Vorbemerkung
Bei einer Untersuchung der ost-und deutschlandpolitischen Vorstellungen der parlamentarischen Opposition seit 1972 ist eine gewisse Skepsis angebracht:
— Der Zeitraum und die Thematik sind noch so gegenwärtig, daß eine empirisch abgesicherte Analyse kaum möglich scheint.
— Die fortgesetzte Aktualität des Untersuchungsgegenstandes erschwert dessen abgewogene Wertung.
— Der verfassungspolitisch bedingte Primat der Regierung im Bereich der Auswärtigen Gewalt und das Schwinden grundlegender außenpolitischer Optionen für die Bundesrepublik werfen die Frage auf, ob eine Untersuchung der außenpolitischen Konzeptionen der CDU/CSU von erkenntnistheoretischem Nutzen sein kann.
Andererseits stellt das Thema unter der übergreifenden Problemstellung „Außenpolitik und Oppositionspartei“ neben seinem aktuellen Reiz auch eine methodologische Herausforderung dar, denn das Bezugsmuster Außenpolitik und parlamentarische Opposition hat in der Politikwissenschaft bisher nur einen verhältnismäßig geringen Aufmerksamkeitsgrad erreichen können Dies ist bedauerlich, denn die Existenz einer funktionsfähigen Opposition ist das herausragendste Merkmal der freiheitlichen Demokratie
Im folgenden soll nun untersucht werden, wie die CDU/CSU ihre Rolle als Opposition auf dem Feld der Ost-und Deutschlandpolitik versteht und welche Konsequenzen sich daraus für die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland und für das politische Selbstverständnis der Unionsparteien ergeben.
Die eindeutige Niederlage in der Bundestagswahl 1972 verbannte die CDU/CSU weiter bis 1976 auf die Oppositionsbänke, und nur kurze Zeit später, am 9. Mai 1973, legte der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Barzel sein Amt nieder, nachdem am Vortag die Mehrheit der Fraktion seiner Empfehlung, dem Gesetzentwurf über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen zuzustimmen, nicht gefolgt war, sondern den Entwurf mit 101 zu 93 Stimmen abgelehnt hatte. So wie es Barzel fast genau ein Jahr vorher nicht gelungen war, seine Fraktion für die Ostverträge zustimmungsbereit zu machen, so scheiterte er nun zum zweiten Mal daran, seine Fraktion in einer kardinalen Frage zur Ost-und Deutschland-politik zu einem Ja zu bewegen. Aber Barzel zog noch eine weitere Konsequenz. Eine Woche später teilte er dem Präsidium der CDU mit, daß er auch auf den Parteivorsitz verzichte.
Als am 17. Mai 1973 die Bundestagsfraktion der CDU/CSU mit 131 gegen 84 Stimmen Karl Carstens zum neuen Vorsitzenden wählte und als am 12. Juni der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl, zum neuen Parteivorsitzenden gewählt wurde, wurden innerhalb eines Monats die beiden wichtigsten Führungspositionen der CDU in Partei und Fraktion neu besetzt und die Personalunion von Partei-und Fraktionsvorsitz wieder aufgehoben. Seit der Übernahme des Parteivorsitzes hat Helmut Kohl zusammen mit seinem Generalsekretär Biedenkopf die CDU für liberale Wählerschichten geöffnet und gesellschaftspolitische Impulse entwickelt, wie der Bundesparteitag in Hamburg 1973 dokumentierte Andererseits darf nicht übersehen werden, daß die Beschlüsse von Hamburg bisher nicht in befriedigendem Maß in parlamentarische Initiativen umgesetzt werden konnten
Was hat die CDU/CSU aber im außenpolitischen, speziell ostund deutschlandpolitischen Bereich geleistet, und wie kann man die folgende Forderung eines führenden Außenpolitikers der CDU interpretieren, der erklärte: „Wer die Außenpolitik der Regierung insgesamt als eine Politik in Richtung sozialistische Volksfrontpolitik ansieht, der wird auch auf gesellschaftspolitischem Gebiet die totale Konfrontation suchen. Die Union kann nicht die Gesellschaftspolitik von morgen mit der Außenpolitik von gestern koppeln. Deshalb gehört zur Neubestimmung der Union auch eine Neubesinnung in den außenpolitischen Fragen"
1. Die Haltung der CDU/CSU zum Grundvertrag
Bei der Entscheidung über den Grundvertrag stellte sich für die CDU/CSU die Frage, wie sie die deutschen, die europäischen und die internationalen Implikationen, die dem Grundvertrag innewohnen, bewerten würde. Es ging also darum, wie die CDU/CSU den mit dem Grundvertrag erreichten Grad an Freizügigkeit in Relation dazu bewertet, daß die DDR und die Bundesrepublik Deutschland in die UNO einziehen und damit der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die westliche Welt nichts mehr im Wege steht.
Die überwältigende Mehrheit der CDU/CSU lehnte den Grundvertrag ab, weil sie zu der Auffassung gelangt war, daß der Grad der Aufwertung im Außenverhältnis der beiden Staaten in Deutschland zugunsten der DDR einem nicht befriedigenden Grad der Normalisierung des InnenVerhältnisses entpricht
Im einzelnen brachte die Union folgende Hauptargumente:
1. Der Grundvertrag sei unter Zeitdruck abgeschlossen und zeichne sich durch eine schlechte Verhandlungsführung der Bundesregierung aus
2. Der Vertragstext sei doppeldeutig. „Nicht die Sprache der Doppeldeutigkeit und der Verschleierung, sondern die Kunst der Ausleuchtung, der Klarheit und Eindeutigkeit hätte angewandt werden müsen."
3. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung im Grundvertrag sei unausgewogen
4. Dem Grundvertrag fehle der Bezug zur Einheit der Nation
5. Die wenigen menschlichen Erleichterungen Seien unzureichend und völkerrechtlich unzulänglich abgesichert
6. Ein deutlicher Friedensvertragsvorbehalt fehle
Darüber hinaus warfen CDU und CSU der Bundesregierung vor, daß sie sich in den Verhandlungen beim Grundvertrag das Gesetz des politischen Handelns habe aus der Hand nehmen lassen. So habe die Bundesregierung im Vertragstext politische Vorleistungen er-bracht, während alle Gegenleistungen der DDR durch unzulängliche Abmachungen, Erklärungen und mündliche Vereinbarungen oder als . Kann-Bestimmungen'im Vertrag manipulierbar bleiben
Viele dieser Warnungen und Befürchtungen der CDU/CSU wurden schneller als erwartet Wirklichkeit: Am 5. November 1973 kündigte das Finanzministerium der DDR die Verdoppelung des Mindestumtauschsatzes von Zahlungsmitteln für Besucher aus nichtsozialistischen Staaten in die DDR auf 20 DM an.
Gegen diese Neuregelung, die vom November 1973 an Gültigkeit erlangte und die erst im Dezember 1974 zum Teil unter problematischen Bedingungen im wesentlichen rückgängig gemacht wurde, haben damals Bundeskanzler Brandt und der Regierende Bürgermeister von Berlin energisch protestiert.
Die Verdoppelung der Mindestumtauschquote hätte aber von der Bundesregierung ohne Zweifel stärker und schärfer verurteilt werden müssen, denn so entstand in weiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck, als ob die Bundesregierung gegenüber der DDR eine Politik der Leisetreterei betreibe.
Die Opposition hat dann auch zu Recht die Bundesregierung an ihre Pflicht erinnert, die DDR mit entsprechenden diplomatischen, rechtlichen und politischen Mitteln anzuhalten, die vertraglichen Grundlagen der Entspannungspolitik zu gewährleisten 15). Es ist eine schwer zu beantwortende Frage, ob und bis zu welchem Grad die Bundesregierung entsprechende Mittel hätte anwenden sollen, damit die DDR die vertraglich vereinbarten Grundlagen der Entspannung, wie den Verkehrsvertrag und Grundvertrag, ohne Abstriche einhält.
Denn während es in der ersten Phase der Deutschlandpolitik bis zum Abschluß des Grundvertrages darum ging, das erforderliche vertragliche Instrumentarium für eine erfolgreiche Ostund Deutschlandpolitik zu schaffen, wurde danach die Verwirklichung der Ziele für die Bundesregierung immer diffiziler. Während die DDR ihr Hauptziel, den Beitritt zur UNO, bereits erreicht hatte, versuchte die Bundesregierung nun in langwierigen Verhandlungen in den Folgeverträgen diejenigen menschlichen Erleichterungen zu erreichen, die entweder im Grundvertrag nicht verankert werden konnten oder auch erst nach Abschluß des Grundvertrages ausgehandelt werden sollten. Der Bundesregierung war es offensichtlich nicht immer gelungen, die nun vorhandenen mannigfaltigen Vertragsgrundlagen zu koordinieren und in einer umfassenden Strategie gegenüber der DDR effektiv anzuwenden.
Ohne Zweifel hatte seit der Jahreswende 1973/74 eine Ernüchterung in der Ost-und Deutschlandpolitik eingesetzt. Nach dem Elan der ersten drei Jahre begann nun eine Phase der Stagnation und zeitweilig der Resignation, weil die DDR durch neue Gesetzgebungsakte viele mit der Bundesregierung getroffene Abmachungen verwässerte.
Die DDR-Regierung reagierte somit in der Deutschlandpolitik weniger mit der erhofften Kooperation, sondern vielmehr mit Abgrenzung. Diese Entwicklung fand ihren vorläufigen Höhepunkt am 27. September 1974, als zehn Tage vor dem 25. Jahrestag der DDR-Gründung die Revision der DDR-Verfassung beschlossen wurde Zu Recht betont in diesem Zusammenhang der außenpolitische Sprecher der CDU, daß „nicht durch Gesetzerlaß über den Fortbestand der deutschen Nation und über Deutschland entschieden wird, sondern allein das deutsche Volk nur in freier Wahl, in Selbstbestimmung und ohne Bevormundung über seine Zukunft entscheiden kann"
Diese Aussage kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die DDR-Regierung eine weitere gravierende Abgrenzung praktiziert hat.
Die widersprüchliche Entwicklung in der Deutschlandpolitik nach Inkrafttreten des Grundvertrages, die sich teilweise in einer unübersehbaren Negativbilanz in punkto Freizügigkeit niederschlägt, scheint die Ablehnung des Grundvertrages durch die CDU/CSU im Mai 1973 zu rechtfertigen.
Andererseits darf aber nicht übersehen werden, daß als direkte Folge des Verkehrsvertrages, des Grundvertrages und des Berlin-Abkommens eine gewisse, wenn auch noch unzureichende Zunahme der innerdeutschen Kommunikation eingetreten ist. Von West nach Ost sind die Reisemöglichkeiten erleichtert worden. Dabei stieg die Zahl der Reisen in die DDR und nach Ost-Berlin von knapp 2, 8 Millionen im Jahr 1971 auf knapp 7 Millionen im Jahre 1973. Die Zahl der Telefongespräche stieg von 0, 7 Millionen im Jahre 1970 auf 5, 8 Millionen im Jahre 1973 Seit Einführung der Verdoppelung der Zwangsumtauschgebühren ist die Zahl der Mehrtagereisen in die DDR und nach Ost-Berlin allerdings um ca. 50 % zurückgegangen.
In umgekehrter Richtung reisten in dringenden Familienangelegenheiten vom November 1972 bis Oktober 1973 immerhin 47 447 DDR-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland, während im gleichen Zeitraum die Rentnerreisen in die Bundesrepublik um 2% angestiegen sind.
Auch wenn es heute noch zu früh ist, eine umfassende und ausgewogene Bilanz zu ziehen, so darf nicht übersehen werden,'daß es trotz der krampfhaften Bemühungen der DDR-Regierung um Abgrenzung im Vergleich zu früheren Jahren zu mehr Freizügigkeit und Kommunikation gekommen ist, ja, „in gewisser Weise sind die derzeitigen Schwierigkeiten ein Beweis dafür, wie erfolgreich diese Politik in den letzten drei, vier Jahren gewesen ist" 19).
Andererseits darf aber nicht übersehen werden, daß, an den Maßstäben gemessen, die in den 20 Punkten von Kassel niedergelegt wurden, die Deutschlandpolitik der Bundesregierung nur teilweise erfolgreich war:
1. Die DDR richtet ihre Politik nicht auf die Einheit der Nation aus, wie es die Bundesregierung wünscht. Dies ist nicht Schuld der Bundesregierung, aber es erhebt sich die Frage, ob die Regierung Brandt/Scheel nicht von Anfang an in ihrer Deutschlandpolitik eine Illusion zu verwirklichen suchte, nämlich die Einheit der Nation vertraglich mit der DDR festzumachen. Der Vorwurf der sechziger Jahre der SPD gegen die CDU/CSU, daß die CDU/CSU Ziele verfolge, die nicht verwirklicht werden könnten, dieser Vorwurf trifft nun die SPD selber. Im Grundvertrag konnte die Einheit der Nation nicht verankert werden. 2. Ohne Zweifel ist es seit Inkrafttreten des Grundvertrages zu mehr menschlichen Begegnungen gekommen, andererseits hat die Bundesregierung aber einen Vertrag unterzeichnet, in dem der Komplex Freizügigkeit weniger im Vertragstext selber als vielmehr in den Begleittexten des gesamten Vertragswerkes in sogenannten , Kann-Bestimmungen“ lük-kenhaft vereinbart wurde.
Damit ist der DDR die Möglichkeit geblieben, menschliche Erleichterungen nach ihrem eigenen Gutdünken zu gewähren oder zu verbieten.
3. Die Bundesregierung hat betont, daß die Rechte und Vereinbarungen der Vier Mächte über Berlin und Deutschland , als Ganzes“ von einem Vertrag mit der DDR unberührt bleiben.
In den entsprechenden Vertragstexten ist aber von den alliierten Rechten der Vier Mächte über Berlin und Deutschland , als Ganzes“ keine Rede mehr. 4. In Sachen Freizügigkeit, Familienbesuchen, individuellem Tourismus und Zusammenarbeit auf den Gebieten des Verkehrs-, Post-und Fernmeldewesens, des Informationsaustauschs, der Wissenschaft, Erziehung und Kultur, des Umweltschutzes und des Sports ist die Bilanz unterschiedlich.
Wenn man die 20 Punkte und andere Erklärungen der Bundesregierung zum alleinigen Maßstab der Bewertung der Deutschlandpolitik nimmt, so hat die Union mit ihrem Argument recht, daß der eigene hohe Erwartungshorizont der Regierung Brandt nicht vollständig erreicht werden konnte.
Wenn man aber andererseits in Rechnung stellt, daß die Einheit der Nation realpolitisch weniger durch völkerrechtliche Abmachungen als vielmehr nur dann gewährleistet werden kann, wenn das Kommunikationsgefälle zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland verringert wird, so konnte die Bundesregierung mit ihrer Vertragspolitik einen Teil der Erwartungen einlösen, denn seit 1969 haben sich die Kontakte, wenn auch unter Schwierigkeiten, verstärkt.
Ein weiteres breites Feld für konkrete Verbesserungen wird in den Folgeverträgen ausgehandelt. Insgesamt gesehen hat die SPD/FDP-Regierungskoalitition seit 1969 mit der DDR 17 Verträge, Abkommen und Vereinbarungen getroffen Gegenwärtig sind fünf weitere regelmäßige Verhandlungsrunden anhängig; dies sind die Transit-, die Verkehrs-und die Grenzkommission sowie die Expertengruppe „grenznaher Verkehr" und die Verhandlungen auf dem Gebiet des Handels zwischen der Treuhandstelle für den Interzonenhandel mit dem Ministerium für Außenhandel der DDR.
In weiteren sieben Verhandlungsrunden werden die Folgeverträge erarbeitet. Der Senat von Berlin hat zusätzlich mit der Regierung der DDR bereits zehn Vereinbarungen abgeschlossen, weitere neun werden derzeit ausgehandelt.
Diese Zahlen beweisen noch nicht, daß die Formalisierung der Beziehungen bereits mit einer Normalisierung gleichgesetzt werden kann. Eine verstärkte Formalisierung bildet aber die Grundlage für eine dauerhafte und unwiderrufliche Perspektive der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.
Die DDR zeigt sich dabei primär dort verhandlungsbereit, wo sie sich finanzielle und politische Vorteile erhofft. Sie ist aber zurückhaltend, wo mehr Freizügigkeit vertraglich festgelegt werden soll. Eine Bilanz der Folgeverträge wird folglich erst dann möglich sein, wenn alle Verträge und Vereinbarungen vollständig ausgehandelt und in Kraft getreten sind.
Mit Norbert Blüm, Karlheinz Hornus und Josef Klein stellte sich Walther Leisler Kiep ge-gen die überwiegende Mehrheit seiner Fraktion und stimmte dem Grundvertrag zu. Damit drückte diese Gruppe das aus, was viele ihrer Parteifreunde vielleicht nur denken.
Weil die Bundesregierung sich im Grundsatz mit ihrer Ost-und Deutschlandpolitik in weitgehender Übereinstimmung mit den westlichen Verbündeten befindet und die Mehrheit der Bürger bei uns diese Politik prinzipiell für richtig hält, kann es für die Union in der Deutschlandpolitik kaum eine Alternative der Negation, sondern grundsätzlich nur eine Alternative der Adaption auf der Grundlage der vertraglich geschaffenen ostpolitischen Realitäten geben.
Indem diese Gruppe in der CDU, die dem Grundvertrag zustimmte, mit der Mehrheit der Fraktion nicht konform ging, hatte die CDU/CSU zum erstenmal bei einer Abstimmung im Bundestag über die Ost-und Deutschlandpolitik ein geschlossenes Votum der Fraktion nicht aufrechterhalten können.
Während das Ratifizierungsgesetz zum Grundvertrag am 11. Mai 1973 mit 268 gegen 217 Stimmen der Union gebilligt wurde, stimmte beim Gesetzentwurf über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen sogar eine knappe Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit Ja.
Allerdings wird weiterhin mehrheitlich in der Union die Auffassung vertreten, daß der Verhandlungstrumpf der Bundesregierung in Sa-chen Grundvertrag, nämlich der UNO-Beitritt der beiden deutschen Staaten, zu eilig und ohne entsprechende Gegenleistungen aus der Hand gegeben wurde
Hierbei wird die grundsätzliche Interessendivergenz zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland deutlich, die nach Auffassung der Opposition von der Bundesregierung nicht immer in voller Tragweite erkannt wurde. Die DDR und die Bundesrepublik Deutschland beabsichtigen mit dem Grundvertrag und verfolgen seit dessen Inkrafttreten unterschiedliche, ja gegensätzliche Ziele, die den Knoten des deutschen Problems ausmachen. Die Bundesregierung mißt der Neuregelung des Außenverhältnisses der beiden Staaten nur eine instrumentale Bedeutung zu. Sie hofft, daß sich die internationale Aufwertung der DDR, durch die sie formal gleichberechtigt neben die Bundesrepublik Deutschland gestellt wird, positiv auf die Neuordnung des Innenverhältnisses zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR auswirken wird Diese Rückkoppelung der internationalen Normalisierung, die ebenfalls eher Postulat als Wirklichkeit ist, auf eine Normalisierung im Inneren ist aber nicht in dem Umfang eingetreten, wie sie vielerorts in der Bundesrepublik, auch in optimistischen Vorankündigungen aus dem Regierungslager, erhofft und erwartet wurde.
Die DDR verfolgt demgegenüber mit dem Grundvertrag ein grundsätzlich anderes Ziel:
Während sie die Vertragsgrundlage unter dem Aspekt der Freizügigkeit und der Kommunikation mit der Bundesrepublik restriktiv interpretiert und durch eine umfassende Abgrenzungspolitik weiter einzuschränken versucht und ihr im Grundvertrag aufgrund der „Kann-Bestimmungen“ ein zu großer Spielraum eingeräumt wurde, stellt die internationale Aufwertung und völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Staaten der westlichen Welt das Hauptmotiv und die oberste Zielsetzung für den Abschluß des Grundvertrages dar.
Aus eigener Kraft und ohne Zustimmung der Bundesrepublik hätte die DDR ihr internationales Gettodasein, in das sie sich selbst hineinmanövriert hatte, nicht beenden können. Erst die Zukunft wird zeigen, ob die Entscheidung der Bundesregierung Brandt/Scheel richtig war, bereits zum damaligen Zeitpunkt und auf Grundlage der lückenhaften und unausgewogenen Vereinbarungen des Grundvertrages der DDR den Weg in die UNO so bereitwillig zu ebnen.
Der Grundvertrag muß auch als „Ausdruck der weltpolitischen Lage verstanden werden, die sich seit dem Ende der sechziger Jahre herausgebildet hat"
Unter diesem Aspekt erhält er für die außen-politische Gruppierung in der Union, die durch Kiep repräsentiert wird, eine andere Bedeutung als für die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion. Zwar wird von der Kiep-Gruppe auch eingeräumt, die Verhandlungsführung der Bundesregierung und der Text des Grundvertrages zeige zuwenig Ansatzpunkte zur Normalisierung, auch wird betont, daß der Text im Gegensatz zum Moskauer und Warschauer Vertrag unübersichtlicher und, was die Interessen der Bundesrepublik angeht, weniger eindeutig sei, aber dem Vertrag wird nicht zuletzt deshalb zugestimmt, weil er eben als konstruktiver Ausgangspunkt für jene neue Entwicklung seit 1969 in Europa und in Deutschland angesehen wird
Für die Bildung eines objektiven Urteils ist sicherlich noch nicht der notwendige Abstand vorhanden, aber vielleicht werden die vier Ja-Stimmen der Union zum Grundvertrag eines Tages als ein wichtiger Ansatz für die Rückgewinnung der innenpolitischen Glaubwürdigkeit und der entspannungspolitischen Überzeugungskraft der Unionsparteien gewertet werden.
2. Die Haltung der CDU/CSU-Bundestagfraktion zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSSR
Mit dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der SSR, wie er am 11. Dezember 1973 unterzeichnet wurde, ist die bilaterale Phase der Ostvertragspolitik der Bundesregierung abgeschlossen worden. Führende außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beurteilten diesen Vertrag bei der Unterzeichnung günstiger als die vorangegangenen Ostverträge: Selbst ein so vehementer Kritiker der Ostpolitik wie Werner Marx stellte fest, „daß der Vertrag zäher, beharrlicher und daß er auch sorgfältiger ausgehandelt worden ist als die Verträge, deren deutscher Operateur Egon Bahr hieß"
Franz Josef Strauß bescheinigte der Bundesregierung, „der CSSR-Vertrag sei sorgfältiger ausgehandelt als alle anderen Ostverträge der Bundesregierung. Man ist hier mit mehr diplomatischem Geschick vorgegangen" Trotzdem hat die CDU/CSU am 8. März 1974 im Bundesrat den Vertrag abgelehnt, und am 20. Juni 1974, als der Vertrag im Bundestag ratifiziert wurde, stimmten alle Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geschlossen gegen den ÖSSR-Vertrag. Dabei führte die Union folgende Argumente ins Feld:
1. Die Bundesregierung habe sich auf eine einseitige, lückenhafte und historisch falsche Darstellung des geschichtlichen Ablaufes im Vertrag eingelassen
Aber diese Interpretation der CDU/CSU berücksichtigt die Interessen der Bundesrepublik nur unzureichend, denn in der Präambel des Vertrages heißt es ausdrücklich:
„In dem festen Willen, ein für allemal mit der unheilvollen Vergangenheit in ihren Beziehungen ein Ende zu machen, vor allem im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, der den europäischen Völkern unermeßliche Leiden zugefügt hat..."
In dieser Präambel wird, wenn auch nicht ausgesprochen, deutlich, daß an der „unheilvollen Vergangenheit" zwischen Deutschen und Tschechen beide Seiten beteiligt gewesen sind. Das Unrecht an den Sudetendeutschen wird zwar in dem Vertrag nicht ausdrücklich vermerkt, es läßt sich aber aus dem Text genauso interpretieren, wie die ÖSSR hieraus die Verbrechen des Hitler-Reiches ableitet. Bundeskanzler Brandt hat zusätzlich am Tage der Unterzeichnung, am 11. Dezember 1973, klargestellt, daß der Vertrag geschehenes Unrecht nicht sanktioniert und die Vertreibung der Sudetendeutschen nachträglich nicht legitimiert wird Dieser mündlichen Erklärung des Bundeskanzlers ist von der Regierung der ÖSSR nicht widersprochen worden. Wenn diese Tatsache auch nicht von völkerrechtlicher Bedeutung ist, so kommt ihr doch ein nicht zu unterschätzender politischer Stellenwert zu.
Die Union wäre gut beraten gewesen, wenn sie die moralisch-politische Dimension dieser Frage stärker berücksichtigt hätte, denn die Präambel allein ermöglicht der ÖSSR nicht die Konstruktion einer einseitigen Schuld. 2. Der fortbestehende Dissens über die Ungültigkeit des Münchener Abkommens.
Die Friedensnote von Bundeskanzler Erhard von 1966, in der festgestellt wird, „daß das Münchener Abkommen von Hitler zerrissen wurde und ... die Bundesregierung keine territorialen Ansprüche erhebt" beruhte auf einer Anerkennung der geschaffenen Tatsachen in Europa und stellte daher einen ersten Ansatzpunkt für eine realistische Neuordnung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den Staaten Osteuropas, insbesondere mit der ÖSSR, dar.
In seiner Regierungserklärung bekannte sich Bundeskanzler Kiesinger 1966 ebenfalls zu dieser Auffassung, als er erklärte:
Die Bundesregierung „stimmt der Auffassung zu, daß das unter Androhung von Gewalt zustande gekommene Münchener Abkommen nicht mehr gültig ist. Gleichwohl bestehen noch Probleme, die einer Lösung bedürfen, wie zum Beispiel das des Staatsangehörigkeitsrechts. Wir sind uns unserer Obhutspflicht gegenüber den sudetendeutschen Landsleuten wie gegenüber allen anderen Vertriebenen und Flüchtlingen bewußt und nehmen sie ernst. Diese Vertriebenen haben, wie das tschechoslowakische Volk zuvor, bitteres Leid und Unrecht erfahren. Der Bundesregierung liegt daran, dieses trübe Kapitel der Geschichte unserer Völker zu beenden und ein Verhältnis vertrauensvoller Nachbarschaft herzustellen"
Von dieser Erklärung führte der Weg zum Prager Vertrag.
Im Artikel 1 des Vertrages sind die beiden Vertragspartner übereingekommen, das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig zu betrachten. In dieser Übereinkunft liegt keine allgemeine Feststellung oder Anerkennung mit rückwirkender Kraft, daß das Münchener Abkommen nichtig oder von Anfang an ungültig gewesen sei. Vielmehr bringen die Worte: „sind wie folgt übereingekom-men" und „betrachten als nichtig“ zum Ausdruck, daß die Übereinkunft im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Völkervertragsrechts nicht rückwirkend, sondern für die Zukunft vom Tage des Inkrafttretens des Vertrags gilt.
Der Streit über das Münchener Abkommen ist also durch eine Vereinbarung darüber aus dem Wege geräumt worden, wie das Abkommen in der Zeit nach Inkrafttreten des Vertrages angesehen werden soll, um das beiderseitige Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ÖSSR nicht länger zu belasten.
Die Formulierung des Artikels 1 läßt beiden Seiten die Möglichkeit offen, bei ihrer Rechtsauffassung zu bleiben. Artikel 2 schließt aber aus, daß aus der Aussage des Artikels 1 für die Bundesrepublik und für den betroffenen Personenkreis nachteilige Rechtsfolgen gezogen werden können. Es ist also darüber Einigung erzielt worden, wie das Münchener Abkommen künftig in den bilateralen Beziehung gen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ÖSSR behandelt werden soll, um da-mit den Konfliktstoff zwischen beiden Ländern zu verringern.
Der Vertrag räumt also das Münchener Abkommen als Hindernis auf dem Weg für eine bessere Zukunft der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ÖSSR beseite.
Im Zusammenhang mit der Interpretation des Münchener Abkommens hat die CDU/CSU-Fraktion behauptet, daß die tschechoslowakische Seite aus der Entgegennahme des Briefes der Regierung der ÖSSR zu Fragen der Strafverfolgung ein Argument für ihre Auffassung von der Nichtigkeit ex tune ableiten kann Dieses Argument ist nicht stichhaltig, denn in diesem einseitigen Brief hat die ÖSSR sich verpflichtet, nur Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit der Todesstrafe zu verfolgen. Diese rechtsverbindliche Information ist mit der Zusage verbunden, daß der Vertragsabschluß von der tschechoslowakischen Seite nicht zum Anlaß genommen wird, an dieser Lage etwas zu ändern. Darin liegt die spezifische Bedeutung dieses Briefes im Zusammenhang mit dem Abschluß des Vertrages. 3. Die Union kritisiert die unzureichende Regelung vermögensrechtlicher Fragen
Die rechtliche Hilfskonstruktion der Unionsparteien für dieses Argument, daß Repara-tions-und Restitutionsansprüche der ÖSSR nicht ausgeschlossen sind, basiert auf der Hypothese, daß der Vertrag die Grundlage für eine „ex tunc" -Auffassung bietet. Dies ist eben nicht der Fall, denn es heißt in Art. 2 Abs. 3: „Dieser Vertrag bildet mit seinen Erklärungen über das Münchener Abkommen keine Rechtsgrundlagen für materielle Ansprüche der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und ihrer natürlichen und juristischen Personen."
4. Die Union die lückenhafte Rege -kritisiert lung der Staatsangehörigkeitsund sonstiger personenrechtlicher Fragen
Artikel 2 Abs. 3 stellt lediglich fest, daß der Vertrag die sich aus der Rechtsordnung jeder der beiden Parteien ergebende Staatsangehörigkeit lebender und verstorbener Personen unberührt läßt. Jede Seite kann also bei ihrer bisherigen rechtlichen Beurteilung und Gesetzesregelung bleiben.
Es ist kaum realistisch anzunehmen, man hätte in einem solchen Vertrag die tschechoslowakische Gesetzgebung in Fragen der Staatsbürgerschaft ändern können. Deshalb stellt die gefundene Formulierung einen für beide Vertragspartner annehmbaren Kompromiß dar, denn:
— durch die Feststellung der Nichtigkeit werden die Rechtswirkungen, die sich aus dem angewandten Recht in der Zeit vom 30. September 1938 bis zum 19. Mai 1945 ergeben, nicht berührt;
— die Fragen der Staatsangehörigkeit richten sich ausschließlich nach den Rechtsordnungen der jeweiligen Vertragsstaaten;
— der Vertrag bildet keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der natürlichen und juristischen Personen in der ÖSSR. Außerdem stellt die ÖSSR-Regierung in Aussicht, Anträge auf Umsiedlung in die Bundesrepublik wohlwollend zu behandeln und den Reiseverkehr zwischen beiden deutschen Staaten auszuweiten
Es liegt an der Bundesregierung und an der ÖSSR-Regierung, daß dieses Versprechen Wirklichkeit wird. In Anbetracht der negati-ven Erfahrungen mit der polnischen Regierung in humanitären Fragen wäre aber eine rechtsverbindlichere Regelung angebracht gewesen. 5. Die Union kritisiert eine ungenügende Wahrung der Rechtspositionen und Interessen von West-Berlin im Vertrag
Berlin-West ist unter Wahrung der Rechte und Verantwortlichkeit der drei Westmächte, die dort die oberste Gewalt ausüben und demgemäß im Einklang mit dem Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September 1971 in das Vertragswerk einbezogen worden. In einem zum Vertrag gehörenden Briefwechsel ist die Anwendung des Artikels 2 des Vertrages, also des Artikels, der sich mit dem Folgen befaßt, auf Berlin-West vereinbart worden. Ferner ist darin in Aussicht genommen, auch die Verträge auf Berlin-West zu erstrecken, die sich aus der Verwirklichung des Artikels 5 des Vertrages ergeben werden
Die im Briefwechsel zu Berlin-West enthaltene Klausel ist in der Tat lückenhaft, denn die Folgeverträge werden sich nur von Fall zu Fall auf West-Berlin erstrecken. Damit bleibt Berlin weiterhin als Hebel für mögliche Forderungen der Vertragspartner der Bundesrepublik Deutschland bestehen.
Bei Aufnahme der diplomatischen Beziehungen haben sich die Bundesrepublik Deutschland und die CSSR darüber geeinigt, daß die Bundesrepublik in der ÖSSR auch die konsularischen Dienste im Einklang mit dem Vier-Mächte-Abkommen ausübt und daß West-Berliner für die Einreise in die ÖSSR und ihren Aufenthalt in der Tschechoslowakei einen Reisespaß der Bundesrepublik benutzen können, der mit dem Stempel: „Ausgestellt in Übereinstimmung mit dem Vier-Mäch-
te-Abkommen vom 3. September 1971" verse-hen ist. Hierzu liegt ein schriftlicher Notenwechsel vor.
Die besondere Frage des Rechtshilfeverkehrs, also die Frage der Übermittlung von Rechts-
hilfeersuchen aus West-Berlin, blieb allerdings während der Verhandlungen lange ungeklärt. Die Absichtserklärung von Außenminister Scheel in Moskau nach der im Rechtsverkehr die Gerichte direkten Kontakt miteinander aufnehmen sollen, scheint dieses Problem nicht endgültig und eindeutig geregelt zu haben. War dann aber die Kritik der GDU/CSU in Sachen Berlin ungerechtfertigt?
Der Mitberichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in der ÖSSR-Debatte im Bundestag darauf hingewiesen, daß der ÖSSR-Vertrag im Verhältnis zum Moskauer Vertrag, zu den Absichtserklärungen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland in einem satellitenhaften, Verhältnis ste-he, wie es im übrigen auf tschechischer Seite dem Satellitenverhältnis zu Moskau entspreche
Das heißt nichts anderes, als daß die Sowjetunion die ÖSSR in entscheidenden Fragen des Vertrages, wie der Regelung des Münchener Abkommens und der konsularischen Betreuung West-Berlins, politisch zu präjudizieren sucht. Selbst wenn die ÖSSR hier der Bundesregierung hätte entgegenkommen wollen, ohne Zustimmung der Sowjetunion wäre dies nicht möglich.
Somit scheint das Argument der CDU/CSU stichhaltig, daß der Briefwechsel zu Berlin-West „nur auf dem Hintergrund des Bestrebens der Sowjetunion beurteilt werden kann, auch nach dem Vier-Mächte-Abkommen Berlin in einem Grad von der Bundesrepublik Deutschland zu trennen, wie es im Vier-Mächte-Abkommen nicht vorgesehen ist"
Es ist deshalb mehr als nur diplomatisch fahrlässig von der Bundesregierung verhandelt worden, als gerade am außenpolitisch labilsten Glied der Kette der Warschauer-Pakt-Staaten eine politische Grundsatzentscheidung in Sachen Berlin gesucht wurde. Daß eine eindeutige Regelung nicht schon im Zusammenhang mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der ÖSSR herbeigeführt wurde, muß deshalb besonders kritisch angemerkt werden, weil die CDU/CSU auf dieses Problem schon vor der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit aller Deutlichkeit hingewiesen hat.
Die Hauptgründe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die sie schließlich veranlaßt haben, geschlossen den Vertrag mit der ÖSSR abzulehnen, lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Der Vertrag mit der Tschechoslowakei ist wie alle anderen Ostverträge doppeldeutig. 39 2. Er bringt nur unzureichende menschliche Erleichterungen.
3. Der Vertrag beinhaltet keine angemessene Würdigung der Rolle der Sudetendeutschen in der Geschichte und verteilt nur eine einseitige historische Schuld.
4. Die Bundesregierung hat gegeben, geleistet, geopfert und verzichtet.
5. Das Problem Berlin ist nur unzureichend gelöst.
Bei einem nüchternen Fazit stellt sich heraus, daß die Bundesregierung nur ein einziges konkretes Zugeständnis gemacht hat, das vermutlich auch eine CDU-Regierung gemacht hätte: die moralische Verurteilung der Politik des Nationalsozialismus gegenüber den Tschechen, ohne dabei aber negative rechtliche Folgen für die Bundesrepublik in Kauf zu nehmen. Auch eine CDU/CSU-Regierung hätte mit der innerhalb des Ostblocks von der Sowjetunion abhängigsten Regierung kaum einen wesentlich besseren Vertrag abschließen können. Deshalb scheint der SSR-Vertrag, wenn auch mit einigen Bedenken, zustimmungswürdig, weil er 1. keine nachteiligen Rechtsfolgen für die Sudetendeutschen bringt, 2. einen formalen Schlußstrich unter die Schrecken der Vergangenheit setzt und Chancen für eine bessere Zukunft der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSSR bietet, 3. die Formulierung in der Präambel die Interpretation einer wechselseitigen Schuld ermöglicht, 4. die Nichtigkeitserklärung des Münchener Abkommens den Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicut abträglich erscheint und 5. weil ein Nein zum Vertrag mit der CSSR als Verzicht auf Vertragspolitik mit den Staaten in Osteuropa interpretiert worden wäre und damit die Ostpolitik als die Kunst des Möglichen einen nicht zu unterschätzenden Rückschlag erlitten hätte.
Der Vertrag mit der CSSR hat also nicht nur bilaterale Bedeutung, sondern ist auch Teil der westlichen Entspannungspolitik Er stellt einen Teil der Politik der westlichen Allianz dar, mehr Entspannung zwischen West und Ost zu bewirken. Dabei kann der Vertrag allein keine amtliche Interpretation der Vergangenheit und keine einklagbaren Garantien für die Zukunft des Verhältnisses zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik bringen. Er kann aber ein erstes praktisches Fundament und die Chance zu einem Neubeginn schaffen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn beide einen Ausbruch aus dem Teufelskreis von Schuld und Gegen-schuld versuchen, damit das Nachbarschaftsverhältnis zwischen den beiden Völkern, die seit über acht Jahrhunderten miteinander in enger Berührung stehen, auf der Basis der Wirklichkeit neu geordnet werden kann.
Mit ihrem geschlossenen Nein zum SSR-Vertrag hat die CDU/CSU sich keinen guten Dienst erwiesen. Ein Ja, wenn auch unter Bedenken, hätte nicht nur die außenpolitische Glaubwürdigkeit der CDU/CSU, insbesondere ihre konkrete Entspannungsbereitschaft dokumentiert, sondern auch die innenpolitische Überzeugungskraft für eine christlich-demokratische Friedenspolitik stärken können.
3. Die Haltung der CDU/CSU zum Atomwaffensperrvertrag
Die Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen am 28. November 1969 war eine der ersten außenpo-litischen Taten der 1969 gebildeten Regierung Brandt/Scheel. Aber erst mehr als vier Jahre später, am 20. Februar 1974, wurde das Vertragswerk mit 355 Ja-gegen 90 Nein-Stimmen im Bundestag verabschiedet. Nachdem in einer vorangegangenen internen Abstimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine knappe Mehrheit sich gegen den NV-Vertrag ausgesprochen hatte, votierte am Tage der Verabschiedung im Bundestag eine knappe Mehrheit der CDU/CSU für den Nichtverbreitungsvertrag. Dem dazugehörigen Verifikationsab-kommen stimmte sogar die parlamentarische Opposition geschlossen zu, lediglich ein nicht voll stimmberechtigter Berliner Abgeordneter hatte mit Nein gestimmt. Insgesamt wurde in der Ratifizierungsdebatte deutlich, daß zwischen allen drei Bundestagsfraktionen in folgenden prinzipielle Übereinstimmung
bestand:
1. Alle drei Fraktionen stehen zum Herstellungsverzicht aus dem Jahre 1954, bei dem die Bundesrepublik Deutschland anläßlich ihres Beitritts zum WEU-Vertrag auf die Herstellung nuklearer, bakteriologischer und chemischer Waffen verzichtet hat.
2. Alle drei Fraktionen stehen zu den Erklärungen früherer Bundesregierungen, daß die Bundesrepublik Deutschland keine nationale Verfügungsgewalt über Kernwaffen und keinen nationalen Besitz von Kernwaffen anstrebt. 3. Alle drei Fraktionen treten für eine weltweite kontrollierte Abrüstung, insbesondere auf dem nuklearen Sektor, ein.
Diese drei Punkte, die zugleich die gemeinsame Grundlage innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum NV-Vertrag bildeten, erwies sich letztlich aber als brüchig, weil in der CDU/CSU-Fraktion in weiteren entscheidenden Fragen zum NV-Vertrag unterschiedliche Positionen bezogen wurden, so daß letztlich die Fraktion in ein zahlenmäßig fast gleich großes Ja-und Nein-Lager zerfiel.
Eine knappe Mehrheit stimmte für den Atomwaffensperrvertrag aus folgenden Gründen
1. Das Verifikationsabkommen wurde positiv beurteilt.
2. Die politische und sachliche Interdependenz zwischen Verifikationsabkommen und Atomwaffensperrvertrag sollte nicht durch ein Nein zum Sperrvertrag selbst in Frage gestellt werden, und logischerweise sollte beiden Gesetzvorlagen zugestimmt werden.
3. Die Erklärung der Bundesregierung zur europäischen Option wurde als zufriedenstellend bewertet.
4. Kein Partner der Europäischen Gemeinschaft und der NATO hat den NV-Vertrag abgelehnt. Nur Frankreich, das in dieser Fra-ge als Nuklearmacht eine prinzipielle und auf die Lage der Bundesrepublik Deutschland nicht übertragbare Position einnimmt, hat bisher nicht dem NV-Vertrag zugestimmt.
5. Ein Nein der Bundesrepublik zum Atomwaffensperrvertrag hätte größere Nachteile mit sich gebracht als eine Zustimmung.
Die zahlenmäßig nur knapp unterlegene Minderheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, es waren 90 Abgeordnete, die gegen den NV-Vertrag votierten, begründete ihre ablehnende Haltung mit folgenden Argumenten
1. Der NV-Vertrag sei ein ungleicher und diskriminierender Vertrag.
2. Die Bundesrepublik Deutschland binde sich insbesondere gegenüber der Sowjetunion, während die UdSSR ihrerseits keine für die Sicherheit der Bundesrepublik wesentlichen Verpflichtungen eingehe.
3. Die Unterzeichnung des NV-Vertrages durch die Bundesregierung am 28. November 1969 sei der erste Schritt einer Politik gewesen, die sich hauptsächlich durch Ungleichheit auszeichne. 4. Die zentralen Verbotsbestimmungen der Vertragsartikel I und II seien mehrdeutig und würden das Risiko künftiger Auslegungskonflikte in sich bergen.
5. Auf dem Hintergrund der massiven Aufrüstungspolitik der UdSSR, die das Kräfteverhältnis auf dem europäischen Kontinent zugunsten der Sowjetunion entscheidend verändert habe, gefährde der NV-Vertrag die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland.
Bei diesen Meinungsunterschieden innerhalb der parlamentarischen Opposition wurde ein grundsätzlicher, tiefergehender Gegensatz in der außenpolitischen Kardinalfrage wieder deutlich. In ihrem Kern berührte die NV-Kon-troverse innerhalb der CDU/CSU den nun fast jahrzehntelangen Gegensatz zwischen „Atlan-tikern" und „Gaullisten".
Die Gruppe der Befürworter des NV-Vertrages sieht in ihm ein mögliches Instrument zur stärkeren Westbindung der Bundesrepublik Deutschland und zur engeren Verknüpfung der gesamten Allianz nicht zuletzt durch eine Bekräftigung der amerikanischen Sicherheitsgarantieerklärung für die Bundesrepublik Deutschland. Hierbei wird der NV-Vertrag weniger unter dem Bedenken einer Unterordnung oder Einschränkung des außenpolitischen Handlungsspielraums der Bundesrepublik interpretiert, vielmehr wird das Argument vertreten, daß seit Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages nun endlich der von der Sowjetunion permanent erhobene Vorwurf, die Bundesrepublik strebe atomare Mitbestimmung oder sogar atomare Selbstbestimmung an, endgültig widerlegt worden ist Unter diesem Aspekt hat der NV-Vertrag für die Befürworter neben der Bedeutung für die Westbindung der Bundesrepublik auch eine nicht von der Hand zu weisende Bedeutung für eine größere Handlungsfreiheit in Sachen Entspannungspolitik nach Osten.
Für die Gegner des NV-Vertrages in der Union scheint aber dieser Vertrag eher als ein gemeinsames Instrument der Sowjetunion und der USA für ein Kondominium interpretiert zu werden, bei dessen weiterem Aufbau die sicherheitspolitischen Garantien der USA für die Bundesrepublik Deutschland, aber auch für das übrige Europa unsicherer zu werden scheinen. In dieses Bild paßt folgende Einschätzung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen:
Das amerikanisch-sowjetische Abkommen zur Verminderung der Gefahr eines Nuklearkrieges vom September 1971, die SALT-Vereinbarungen vom Mai 1972, die Grundsatzerklärungen über die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen und das im Frühjahr 1973 zwischen den USA und der Sowjetunion abgeschlossene Abkommen zur Verhütung eines Atom-krieges, all diese Abkommen werden von den Gegnern des NV-Vertrages nicht als ein zugegebenermaßen für beide Seiten risiko-, aber auch chancenreiches Entspannungsunternehmen gewertet, sondern als Beweis für ein Zusammengehen der Supermächte auf Kosten Europas, insbesondere der nichtnuklearen Schwellenmächte.
So wurde in den Debatten um den Atomwaffensperrvertrag deutlich, daß viele sicherheitspolitische Bedenken der Kritiker des Vertrages innerhalb der CDU/CSU weniger durch spezifische Probleme im Rahmen des Vertragstextes bestimmt wurden, sondern als Ausdruck eines allgemeinen Unmuts über den Wandel der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen angesehen werden können, dessen Dynamik die CDU/CSU als Oppositionspartei aber am allerwenigsten durch ein Nein zum NV-Vertrag beeinflussen konnte. So scheint es, daß in einem noch stärkeren Maße als in den sechziger Jahren der CDU/CSU die Gefahr drohte, daß die Debatte um den NV-Vertrag unter einem zu geringen . Bezug zu denjenigen Problemen geführt wurde, die mit dem Vertragstext selbst in Verbindung stehen, sondern daß in der Union Positionen eines undifferenzierten und emotionalen Alarmismus und auch Antiamerikanismus bezogen wurden, die den Interessen der Bundesrepublik nicht immer förderlich sind, weil der NV-Vertrag mit Interpretationsmöglichkeiten versehen wurde, die den sicherheitspolitischen Positionen der Bundesrepublik Deutschland abträglich, aber denen der Sowjetunion teilweise nützlich sind. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob der NV-Ver-trag der Sowjetunion die Möglichkeit für ein Mitspracherecht in westeuropäischen nuklearen Angelegenheiten gibt. Da es im Atomwaffensperrvertrag keinen Artikel gibt, der der Sowjetunion ein Recht auf politische Interventionen in Westeuropa zubilligt, darf der Sowjetunion nicht erst durch Dissens innerhalb der Allianz oder innerhalb der Bundesrepublik Deutschland irgend etwas hypothetisch abgesprochen werden, was sie von sich aus gar nicht verlangen kann. Aber erst die politische Kontroverse zwischen CDU/CSU einerseits und der SPD/FDP andererseits schaffte möglicherweise Raum für sowjetische Forderungen. Eine weitere Kontroverse zwischen Regierung und Opposition brachte das Problem der so-genannten europäischen Option mit sich. Der gegenwärtige Stand der westeuropäischen Integration in wirtschaftlicher, militärischer und politischer Hinsicht erschwert eine sinnvolle Konkretisierung dessen, was in der öffentlichen Diskussion als europäische Option bezeichnet wird. Auf strategisch-politischer Ebene geht es hier im Kem um die Zukunft einer europäischen Nuklearstreitmacht. Worum geht es in dieser Frage beim NV-Ver-trag? Am 24. November 1969 erklärte der sowjetische Außenminister Gromyko, daß Kernwaffen weder einzelnen Staaten noch Staaten-gruppen und auch keinem Militärbündnis übergeben werden dürfen Daran müssen sich folglich die Vertragspartner halten. Aber ein zukünftiger europäischer Bundesstaat wäre vermutlich nicht mehr an den NV-Ver-trag gebunden, weil dieser zu begründende europäische Bundesstaat ja niemals Vertragspartner des NV-Vertrages gewesen ist. Außerdem regelt der NV-Vertrag nur den Transfer von Kernwaffen zwischen Nuklear-und Nichtnuklearstaaten.
Losere Formen der nuklearen Kooperation, die keinen Transfer beinhalten, sind vermutlich durch den NV-Vertrag nicht betroffen. Diese sind aber für die überschaubare Zukunft ungleich wichtiger als der Transfer von Kernwaffen.
Weiterhin sieht der NV-Vertrag die Übernahme der souveränen Rüstungskompetenz eines Kernwaffenstaates durch einen aus dem Zusammenschluß mehrerer Staaten entstandenen Rechtsnachfolger, z. B. eines europäischen Bundesstaates, nicht vor. Er schließt sie allerdings auch nicht aus. Diese positive Interpretationsfähigkeit des NV-Vertrages, die sich auf Artikel II bezieht, wird durch die amerikanische Regierung bestätigt: „Der Vertrag befaßt sich nur mit dem, was erlaubt ist." So der amerikanische Außenminister Dean Rusk am 10. Juli 1968. Rusk konkretisierte diese positive Interpretationsfähigkeit des Vertrages bezüglich der europäischen Nuklearoption folgendermaßen:
„Der Vertrag behandelt nicht und versagt da-her nicht die Weitergabe von nuklearen Trägern und Trägersystemen oder der Verfügungsgewalt darüber an irgendeinen Empfänger, solange eine solche Weitergabe keine Bomben oder Sprengköpfe einschließt ... und er behandelt nicht das Problem der europäischen Einheit und würde die Rechtsnachfolge eines neuen föderierten europäischen Staates in den Nuklearstatus eines seiner schon vorhandenen Bestandteile nicht ausschließen."
Aus diesen Gründen erschien es einem Teil der CDU/CSU-Fraktion politisch zweckmäßig, den NV-Vertrag offensiv auszulegen. Statt den Zusammenhang zwischen NV-Vertrag und westeuropäischer Kooperation als bünd-
nisintemes Problem und als Penetrationshebel für die Sowjetunion zu interpretieren, wurde das Gegenteil getan: Teile der Union, insbesondere der außenpolitische Sprecher Walther Leisler Kiep, interpretierten den NV-Vertrag als eine mögliche Rahmenbedingung für die zukünftige Entwicklung in der militärischnuklearen Zusammenarbeit im Bündnis Viele Gegner des NV-Vertrages allerdings gehen von der Illusion aus, daß die Bundesrepublik durch ein Fernbleiben vom NV-Vertrag eine bessere europäische Option hätte offenhalten können, nachdem sich mit Ausnahme Frankreichs die möglichen Partner der Bundesrepublik durch ihre Unterschrift zum NV-Vertrag bereits gebunden hatten.
Auch die Bedeutung der Ratifizierung des NV-Vertrages und des Verifikationsabkommens für die weitere friedliche Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland kann hier nur kurz gestreift werden Dabei geht es primär um die Frage, ob das Verifikationsabkommen zwischen EURATOM und IAEO eine wettbewerbsneutrale Wirkung der Überwachung, d. h. ihre gleichmäßige Anwendung auf alle im internationalen Wettbewerb mit der Bundesrepublik stehenden Industrienationen, garantiert oder nicht. Es darf dabei nicht vergessen werden, daß die USA, bevor die Bundesrepublik Deutschland das Vertragwerk noch nicht ratifiziert hatte, zu Lieferungen von spaltbarem Material rechtlich überhaupt nicht verpflichtet war, sondern daß ihre Lieferungen lediglich auf „Goodwill-Abmachungen"
beruhten. Wenn die Bundesrepublik Deutschland dem NV-Vertrag aber nicht beigetreten wäre, so wäre es für die Nuklearstaaten, die Mitglieder des NV-Vertrages sind, rechtlich und politisch problematisch geworden, der Bundesrepublik in Zukunft spaltbares Material zur Verfügung zu stellen. Aber jeder Tag, an dem die Nuklearindustrie der Bundesregierung mangels Lieferung von spaltbarem Material hätte stillstehen müssen, hätte knapp eine Million DM gekostet.
Eine durch die parlamentarische Opposition praktisch unmögliche Vereitelung des NV-Vertrages im parlamentarischen Prozeß und eine durch die parlamentarische Opposition praktisch mögliche Ablehnung des Verifikationsabkommens im Bundesrat durch die von CDU und CSU regierten Länder hätte demnach diejenigen Gefahren für die westdeutsche Kernenergie heraufbeschworen, die gerade von den Unionsparteien in den vergangenen Jahren als Folge des Beitritts der Bundesrepublik zum NV-Vertrag befürchtet worden waren. Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit der Nuklearindustrie in der Bundesrepublik Deutschland war also nicht nur die Ratifizierung des Atomwaffen-sperrvertrages, sondern ebenso die Verabschiedung des Verifikationsabkommens im Bundesrat, die auch tatsächlich eintrat.
Die Tatsache, daß 90 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen den Atomwaffensperrvertrag votiert haben, erlaubt es auch in Zukunft der Union, bei einer Verschlechterung der sicherheitspolitischen Landschaft sich erneut auf ihre prinzipielle Skepsis zu berufen
Die Tatsache aber, daß, wenn auch nur knapp, die Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem NV-Vertrag zugestimmt hat und daß die Fraktion sogar geschlossen für das Verifikationsabkommen votiert hat, ermöglicht ihr in Zukunft im Interesse der nuklearen Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik und im Hinblick auf eine günstige Zukunftsperspektive der europäischen Option, den NV-Vertrag offensiv für die Sicherheit und die außenpolitische Stabilität der Bundesrepublik zu interpretieren.
Deshalb konnte der Abgeordnete Wischnewski in der Ratifizierungsdebatte zum NV-Vertrag nicht ohne Grund erklären: „Die Opposition hat keine einheitliche Haltung ... Bei der Abstimmung über die Ostverträge haben Sie durch Stimmenthaltung die Differenzen verdeckt. Bei der Entscheidung über den UNO-Beitritt haben Sie ihren früheren Fraktionsvorsitzenden gestürzt. Bei der neuen Entscheidung über den Atomsperrvertrag ist die Mehrheit Ihrer Fraktion der Meinung des Fraktionsvorsitzenden nicht gefolgt ... Wie groß ... die Differenzen sind, sehen Sie, wenn Sie z. B. die Meinung des außenpolitischen Sprechers des CDU-Parteipräsidiums mit der Meinung des CSU-Fraktionsvorsitzen-den im Bayerischen Landtag vergleichen."
Wenn der Fraktionsvorsitzende Karl Carstens in der Bundestagsdebatte erklärte, daß „dieser Vertrag bestimmt nicht so gut ist, daß er es verdiente, einstimmig verabschiedet zu werden" dann machte Carstens aus der Not auch eine Tugend, denn er selbst hatte sich nachdrücklich für eine klare mehrheitliche Verabschiedung des Vertragswerkes in seiner Fraktion ausgesprochen.
Die parteiinternen Differenzen zum NV-Vertrag machten deutlich, daß für den neuen Fraktionsvorsitzenden Karl Carstens ähnliches gilt wie einst für Rainer Barzel: Auch er begann für die eigene Position erst dann zu kämpfen, als die Opposition in der Opposition das Feld schon längst besetzt hatte. Nicht kraftvolle Führung, sondern Ausgleich der Interessen und Moderation der Gegensätze bestimmen den Stil des Fraktionsvorsitzenden Carstens gegenüber seinen Kollegen.
4. Der außenpolitische Dualismus zwischen Partei und Fraktion
Rainer Barzels Ausspruch von 1971: „Politik wird in der Fraktion gemacht, und nicht in der Partei" ist heute nur noch bedingt richtig, denn die Parteiführung und ihre außenpolitischen Gremien und Sprecher schalten sich stärker als früher auch in den außen-politischen Alltag ein.
Dieser nicht nur institutionell bedingte Dualismus zwischen Partei und Fraktion hat auf die Aussagen zur Ost-und Deutschlandpolitik eine differenzierende Wirkung. Dabei hat der verstärkte Aufmerksamkeitsgrad der Partei und das zurückgehende Interesse an den Aussagen der Fraktion die Struktur und den Charakter der CDU modifiziert: Seit dem Führungswechsel von Barzel zu Kohl hat sich die CDU, die unter Adenauer „nur" Regierungs-Partei war und unter Barzel den Charakter einer Fraktionspartei angenommen hatte, nun endlich den Charakter einer eigenständigen, voll durchstrukturierten Mitgliederpartei erworben, deren politische Aussagen zumindest gleichberechtigt neben denen der Fraktion stehen.
Hinter diesem Dualismus von Partei und Fraktion verbirgt sich auch in Sachen Ostpolitik ein breiter und differenzierter Fächer von Auffassungen und Gruppierungen. Deshalb ist die Haltung der parlamentarischen Opposition zur Ostpolitik auch noch heute unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich, wie die folgende Tabelle zeigt:
Bei den sieben relevanten entspannungspolitischen Verträgen, zu denen man auch den NV-Vertrag zählen kann, hat die Union fünfmal ein geschlossenes Votum abgegeben. Zweimal, beim Moskauer und Warschauer Vertrag, hat sie sich geschlossen der Stimme enthalten, zweimal, beim Verkehrsvertrag und beim Verifikationsabkommen zum NV-Ver-trag, hat sie geschlossen mit Ja gestimmt, und einmal, beim CSSR-Vertrag, hat sie geschlossen mit Nein votiert. Dabei sollte festgehalten werden, daß die Union mit ihrer geschlossenen Haltung und ihrer entschlossenen Initiative für eine gemeinsame Bundestagsresolution zu den Ostverträgen letztlich auch eine eindeutigere Interpretation der Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen versuchte.
Bei zwei Verträgen konnte die Union sich nicht zu einem geschlossenen Votum durchringen. Während beim Grundvertrag nur vier Abgeordnete mit der Mehrheit der Fraktion nicht konform gingen, machte die Minderheit bei der Abstimmung über den Atomwaffensperrvertrag 90 Abgeordnete aus.
Vereinfacht ausgedrückt geben diese Zahlen auch einen Hinweis auf das Kräfteverhältnis innerhalb der parlamentarischen Opposition. Auch wenn dieses Zahlenverhältnis zugegebenermaßen problematisch ist, kann doch vermutet werden, daß die sogenannten konservativen Gruppierungen in der CDU und CSU auch noch heute einen gewichtigeren Faktor für die zukünftige Haltung der parlamentarischen Opposition in Sachen Ostund Deutschlandpolitik darstellen als der sogenannte liberale Flügel, der sich beim Votum über den CSSR-Vertrag der Mehrheit der Fraktion anschloß.
Damit hat sich im Laufe der letzten drei Jahre die außenpolitische Strukturierung innerhalb der Union in Sachen Ostpolitik in folgender Hinsicht geändert:
1. Die Gruppe, die 1972 eine Ratifizierung der Ostverträge anstrebte, plädiert heute für eine aktive Pacta-sunt-servanda-Politik Ihr führender Sprecher, der Außenseiter in Sa-chen Ostpolitik in der Bundestagsfraktion, Walther Leisler Kiep, nimmt seit seiner Wahl zum außenpolitischen Sprecher des CDU-Präsidiums im September 1973 eine außenpolitische Schlüsselposition ein. Kiep kann als prinzipieller Befürworter der Ostvertragspolitik der Bundesregierung gelten, auch wenn er in Methodenfragen, in der Sicherheitspolitik, der Wirtschaftskooperation mit dem Osten und vor allem in der Frage Berlin harte Kritik an der Bundesregierung übt. Aber gerade weil er im Grundsatz die Notwendigkeit einer Ostvertragspolitik bejaht, ist er vor allem außerhalb der CDU vermutlich der glaubwürdigste Repräsentant für eine realistische Entspannungsdoktrin der CDU geworden. Als einer der wenigen in der Union hat er nach der Ratifizierung der Ostverträge eine klare Linie behalten. Er hat auch erklärt, daß er ein Ja zum Moskauer Vertrag und zum Warschauer Vertrag der Enthaltung vorgezogen hätte. Kiep hat allen folgenden relevanten Verträgen, dem Verkehrsvertrag, dem Grundvertrag, dem Atomwaffensperrvertrag und dem Verifikationsabkommen, zugestimmt. Beim SSR-Vertrag hat er allerdings mit Nein votiert. Hierbei entsteht die Frage, ob Kiep allein aus außenpolitischen Gründen den Vertrag abgelehnt hat oder ob er aus innerparteilichen Gründen nicht in den Status des politischen Einzelgängers zurückfallen wollte. Außenpolitische Isolation in der Union wäre eine mögliche Folge gewesen, wenn Kiep allein den Vertrag befürwortet hätte.
Es scheint aber, als ob Kieps Nein zum SSR-Vertrag primär davon geprägt wurde, daß er, wie auch manche seiner Kollegen, weniger die Tatsache, daß dieser und andere Verträge mit den Staaten Osteuropas abgeschlossen wurden, kritisiert, sondern vielmehr, wie die Regierung diese Verträge nach ihrer Ratifizierung im ostpolitischen Alltag praktiziert hat.
In Sachen Berlin und in der Frage, wie die Interessen der Bundesrepublik auch in der multilateralen Phase der Ostpolitik, wie z. B. auf der KSZE und bei MBFR, am besten und nachdrücklichsten eingebracht werden könnten, nimmt Kiep eine unmißverständliche Haltung ein. Schärfer und unnachgiebiger als die meisten seiner Kollegen foiderte er die Bundesregierung und die Westmächte auf, einen entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Sanktionsmechanismus zu entwickeln, falls die DDR und die Sowjetunion die Lage in und um Berlin verschärfen sollten und weiter gegen die Vertragsgrundlagen verstoßen würden. Eindringlicher als andere in seiner Fraktion forderte er die westlichen Teilnehmer der KSZE auf, die Vertragsbrüche der DDR auf die Tagesordnung der KSZE zu setzen Vor diesem Hintergrund nehmen sich versteckte und offene Angriffe auf Kiep aus den eigenen Reihen ziemlich unverständlich aus. Trotzdem, Kiep wird auch in absehbarer Zukunft wohl nur eine Minderheit der Union in Sachen Ostpolitik repräsentieren.
Zu den Repräsentanten dieser ersten Gruppe wird man in außenpolitischen Fragen auch den neuen Generalsekretär Kurt Biedenkopf zählen können, obwohl er sich in außenpolitischen Fragen weitgehend zurückhält. Seine Stellungnahmen zu NV-Vertrag und zu allgemeinen Fragen der Sicherheits-und Europapolitik können aber dahingehend interpretiert werden, ihn in die Gruppe der außenpolitischen Realisten in der CDU einzureihen Zu dieser Gruppe kann man auch den früheren Parteivorsitzenden Barzel rechnen, der 1972, wenn auch ohne Erfolg, Partei und Fraktion zu einem Ja zu den Ostverträgen zu bewegen suchte Es scheint heute vielerorts vergessen, daß Barzel außenpolitische Signale setzte und die entsprechenden Parteigremien, wie Präsidium und Vorstand, nutzte, um die Entscheidungen in der Fraktion in seinem Sinne zu präjudizieren. Der neue Parteivorsitzende Kohl tut dies kaum. Im Unterschied zu Barzel besitzt er ein weniger ausgeprägtes außenpolitisches Profil.
Kohls Fähigkeit, auch im außenpolitischen Bereich einen hochqualifizierten Mitarbeiterstab aufzubauen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in erster Linie als erfolgreicher Reformer im Bereich der Innen-und Gesellschaftspolitik beurteilt wird, die meisten seiner außenpolitischen Stellungnahmen aber bisher blaß geblieben sind.
Positiv zu bewerten ist Kohls wiederholtes Bemühen um ein neues staatspolitisches Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland und sein Versuch, gerade die jüngere Generation aus der politischen Apathie zu befreien und für ein staatspolitisches Engagement für die Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen. 2. Die außenpolitische unschlüssige Gruppe. Hierzu gehören sowohl konservative als auch liberale Politiker der Union. Ihre Zahl schwankt von Entscheidung zu Entscheidung. Dabei zeichnen sich die führenden Vertreter dieser Gruppe zwar auch durch eine differenzierte und abgewogene Haltung in der Ostpolitik aus, aber viele sind am ehesten dadurch zu charakterisieren, daß sie eine klare Stellungnahme scheuen, daß sie sozusagen nur den Mund spitzen, aber nicht pfeifen. Vom notwendigen Mut zur Unpopularität, zur außenpolitischen Kontroverse spürt man in dieser Gruppe wenig.
3. Gerhard Schröders Bedeutung und seine außenpolitischen'Stellungnahmen sind im Laufe der letzten drei Jahre und vor allem nach seinem gescheiterten Versuch, seinen ehemaligen Staatssekretär Carstens beim Ringen um die Nachfolge von Rainer Barzel zu schlagen, gesunken. Schröder führt nun den Vorsitz der außenpolitischen Kommission der CDU, die unter Kiep ein wichtiges Forum der parteiinternen Diskussion darstellte.
4. Die konservative Gruppe in der CDU und CSU hat ihren Einfluß behalten bzw. ausbauen können, wie die Diskussion um den NV-Vertrag und um den CSSR-Vertrag deutlich zeigte. Heute ringen deshalb nicht mehr fünf Gruppierungen, sondern im wesentlichen nur noch zwei um die außenpolitische Konzeption der CDU.
Die eine Gruppe hat ihren Kristallisationspunkt in der Spitze der Partei, die andere ist in der Fraktion angesiedelt. Die Haltung der Gruppe um Kiep, die im wesentlichen von Generalsekretär Biedenkopf und vom Parteivorsitzenden Kohl geteilt wird tritt für einen elastischen außenpolitischen Kurs ein, der die Koordination, Abstimmung und Ein-passung der Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland in die Entspannungsbemühungen der Allianz in den Vordergrund stellt.
Wenn Kiep z. B. die KSZE nicht für ein sowjetisches, sondern für ein europäisches Forum der Interessen hält, „so ist dies eine außenpolitische Kröte, die die Mehrheit seiner Fraktion nur mühsam schlucken wird ... Kiep dagegen wünscht sich eine Union, die weniger verbale Bekenntnisse zur Ostpolitik ablegt, als praktisch an der Entspannungspolitik — wenn auch kritisch — mitwirkt." Insgesamt kann die außenpolitische Linie der Parteispitze demnach als moderierte Alternative zur Ostpolitik der Regierung Schmidt/Genscher beschrieben werden, die unter dem Motto stehen könnte: „Wir wollen es nicht prinzipiell anders machen, aber wir können es besser."
Die Konservativen in der CDU und die Mehrheit der CSU sehen die Entspannungspolitik primär unter Risikoaspekten. Neo-Gaullismus, latenter Antiamerikanismus und die Zwangsvorstellung einer sowjetischen Offensive gegen Mittel-und Westeuropa gehen hier Hand in Hand mit einem tiefem Mißtrauen gegenüber allem, was sowohl im nationalen als auch im internationalen Bereich einen sozialdemokratischen oder sozialistischen Bezug haben könnte. Für beide Positionen kann man Argumente heranziehen. Wenn die Union die Entspannungspolitik des Westens mittragen und nur punktuelle Schwächen beheben will, wie die erste Gruppierung in der CDU es vermutlich versucht, dann muß die Union in Zukunft eine differenzierte Strategie der abgestuften Kritik entwickeln. Wenn die Union aber einen Kurs der prinzipiellen Konfrontation zu steuern beabsichtigt, dann muß sie auch grundsätzliche und sachliche Alternativen entwickeln können. Dies ist bisher nicht geschehen.
Für jede dieser beiden Positionen bedarf es allerdings einer entschlossenen Führung. Die Konservativen haben zumindest sie selbst überzeugende Wortführer. Franz Josef Strauß und Alfred Dregger sehen sich durch die Erfolge der Union in Bayern und in Hessen in ihrem Konfrontationskurs gegenüber der Bundesregierung und auch in ihrer strikten Ablehnung der Ostvertragspolitik bestätigt.
Die Opposition in der Opposition formiert sich also weniger in Form der vier Ja-Stimmen zum Grundvertrag, sondern viel massiver in ihrer permanenten und weitaus einflußreicheren Form von „rechts" und präjudiziert bzw. provoziert die ostpolitischen Konzepte der gesamten Union, wie die Debatte um den NV-Vertrag zeigte.
Deshalb ist folgender Satz für die derzeitige Situation in der Union weitgehend zutreffend: „Wenn der Parteivorsitzende Kohl, der allem Anschein nach der Kiepschen Alternative zuneigt, seine Ansichten zu denen der Partei machen will, muß er die Führung nicht nur auf innenpolitischem Gebiet, sondern auch in der Außenpolitik ergreifen. Dies wird nicht ohne Auseinandersetzungen, vor allem mit der CSU, abgehen." Die Frage des Kanzlerkandidaten wird aber in entscheidendem Maße von der CSU mitbestimmt. Deshalb wird Helmut Kohl diesen außenpolitischen Konflikt nicht voll austragen, denn er glaubt vermutlich, er könne nur mit, aber niemals gegen Fanz Josef Strauß und die CSU Kanzlerkandidat werden; es sei denn, Kohl würde an die Adenauersche Tradition anknüpfen, daß es zur Durchsetzung der politischen Ziele der Entschlossenheit und der aktiven Führungskraft auch und gerade gegenüber innerparteilichen Widerständen bedarf.
Hierbei wird deutlich, daß die Einheit bzw. die Geschlossenheit der außenpolitischen Argumentation der CDU/CSU auch im Bereich der Ost-und Deutschlandpolitik eine Fiktion darstellt, weil die Einschätzung der außenpolitischen Realität unterschiedlich ist und weil auch die unterschiedlichen innerparteilichen Rollenerwartungen die außenpolitischen Aussagen der Führungseliten mitbestimmen. Außenpolitische Harmonie konnte deshalb in der Union oft nur durch Politikverzicht erreicht werden. Die Unionsparteien wären besser beraten, auch über eine große Spannweite der Argumente hinweg, die oft innerparteiliche Konflikte bewirkt haben, diese Tatsache weder zu beklagen noch zu begrüßen, sondern sie als gegeben anzuerkennen. In der Breite ihrer nicht immer vollständig harmonisierbaren Interessen spiegelt die CDU/CSU als Volkspartei die politische Realität und nicht deren Wunschgebilde wider. Es wäre deshalb falsch, die innerparteiliche Geschlossenheit in der außenpolitischen Argumentation als oberste Leitlinie stets zum normativen Prinzip erheben zu wollen, wenn die Realität dies nicht zuläßt.
5. Perspektiven für eine Ost-und Deutschlandpolitik der CDU/CSU in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
Die außenpolitische Perspektive der Union wird entscheidend von drei Faktoren abhängig sein: 1. von ihrer außenpolitischen Logik und ihrem Realitätsverständnis, 2. von ihrer innenpolitischen Durchschlagskraft, 3. von dem Grad ihrer innerparteilichen Verankerung. Die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik schätzt die der Gestaltungskraft CDU/CSU in der Ostpolitik geringer ein als in früheren Jahren. Gleichzeitig aber ist die Euphorie der Entspannungspolitik der letzten Jahre verflogen, und die Forderung nach Nüchternheit und langem Atem in der Ostpolitik ist nachdrücklicher geworden. Die Angriffe und die Kritik der CDU/CSU auf die Ost-und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt bewirkten deshalb in der Bevölkerung eine späte, aber wachsende Überzeugungskraft. Der Wechsel von Brandt zu Schmidt hat diesen Prozeß vorübergehend gestoppt, denn die Regierung Schmidt/Genscher vertritt nach Osten eine realistische Politik. Sie macht das, was die CDU/CSU vielleicht gern tun würde oder auch tun müßte: eine aktive Pacta-sunt-servanda-Politik. 1
Seit dem Wechsel zu Schmidt ist für die CDU/CSU die Gefahr gewachsen, daß die neue Bundesregierung klassische Domänen früherer Außenpolitik der Union besetzen wird, nämlich: eine vertrauensvolle Politik des Atlantizismus unter dem Primat der deutsch-amerikanischen Freundschaft, eine überzeugende Sicherheitspolitik unter der Voraussetzung eines funktionsfähigen NATO-Bündnisses und des Engagements der USA in und für Europa. Hinzu kommt, daß die Belebung der deutsch-französischen Freundschaft durch die Regierung Schmidt/Genscher die Rückkehr zu den Wurzeln der Westpolitik von Konrad Adenauer signalisieren kann.
In der Ostpolitik ist an die Stelle von Idealismus Realismus getreten. Trotzdem kritisiert die Mehrheit der CDU/CSU auch nach dem Regierungswechsel mit fast identischen Argumenten die Ostpolitik der SPD/FDP-Regierung wie zur Zeit von Willy Brandt. Dabei erscheint es anachronistisch, wenn die Union heute die SPD/FDP-Regierung mit Schlagworten kritisiert, die sie sich selbst vor zwanzig Jahren von der SPD entgegenhalten lassen mußte: Verrat der deutschen Interessen, hastige Verhandlungsführung und Doppeldeutigkeit bzw. Widersprüchlichkeit der Vertrags-auslegung stellen die Kernelemente der Argu-B mentation der Opposition heute wie vor zwanzig Jahren dar.
Wenn Teile der Union heute der SPD/FDP-Regierung in der Ostpolitik vorwerfen, sie habe durch die Ostverträge das entspannungspolitische Paradoxon, nämlich Anerkennung und Überwindung des Status quo in Europa, zu kodifizieren versucht, so sollten diese Kritiker nicht vergessen, daß Adenauer im Westen ähnliches versuchte, nämlich den Widerspruch zwischen Wiedervereinigung und Westintegration aufzulösen.
Wer Adenauer zu Recht zugesteht, daß nicht seine Westpolitik, sondern die Lage Europas eine westpolitische Integration verhindert hat, der muß auch den SPD/FDP-Regierungen zugute halten, daß nicht ihre Ost-und Deutschlandpolitik, sondern die Lage in der DDR und in Osteuropa selbst bisher Wiedervereinigung, Selbstbestimmung und Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen verhindert hat.
Diese Feststellung treffen heißt aber keineswegs, daß die CDU/CSU die Ost-und Deutschlandpolitik kritiklos adaptieren muß Im Gegenteil: Entspannungspolitik wurde schon vor Willy Brandt von der CDU gemacht, wenn auch erst der Wandel im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis es der Bundesrepublik ab Ende der sechziger Jahre möglich machte, einen deutschen und europäischen Beitrag zum Wandel im Ost-West-Verhältnis zu leisten
Eine Alternative der CDU ist aber seit dem Regierungswechsel zu Bundeskanzler Schmidt doppelt schwierig. Einerseits kann die neue Bundesregierung den Idealismus Brandts in der Auseinandersetzung weiter für sich in Anspruch nehmen, andererseits aber wird die Regierung Schmidt in der Ost-und Deutschlandpolitik mit Betonung auf Realismus und Pragmatismus die Skepsis und das prinzipielle Nein der Mehrheit der CDU/CSU zu unterlaufen suchen.
Neuorientierung in der Ostpolitik heißt deshalb für die CDU/CSU zuallererst Zurückweisung des SPD-Alleinvertretungsanspruchs auf
Entspannungspolitik nach Osten. Die Unionsparteien müssen demnach ihre Alternative der Negation reduzieren und eine konstruktive Haltung entwickeln, die an die eigenen Entspannungsbemühungen der Regierungen Adenauer, Erhard und Kiesinger anknüpft. Dabei sollte das staatspolitische Interesse der Opposition an einer außenpolitisch handlungsfähigen Bundesrepublik im Vordergrund stehen. Andererseits muß die CDU die Außenpolitik der Bundesregierung dort kritisieren, wo diese den Interessen der Bundesrepublik nicht voll entspricht.
Eine CDU-Regierung wird Ostpolitik aber nicht nur auf der Grundlage der Verträge, sondern unter besonderer Betonung der Pflichten, die die Staaten Osteuropas damit eingegangen sind, fortsetzen müssen. Die CDU darf deshalb nicht der Versuchung unterliegen, diese Verträge als Stillhalteabkommen zu interpretieren. Der Schlüssel zur Ost-politik liegt auch in Zukunft in Moskau. Der CDU/CSU muß an einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen zur Sowjetunion mehr gelegen sein als bisher, denn die UdSSR ist heute der komplizierte Entspannungspartner der USA, der Bundesrepublik und des westlichen Bündnisses. Eine Verbesserung dieser Beziehungen dient deshalb nicht nur dem eigenen Interesse der Bundesrepublik, sondern stärkt auch die Position der USA gegenüber der Sowjetunion. Das neue ambivalente Verhältnis zwischen den Supermächten macht mehr Gemeinsamkeit des Westens nach Osten erforderlich Von dieser Gemeinsamkeit darf sich die Union nicht ausschließen, selbst wenn die Ostpolitik auf allen Ebenen Risiken enthält. Den Wandel der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen von der Konfrontation zur kooperativen Rivalität aber als Bedrohung der Sicherheit der Bundesrepublik zu interpretieren, hieße nicht nur die außenpolitischen Realitäten auf den Kopf stellen, sondern auch neue Möglichkeiten für verbesserte Beziehungen zwischen Ost und West nicht sehen wollen.
Die Entspannungspolitik bleibt aber so lange unbefriedigend, solange die gegenwärtige Lage in Deutschland fortbesteht. Deshalb müssen Regierung und Opposition gemeinsam die deutsche Frage so lange auf der Tagesordnung halten, bis sie angemessen und im Interesse der Menschen gelöst worden ist. Da aber in der gegenwärtigen europäischen und internationalen Konstellation kein Raum für einen deutschen Nationalstaat vorhanden ist, muß Entspannungspolitik sich vorerst darauf beschränken, die Folgen der langjährigen Spaltung Deutschlands zu mildern. Es genügt dabei nicht, die deutsche Frage nur rechtlich offenzuhalten, sondern darüber hinaus muß auf der Grundlage der abgeschlossenen Verträge und in den Folgeverträgen eine Deutschlandpolitik Wirklichkeit werden, die, in die westliche Entspannungskonzeption eingepaßt, die Freizügigkeit als Teil der Geschäftsgrundlage der Ost-West-Beziehungen anerkennt. Weder die Bundesrepublik als Ganzes noch ihre demokratischen Parteien können sich in dem zeitlosen Antagonismus zwischen Freiheit und Tyrannei neutral verhalten. Aber andere zwingende außenpolitische Notwendigkeiten legen der Bundesrepublik und auch den anderen westlichen Demokratien Grenzen auf, innere Veränderungen in sozialistischen Ländern zu bewirken 65). Diktaturen könne ihre Zügel nur dann vorsichtig lockern, wenn sie sicher sind, die Gesamtentwicklung unter Kontrolle zu behalten. Jeder Versuch aber, eine Liberalisierungswelle in Gang zu setzen, würde statt Entspannung Spannungen und innenpolitische Härte in den sozialistischen Staaten bewirken. Deshalb können die Ziele der Entspannungspolitik nur maßvoll sein und ganz bewußt begrenzt gesetzt werden, damit es langfristig freie, aber mittelfristig freiere Lebensbedingungen in Europa geben kann. In diesem Prozeß darf aber nicht die Entschlossenheit des Westens untergraben werden, seine Verteidigung aufrechtzuerhalten. Es gibt keine bessere Methode, die Detente zu torpedieren, als die NATO in Frage zu stellen und damit die Grundlagen der Entspannungspolitik zu unterminieren. Gerade die Sowjetunion demonstriert mit dem rapiden Ausbau ihrer Militärpotentiale, daß sie keinerlei Widerspruch zwischen Entspan65) nung und der Ausweitung der militärischen Kapazitäten erblickt. Der Wandel von der direkten militärischen Bedrohung in eine subtilere politische Bedrohung zeigt, daß die gemeinsame politische und militärische Wachsamkeit des Westens nach wie vor der Preis der Freiheit ist. Sicherheit ohne Entspannung ist möglich, aber Entspannung ohne Sicherheit ist gefährlich.
Die SPD/FDP-Regierungen haben die Entspannungskomponente in den Vordergrund ihrer Friedenspolitik gestellt. Die vorangegangenen CDU-Regierungen haben der Sicherheitskomponente eine ähnliche Priorität eingeräumt. Die zukünftige Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland muß aber gleichermaßen auf den Säulen Sicherheit und Entspannung ruhen. Nur auf dieser ausgewogenen Grundlage wird die Bundesrepublik, an der Nahtstelle der Blöcke und mit der offenen Flanke Berlin, die Fähigkeit entwickeln können, im Entspannungsprozeß Spannungen und Rückschläge durchzustehen. Nur wenn die Bundesrepublik und die sie tragenden demokratischen Parteien dabei auch den innenpolitischen Stabilitätserfordernissen Rechnung tragen und eine realistische Haltung der breiten Öffentlichkeit mit vorbereiten helfen, wird die Friedenspolitik der Bundesrepublik auf der innenpolitischen Basis eines realistischen Verständnisses von Entspannung frei bleiben von westeuropäischer Integrationsillusion, osteuropäischer Entspannungseuphorie und gesamtdeutscher Resignation.
Die Mannheimer Erklärung des Bundesvorstandes der CDU vom Juni 1975, im wesentlichen das Produkt von Generalsekretär Biedenkopf, zeigt Ansätze für eine entsprechende Erneuerung des außenpolitischen Denkens und Handelns der CDU.
Ob diese Erklärung zu einem wirkungsvollen und repräsentativen Orientierungsrahmen für die außenpolitische Arbeit der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion werden kann oder ob Anspruch und Wirklichkeit der konzeptionellen Arbeit zwischen Partei und Fraktion weiterhin auseinanderklaffen werden, das ist die Frage, deren Beantwortung für Sieg oder Niederlage der Union 1976 mitentscheidend sein wird.