Bezugsrahmen" ging es um folgendes:

1. Das Planungsbüro erhielt den Auftrag, zu bestimmten — von der Kommission beschlossenen — Themen statistisches Material zusammenzustellen. Dieses Material sollte der Kommission als allgemeine Diskussionsgrund-B läge dienen (Basisdaten). Ein erster Entwurf der Basisdaten konnte der Kommission bereits auf ihrer dritten Sitzung am 2. Februar 1974 in Bonn vorgelegt werden. Die Basisdaten wurden danach laufend ergänzt, aktualisiert und mit erläuternden Texten versehen; sie sind inzwischen als Buch veröffentlicht worden. Die Basisdaten enthielten zu den zur Diskussion stehenden Fragen umfassendes Informationsmaterial, auf das im Verlauf der Diskussion innerhalb von Arbeitsgruppen oft zurückgegriffen werden konnte. Neben allgemeinem statistischem Material über Entwicklungstrends der Bevölkerung allgemein und der Berufstätigen konnte bei der Diskussion und Erarbeitung des Kapitels . Bedingungen und Bezugsrahmen“ besonders auf die statistischen Darstellungen über die wirtschaftliche Entwicklung und außenwirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepublik, über Einkommens-und Vermögensverteilung sowie über die politische Orientierung der Bevölkerung (Wertorientierungen für die Gestaltung der politischen Ordnung) zurückgegriffen werden. 2. Die Aufträge, die der Parteitag von Hannover der Kommission erteilt hatte, wurden in zahlreiche Fragen aufgeschlüsselt, die dann Ad-hoc-Gruppen zur selbständigen Bearbeitung übertragen wurden. Die Ad-hoc-Gruppen „Internationales", „Lebensqualität und Wachstum“ und „Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftspolitik" hatten dabei die wesentlichen Grundlagen für das spätere Kapitel „Bedingungen und Bezugsrahmen" zu schaffen. Zu folgenden Fragen waren z. B. Ausarbeitungen zu erstellen:

— Welche Bedingungen für sozialdemokratische Politik ergeben sich aus den internationalen politischen und ökonomischen Verflechtungen; welchen Einfluß besitzen die zunehmend international verflochtenen Großkonzerne? — Was bedeutet Lebensqualität? Welches sind ihre Inhalte? Wie stellt sie sich differenziert nach sozialen Schichten und Regionen gegenwärtig dar?

— Wie kann die Lebensqualität der verschiedenen Schichten der Bevölkerung durch Verteilung und Verwendung des Sozial-produkts beeinflußt werden?

— Welche Konsequenzen hat die Forderung nach mehr Lebensqualität für die Humanisierung des Arbeitslebens und die Erweiterung der demokratischen Einflußchancen? — Wie setzen sich Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerungen konkret zusammen? Wie sind sie qualitativ konstruiert und wie werden sie gemessen? Welche Möglichkeiten zur Entwicklung eines verläßlichen Maßstabs zur Messung gesellschaftlichen Wohlstands gibt es?

— Welche Folgerungen müssen aus einer stärkeren Orientierung des Wachstums an qualitativen Gesichtspunkten für die Arbeitsmarktpolitik gezogen werden?

— Wie kann in der Öffentlichkeit ein stärkeres Interesse für die in ihren Inhalten umorientierte Wachstumspolitik erreicht werden und wie können Widerstände überwunden werden?

— Es soll eine Analyse erarbeitet werden, in der die Probleme weiterer wirtschaftlicher Entwicklung, vor allem unter Berücksichtigung der zunehmenden Umweltproblematik und der Ziele gerechterer Einkommens-und Vermögensverteilung, mehr Demokratisierung und Humanisierung des Arbeitslebens und zügigem Ausbau qualitativ verbesserter Infrastruktur untersucht werden.

Die Ad-hoc-Gruppen bemühten sich, ihre Arbeitsaufträge im Verlauf von neun Monaten zu erfüllen. Im März 1974 lagen erste Ergebnisse vor; die abschließenden Berichte wurden der Kommission im Juli 1974 vorgelegt. Auf den zwischenzeitlichen Plenumssitzungen fand laufend ein Rückkoppelungsprozeß statt, indem die Ad-hoc-Gruppen über ihre Arbeit berichteten und ihre Ergebnisse zur Diskussion stellten. 3. Die Kommission beschloß, Fachleute aus Wissenschaft und Politik als „ständige Berater" hinzuzuziehen. Ferner wurden eine Reihe von Fragen und Aufträgen formuliert, die von Wissenschaftlern beantwortet bzw. bearbeitet werden sollten. Aus der Fülle der angefertigten Stellungnahmen und wissenschaftlichen Gutachten seien in Zusammenhang mit dem Thema „Bedingungen und Bezugsrahmen" genannt: — ein Aufsatz von Rudolf Henschel: Stichworte zur Verteilungs-und Stabilitätspolitik; — eine Arbeit von Fritz W. Scharpf zur „Krisenpolitik" ; — der Aufsatz von Dieter Schröder: Zwänge und Möglichkeiten staatlicher Strukturpolitik; I — zwei wissenschaftliche Gutachten von Volker Vinnai zu den Themen: „Wie entwickeln sich die terms of trade zwischen Industrie-und Entwicklungsländern?" sowie: „Wie können wir unsere Märkte öffnen, ohne innere Strukturprobleme zu schaffen?"

— eine Ausarbeitung von Reinhart Bartholomäi: Wie ist die Lebensqualität anhand von quantitativen und qualitativen Indikatoren meßbar zu machen?

Zu anderen Themen wurden bereits fertige Gutachten herangezogen, wie etwa die Ausarbeitung des Europäischen Gewerkschaftsbundes zum Thema „Multinationale Unternehmen in den Europäischen Gemeinschaften".

Ein Teil der Gutachten, die der Kommission Orientierungsrahmen '85 vorgelegen haben, ist inzwischen unter dem Titel „Thema: Wirtschaftspolitik" als Buch veröffentlicht worden und erscheint in Kürze in einer 2., ergänzten Auflage.

b) Diskussion im Plenum, „Dollpunkte"

Neben dem laufenden Rückkoppelungsprozeß zwischen Ad-hoc-Gruppenarbeit und Gesamt-kommission wurden im Plenum parallel dazu von Anfang an Fragen grundsätzlicher Bedeutung für den Inhalt des künftigen Orientierungsrahmens diskutiert. Diese Diskussion fand unter dem Stichwort „Generaldebatte" statt. Sie diente der Klärung kontroverser Positionen sowohl in bezug auf den Prozeß der Erstellung eines neuen Orientierungsrahmens als auch in bezug auf die Klärung philosophischer Grundpositionen. Es wurden aber auch erste Stellungnahmen zur Frage des ökonomischen Rahmens vorgelegt. Nicht zuletzt die Ölkrise (eine Sitzung fand an einem Sonntag mit Fahrverbot statt) führte dazu, daß Fragen der künftigen Wirtschaftsentwicklung, der Quantifizierung und überhaupt Fragen politischer Langzeitplanung schon in den Anfangsdiskussionen in den Vordergrund rückten. Diese Diskussion und die Generaldebatte könnten im nachhinein als eine erste Phase der Kommissionsarbeit bezeichnet werden. Für das Kapitel „Bedingungen und Bezugsrahmen" wurden im Plenum in dieser Phase nur wenige Grundlagen erarbeitet.

In der zweiten Phase der Arbeit der Kommission wurde die Diskussion nach Themenbereichen strukturiert. Es wurde ein Problemkatalog möglicher kontroverser Fragen („Dollpunkte") erstellt, der dann in den nächsten Plenums-sitzungen diskutiert wurde. Die Kommission war sich dabei darüber im klaren, daß die „Dollpunkte" unzulässige Vereinfachungen, falsche Alternativen und Auffassungen enthielten, die von niemandem in der Kommission vertreten werden. Dennoch hatten — aus der nachträglichen Sicht des Berichterstatters — die „Dollpunkte" eine für den Arbeitserfolg der Kommission wichtige Funktion. Unter anderem ging es um folgende Fragen:

— Wie stellt sich das Verhältnis von staatlich-politischer Macht zu ökonomischer Macht im organisierten Kapitalismus dar?

Welches sind die für eine Politik des demokratischen Sozialismus relevanten Restriktionen staatlicher Veränderung? Sind diese Restriktionen ausschließlich/überwiegend Folge der Produktionsverhältnisse oder gibt es daneben zumindest ebenso wichtige Restriktionen, die nicht ökonomisch vermittelt sind (z. B. Binnenstruktur des politischen Systems)?

— Welche Rolle kann eine nationalstaatliche Strategie bei einer international verflochtenen Ökonomie spielen? Gibt es national autonom gestaltbare Bereiche oder geht es nur international?

— „Nullwachstum": Wünschbar /realistisch einzuplanen /zu befürchten /undenkbar?

Soll eine „Nullwachstumshypothese" mit in das Papier aufgenommen werden? Welche Konsequenzen ergäben sich bei Nullwachstum für die Entwicklung des Staatskörridors, für die Entwicklung der privaten und öffentlichen Investitionen und für die Entwicklung des Konsums?

— Rolle der Multinationalen Unternehmen:

Geht von ihnen eine spezifische Bedrohung für die Politik des demokratischen Sozialismus aus? Welche Rolle spielt die antizipierende Reaktion des Staates auf die Potentiale der Multis? Sind die Multis potentielle Träger reaktionärer Gegenbewegungen? Können Gegenstrategien nur international/europäisch angegangen werden, oder gibt es — angesichts der nicht gerade hohen Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen europäischen Gegenstrategie — auch nationale Möglichfeiten? Diese und andere Fragen wurden in der Folgezeit offen diskutiert, wobei — gerade bei dieser Diskussion die Grundlagen für die später einstimmige Verabschiedung des gesamten Programms gelegt wurden. In der dritten Phase der Arbeit der Kommission wurden Textentwürfe diskutiert. Die Vorsitzenden hatten den Auftrag erhalten, während der Sommerpause 1974 Texte für einen Allgemeinen Teil des künftigen Orientierungsrahmens zu erstellen, die dann nach der Sommerpause im Plenum diskutiert werden sollten. Die Textentwürfe wurden dem Stand der Diskussion im Plenum laufend angepaßt und konnten so als Grundlage für die Diskussion (Abstimmung jeder einzelnen Textpassage) in der abschließenden Sitzung der Kommission Orientierungsrahmen ’ 85, die als vierte Phase der Arbeit der Kommission anzusehen ist, herangezogen werden. Die so erstellten Textentwürfe wurden anschließend von einem Kommissionsmitglied redaktionell überarbeitet. 2. Einige Beispiele für den Erarbeitungsprozeß des Kapitels „Bedingungen und Bezugsrahmen"

An drei Beispielen aus dem Bereich „Bedingungen und Bezugsrahmen" soll im folgenden gezeigt werden, wie der Prozeß der Erarbeitung des Orientierungsrahmens '85 vonstatten ging:

1. Themenbereich „Wachstum und Quantifizierung" 2. Themenbereich „Verteilungsfragen"

3. Thema „Rolle des Staates".

Diese Themenbereiche eignen sich für eine genauere Betrachtung deshalb, weil die Qualität der Diskussion zu diesen Bereichen sehr unterschiedlich war. Der Themenbereich 1 wurde sehr intensiv und lange diskutiert; es gab kontroverse Auffassungen. Der Themenbereich 2 wurde nur kurz diskutiert, obwohl die Kommission seine Bedeutung immer wieder unterstrich; dementsprechend sind die Ausführungen des Orientierungsrahmens zu diesem Themenkomplex angesichts seiner Bedeutung für eine Politik des demokratischen Sozialismus nicht umfassend genug. Der dritte Themenbereich zeichnet sich dadurch aus, daß hier die Auffassungen in der Kommission einmütig waren, so daß die Formulierung des abschließenden Textes ohne große Streitigkeiten (und ohne Gegenstimmen) erfolgen konnte.

a) Wachstum und Quantifizierung Eine erste Debatte im Plenum zum Thema „Wachstum" fand bereits in der zweiten Sitzung statt. Es ergab sich eine grundsätzliche

Auseinandersetzung über Probleme, Funktion und wünschenswerte Arten des Wachstums, insbesondere des Verhältnisses von quantitativen und qualitativen Aspekten. Es bestand grundsätzlich Einigkeit darüber, daß quantitatives Wachstum hinsichtlich seines Nutzens für die Qualität des Lebens stets kritisch untersucht werden müsse, andererseits aber eine generelle Ablehnung wirtschaftlichen Wachstums nicht gerechtfertigt sei.

Die Kommission, die ursprünglich gehofft hatte, den Begriff „Lebensqualität" mit Hilfe statistischer Meßziffern (sozialer Indikatoren) konkretisieren zu können, erkannte im Verlauf der Arbeit an diesem Thema, daß kurzfristig konkrete Indikatoren zur Lebensqualität kaum entwickelt werden können und daß auch der Stand der wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Thema keinen Anlaß zu Optimismus rechtfertige. Untermauert wurde diese Auffassung durch das schon erwähnte Gutachten von Reinhart Bartholomäi (siehe dazu die Literaturhinweise).

Eine rege Diskussion zum Thema „Wachstum" entwickelte sich, nachdem die Vorsitzenden der Kommission in ihrem ersten Entwurf für einen künftigen Orientierungsrahmen zu dem Ergebnis gekommen waren, daß ohne stetiges, qualitativ sinnvolles Wirtschaftswachstum erfolgreiche Gesellschaftspolitik nicht möglich sei. Wachstum sei conditio sine qua non für Reformen.

Von der Kommission wurden insbesondere folgende Punkte kritisiert:

1. Einerseits werde in dem Vorsitzenden-Papier der Widerspruch zwischen den schnell wachsenden Problemen und der mangelnden Fähigkeit, diese Probleme zu lösen, herausgestellt, andererseits fordere man ein stetiges, von Schwankungen freies Wachstum unserer Wirtschaft bei steigender Qualität der Güter und Dienstleistungen. Stetiges Wachstum bei steigender Qualität der Güter und Dienstleistungen sei in dem Vorsitzenden-Papier als Voraussetzung und Instrument sozialdemokratischer Politik dargestellt. Dies müsse Konsequenzen für die Ausführungen in dem Kapitel „Rolle des Staates" haben. Es müsse klargestellt werden, mit welchen nationalen Maßnahmen die SPD ihre Ziele erreichen könne. Auch müsse dargestellt werden, welche Probleme bei Nichteintreten qualitativen Wirtschaftswachstums für die Politik der SPD entstünden. Die „neue Grundfrage" sei, wie man die Folgen eines relativ eingeschränkten Wachstums gerecht verteilen könne. 2. Bei der Diskussion langfristigen Wirtschaftswachstums solle man die Kurzfristproblematik nicht unterschätzen. In einer Situation, in der alle über Arbeitslosigkeit redeten, sei es außerordentlich schwierig, bei der Bevölkerung Verständnis für ein Langzeitprogramm zu erwecken.

3. Die Problematik der Messung wirtschaftlichen Wachstums sei nicht ausreichend diskutiert. Ohne Lösung dieses Problems könne man nicht sinnvoll über den Zusammenhang zwischen Wachstum und Reformpolitik reden.

4. Es sei ein kardinaler Fehler, daß man sich in der Diskussion über Wachstum immer auf den Nettobegriff beschränke. Zwischen Quantität des Wachstums und Ausmaß der Reform-politik müsse ein klarer Zusammenhang hergestellt werden. Sinkendes Nettowachstum führe nicht notwendig zu einer Einschränkung des Staatsspielraums.

Die Vorsitzenden trugen dieser Kritik Rechnung, indem sie zusagten, ihren Entwurf im Hinblick auf folgende Probleme zu überarbeiten: Zum einen sei ein schärferes Herausarbeiten von kurzfristigen Problemen erforderlich, zum anderen müsse zusätzlich herausgestellt werden, daß reduziertes Nettowachstum nicht notwendig zur Einschränkung des Staatspielraums führen müsse, schließlich müsse deutlich gemacht werden, daß Planungskapazitäten fehlten, um eine Politik des gleichmäßigen Wachstums durchzusetzen. Ziel des vorliegenden Entwurfs sei qualitatives Wachstum bei gesicherten und humanisierten Arbeitsplätzen. Es sei dabei zu befürchten, daß die Verteilungsprobleme schwieriger würden. Bei geringerem realem Wachstum in den gesellschaftlich wichtigen Sektoren müsse man mit langsamer wachsender politischer Durchsetzungsfähigkeit von Reformpolitik rechnen. Die Aufnahme eines Krisenplans für Nullwachstum sei aber abzulehnen. Die Vorsitzenden verträten darüber hinaus die Auffassung, daß Wachstum ohne Reform-politik nicht möglich sei. Es sei daher falsch, jetzt zu fordern, die SPD dürfe keine Reform-politik treiben. Reformpolitik sei im Gegenteil gerade jetzt erforderlich. In der Krise müsse man Infrastrukturpolitik und andere reform-politische Maßnahmen in die Wege leiten. Diese Reformpolitik müsse eine andere Art des Wachstums zum Ziel haben, die wir bisher nicht gehabt hätten, nämlich Wachstum qualitativer Art.

Andererseits müsse eine Mindestrate wirtschaftlichen Wachstums vorhanden sein, wenn Reformpolitik realisiert werden solle. Allerdings müßte die SPD eventuell der Bevölkerung verständlich machen, daß Wachstum sich weniger in der Lohntüte als in der Zurverfügungstellung staatlicher Leistungen auswirke. Die Forderung nach bedingungslo-maximalen Wirtschaftswachstum sei aber grundsätzlich abzulehnen.

Im übrigen werde die Messung des Wachstums in dem Entwurf ausreichend problematisiert. Noch ausführlicher als über die Wachstums-problematik wurde in der Kommission über den Sinn und Zweck der Quantifizierung des Orientierungsrahmens diskutiert. Von dem überzogenen optimistischen Glauben an die Möglichkeiten der Langzeitplanung, wie er etwa noch die Diskussion auf dem Parteitag in Saarbrücken beherrscht habe, müsse man Abschied nehmen. Zwar sei es relativ leicht, Einigkeit über langfristige und damit unverbindliche Ziele wie auch kurzfristige Maßnahmen herzustellen, Probleme mittelfristiger Planung seien aber bisher ungelöst.

Obwohl im Verlauf der Arbeit am Orientierungsrahmen mehrfach Prognosen und Projektionen über die künftige wirtschaftliche Entwicklung vorgelegt wurden, machte die sich infolge der Ölkrise ergebende zunehmende Unübersichtlichkeit der künftigen Wirtschaftsentwicklung deutlich, vor wie große Schwierigkeiten die Kommission bezüglich einer Quantifizierung des Orientierungsrahmens gestellt war. Das für die ökonomischen Projektionen zuständige Kommissionsmitglied, Herbert Ehrenberg, wies schon frühzeitig darauf hin, daß nach seiner Auffassung die Berechnung eines Datenkranzes bis 1985 zur Zeit nicht möglich sei. Es könnte nur niedergeschrieben werden, was bis zu diesem Zeitpunkt denkbar sei. Man müsse nach wie vor davon ausgehen, daß Nullwachstum keine Alternative sei. Man könne allerdings zur Zeit nicht sagen, wo die Wachstumsrate genau zwischen größer als 0 und 5 ’/o liege.

Auch andere Kommissionsmitglieder vertraten die Auffassung, daß die Zahlenbasis des ersten Entwurfs erschüttert sei. Wenn zum jetzigen Zeitpunkt bis zum Jahre 1985 keine Zahlen geschätzt werden könnten, dann müsse die Ausgangssituation gründlich überdacht werden. Es sei zu überlegen, ob auf exakte Zahlenschätzungen nicht ganz verzichtet und dafür der Schwerpunkt auf die Prioritäten gelegt werden solle.

Andere Kommissionsmitglieder schlossen die Möglichkeit aus, ganz auf Quantifizierungen zu verzichten. Der Verzicht auf eine Quantifizierung würde zwangsläufig zu einer Steigerung der Erwartungshorizonte führen. Auch wurde die Frage aufgeworfen, was denn überhaupt berechnet werden solle; man müsse sich zunächst einmal die Größenordnungen klarmachen, wenn in der projizierten Wachstumsrate eine Bandbreite von 1 °/o liege. Bei Eintreten der oberen Bandbreite (5 °/o Wachstum) könnten 1985 etwa 6°/o des Bruttosozialprodukts zur Disposition stehen. Dieser enorme Betrag werde für eine weitreichende Reformpolitik ausreichen. Eine „Bandbreite“ sei die Differenz zwischen Schlaraffenland und Krise.

Auch wurde vorgeschlagen, wenigstens über die Periode 1975 bis 1979 genauere Quantifizierungen vorzulegen. Diese Aussagen könnten dann auch für die Wahlplattform der SPD anläßlich der nächsten Bundestagswahlen zugrunde gelegt werden.

Außerdem wurde auf den Zusammenhang zwischen Langfristplanung und mangelnden Ressourcen, insbesondere die fehlenden Planungskapazitäten, hingewiesen. Wolle man auch nur „bewahren", seien drastische Veränderungen notwendig. Man könne nicht isoliert über Wachstumsprognosen sprechen, ohne auch die Autonomie der Unternehmungen zu diskutieren. Die zunehmende Luftverschmutzung sei ein Beispiel dafür, wie notwendig ein Ausbau der Planungskapazitäten sei.

Angesichts der Ungewißheit der wirtschaftlichen, insbesondere weltwirtschaftlichen Situation, beschloß die Kommission schließlich, vorerst auf eine Quantifizierung zu verzichten. Die Prognosen des ersten Orientierungsrahmens, der für die Zeit von 1970 bis 1975 ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von 4, 5, für die Zeit von 1975 bis 1985 von 5°/o angestrebt habe, seien zu optimistisch. Wenn man das künftige wirtschaftliche Wachstum lediglich mit einer Bandbreite von 2 bis unter 5 °/o angeben könne, sei es besser, ganz auf Quantifizierungen zu verzichten. Es solle der Versuch gemacht werden, noch vor dem Parteitag eine exaktere Projektion zu erstellen, die dann in die endgültige Beschlußvorlage eingehen könne. Bezüglich der Steigerungsraten der verschiedenen Verwendungsbereiche wurde beschlossen, lediglich Tendenzen darüber aufzuzeigen, ob der Anteil der jeweiligen Ausgabenbereiche am Bruttosozialprodukt voraussichtlich steigen, gleichbleiben oder fallen werde.

b) Verteilungsfragen

Das Thema „Verteilungsfragen“ stand bereits in Zusammenhang mit der Diskussion über die Grundwerte des demokratischen Sozialismus auf der Tagesordnung der Kommission. Einige Kommissionsmitglieder vertraten mit Nachdruck die Auffassung, man könne eine Sicherstellung von Solidarität in unserer Gesellschaft nur dann erreichen, wenn man eine konsequente Politik der Einkommensgleichheit durchsetze. Hierzu brauche die Sozialdemokratie ein strategisches Konzept. Es gehe darum, mehr Gemeinschaftsbewußtsein zu schaffen. Bei einer Einkommensdifferenzierung zwischen 800 DM und 8 000 DM innerhalb eines Betriebes sei keine Solidarität der Arbeitnehmer untereinander zu erwarten. Es wurde kritisiert, daß die SPD keine bewußte Tarifpolitik und keine bewußte Einkommenspolitik betreibe. Sie habe noch nicht einmal ein Konzept dazu. Als Beispiel wurde immer wieder der Öffentliche Dienst angeführt: Obwohl gewerbliche im Vergleich zu bürokratischen und akademischen Berufen in den Tätigkeitsmerkmalen des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) diskriminiert würden, gebe es keinen SPD-Minister, der einen neuen BAT schreibe. In einer Gesellschaft, in der man den Starken die Möglichkeit gebe, viel herauszuholen, erziehe man den Menschen dazu, sich zu nehmen, was zu bekommen sei. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Vortrag von Assar Lindbeck zitiert, den dieser anläßlich der Diskussion des neuen Orientierungsrahmens in Bonn gehalten hatte. Auch Lindbeck habe die zu großen Spannen zwischen hohen und niedrigen Einkommen in der Bundesrepublik kritisiert. Diese Spannen seien durch nichts zu rechtfertigen.

Andere Kommissionsmitglieder meinten, daß uns eine Politik der Einkommensgleichheit in unabsehbare Schwierigkeiten führe. Es dürfe nicht alles über einen Haufen geworfen werden, woran sich die Menschen bisher orientiert hätten. Die zu erwartenden Widerstände müßten Schritt für Schritt überwunden werden.

Angesichts dieser Diskussion war es nicht verwunderlich, daß aus der Kommission Kritik geübt wurde, daß dem Thema „Einkommens-und Vermögensverteilung“ in dem ersten Entwurf der Vorsitzenden für einen künf25 tigen Orientierungsrahmen zu wenig Rechnung getragen sei. Die Probleme der Verteilungskämpfe seien praktisch ausgeklammert. Auch würden derartige Fragen in dem damaligen zu sehr als Fragen der sozialen Stabilität und zu wenig als „Grundfragen" sozialdemokratischer Politik behandelt. Außerdem sei eines der ernstesten Probleme in der Ungleichheit der Lohnstruktur, nämlich Problem der das Lohndiskriminierung der in Frauen, dem Vorsitzenden-Papier außer acht gelassen worden.

Auch im Zusammenhang mit der Diskussion über Prioritäten sozialdemokratischer Politik wurde über Einkommensverteilung diskutiert. Für Sozialdemokraten müsse klar sein, daß die Selbstregulierung der Gesellschaft einer Staatsregulierung vorgezogen werde. Umverteilungspolitik nur über den Staat sei Bürokratisierung. Hier müsse das Subsidiaritätsprinzip eingreifen, nach dem staatliche Politik nur dann erforderlich sei, wenn die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft versagten. Eine gerechtere Primärverteilung von Einkommen und Vermögen könne den Staat von aufwendigen Korrekturmaßnahmen hinsichtlich der Einkommensverteilung entlasten.

Diese Auffassung fand weitgehende Zustimmung in der Kommission. Es könne nicht Aufgabe der SPD sein, die Wohlfahrtspolitik zu vervollkommnen, sondern sie müsse diese überflüssig machen. Allerdings wurde von einigen Kommissionsmitgliedern mit Recht darauf hingewiesen, daß sie den Versuch, eine Umverteilung der Primäreinkommen durchzuführen, nicht als realistisch ansähen, da dieser Versuch mindestens eine, wenn nicht sogar zwei Generationen dauern würde.

Im Zusammenhang mit Verteilungsfragen wurde auch darüber diskutiert, welchen Bevölkerungsschichten die öffentlichen Leistungen zugute kommen (Inzidenz öffentlicher Leistungen). Es wurde die Vermutung geäußert, daß es eine bestimmte Schicht der Bevölkerung gebe, die keine oder nur wenige öffentliche Leistungen in Anspruch nehme (Einkommensgrenze etwa 800 DM). Von einem Kommissionsmitglied wurde zur Diskussion gestellt, man solle z. B. etwa Theaterbesucher mit den tatsächlichen Kosten des Theaters über ihre Eintrittspreise belasten, da Theaterbesucher zumeist den sogenannten oberen Schichten der Bevölkerung angehörten. Diese Frage wurde jedoch nicht weiter diskutiert, nachdem geklärt werden konnte, daß die Theatersubventionen den Staat summa summarum nicht mehr kosteten als ein abgestürzter Starfighter.

Mit Nachdruck wies die Kommission darauf hin, daß für die Erstellung eines langfristigen politischen Programms dringend Zahlenmaterial über die Inzidenz öffentlicher Leistungen notwendig sei. Solange man hinsichtlich der Verteilungswirkung öffentlicher Leistungen Plausibilitätsüberlegungen auf angewiesen sei, könne eine den Grundwerten Solidarität und Gerechtigkeit verpflichtete Partei keine vernünftige Langzeitpolitik planen.

Die Diskussion im Plenum über Verteilungsfragen führte dazu, daß die -blematik an verschiedenen Stellen des Orientierungsrahmens aufgegriffen wurde; der Aufforderung, diese Frage als Grundfrage sozialdemokratischer Politik einzuführen, wurde nur in sehr eingeschränktem Ausmaß nachgekommen.

c) Rolle des Staates

Auf einhellige Ablehnung stießen die beiden globalen Thesen der völligen Unabhängigkeit des Staates auf der einen Seite und der totalen Abhängigkeit von der Wirtschaft auf der anderen Seite. Es wurde vielmehr auf die Restriktionen hingewiesen, die jeweils im Gesamtzusammenhang gesehen werden müßten, in den der Staat gestellt sei. Bei einer Betrachtung der Rolle des Staates müsse man ständig differenzieren: die These des Staates als „Clown" der Wirtschaft sei in diesem Sinne absurd. Es sei vielmehr der Frage nachzugehen, was passiert, wenn man den Staat verändere, und zwar einmal bezüglich des Zusammenspiels von Politik und Staatsapparat und zum anderen bezüglich der wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Hier gelte es, den möglichen Bewegungsspielraum zu erkunden. Es wurde darauf hingewiesen, daß z. B. die multinationalen Konzerne in ihrer Zentralisation und Konzentration weiter fortgeschritten seien als die staatlichen politischen Instanzen. Dieser Vorsprung müsse im politischen Bereich aufgeholt werden. Aufgabe sei es daher z. B., in kurzer Zeit europäische und andere internationale Kontrollinstanzen aufzubauen. Außerdem wurde die Auffassung vertreten, daß es von der jeweiligen Staatstheorie abhänge, in welchem Grad und in welcher Art dem Staat Reformfähigkeit zugesprochen würde. Auf der einen Seite würde zwar die Abhängigkeit staatlicher Aktivitäten von der Wirtschaft gesehen, auf der anderen Seite dürfe aber der verbleibende Bewegungsspielraum als nicht zu gering angesehen werden. Deshalb sei die Frage zu beantworten, auf welche Weise dieser Bewegungsspielraum erweitert werden könne. Hierbei müßten zunächst einmal die rechtlichen Hindernisse berücksichtigt werden, die eine Änderung bestehender Gesetze erforderten. Es sei ein Trugschluß zu glauben, daß zur Beseitigung derartiger Hindernisse die absolute Mehrheit in den Parlamenten ausreiche. Wenn die Massenloyalität zu wanken drohe, würde auch die SPD — trotz ausreichender Mehrheit — unsicher. Die Durchsetzbarkeit von Reformen hänge also nicht nur von der Kontrolle des Apparates ab, sondern auch von der Erhaltung der Massenloyalität. Deshalb müsse, wenn die Frage gestellt werde, wie und in welchem Umfang der Staat für parlamentarische Reformvorhaben genutzt werden könne, auch mitüberlegt werden, was an außerparlamentarischen Aktionen geleistet werden könne.

Außerdem kämen noch einige interne Hindernisse der Bürokratie hinzu, die eine Umorganisation der öffentlichen Verwaltung notwendig machten. In folgenden Bereichen seien Veränderungen notwendig: In der sozialen Herkunft der Beamten, die einer Mobilität in der Gesellschaft entgegenstünde und somit zum Träger bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse werde; in der Ausbildung der Beamten; im öffentlichen Dienstrecht sowie in den Verantwortlichkeiten innerhalb der Ministerien. Es sei durchaus denkbar, innerhalb eines Ministeriums z. B. in Projekt-gruppen zu arbeiten, die Alternative Demokratisierung/Hierarchie sei falsch gestellt. Andererseits wurde auf die Restriktionen aus dem Wirtschaftsbereich hingewiesen, die staatlichem Handeln entgegenstünden. Die Wirtschaft könne Investitionsentscheidungen und Preispolitik nach den Wahlterminen gestalten. Die Regierung müsse sich diesen »Zwängen“ anpassen und es entstünde bei ihr eine Art „antizipatorischen Gehorsams" gegenüber der Wirtschaft. Diese Unerträglichkeit müsse der Bevölkerung klargemacht werden. Ansatzpunkte zu einer Veränderung seien u. a. in der Bildungspolitik und der Medienpolitik zu suchen. Dies bedeute aber, der außerparlamentarischen Arbeit einen bedeutenden Stellenwert beizumessen. Auch wurde betont, daß die Problemverarbeitungskapazität eine der wichtigsten Staatsfunktionen sei.

Der jetzige Staatsapparat entspreche nicht den erforderlichen Ansprüchen einer Reform-politik.Das öffentliche Dienstrecht sei hierfür ein Musterbeispiel. Beim Zielfindungsprozeß gerate die gesellschaftliche Rationalität mit der kurzfristigen Gruppenrationalität in Konflikt. Hier helfe allerdings keine breit angelegte, sondern eher eine partielle Strategie weiter.

Andere Kommissionsmitglieder meinten, Betriebe und Gewerkschaften müßten in die Überlegungen der SPD stärker eingehen. Gewerkschaftliche Strategie müsse von vornherein in eine sozialdemokratische mit einbezogen werden. Es sei darüber hinaus die Frage zu stellen, ob die Mehrheit der Mitglieder der SPD (die zum großen Teil im Öffentlichen Dienst stünden) bereit sei, bei der Reform des öffentlichen Dienstes mitzuwirken. In der Partei beginne sich eine Loyalitätskrise abzuzeichnen. Die Loyalitätskrise in der Partei sei ein Spiegelbild der Loyalitätskrise in der Gesellschaft. Diese sei durch moralische Appelle nicht aufzufangen. Es gebe eine Loyalitätskrise, die sehr tief liege: sie sei von dialektischen Spannungen umgeben und betreffe die Stabilität der Persönlichkeit, an die die Demokratie große Anforderungen stelle. Es gehe z. B. um die Freiheit, eine Regierung zu kritisieren, der man gleichzeitig gehorche, wenn diese Entscheidungen treffe. Das Problem bestehe darin, daß wir noch heute Strukturen der Erziehung der vorkapitalistischen Entwicklung hätten. Ergebnis dieses Konflikts sei die Autoritätskrise, die dadurch entstanden sei, daß sich die Menschen nicht zu konsistenten Persönlichkeiten hätten entwickeln können. Die CDU habe zur Lösung dieses Konflikts den Weg zu autoritären Strukturen eingeschlagen (Beispiel: Auslegung des Ministerpräsidentenbeschlusses in Bayern). Der andere Weg, der der Weg der SPD sein müsse, dauere sehr lange (Kindergarten, Schule, Familie, nicht autoritäre Sozialisation) und führe zur vorübergehenden Instabilität. Ein Sozialismus, der mit diesem Problem von heute auf morgen fertig zu werden glaube, täusche sich selbst.

Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang das Problem „Öffentlicher Dienst“ diskutiert. Kommissionsmitglieder wiesen auf ihre beruflichen Erfahrungen hin, die ihnen gezeigt hätten, daß leistungsbezogene Unterschiede zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern des Öffentlichen Dienstes nicht bestünden. Die entscheidende Frage sei: „Wie kann der Öffentliche Dienst das bewerkstelli27 gen, was wir wollen?“ Entscheidend sei also zunächst zu wissen, was man wolle. Nicht die Verwaltung, sondern die politischen Instanzen seien unfähig zur konkreten Planung. Die Laienhaftigkeit politischer Instanzen bis hin zur Unfähigkeit der Parteienherrschaft sei das eigentliche Problem. Die Formulierung von Problemen reiche nicht aus. Es komme auf die Durchführung an. Die an der Oberschicht orientierte Verwaltung müsse von den politischen Instanzen klare Zielvorgaben erhalten.

Von anderer Seite wurde betont, daß es darauf ankomme, die Selbststeuerung der gesellschaftlichen Kräfte zu fördern. Z. B. dürfe die Mitbestimmung nicht zu sehr an den Rand der Gesellschaft gerückt werden. Es komme nicht so sehr darauf an, dem Staat immer mehr Rechte zu geben, sondern es sei mehr gesellschaftliche Steuerung zusammen mit den gesellschaftlichen Kräften, zuallererst mit den arbeitenden Menschen und den Gewerkschaften, notwendig. Wenn wir die gesellschaftlichen Kräfte zu wenig berücksichtigten, dann bedeute dies eine ungebremste Tendenz in Richtung Öffentlicher Dienst mit allen Konsequenzen. Es sei ein gemeinsames Defizit aller Sozialdemokraten, daß 99 0/o aller Reformvorschläge auf staatliches Handeln abzielten. In der sozialdemokratischen Praxis finde sich keine Resonanz der Überzeugung, daß auch außerstaatliches Handeln wichtig sei. Die im Entwurf enthaltene Forderung nach Verbesserung der Fähigkeit des Bürgers zur Selbstorganisation enthalte einen Ansatz, der ausgebaut werden müsse. Die wachsende Skepsis gegen etatistische Politik sei zu verarbeiten und in praktische Politik umzusetzen. Das Bedürfnis nach staatlicher Regulienmg werde um so geringer, je weniger Gegensätze im menschlichen Verhalten zur Lähmung des Handelns führten. Auf diese Probleme müsse die Aktivität der SPD gelenkt werden. Die Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung ohne Etatismus sei besser zu nutzen. Es sei äußerst gefährlich, wenn die SPD ihren mangelnden Einfluß in gesellschaftlichen Organisationen durch wachsenden Staatseinfluß ausgleichen wolle. Das Fehlen eines »sozialistischen Subsidiaritätsprinzips“ führe letztlich zu Bürokratisierung und Anonymität.

Die meisten Äußerungen zur Rolle des Staates aus sozialdemokratischer Sicht blieben unwidersprochen, da hierüber in der Kommission große Einmütigkeit bestand.

IV. Zusammenfassung und Kritik

Berücksichtigt man, daß der neue Entwurf eines Orientierungsrahmens '85 der SPD — nach Erstellung zahlreicher wissenschaftlicher Gutachten, — nach Anhörung zahlreicher Fachleute, — nach intensiven Vorarbeiten in Arbeitsgruppen und vor allem — nach einer intensiven Diskussion auf sehr vielen, z. T. mehrtägigen Plenumssitzungen zustande kam, wird deutlich, daß wohl nur selten eine Parteikommission einen Programm-entwurf in einem derart umfassenden Arbeitsprozeß erstellt hat. An keiner Stelle der Kommissionsarbeiten wurden Meinungen unter den Tisch gekehrt, Diskussionsbeiträge abgeschnitten oder die Redezeit begrenzt. Zahlreiche Kommissionsmitglieder erstellten Arbeitspapiere, die im Plenum oder in den Adhoc-Gruppen ausführlich diskutiert wurden.

Mit diesem intensiven Arbeitsprozeß ist allerdings gleichzeitig ein Nachteil verbunden: Zu vieles, was vorher bearbeitet wurde, fand später keine Berücksichtigung, weil andernfalls die Lesbarkeit des Programms zu sehr gelitten hätte. Schon der Parteitag von Hannover hatte der Kommission aufgegeben, ihr Arbeitsergebnis dürfe keinen übermäßigen Umfang annehmen.

Ferner ist zu bemerken, daß es für den Erarbeitungsprozeß des Orientierungsrahmens nützlich gewesen wäre, wenn fertige Textentwürfe früher hätten diskutiert werden können. Für die Diskussion fertiger Textentwürfe blieben der Kommission nur drei Monate Zeit. Andererseits hatte der späte Zeitpunkt den Vorteil, daß die Verfasser bei der Formulierung von Textentwürfen einen hohen Informationsstand über die Diskussion in der Kommission hatten.

Kritisch ist außerdem festzuhalten, daß sich die Diskussion im Plenum zu häufig mit formalen Fragen beschäftigte. Oft wurde zu lange über Fragen diskutiert, die nach einer kurzen Abstimmung hätten geklärt sein können.

Auch funktionierte die Zusammenarbeit mit den anderen Parteikommissionen und Arbeitsgemeinschaften nicht immer ausreichend. So ist z. B. die Tatsache, daß die Ausführungen über die Frau in der Gesellschaft im Orientierungsrahmen äußerst dürftig blieben, auch darauf zurückzuführen, daß die entsprechende Arbeitsgemeinschaft in der SPD ihre ursprüngliche Zusage, dazu schriftliche Unterlagen zu liefern, nicht einhielt. Dieser Mangel wird jedoch noch vor dem Parteitag im November 1975 beseitigt werden.

Der entscheidendste Kritikpunkt an der Arbeit der Kommission betrifft die Zusammenhänge zwischen Allgemeinem und Besonderem Teil des Orientierungsrahmens. Nicht immer konnten konkrete Forderungen der SPD und ihre Ableitung aus den grundsätzlichen Darstellungen ausreichend diskutiert werden, so daß auch dem Leser des Programms nicht immer deutlich wird, wie die zahlreichen Einzelforderungen abgeleitet wurden. Dieser Mangel ist hauptsächlich dadurch begründet, daß der Kommission für die Diskussion der Einzelforderungen zu wenig Zeit blieb. Es ist daher zu begrüßen, daß der Besondere Teil des Orientierungsrahmens fortgeschrieben wird.

Abschließend bleibt festzuhalten, daß die Mitarbeit in der Kommission Orientierungsrahmen '85 für alle Beteiligten äußerst fruchtbar war. Kontroverse Diskussionen fanden immer (unter dem Gesichtspunkt parteipolitischer Solidarität statt und dienten immer dem Ziel, ein besseres, gemeinsames Ergebnis zu erzielen. Das einstimmige Votum der Kommission über den Entwurf eines „Orientierungsrahmens 1985" war das Ergebnis der klaren Absicht aller Kommissionsmitglieder, in der Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten sozialdemokratischer Politik einen Beitrag zur inhaltlichen Geschlossenheit der SPD zu leisten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Heiner Lindner, Dr. rer. pol., geb. 1940 in Dortmund; wiss. Mitarbeiter im Planungsbüro Orientierungsrahmen ‘ 85, Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg; Studium der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften in Köln. Zahlreiche Veröffentlichungen auf sozialpolitischem Gebiet, zuletzt über Gesundheitspolitik: „Geschlossene Konzeption löst ersten Entwurf ab“, in: Neue Gesellschaft, H. 5/75, sowie über „Die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften der Bundesrepublik Deutschland bis 1985“, als Broschüre veröffentlicht im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg 1975.