1. Neue Gesetze bewirken noch keine veränderte Rechtswirklichkeit. Die Strafrechtsreform ist erst dann verwirklicht, wenn die Richter und Staatsanwälte, die mit dem neuen Gesetz umzugehen haben, die Grundgedanken der Reform in sich aufgenommen und verarbeitet haben. 2. Dem neuen Strafrecht liegt ein verändertes Richterbild zugrunde: Die Abwendung von der Vergeltungsmetaphysik und die Hinwendung zu sozialen und humanen kriminalpolitischen Auffassungen, die das Strafrecht als Ultima ratio des Rechtsgüterschutzes verstehen und in der Sozialisation des Täters den besten Schutz vor Delinquenz sehen, verlangt einen mitmenschlichen und gesellschaftsverbundenen Richter, der nicht nur in der Rechtsanwendung geschult ist, sondern auch die soziale Wirklichkeit mit wissenschaftlichen Mitteln zu erkennen vermag, seine therapeutische Aufgabe bejaht und den Willen hat, soziale Gerechtigkeit in einer sich wandelnden Welt zu verwirklichen. 3. Die strafrechtliche Praxis bewegt sich seit langem in diese Richtung. Den gesteigerten Anforderungen, die die Strafrechtsreform an das soziale Wissen des Juristen stellt, genügt jedoch die derzeitige Ausbildung des Strafrichters nicht. Erforderlich ist eine Ausbildung, die Theorie und Praxis enger als bisher verbindet und durch Einbeziehung der für das Recht relevanten Sozialwissenschaften das soziale Wissen des Strafjuristen vermehrt („Verwissenschaftlichung der Strafrechtspflege"). 4. Der ungenügende Praxisbezug des Rechts-studiums führt zu einer isoliert theoretischen Ausbildung, die die Gefahr birgt, daß aus der Abwendung von der sozialen Realität eine
Thesen
später das Berufsbewußtsein prägende Dauer-haltung werden kann. 5. Mindestens ebenso wichtig wie die Verstärkung der Praxisbezüge im Studium ist die Einbeziehung der Sozialwissenschaften in den Rechtsunterricht und die praktische Juristen-ausbildung. Dogmatik ist notwendig, darf aber nicht nicir die allein beherrschende Rolle spielen. 6. Den Sozialwissenschaften kommt in bezug auf Strafrecht und Strafrechtspflege sowohl eine kritische als auch eine konstruktive Funktion zu. Gegenwärtig konzentriert sich die kriminologische Forschung stark auf die kritische Funktion (u. a. labeling approach). Der Erfolg einer Strafrechtsreform, die Kriminalanalysen verlangt und eine rationale Sanktionsauswahl, Strafbemessung und Täterbehandlung anstrebt, hängt jedoch davon ab, daß vermehrte Anstrengungen auch den damit zusammenhängenden Problemen zugewendet werden. 7. Die Vorbereitung des Richters und Staatsanwalts auf seine Aufgaben in der modernen Strafrechtspflege erfordert die Verarbeitung soziologischer und psychologischer Erkenntnisse über das Strafverfahren und den Erwerb theoretischer Kenntnisse und über praktische Erfahrungen in der Sozialarbeit. 8. Die Strafrechtsreform gibt der Richterschaft die Chance, der Gesellschaft ihre Modernität zu beweisen. Die Verbesserung der Ausbildung muß durch Veränderungen in der beruflichen Sozialisation der Strafrichter und Staatsanwälte — insbesondere durch Abbau bürokratischer Strukturen und Verhaltensweisen — ergänzt werden, die einem äußerlich wie innerlich unabhängigen Richtertum volle Entfaltung ermöglichen.
I.
Nach dem Inkrafttreten der wichtigsten Teile der Strafrechtsreform am Januar 1975 1) stehen die Richter und Staatsanwälte in der Bundesrepublik Deutschland vor der Frage, wie das neue Strafrecht anzuwenden ist. Das ist kein Problem, das sich von selbst löst. Neue Gesetze sind noch keine veränderte Rechtswirklichkeit. Zunächst einmal stehen sie, bei allem Respekt vor dem Gesetzgeber, bloß auf dem Papier. Wenn sie Wirklichkeit werden sollen, bedarf es mehr als des Gesetzesbefehls, der sie formell in Kraft gesetzt hat, nämlich der Annahme durch die gesellschaftlichen Kräfte und insbesondere durch die Menschen und Einrichtungen, die mit ihnen arbeiten sollen. Der Gesetzgeber kann reformieren, soviel er will. Wenn die Richter und Staatsanwälte, die mit dem Gesetz umzugehen haben, die neuen Bestimmungen im überkommenen Sinn anwenden, bleibt alles beim alten.
Damit wird nicht etwa die Loyalität der in der Strafrechtspflege tätigen Richter und Staatsanwälte in Zweifel gezogen. Solche Zweifel wären ungerechtfertigt. Die Richter und Staatsanwälte des Bundes wie der Länder haben den besten Willen, das neue Strafrecht richtig anzuwenden. Das gilt nicht nur für die große Mehrheit, die das neue Strafrecht bejaht hat, sondern auch für diejenigen, die der Reform skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstanden. Es ist indessen eine soziologische Erkenntnis, daß der alte Rechtszustand, besser: die alte Rechtswirklichkeit, regelmäßig eine geraume Zeit fortwirkt, auch wenn das neue Recht längst in Kraft ist.
Ein Beispiel dafür bietet die Einführung des Jugendgerichtsgesetzes in der Weimarer Republik. Dieses Gesetz, das 1924 in Kraft trat, setzte erstmals in der Strafrechtspflege den Erziehungs-vor den Sühnegedanken. In der Praxis setzte jedoch nicht sofort das Umdenken ein, sondern es dauerte lange Zeit, bis die Erziehungsmittel die Strafen verdrängten, die Richter sich dort, wo sie zwischen Strafe und Erziehungsmittel zu wählen hatten, überwiegend für das letztere entschieden. man diese und Erfahrungen Wenn ähnliche verwertet, läßt sich sagen, daß sich der Pro-zeß des Umdenkens, den grundlegende Reformen verlangen, nicht in einem einheitlichen Vorgang, sondern stufenweise vollzieht. Zunächst tritt durch innovierende Gesetze eine Verunsicherung ein. Nicht nur menschlich verständlich, sondern soziologisch begründet ist die Neigung, Neues im Lichte des Alten zu interpretieren. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß und in welcher Weise ein Gesetz neue Wege beschritten hat. Wenn man die Aneignung grundlegender Reformen dem Selbstlauf überläßt, muß man daher für lange Zeit mit dem Auseinanderklaffen von reformiertem Recht und beharrender Rechts-wirklichkeit rechnen. Bei der Strafrechtsreform steht allerdings zuviel auf dem Spiel, als daß man sich in solcher Gelassenheit gefallen könnte. Um der Bürger willen, die Anspruch darauf haben, daß das neue Recht ihnen gegenüber sofort und unverkürzt angewendet wird, müssen alle Anstrengungen unternommen werden, die Gravitationskraft des Gewohnten zu überwinden und die Augen für das Neue zu öffnen, das mit der Strafrechtsreform in unser politisches, soziales und berufliches Leben getreten ist.
Erleichtert wird dieser Aneignungsprozeß dadurch, daß die Reform des Strafrechts nicht nur fällig, sondern überfällig war.
Das neue StGB ist kein Gesetz, das der Strafrechtspflege aufgezwungen worden ist, sondern eine Errungenschaft, die die Rechtspflege sich nur wünschen konnte und auch gewünscht hat. Von der Justiz sind Fesseln genommen worden, die sie einengten und oft genug, vor allem auch wegen der Verstaubtheit des Instrumentariums, mit dem sie arbeiten mußte, in Konflikt mit der sozialen Umwelt brachten. Die Richter und Staatsanwälte haben nun Instrumente, mit denen sie besser als bisher den Anforderungen der Zeit gerecht werden können, und sie müssen und werden sich darin üben, dieses Instrumentarium so anzuwenden und zu entwickeln, daß sich die Ideen der modernen Strafrechtspflege darin verwirklichen.
Dabei kann es nicht damit sein Bewenden haben, daß sich die Justiz mit den neuen Vor -schriften vertraut macht. Eine tiefere Besinnung tut not, die sich mit der Fragwürdigkeit allen Strafens beschäftigt und die sozialen Dimensionen der Strafrechtspflege auslotet. Letztlich erfordert das reformierte Strafrecht einen anderen Richtertyp als das Recht, das nun der Vergangenheit angehört. Aus diesem Grunde möchte ich hier den Versuch unter-B nehmen, das zu skizzieren, was man das Richterbild der modernen Strafrechtsreform nennen kann. Aus diesem Richterbild, einem Ideal-typ im Sinne Max Webers, sollen dann die Folgerungen für Veränderungen in der Ausbildung gezogen werden, die mir notwendig erscheinen, damit die Strafrechtsreform sich in der Rechtswirklichkeit voll erfüllen kann.
II.
Die Merkmale des Richterbildes der Strafrechtsreform werden am besten deutlich durch eine Gegenüberstellung zum Richtertyp der überkommenen Strafrechtspflege. Dieses wiederum ist nicht zu zeichnen ohne Rekurs auf das, was Strafrechtspflege Jahrhunderte lang gewesen ist und was — das muß ohne Schönfärberei ausgesprochen werden — in Teilen unserer Gesellschaft auch heute noch — meist unterhalb der Bewußtseinsschwelle — fortlebt.
Der Strafrichter war einmal der Hüter und Vollstrecker metaphysischer Strafgerechtigkeit, Strafe wiederum galt als sittliche Notwendigkeit. Ein metaphysisches Zorngericht, Rächerin für den, der Böses verübt, sollte ein Übel durch ein anderes vergelten und dadurch die gestörte Ordnung wieder ins Gleichgewicht bringen. Strafe und Strafrechtspflege erweckten nicht etwa deshalb Anstoß, weil sie stigmatisierten; sie durften, ja sollten das sogar. Zwischen den Gerechten und Gerichteten wurde eine Scheidelinie gedacht, die es den Guten erlaubte, das zu ignorieren, was sie mittels des Strafrechts anrichteten. Und daß die soziale Dimension des Strafens ausgeklammert blieb, war ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. Die Standbilder, die die Göttin der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen zeigten, versinnbildlichten diese Situation.
Heute nun vollzieht sich der Abschied von der Metaphysik des Strafens — endgültig, wie mir scheint. Nachdem die Kritik der Wissenschaft vorgearbeitet hatte, wenden wir uns mit der Strafrechtsreform Auffassungen zu, die dem Strafrecht nur noch innerweltliche Zwecke setzen. Strafen, so sagt die moderne Straftheorie, antworten auf das, was nach dem Willen und der Überzeugung einer ethosbestimmenden Mehrheit in unserer Gesellschaft unter gar keinen Umständen sein soll, m. a. W. als für die Gesellschaft nicht tragbar betrachtet wird. Strafe muß sein, so lautet die lange unbezweifelt gebliebene Gewohnheit des Denkens. Muß Strafe wirklich sein?, so fragen wir heute, diese Gewohnheit umkehrend. Verbrechen und Strafe sind uns nichts Festes mehr, sondern offene Begriffe. Wir prüfen, ob nicht Rechtsgüterverletzungen, die bisher unter Strafdrohung gestellt waren, auf andere Weise geahndet oder wiedergutgemacht werden können, ja ob überhaupt Sanktionen notwendig sind (Stichwort: Entkriminalisierung). Nicht alles, was in unserer Kultur sich aggressiv auslebt, so sagt die moderne Kriminalpolitik, braucht unter Strafe gestellt zu werden, sondern nur das, was der Gesellschaft so schadet, daß sie es nicht hinnehmen kann.
Der Zweck des Rechtsgüterschutzes legitimiert also Strafe und Strafrecht. Daneben tritt der Gedanke der Solidarität. Wer gegen die Strafgesetze verstoßen hat, soll nicht mehr aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, sondern in ihr bleiben, ein Glied der Gesellschaft, das nicht nur der Strafe, sondern auch der Hilfe bedarf. Versöhnung ist das Ziel, Versöhnung des Delinquenten mit sich selbst, aber auch mit der Gesellschaft, die ihrerseits dem Täter die Chance der Resozialisierung anbietet.
Zugleich damit wendet sich die Strafrechts-pflege von der abstrakten Tat dem konkreten Täter und den konkreten Umständen der Tat zu. Verbrechen wird, wie einst von Liszt und Radbruch forderten, in doppeltem Sinn als soziale Erscheinung aufgefaßt, nämlich als antisoziale Handlung und als sozial bedingtes Verhalten. Der Gedanke der Prävention wie der der Individualisierung zwingen dazu, sich die Frage vorzulegen, woraus die Tat zu erklären und wie der Rückfall des Täters in kriminelles Verhalten zu vermeiden ist. Die Straffrage tritt infolgedessen gleichrangig neben die Schuldfrage. Der Strafrichter hat die Umstände der Tat nicht nur zu erforschen, um die Modalitäten der Tatbegehung und das Maß der Verantwortlichkeit feststellen zu können. Er muß das auch — und sogar in erster Linie — tun, um die richtige Sanktion bestimmen zu können. Der weit gespannte Rahmen, der dabei zur Verfügung steht, erfordert, was etwa die Auswahl von Auflagen und Weisungen angeht, soziale Phantasie.
In Anlehnung an Gustav Radbruch ist oft gesagt worden, daß diese Entwicklung den Schritt vom Strafrichter zum Sozialarzt bedeutet. Ich halte das, auf das geltende Strafrecht bezogen, für übertrieben. Aber es ist nicht zu verkennen, daß Ansätze geschaffen sind, die in diese Richtung weisen, und daß die Entwicklung sie aller Voraussicht nach weiter verstärken wird. Man kann deshalb von der therapeutischen Tendenz der Strafrechtsreform sprechen. Fürsorge und Sicherung, als spezifische Form von Sozialarbeit, ergänzen, ja überformen die Strafgewalt, die Strafjustiz gewinnt ein menschliches Antlitz.
Von weniger spektakulärem Zuschnitt, aber ebenso bedeutsam ist das, was man die Einbeziehung der sozialen Dimension in das Strafverfahren nennen kann. Die Justiz soll den Täter nicht mehr isoliert, sondern als . vergesellschafteten'Menschen betrachten, der, wie jeder Mensch, nicht jenseits von Zeit und Umwelt lebt, sondern in zahlreichen sozialen Beziehungen steht. Es genügt nicht, daß der Strafrichter erkennt, daß jeder mit seinem Schatten lebt daß der Schatten, das Böse, um eine philosophische Kategorie zu verwenden, eine unabdingbare Seite des Seins ist, die conditio humana. Auch die sozialen Ursachen der Kriminalität müssen, wenn wir Menschen menschlich sehen, menschliches Verhalten erklären und verstehen wollen, in das Blickfeld gerückt werden, die sozialen Defizite etwa, die den Täter zum Delinquenten haben werden lassen, aber auch das, was Strafrecht und womöglich Strafrechtspflege getan haben, um ihn tiefer in das Verbrechen hineinzustoßen. Nur aus dieser Erkenntnis heraus kann dem Gleichheitsgebot, dem die Strafrechtspflege unterliegt, Genüge getan werden, sei es dadurch, daß die Stigmatisierung, die der Delinquent während des Strafverfahrens erfährt, so weit wie möglich ver-mindert wird, sei es, daß diesem kompensierende Hilfen gegeben werden, die seine Verfahrenssituation verbessern, sei es, daß die Richter und Staatsanwälte sich 1 darin üben, sich ihre Vorverständnisse bewußt zu machen und gängigen Urteilen — Annahmen und Meinungen —, die oft nur Vor-Urteile sind, zu mißtrauen.
All dies sind Anforderungen an den modernen Strafrichter, die die soziale Strafrechts-auffassung nicht bloß aus Gründen der Humanität stellt. Ihnen liegt vielmehr auch die Erwartung zugrunde, auf diese Weise kriminellem Verhalten besser entgegenwirken zu können, als dies mit den bisherigen Methoden möglich war, deren offensichtlicher Bankrott durch Rückfallquoten von 70 bis 80 Prozent belegt ist.
Strafrecht wird damit instrumental begriffen und definiert als Mittel der Kriminalpolitik, als spezifische Art von Sozialkontrolle Nur wenn der Richter diese kriminalpolitische Zielsetzung erfaßt und akzeptiert, kann er der Strafrechtsreform zum Erfolg verhelfen. Mit jeder Ermittlung, mit jeder Anklage, mit jeder Verhandlung und mit jedem Urteil leistet die Justiz einen Beitrag zur Kriminalpolitik, gleichviel, ob ihr das bewußt ist oder nicht Es ist allerdings wünschenswert, daß sie sich über diese ihre kriminalpolitische Funktion im klaren ist. Denn erst das zutreffende Verständnis darüber, was der Richter und der Staatsanwalt eigentlich tun, wenn sie das neue Recht anwenden, bietet die Gewähr für die unverkürzte Verwirklichung der Strafrechtsreform. Fehlt es an solcher Klarheit, so besteht die Gefahr, daß persönliche Vorlieben und gruppenspezifische Wertungen das, was mit der Reform an Neuem in das soziale Leben getreten ist, (unbewußt) überdecken und damit um seine Entfaltung bringen.
III.
Soviel in aller Kürze zum Richterbild der Strafrechtsreform. Es ist, auf einen Nenner gebracht, das Bild eines gesellschaftsverbundenen, mitmenschlichen, sich seiner kriminalpolitischen Funktion bewußten Richters, der die soziale Wirklichkeit mit wissenschaftlichen Mittel zu erkennen vermag und den Willen hat, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen und damit einen Beitrag zur Festigung der Demokratie in einer sich wandelnden Welt zu leisten.
Haben wir nun die Richter und Staatsanwälte, die diesem Bild entsprechen? Mir scheint, diese Frage kann man weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Ich kenne keinen Kollegen, der dieses Richterbild voll erfüllt. Das kann auch gar nicht anders sein. Weder die wissenschaftliche Ausbildung, die die Richter und Staatsanwälte erfahren haben, noch ihre berufliche Sozialisation sind auf ein solches Richterbild ausgerichtet. Mindestens ebenso verfehlt wäre es aber, die Frage zu verneinen.
Es ist gar nicht zu übersehen, daß sich ein großer Teil unserer Praxis seit langem auf dieses Bild hin bewegt und sich ihm immer stärker nähert. Wenn man bedenkt, unter welchen unzulänglichen Voraussetzungen und trotz welcher Schwierigkeiten dies geschieht, dann kann man darin gar nichts anderes als eine große Ermutigung sehen.
Auf der anderen Seite hat aber auch der Staat die Verpflichtung, diesen Aneignungsprozeß dadurch zu fördern, daß er das Rüstzeug des Richters und Staatsanwalts für die Strafrechtspflege verbessert. Konsequent betrachtet, führt daher die Reform des Strafrechts zur Reform der Ausbildung der Juristen, die das neue Strafrecht handhaben sollen.
Bekanntlich hat diese Erkenntnis Anlaß gegeben, Pläne für eine neue Juristenausbildung zu entwerfen und zum Teil auch bereits zu erproben. Es würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, sollten diese Reformvorschläge hier in all ihren Verästelungen ausgebreitet werden. Reformmodelle, die für die Ausbildung des Strafrichters relevant sind, hat man in mehreren Bundesländern entwickelt (Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bayern, Baden-Württemberg). In Erprobung befinden sich Modelle in Augsburg, Bielefeld, Bremen, Hamburg und Hannover. Aber nicht nur an diesen spezifischen Reform-Universitäten, sondern auch an anderen Orten und im Rahmen der herkömmlichen Ausbildung hat das Nachdenken darüber eingesetzt, wie die strafjuristische Ausbildung verbessert werden kann. Den unmittelbaren Anstoß hatten Tagungen gegeben, die 1968 und 1969, also in zeitlichem Zusammenhang mit der Beratung und Verabschiedung der ersten Strafrechtsreformgesetze durch den Deutschen Bundestag, in der Evangelischen Akademie Loccum stattfanden Der Bund hat 1970 durch eine Änderung des § 5 b DRiG die gesetzliche Voraussetzung zur Durchführung von Ausbildungsexperimentengeschaffen. Nach Ablauf der darin gesetzten Experimentierfrist, 1981, soll geprüft werden, welche Ergebnisse die Experimente haben und wie die künftige Juristenausbildung aussehen soll. Es ist heute natürlich noch zu früh, Voraussagen darüber zu ma-chen, wie die Entscheidung 1981 ausfallen wird. Sicher scheint mir jedoch zu sein, daß die künftige Juristenausbildung praxis-näher sein wird als das heutige System und daß die Sozialwissenschaften einen unverzichtbaren Bestandteil der Ausbildung bilden werden.
Was die Integration von Theorie und Praxis angeht, so steht außer Frage, daß sie für das Strafrecht ganz besondere Bedeutung hat, weil dessen Studium noch immer erstaunlich praxisfern betrieben wird. Studenten z. B., die selbst an renommierten Juristenfakultäten studieren, klagen darüber, daß sie hach drei Semestern Strafrecht nicht ein einziges Mal die Strafrechtswirklichkeit in Gerichtssälen kennengelernt, geschweige denn einen Einblick in den Strafvollzug erhalten haben. Auch die Fälle, die in den Übungen gegeben und besprochen werden, lassen oft an Wirklichkeitsnähe zu wünschen übrig. Dabei wäre es gerade auf diesem Gebiet dringend notwendig, schon zu Anfang des Studiums einen Bezug zur Praxis herzustellen, um Fehlentwicklungen zu vermeiden, die später nur schwer zu korrigieren sind. Herkömmlicher-weise ist es so, daß der Student, um den Frankfurter Strafrechtsprofessor Herbert Jäger zu zitieren, „in eine verwirrende, für ihn noch weitgehend begriffslose und bei der Situation der heutigen Dogmatik außerdem heillos babyionisierte Wortewelt eintritt, die sich allzu leicht in seiner Vorstellung zu einer artifiziellen, von der Sozialwirklichkeit menschlicher Konflikte abgelösten Eigenwelt verselbständigt. Er muß den Eindruck gewinnen, daß es letztlich nicht um die Probleme des Verbrechens und seiner Bekämpfung geht, für deren Bewältigung das Strafrecht nur das juristische Instrumentarium bildet, sondern primär um Begriffe, Theorien und Lehrsysteme, denen — so muß es ihm scheinen — irgendein hoher, wenn auch für ihn nicht ganz klar zu erkennender Eigenwert zukommt. Zu dieser Bewußtseinsdeformation tragen der in der Rechtslehre gelegentlich kultivierte Systemästhetizismus, die anspruchsvoll-überhöhte Sprache, die zum Beispiel jeden Gedankensplitter in den Rang einer . Theorie'erhebt, und der im Schrifttum betriebene Autoren-und Autoritätenkult das ihre bei. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den didaktisch, wie mir scheint, nicht unbedenklichen Rückgriff des Rechtsunterrichts und mancher Lehrbücher auf zum Teil irreale, erfundene oder gänzlich veraltete Fallgestaltungen, also auf das, was ich hier einmal Lehrbuchkriminalität'nennen möchte. Der Anfänger wird damit von vornherein auf ein künstliches, wirklichkeitsfernes Fall-Weltbild der Dogmatik fixiert, das die soziale Realität, an die die Ausbildung den Studenten doch gerade heranführen sollte, substituiert und aus seinem Bewußtsein verdrängt. So wäre es durchaus interessant, das Fallmaterial mancher Lehrbücher einmal mosaikhaft zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und zu prüfen, in welchem Verhältnis es zur kriminellen Wirklichkeit unserer Tage steht. Ebenso aufschlußreich wäre es wahrscheinlich, die Schwerpunkte dogmatischer Erörterungen — z. B. die Irrtumslehre — im Wege rechtstatsächlicher Forschungen auf ihre praktische Bedeutung hin zu untersuchen. Das Bedenkliche einer solchen isoliert theoretischen Ausbildung scheint mir nun darin zu bestehen, daß aus der Abwendung von den Lebenssachverhalten eine fixierte, das spätere Berufsbewußtsein prägende Dauerhaltung werden kann."
Die Lösung, die zur engeren Verbindung von Theorie und Praxis in den sog. Einstufenmodellen erprobt wird, ist zunächst einmal eine organisatorische. Die Trennung zwischen der theoretischen Ausbildung auf der Universität und der praktischen im sog. Vorbereitungsdienst, die für die deutsche Juristenausbildung bisher typisch war, wird in diesen Reformmodellen aufgehoben. Statt dessen wird überwiegend das sog. Intervallsystem eingeführt, d. h. die Aufgliederung des Studiums in theoretische und praktische Ausbildungsabschnitte, die miteinander wechseln. Das sieht etwa so aus, daß nach einem rechts-und sozialwissenschaftlichen Grundstudium der Student eine exemplarische Ausbildung in den wichtigsten Rechtsgebieten erfährt, an die sich jeweils die dazugehörige praktische Ausbildung anschließt. Der theoretischen Ausbildung im Zivilrecht folgt z. B. an der Reformfakultät in Hannover ein viermonatiges Praktikum beim Zivilgericht, der Universitätsausbildung im Strafrecht ein dreimonatiges Praktikum bei der Staatsanwaltschaft. Nach dem Praktikum kehrt der Student jeweils an die Universität zurück, um weiter zu studieren.
Diese organisatorische Verklammerung von Theorie und Praxis soll ergänzt werden durch eine inhaltliche in den Lehrveranstaltungen selbst, die praxisnäher durchgeführt werden sollen. Zu diesem Zweck wirken Praktiker nicht nur an der Ausgestaltung des Curriculums mit, sondern nehmen in Form des team teaching jeweils am Unterricht selbst teil. Außerdem ist die Demonstration praktischer Fälle, die Simulation von Verfahrenssituatio-B nen in Form von Lernspielen, die Erarbeitung von Forschungsprojekten und der Besuch von Gerichten und Staatsanwaltschaften, aber auch von Einrichtungen der Kriminalpolizei, Vollzugsanstalten, Rehabilitationszentren, sozial-therapeutischen Anstalten und Einrichtungen der Bewährungshilfe mit anschließenden Diskussionen unter Praktikerbeteiligung eingeplant. Daß dieser Rahmen so weitgespannt ist, hat seinen spezifischen Grund: Der künftige Strafjurist soll seine Rolle von vornherein im Kontext des Berufsfelds im Gesamtbereich der sozialen Kontrolle sehen.
Ebenso wichtig wie die Verstärkung der Praxisbezüge in der Ausbildung ist die Einbeziehung der Sozialwissenschaften, ja sie erscheint mir sogar noch wichtiger. Dies deshalb, weil die Strafrechtsreform die Verwissenschaftlichung der Strafrechtspflege bedingt, das Richterbild der Strafrechtsreform, wie wir es eben gezeichnet haben, sich gar nicht anders verwirklichen läßt als dadurch, daß sozialwissenschaftliche Studien einen zentralen Rang in der Juristenausbildung erhalten, also nicht mehr bloß Wahlfach oder Nebengebiet sind, sondern ebenso ernst genommen werden wie die Rechtsdogmatik. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Mit dieser Forderung ist keineswegs eine Absage an die Dogmatik verbunden. Dogmatik ist auch und gerade für den Juristen der Strafrechtsreform notwendig. Aber ich wende mich gegen den Dogmatismus, d. h. dagegen, daß die Strafrechtsdogmatik in der Ausbildung so wie bisher die allein beherrschende Rolle spielt. In allem Ernst und ohne Um-schweife: Wenn sich dieser Zustand nicht änderte, wenn da alles beim alten bliebe, müßte einem um das Schicksal der Strafrechtsreform bange sein.
Auch hier kann Herbert Jäger das Wort gegeben werden: „Die Folgen der bisherigen einseitig dogmatischen Ausbildung scheinen mir gravierend zu sein. Die Auffassungen, die selbst unter Strafrechtlern über Strafzweck, Kriminologie, Strafvollzug oder gar Tiefen-psychologie verbreitet sind, stammen noch oft aus der lombrosischen oder sogar vorlombrosischen Periode der Verbrechensbetrachtung. Je mehr aber das Kriminalrecht kriminologisiert, d. h. mit kriminologischen Fragestellungen angereichert wird — wie etwa durch das neue Strafgesetzbuch —, desto unerträglicher wird diese ganze Situation. Schon jetzt klaffen zwischen den in der Strafrechtspflege tätigen Juristen und den psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen nicht sel-ten verstanansapgrunde. veeacmtete tralverfahren der letzten Zeit wie etwa der Bartsch-Prozeß oder die Wiederaufnahme des Hetzel-Prozesses haben gezeigt, welche Auswirkungen es hat, wenn Richter infolge ihrer unzureichenden kriminologischen Vorbildung nicht in der Lage sind, zur Qualität eines Gutachtens oder zu außerjuristischen wissenschaftlichen Kontroversen sachgerecht Stellung zu nehmen. In der Gesetzgebung gibt es, wie die mangelhafte Kooperation zwischen Strafrechts-und empirischer Wissenschaft bei der Erörterung des StGB-Entwurfs 1962 und die unzureichende Einbeziehung -erfahrungs wissenschaftlicher Befunde in die gesetzespolitischen Erwägungen gezeigt haben, ganz entsprechende Probleme. Deshalb ist es unbedingt nötig, außerjuristische und interfakultative Lehrveranstaltungen in weit höherem Maße als bisher, wenn auch möglicherweise erst in der Schwerpunktphase, in die Ausbildung einzubeziehen."
Herbert Jäger schrieb dies im Jahr 1969. Die Strafrechtspflege ist seither ein gutes Stück weitergekommen, aber im Kern trifft die Kritik auch heute noch zu „Die Dogmatik entfaltet zwar das System der geltenden Normen, aber sie begründet es ganz unzureichend. Der Motivhintergrund etwa von Theorien bleibt dunkel, ein Wandel der Rechtsprechung in seinen Beweggründen undurchschaubar, der ideologische Gehalt mancher rechtlicher Wertungen und die Vorurteilssteuerung, die sie bestimmt, bleiben unerkannt. Gelernte Dogmatik wird auf diese Weise allzu leicht zu Begriffsjurisprudenz und unreflektiertem Rechtsfaktenwissen. Hier wäre, wie es für den Bereich der Gesetzgebung schon vereinzelt versucht worden ist, ein neuartiges Gebiet zu erschließen, von dem ich mir verspreche, daß es der Dogmatik ihre oft autoritären Züge nehmen und viele Wertungen, von denen Rechtspraxis und Rechtslehre ausgehen, bereits für den Studenten in bezug auf ihre Herkunft, ihren Sinn, aber auch ihre Berechtigung durchsichtiger und damit auch der kritischen Reflexion zugänglicher machen würde."
Die Sozialwissenschaften, wozu Psychologie, Soziologie, Politologie, Rechtsmedizin, aber auch die Geschichtswissenschaft, die Wirtschaftswissenschaften und schließlich die Sozialphilosophie zu rechnen sind, haben zunächst einmal die Aufgabe, Grundlagenwissen zu vermitteln. Der Bedarf an solchem Wissen ist groß. ves weiteren _ für das Strafrecht und die Strafrechtspflege eine kritische Funktion. Zugespitzt kann man sie dahin verschlüsseln, daß die Sozialwissenschaften den Strafjuristen aus dem dogmatischen Schlummer wecken müssen, in den ihn die herkömmliche Ausbildung zu versenken pflegt.
Ein wichtiges Thema kritischer Sozialwissenschaft ist dabei die Frage, inwieweit Strafrecht und Strafrechtspflege selbst Ursache von Kriminalität sein können. Der sog. labeling approach der die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf dieses Problem gelenkt hat, sollte andererseits auch nicht unkritischbetrachtet werden. So wichtig die Erkenntnis z. B. ist, daß das, was wir Kriminalität nennen, auf Zuschreibungs- und Interaktionsprozessenberuht, so darf sie doch nicht verabsolutiertwerden und blind machen für die Einsicht, daß Kriminalität ein höchst komplexes Phänomen ist, das der Erklärung und Deutung unter verschiedenen approaches zugänglich ist, die ebenfalls praktische Relevanz beanspruchen können. Zu denken ist etwa an die Anomietheorie, die Theorie von der unterschiedlichen Sozialisation und die Theorie von der Ausstoßung des Sündenbocks
Den Sozialwissenschaften kommt zudem nicht nur eine kritische Funktion zu, sondern auch eine konstruktive. Gerade auf diese Funktion muß im Hinblick auf die Strafrechtsreform besonderes Gewicht gelegt werden. Das Bild, das sich der sozialwissenschaftlich nicht oder wenig informierte Strafjurist von der sozialen Wirklichkeit macht, beruht im wesentlichen auf ungeprüften Annahmen, die mit Vorliebe durch den Rekurs auf Lebenserfahrung, angeborene Menschenkenntnis und gleichliegende Fallgestaltungen plausibel gemacht werden, aber im Grunde ungeprüft bleiben. An die Stelle solch naiver Wirklichkeitsbetrachtung auf Grund sog. Alltagstheorien muß eine Wirklichkeitserkenntnis treten, die soweit wie möglich auf wissenschaftlicher Erkenntnis der sozialen Umwelt und der zu beurteilenden Sachverhalte beruht. Diese wissenschaftliche Information soll nicht etwa den Sachverständigen entbehrlich machen, aber richtig anleiten, sein Gutachten sachgerecht beurteilen und mit ihm diskutieren zu können. Darüber hinaus erscheint sie aber auch unerläßlich, weil das reformierte Strafrecht vom Richter verlangt, eine rational begründete Wahl zwischen Sanktionen zu treffen und ebenso die Strafe — insbesondere die Freiheitsstrafe — rational zu bemessen.
Dabei bin ich mir durchaus darüber im klaren, daß die Kriminologie bei ihrem derzeitigen Erkenntnisstand keineswegs die Wünsche der Praxis zu befriedigen vermag. Das gilt für die Täteranalyse ebenso wie für die Prognoseforschung, die Voraussagen von Legalverhalten und Kriminalität machen soll. Daß gegenwärtig gerade diese Forschungszweige in der deutschen Kriminologie wenig gepflegt werden, ist bedauerlich. Wie soll, so muß gefragt werden, das Ziel der Strafrechtsreform, den Täter möglichst rational zu strafen und zu behandeln, erreicht werden, wenn die Kriminologie die Praxis hier im Stich läßt? Nach den Grundsätzen, die § 13 StGB für die Strafbemessung aufstellt, sollen z. B. die Wirkungen, die v StGB für die Strafbemessung aufstellt, sollen z. B. die Wirkungen, die von der Strafe auf das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, berücksichtigt werden, ebenso sein Vorleben. Eine günstige Prognose ist auch die. Voraussetzung für die Strafaussetzung zur Bewährung.
Diese Vorschriften, die Voraussagen vorschreiben, zwingen, wenn sie nicht nebel-spendender Wortzauber bleiben sollen, den Richter dazu, sich mit der Kriminologie zu befassen. Auf der anderen Seite indizieren sie aber auch einen Appell an die kriminologische Forschung, mehr Anstrengungen auf diese Problematik zu verwenden. Der Hinweis, daß bei der Erforschung von Devianz und Delinquenz im letzten Unaufhellbares bleibt, das sich der wissenschaftlichen Erkenntnis entzieht, ist kein durchschlagender Einwand. Es kommt darauf an, die Grenzen der Erkenntnis so weit wie möglich vorzuschieben. Schon Zwischenergebnisse erweisen der Praxis einen Dienst, selbst der bloße Hinweis, daß und wo verläßliches Wissen nicht zu erlangen ist.
Zu den weiteren kriminologischen Forschungsgebieten, die den Praktiker des neuen Strafrechts unmittelbar angehen, gehören die Viktimologie 12), die Sanktionspraxis, die Stigmatisierungsforschung, die Dunkelfeld-und die Aggressionsforschung. Was die Jugendkriminalität angeht, so können wir schon seit langem gendgerichtsbarkeit ohne kriminologische Fundierung ein hoffnungsloses Herumtasten in einem dunklen Wald ist, der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt noch dunkler wird. Als fruchtbar erweisen sich bereits heute kriminologische Forschungen zum Randgruppenverhalten und zur Gastarbeiterkriminalität (einschließlich der Hypothese vom Kulturkonflikt), zur Kriminalität in Ausübung des Berufs (dabei insbesondere zur Wirtschaftskriminalität), zur Selektion im Strafverfahren, also zur Problematik der Ungleichheiten bei der Strafverfolgung, und zur Verkehrsdelinquenz.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Psychologie und Soziologie des Gerichtsverfahrens, also des Strafprozesses. Sozialwissenschaftliche Ansätze werden dabei vor allem durch die Selektionstheorie und durch die Rollentheorie geliefert. Das Strafverfahren wird aus dieser Sicht nicht nur als Rechtsverhältnis betrachtet, sondern auch als soziales Beziehungssystem 13) definiert, und zwar von der Aufnahme der Strafanzeige bei der Polizei an bis zur Urteilsverkündung. Die praktische Relevanz dieser Forschungen ist bereits offenkundig. Einmal gewinnt das Rechtspflegeorgan (Kriminalbeamter, Staatsanwalt, Richter, aber auch Verteidiger) neue Möglichkeiten, sein Verhalten mit den Zielen der Strafrechtsreform in Übereinstimmung zu bringen (Stichworte: Rollenübernahme, kooperative Verhandlungsführung, Humanisierung des Gerichtsverfahrens, kompensierende Hilfen gegenüber benachteiligten Beschuldigten und Angeklagten zum anderen aber ist auch die Bedeutung deutlich geworden, die dem Gerichtsritual, der bürokratisch-juristischen Gerichtssprache und der Symbolik des Gerichtssaales in dieser Hinsicht zukommt, also dem Aufgebot von Förmlichkeiten, mit dem der Bürger vor Gericht konfrontiert wird.
Strafrechtspflege wird mehr und mehr Sozial-arbeit. Auch das ist eine erkennbare Tendenz der Strafrechtsreform. Es dürfte genügen, an die hervorragende, kaum zu überschätzende Rolle zu erinnern, die die Bewährungshilfe zu spielen berufen ist. Für die Ausbildung des Strafjuristen hat dies zur Folge, daß in ihr aucn U 1e ASPEKLE Mel PV-idIdIvelu -ul —el tung kommen müssen. Ich scheue mich dabei nicht, den Nutzen hervorzuheben, den etwa ein Praktikum als Hilfsarbeiter in der Industrie für die Beseitigung von Kommunikationsschwierigkeiten haben könnte. In der gegenwärtigen Ausbildungsreform besteht allerdings keine Chance für die Verwirklichung dieses Gedankens. Um so notwendiger ist es, wenigstens das sog. group counselling, also das Gruppengespräch mit Strafgefangenen, das auch speziell instruierten Laien anvertraut werden kann in die Ausbildung einzubeziehen, ferner die Studenten in die Arbeit der Bewährungs-und der Entlassenenhilfe einzuschalten. Gut motivierten Studenten könnte nach gewisser Einführung auch Gelegenheit gegeben werden, die Betreuung eines Strafgefangenen oder Entlassenen zu übernehmen, wobei dann die dabei gemachten Erfahrungen in kleinen Gruppen fallorientiert diskutiert und reflektiert werden könnten.
Das Kennenlernen des Anstaltslebens aus unmittelbarer Nähe, am besten ein Praktikum als Hilfsaufseher oder Rechtsberater der Gefangenen in einer Vollzugsanstalt, hätte diesen Kurs in Sozialarbeit abzurunden. Ralf Dahrendorf hat unter Anspielung auf die geringen Kenntnisse des traditionell ausgebildeten Juristen über die Einstellungen und Verhaltensweisen außerhalb der Mittelschichten einmal gemeint, in unseren Strafprozessen sitze die eine Hälfte der Gesellschaft über die ande-51 uic sie —lI-IitnulerE-——— ______ _ ________ -provozierend formuliert; aber gegen den Kern, der dieser Feststellung zugrunde liegt, läßt sich kaum etwas einwenden. Noch so kluge Diskussionen über die Klassenjustiz können an den Verständnisschwierigkeiten zwischen Mittelschicht und Unterschicht nichts ändern. Das Praktikum in der Sozialarbeit darf deshalb nicht als Kuriosität aufgefaßt, sondern muß als ernstgemeinter, sogar unverzichtbarer Bestandteil der künftigen Ausbildung von Strafjuristen begriffen werden.
Dies zum Grundsätzlichen. Was nun die Rolle der Sozialwissenschaften im Rechtsunterricht betrifft, so wäre sie auf zweifache Weise zu fördern: einmal durch die Pflege der jeweiligen Einzeldisziplinen, also vor allem der Kriminologie, der Soziologie und der Psychologie, zum anderen aber durch die Integration der sozialwissenschaftlichen Aspekte in die juristischen Lehrveranstaltungen. Das letztere ist dabei das eigentlich Interessante, aber noch nicht so recht geglückt. Das kann nicht wundernehmen, wenn man bedenkt, wie wenige unter den juristischen Dozenten zugleich echte Sozialwissenschaftler sind und umgekehrt. Die zur Zeit bestehenden Schwierigkeiten liefern allerdings keinen Grund, in der Sache zurückzustecken, sie sind überwindbar und verlieren mit jedem Jahr an Gewicht, in dem auf beiden Gebieten ausgewiesene Dozenten herangebildet werden.
IV.
Von einer Ausbildungsreform, die diese Veränderungen verwirklicht, ist eine durchgreifende Verbesserung der Strafrechtspflege zu erwarten. Wissenschaftliche Defizite, deren sich die Praxis schmerzlich bewußt ist, würden verhindert, teilweise sogar beseitigt werden. Der strafjuristische Nachwuchs bekäme gleichsam frei Haus das Rüstzeug geliefert, das die ältere Juristengeneration sich nahezu autodidaktisch oder im Zuge der Fortbildung in Bruchstücken hat erwerben müssen oder noch erwerben muß.
Wenn damit den Inhalten der künftigen Juristenausbildung eine Schlüsselfunktion bei der Verwirklichung des Richterbildes der Strafrechtsreform zugesprochen wird, so ist diese Präferenz allerdings nicht so zu verstehen, als ob das Problem allein dort anzusiedeln sei.
Die Entscheidung über den Erfolg der Strafrechtsreform fällt auf vielen Schauplätzen. Eine Voraussetzung betrifft die Arbeitsbedingungen. Der Richter, der den erhöhten Anforderungen der Strafrechtsreform genügen will, braucht dazu mehr Zeit, als die Fülle der Geschäfte ihm jedenfalls heute zugestehen will. Wenn hier nicht Remedur geschaffen wird, läuft die Strafrechtsreform Gefahr, Luftschlösser gebaut zu haben, die nur den Wert konkreter Utopien besitzen, aber in Raum und Zeit nicht zü realisieren sind.
Die Frage der Arbeitsbedingungen betrifft allerdings nur eine Seite der beruflichen Sozialisation des Juristen. Eine andere — und nicht minder wichtige — wird berührt, wenn wir die Frage aufwerfen, inwieweit auch Einflüsse der Umwelt, vor allem überhöhte bürokratische und hierarchische Zwänge die Entfaltung der Richterpersönlichkeit hindern und der Herstellung einer Atmosphäre ungünstig stttu, —m—uer—von KiChtern, die Menschen menschlich sehen, soziales Recht gesprochen wird.
Der Richter der Strafrechtsreform muß ein äußerlich wie innerlich unabhängiger Richter sein, der Recht spricht als Glied einer Gesellschaft, die weiß, daß sich in den Verbrechen, über die sie zu Gericht sitzt, zugleich das Böse der Gesellschaft selbst ausdrückt. Dieser wissenschaftliche Richter der Strafrechtsreform darf auch nicht mehr der Allround-Jurist sein, der heute in der Strafjustiz, morgen in der Zivilrechtspflege und übermorgen in der freiwilligen Gerichtsbarkeit tätig ist. Eine schwerpunktmäßige Spezialisierung, wenigstens auf begrenzte Zeit, ist in der Rechtspraxis unerläßlich. Ein solche Spezialisierung gehört zu der strukturellen Anpassung der Gerichte an die Zielsetzungen des modernen Strafrechts, wie sie auch der IV. Weltkongreß der Richter 1972 in Nizza gefordert hat.
Oft wird die Justiz wegen ihrer Rückständigkeit gescholten. Die Strafrechtsreform gibt ihr die Chance, der Gesellschaft ihre Modernität zu beweisen. Nutzt sie die Chance, dann darf sie sicher sein, daß auch die Gesellschaft das anerkennt. Ein Vertrauens-und Ansehensgewinn, wie ihn die Justiz in der Bundesrepublik dringlich braucht, wäre die sichere Folge.