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Die CDU nach Mannheim Wandel und Kontinuität | APuZ 30/1975 | bpb.de

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APuZ 30/1975 Artikel 1 Die CDU nach Mannheim Wandel und Kontinuität Der Umweltschaden Soziologischer Hintergrund und Wege zu Schadensverhütung und Ersatzleistung

Die CDU nach Mannheim Wandel und Kontinuität

Warnfried Dettling

/ 45 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Parteitag in Mannheim vom 23. bis 25. Juni 1975 steht für Wandel und Kontinuität in der Geschichte der CDU: Nach Mannheim ist die CDU eine neue, aber keine andere Partei als zuvor. Die CDU hat sich in den vergangenen Jahren konsolidiert (steigende Zahl der Mitglieder, Verjüngung der Partei und Veränderung ihrer sozialen Struktur); sie hat die Zeit der Opposition als Chance zur fälligen Erneuerung genutzt. Auf die Herausforderungen der Zeit (Grenzen des Pluralismus, Grenzen des Marktes, Grenzen der Industriegesellschaft) hat sie — nicht zuletzt in der Mannheimer Erklärung — neue Antworten gegeben. Vor allem bei der Neuen Sozialen Frage und im Verhältnis Staat — Gruppen — Individuum schafft eine unverstellte Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen die Voraussetzung für eine neue, zukunftsweisende Politik. Die CDU ist dabei, sich zu erneuern, ohne ihre Kontinuität und Identität zu verlieren.

Der Mannheimer Parteitag vom 23. bis 25. Juni 1975 steht für Kontinuität und Wandel in der Geschichte der CDU. Nadi Mannheim ist die CDU eine neue, aber keine andere Partei als zuvor. Sie hat „auf die Herausforderungen unserer Zeit neue und zukunftsweisende Antworten" gegeben. Nach Mannheim kann in der CDU Politik nicht mehr im Stil und nach dem Muster der Vergangenheit gedacht und gemacht werden, können die politischen Gegner ihre Kritik nicht länger an einer CDU anbringen, die es so nicht mehr gibt.

Diese Einschätzung mag manchen Beobachter des Mannheimer Parteitages überraschen. Für ihn standen andere Ereignisse im Vordergrund, vor allem die Geschlossenheit der Partei und deren fast einstimmiges Vertrauen für den Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten der Union, Helmut Kohl. Für jede Partei erfüllen Parteitage immer unterschiedliche Funktionen zugleich, vor allem jene der Integration, Motivation und Mobilisierung. Parteitage sind selten oder nie Orte der Innovation; neue Ideen, die die Partei politisch und programmatisch bewegen, ein paar Schritte , nach vorne bringen, werden anderswo geboren. Das gilt für alle Parteien — auch das(Godesberg der SPD von 1959 macht da keine Ausnahme.

Aber ein Parteitag kann Entwicklungen bündeln, sie legitimieren, den Weg nach vorne offenhalten, die Partei insgesamt über jene Grenze führen, hinter die sie dann nicht mehr zurückfallen kann. In diesem Sinne brachte der Mannheimer Parteitag in der Tat Erneuerung und Wandel für die CDU. Wer dies zutreffend verstehen will, darf jedoch nicht auf jene beiden Tage in Mannheim und die dort einstimmig angenommene Mannheimer Erklärung blicken; er muß zugleich jene Entwicklung berücksichtigen, die sich seit mehreren Jahren in der CDU ereignet hat und insbesondere mit den Namen Helmut Kohl, Kurt H. Biedenkopf und Richard von Weizsäcker verbunden ist. Mannheim war weder Anfang noch Ende, sondern nur vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, von deren weiteren Verlauf nicht nur für die CDU einiges abhängen wird.

Legitimitätskrise der Parteien?

Eine Rückbesinnung der CDU auf ihre Grundsätze wie auf die Herausforderungen der Zukunft war aus verschiedenen Gründen unerläßlich.

In fast allen demokratisch verfaßten westlichen Industriestaaten zeigen sich Symptome einer Legitimitätskrise des politischen Systems, die auf eine Krise der politischen Parteien verweisen. Fragen sind aufgeworfen, die Antwort bleibt offen:

— Sind die Parteien dem zunehmenden Problemdruck gewachsen?

— Sind sie noch sensibel und repräsentativ für die veränderte Bewußtseins-und Erwartungslage der Menschen?

— Reagieren sie angemessen auf Veränderungen der sozialen und internationalen Umwelt oder gleichen sie mehr und mehr Fossilien?

In Frage stehen Legitimität und Leistungsfähigkeit der politischen Parteien. Die Antwort auf diese Frage entscheidet nicht nur über die Zukunft der Parteien, sondern der liberalen Demokratie schlechthin.

Zwei der vier deutschen Parteien — SPD und FDP — haben versucht, durch nach Zeit und Ort eindeutige programmatische Richtungsentscheidungen (Godesberger Programm der SPD von 1959 und Freiburger Thesen der FDP von 1971) neue Handlungsfreiheit zurückzugewinnen, auf äußeren Wandel durch eine interne Reorganisation ihres ideologischen Haushaltes zu reagieren. Diese Neuorientierung eröffnete jeweils neue Optionen in koalitionstechnischer wie in politischer Hinsicht. Inwieweit diese Neuorientierung geglückt, d. h. verbindlich und dauerhaft ist, ist hier nicht das Thema Jedenfalls ermöglichte sie zunächst die große und später die sozialliberal genannte Koalition: zweifellos die entscheidende Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Die anfangs unverkennbare Überraschung der CDU/CSU über den Verlust der Regierung wurde bald überlagert durch die Hoffnung auf einen raschen Regierungswechsel, der die alte Lage wiederhergestellt und eine grundsätzliche Standortbestimmung der Union erübrigt hätte. So unterblieb die kritische Analyse der Frage, wie es zum Wechsel von 1969 kam, was er bedeutete und was daraus für die Union erfolgte. Die CDU/CSU hat lange, noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein, nicht erkannt, daß das Datum 1969 mehr signalisierte als einen bloßen Regierungswechsel, nämlich eine grundsätzliche Veränderung der Ansprüche und Erwartungen des Bürgers an die Politik. Der Erfolg der CDU/CSU — wirtschaftlicher Wiederaufbau, sozialer Friede. Stabilität der Demokratie — führte dazu, daß diese Bedürfnisse als befriedigt in den Hintergrund des Bedürfnishorizontes der Menschen traten und sich neue Erwartungen und Sehnsüchte in den Vordergrund schoben, die SPD und FDP geschickt bündelten und artikulierten. Als die beiden anderen Parteien schon daran gingen, sich auf diese neue Lage einzustellen, hatte die Union — verklärt durch die melancholische Würde Kiesingers — noch als Kanzlerpartei regiert, ohne zu merken, daß die Grundlagen ihres Führungsanspruches zerbrachen: aktuell wie fundamental, politisch wie geistig.

Die Wende 1969 Die CDU hat sich in 20 Jahren zu einer mehr und mehr pragmatischen Partei entwickelt — eine Entwicklung übrigens, die bei den beiden Regierungsparteien SPD und FDP seit 1969 ebenfalls zu beobachten ist. Die theoretische Grundlage und der moralische Anspruch ihrer Gründerjahre — Ahlener Programm und Düsseldorfer Leitsätze — traten in den Hintergrund, zugeschüttet durch die Nöte und Erfolge des Tages. Bereits das Hamburger Programm von 1953 war wenig mehr als eine auf die Wahlen zugeschnittene Erfolgsbilanz der ersten Regierung Adenauers. Danach ließ die erneute programmatische Selbstbesinnung bis 1968 (Berliner Programm) auf sich warten. Im Unterschied zum Godesberger Programm und zu den Freiburger Thesen signalisierte das Berliner Programm jedoch keinen neuen Aufbruch der CDU, es blieb selbst in der Partei weitgehend unbekannt und erreichte auch nicht eine dem Godesberger Programm oder den Freiburger Thesen vergleichbare öffentlichkeitswirksame Symbolkraft

Der Hamburger Parteitag (November 1973) brachte durch eine offene und intensive Diskussion von vier zentralen gesellschaftspolitischen Themen zwar Bewegung in und neues Interesse für die CDU; was aber fehlte, war der theoretische, ordnungspolitische Bezugsrahmen, der diese und andere Themen verbunden und der Politik der CDU damit eine neue Perspektive gewiesen hätte. Dies genau leistet, knapp zwei Jahre später, die Mannheimer Erklärung. Der Parteitag in Hamburg hat dafür die Weichen gestellt und die Voraussetzungen geschaffen.

Die Programmgeschichte der CDU zeichnet sich von den Anfängen bis heute durch eine beachtliche Kontinuität aus: kein Bruch, keine Kursänderung. Die CDU, so meinen viele, wartet noch immer auf ihr Godesberg. Braucht sie es überhaupt, wird sie es bekommen, ist es unvermeidlich? Dies ist eine offene Frage. Wenn der Versuch der 1973 gewählten Parteiführung gelingt — und nach Mannheim spricht mehr dafür als dagegen —, wird sich die CDU als Partei erneuern; ohne ihre Identität zu verlieren, wird sie Kontinuität im Wandel beweisen. Menschen, Parteien, politische Systeme können nur überleben und ihre Ziele aktiv erreichen durch eine kreative Anpassung. Wer den Wandel gestalten, ihn nach seinen Prinzipien beherrschen will, muß bereit und fähig sein, sich selbst zu ändern, sich immer wieder neu einzustellen. Sonst bleibt nur nachträgliche Anpassung oder Unterwerfung. Um seine Ziele zu erreichen genügt es nicht, diese zu beschwören oder alle Kräfte zu mobilisieren; nötig ist eine „Landkarte", die Wege und Hindernisse festhält. Sie nimmt die Entscheidung für Ziele nicht ab. Wer sich an ihr orientiert, paßt sich nicht an — er handelt nur vernünftig und am Ende erfolgreich: er wird seine Ziele erreichen, sicherer jedenfalls als der, der in seiner fiktiven Welt der Träume oder Gefahren lebt. Die Mannheimer Erklärung stellt in ihrem analytischen Teil eine politische und soziale Landkarte dar, die die Veränderungen festhält und die Lage beschreibt.

Die CDU ist dabei, sich aus ihren Prinzipien heraus zu erneuern. Das gilt für ihr Selbstverständnis, für ihre soziale Struktur, für ihre Geschlossenheit wie für ihr theoretisch-programmatisches Profil.

Integration und Konsolidierung Die CDU hat sich von der Kanzlerpartei Konrad Adenauers über die Fraktionspartei Rainer Barzels unter Helmut Kohl zu einer Partei «ohne Zusatz“ gewandelt. Ihre Rolle als Op-positionspartei hat sie nicht nur ohne Wenn und Aber angenommen, sondern als Chance zur fälligen Erneuerung begriffen und genutzt. Die CDU ist von einer Wähler-und Honoratiorenpartei zu einer Mitgliederpartei geworden. Dies läßt sich nicht nur am Zuwachs der Mitgliederzahl ablesen: Die CDU gewann innerhalb von zwei Jahren netto rund 130 000 neue Mitglieder, das sind 29 °/o mehr als vor zwei Jahren. Monat für Monat gewinnt sie zwischen 10 000 und 14 000 Mitglieder dazu. Deren soziale Zusammensetzung weicht von der früheren Struktur der CDU erheblich ab. Die CDU hat sich verjüngt. Uber 70 % ihrer Mitglieder sind jünger als 55 Jahre, die Hälfte ihrer Mitglieder jünger als 45 Jahre. Mehr als die Hälfte der CDU-Mitglieder sind abhängig Beschäftigte. Die Mitglieder der CDU zeichnen sich ferner durch eine erhöhte Bereitschaft zum politischen Engagement und zum politischen Bekenntnis für die CDU aus. In den vergangenen Jahren gelang es der CDU, die Spirale des Schweigens zu durchbrechen: die politische Atmosphäre hat sich gewandelt, die Chancen-gleichheit der Parteien im politischen Wettbewerb ist wiederhergestellt.

Mitglieder und Partei haben in den vergangenen Jahren ein neues Selbstbewußtsein, ein neues „Parteigefühl" gewonnen. Dieses gründet nicht nur in den Erfolgen bei den Landtagswahlen 1974 und 1975. Es ist das Ergebnis eines neuen politischen Stils, findet Ausdruck in einer neuen, entschlackten politischen Sprache, die die CDU wieder instand setzt, die Inhalte ihrer Politik offensiv zu beschreiben, es zeigt sich in dem erfolgreichen Durchbrechen inhaltlicher wie gruppenspezifischer Vorurteilsbarrieren — Intellektuelle wie Gewerkschaften sind hierfür nur zwei Beispiele

Dieses neue Selbstbewußtsein der CDU ist begründet und führt zu einer neuen, so bisher nicht dagewesenen Identifikation der Mitglieder mit der Partei. Der primäre Bezugspunkt der Loyalität und Solidarität der Mitglieder hat sich in den letzten Jahren deutlich verschoben: weg von Landesverbänden und Vereinigungen und hin auf die Partei selbst. Dies ist ein entscheidender Sachverhalt. Integration und Geschlossenheit einer Partei sind immer dann bedroht, wenn die Mitglieder zunächst Mitglieder von Vereinigungen und erst in zweiter Linie Mitglieder der Partei sind, wie es früher weitgehend bei der CDU der Fall war. Helmut Kohl ließ von Anfang an keinen Zweifel daran, daß nach seinem Parteiverständnis jeder zuerst Mitglied der CDU und erst dann Mitglied einer Vereinigung ist — und fand damit Zustimmung bei einer nun stärker motivierten und engagierten Mitgliedschaft. Er wie sein Generalsekretär konnten das Ziel, die Einheit der Partei, auf eine neue Grundlage zu stellen und deshalb glaubwürdig und erfolgreich anzusteuern, weil sie selbst keinem der Flügel zugeschlagen werden konnten. Dieses Ziel ist heute weitgehend erreicht: die CDU hat sich von einer „Union" von Vereinigungen und Interessengruppen zu einer Partei gewandelt — auch dies hat der Mannheimer Parteitag gezeigt. Die Homogenität der CDU ist heute größer als früher. Die verstärkte Integration der Sozialausschüsse etwa ist gelungen, ohne den Wirtschaftsrat der Partei zu entfremden. Heute ist die CDU mehr als eine Summe von Vereinigungen und Landesverbänden. Gelungen ist dies, weil — Helmut Kohl Führung der Partei begreift als Integration der Partei auf Ziele hin;

— Kurt H. Biedenkopf die verschiedenen Richtungen in der Partei unter Begründungszwang setzte und ihnen so den bequemen Rückzug auf zahlenmäßig abgestützte Interessenvertretung abschnitt;

— die Partei insgesamt, angeregt durch die Grundsatzkommission unter Richard von Weizsäcker wieder radikaler zu den Prinzipien der CDU zurückkehrte: Dabei zeigte es sich dann, daß die innerparteilichen Spannungen in der . CDU mit dem Abstand von den gemeinsamen Prinzipien der Partei zunahmen; Konflikte sind zum Teil natürlich und produktiv, zum Teil aber auch das Ergebnis oberflächlicher und abgebrochener Argumentation.

— sich schließlich die Erkenntnis durchsetzte, daß einer Partei, die sich nach innen wie eine neofeudale Ständeorganisation gliedert, die Probleme einer modernen Gesellschaft, insbesondere die Spannung zwischen organisierten Sozialinteressen und Gemeinwohl, nicht bewältigen kann.

Diese Faktoren führten dazu, daß sich die CDU heute auf eine neue Weise als Volks-partei begreift. Der Begriff Volkspartei ist für sie keine soziologische, sondern eine politische Kategorie. Der Charakter einer Volkspartei erweist sich nicht darin, daß sie in sich und ihren Organen soziale Schichten oder gar über-ständige Stände empirisch getreu widerspiegelt, sondern daß sie eine Politik formuliert und durchsetzt, die im allgemeinen, öffentlichen Interesse liegt. Nur eine Volkspartei, die mehr ist als die Summe von Sonderinteressen, kann den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden durch eine Politik, die nicht mehr länger als „muddling through", als Kunst des Durchwurstelns beschrieben werden kann.

Vor neuen Herausforderungen Politische Parteien verändern die Gesellschaft und werden von ihr verändert. Der Versuch, sich gesellschaftlichen und Veränderungen neuen der Menschen zu entziehen, ist zum einen erfolglos und zum anderen undemokratisch. Wer Veränderungen in der politischen und sozialen Landschaft nicht zur Kenntnis nimmt, handelt weder gesinnungstreu noch wird er seine Ziele erreichen.

Die CDU hat seit 1949 die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entscheidend geprägt. Den Herausforderungen der Nachkriegszeit begegnete sie mit neuen, originellen politischen Ideen und Konzepten: Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, Anbindung der Bundesrepublik Deutschland an die demokratische und liberale Tradition des Westens, dynamische Rentenversicherung, institutionelle Stärkung der Arbeitnehmerschaft (Betriebsverfassung, Mitbestimmung). Daß dies neue Konzepte waren, wurde ihr selbst kaum bewußt — sie als „Reformen" zu feiern, kam ihr ohnehin nicht in den Sinn. Die CDU leitete eine alles in allem erfolgreiche Entwicklung ein: „Wirtschaftswunder", Rechts-und Sozialstaatlichkeit. Am Ende freilich wurde sie Opfer ihres eigenen Erfolges — und ihrer Unfähigkeit, sich rechtzeitig auf eine neue Situation einzustellen. Leistungen und Erfolge der Nachkriegszeit wurden mehr und mehr selbstverständlich. Neue Probleme, Erwartungen und Sehnsüchte bestimmten in zunehmendem Maße das politische Denken der Menschen. Die Karten für das politische Spiel wurden neu gemischt — und die CDU/CSU hatte, so schien es, keine Trümpfe mehr in der Hand — oder vergaß es, sie wirkungsvoll auszureizen.

Die stille Revolution 1969 war eine Phase in der deutschen Nach-kriegsgeschichte abgeschlossen, deren Ende sich schon zu Beginn der sechziger Jahre angekündigt hatte. Der Regierungswechsel von 1969 und der SPD/FDP-Wahlsieg von 1972 waren Ergebnis der Tatsache, daß sich die SPD und FDP früher und konsequenter auf die neue Lage eingestellt hatten. Ihnen und nicht der CDU/CSU trauten viele Wähler, verstärkt durch das legitime Bedürfnis nach einem Regierungswechsel, eher zu, Antwort auf die neuen Fragen zu geben. Dies war für die CDU/CSU eine bittere Erkenntnis. Die Deutschen lebten nun in einer anderen sozialen Welt: Auf einer scheinbar sicheren Grundlage verlangten sie nach anderen Zielen und Inhalten Politik, nach Aufbau Konsolidierung der und nun nach neuen Ideen und Idealen. Das Spektakel der studentischen Protestbewegung lenkte ab von der viel entscheidenderen „stillen Revolution" (Ronald Inglehart) der Wertorientierung, die sich in allen westlichen Ländern und so auch in der Bundesrepublik nach und nach Deutschland vollzog.

Diese „stille Revolution" offenbarte die Grenzen einer Gesellschaft — und einer Partei —, die sich praktisch auf die Befriedigung materieller, individueller und ökonomischer Bedürfnisse konzentrierte; dies um so schmerzlicher, als wenige Jahre später die „Grenzen des Wachstum" ins Bewußtsein der Menschen traten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurden die Grenzen der traditionellen politischen Philosophie auch der CDU sichtbar, insbesondere: des Pluralismus; — die Grenzen — die Grenzen des Marktes;

— die Grenzen einer industriellen Gesellschaft; — die Grenzen des Wachstums und schließlich, aber nicht zuletzt, — die Grenzen materiellen Güter der für das Glück und das Wohlbefinden der Menschen. Die Erkenntnis dieser innergesellschaftlichen wie internationalen Veränderungen stellte die CDU vor neue Probleme. Diese Probleme werden von den verschiedenen Parteien weitgehend ähnlich beschrieben, freilich auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt und mit unterschiedlichen Lösungsvorschlägen beant-* wortet. Die politischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland unterscheiden sich nicht in der Beschreibung, sondern in der Analyse und in der Lösung gemeinsam erkannter Probleme. Die Mannheimer Erklärung bringt für die CDU zum ersten Male eine umfassende Analyse sowie Vorschläge zur Lösung dieser Probleme.

Die Grenzen des Pluralismus Die traditionelle Pluralismustheorie war eine ebenso einfache wie eingängige und sympathische Philosophie: Menschen organisieren ihre Interessen in Verbänden, zwischen denen sich ein Gleichgewicht herausbildet. Dem Staat kommt lediglich die Funktion eines Schiedsrichters zu, der die Spielregeln festlegt und auf ihre Einhaltung achtet. Droht ein organisiertes Interesse übermächtig zu werden und sich auf Kosten anderer durchzusetzen, bildet sich automatisch eine „Gegenmacht" (Galbraith, Theorie der countervailing powers).

Diese Theorie war empirisch und normativ zugleich. Sie beanspruchte, den politischen Prozeß zu erklären und rechtfertigte dessen Ergebnis zugleich als gerecht: Gemeinwohl als Resultante des Parallelogramms pluralistischer Kräfte. Sie entsprach der liberalen Skepsis gegenüber zuviel Staat. Staatliche Institutionen gruppierten sich in dieser sich selbst regulierenden Gesellschaft gleichsam um Interessengruppen: Politik Epiphänomen. als Diese Philosophie nährte die Skepsis gegenüber politischer Macht, tabuisierte jedoch zugleich wirtschaftliche und Verbandsmacht. So überwand die Pluralismustheorie das marxistische Zweiklassenschema, indem sie aufwies, daß sich gesellschaftliche Konfliktlinien vielfach kreuzen; gleichzeitig aber rechtfertigte sie die Verfolgung eigener Interessen als auch für die Gesellschaft nützlich: persönlicher Egoismus wurde so gesellschaftlich akzeptabel und akzeptiert: private vices-public benefits. Sie behauptete eine Umpolung persönlichen Egoismus in eine öffentliche Wohltat.

Diese, wie sich heute zeigt, naive Pluralismustheorie ist inzwischen gründlich erschüttert: durch unsere alltägliche Erfahrung ebenso wie durch wissenschaftliche Forschung

Nicht alle Interessen der Menschen sind organisierbar, und manche organisierte Interessen haben eine größere Chance, sich politisch durchzusetzen als andere. Das „Gleichgewicht" ist eine problematische Größe; es kann sich auf verschiedenen Ebenen einpendeln. Ob und wann es von den Menschen als gerecht angesehen wird, ist zunächst eine offene Frage. „Interessenharmonie" ist zwar ein „intellektuell und affektiv bequemes Konzept" nur eben in der Realität selten vorfindbar. Statt dessen besteht eine Asymmetrie der Interessenvertretung in und zwischen Verbänden

Die empirischen wie logischen Kurzschlüsse der naiven Pluralismustheorie wurden von den Sozialwissenschaften schon vor Jahren aufgezeigt. Die strukturellen Engpässe, in die eine an ihr orientierte Politik führt, sind ebenso offensichtlich. Gleichwohl: mit Ausnahme der (neo-) marxistischen politischen Ökonomie war sie die public philosophy der westlichen Demokratien schlechthin. So wie die Laissezfaire-Okonomie dem Kapitalismus des vergangenen Jahrhunderts entsprach, entspricht diese Philosophie des Interessengruppenpluralismus der liberalen westlichen Demokratie seit etwa 1930 bis heute. In der Gegenwart stehen wir vor der Notwendigkeit eines grundsätzlichen philosophischen wie politischen Umdenkens. Für die CDU ist dies in der Mannheimer Erklärung geschehen: Insbesondere in den Kapiteln zur Neuen Sozialen und Frage zum Verhältnis Staat — Gesellschaft — Gruppen entwirft sie eine neue, problemadäquate Philosophie, die jenes für die CDU keineswegs spezifische naive Pluralismusverständnis überwindet, das uns in der Praxis (Subventionen) teuer zu stehen kommt. Politik gewinnt wieder eine neue, eigenständige Qualität.

Die Grenzen des Marktes Die CDU vertrat von Anfang an das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. In den Düsseldorfer Leitsätzen von 1948 fand es seinen klassischen Ausdruck. Die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft fiel im Lichte der ökonomischen Theorien der damaligen Zeit und im Engagement für Werte, die jenseits von Angebot und Nadifrage begründet sind. Nicht von „freier" Marktwirtschaft oder einfach von „marktwirtschaftlicher Ordnung", sondern von Sozialer Marktwirtschaft war die Rede. Damit war eine zweifache Aussage und Entscheidung getroffen:

— Die CDU sah in der Sozialen Marktwirtschaft die wirtschaftliche Entsprechung der demokratischen Staatsverfassung. Für die CDU hatte und hat die Soziale Marktwirtschaft instrumentale Bedeutung: sie ist Mittel zur Erreichung von Zielen, zur Verwirklichung von Werten. Werte und Ziele sind für die CDU jedoch nicht nur ökonomischer, sondern immer auch ethischer Natur. Nicht wegen ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit, sondern wegen ihrer demokratischen und sozialen Qualität sah und sieht die CDU in der Sozialen Marktwirtschaft eine präferable Wirtschaftsordnung. — Schon der Begriff „Soziale Marktwirtschaft"

impliziert die These: der Markt vermag viel, aber nicht alles. „Die Märkte leisten Wunder (das Wirtschaftswunder); aber sie vermögen nicht alles zu leisten“

Eine freie Marktwirtschaft löst nicht ihre eigenen sozialen Probleme. Der Markt ist nämlich nicht in der Lage, alle Entscheidungskonsequenzen bei dem zu internalisieren, der sie verursacht hat „Auch der vollkommenste Markt (stößt) an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit“ Deshalb geht die Soziale Marktwirtschaft „davon aus, daß der Markt nicht automatisch alle sozialen Probleme löst: Ein ausschließlich marktrationales Kalkül kann soziale Probleme, externe Kosten verursachen, deren Lösung der Markt selbst nicht anbietet. Die Soziale Marktwirtschaft verabsolutiert nicht das Marktsystem. . Sozial'ist nicht nur ein schmückendes Beiwort, sondern ein integrierender Bestandteil dieser ordnungspolitischen Konzeption.“

Soziale Marktwirtschaft verweist also auf die Grenzen einer reinen Marktsteuerung. Dieser Tatsache war man sich zu Beginn — theoretisch wenigstens — durchaus bewußt.

In den folgenden 20 Jahren setzte jedoch eine doppelte Entwicklung ein: — Die Soziale Marktwirtschaft wurde weitgehend pragmatisch verfälscht. Man hielt an ihren Prinzipien fest, setzte sie aber nur zögernd und zum Teil gar nicht in die wirtschaftspolitische Praxis um. Wirtschaftspolitik verlor ihren Charakter als Ordnungspolitik. Die Soziale Marktwirtschaft verkürzte sich in der Praxis und im Bewußtsein der Menschen auf eine ökonomische Zweckmäßigkeitsordnung: Wohlstand für alle.

— Der Begriff „sozial" verkümmerte in der programmatischen Konzeption der CDU mehr und mehr zu einem schmückenden Beiwort. Zwar hat die CDU in der Regierungspraxis den sozialen Fortschritt vorangetrieben. Was aber fehlte, war die ordnungspolitische Begründung und Einbindung ihrer Sozialpolitik. „Um das Zentrum der Marktwirtschaft (siedelten sich) viele kleine, nicht-marktwirtschaftlich geordnete Satelliten an. Die marktwirtschaftliche Lehre wurde angereichert durch Tarifpartner, Verbände, Sozialversicherung, staatliche Sozialpolitik und vieles andere. Die Marktwirtschaft wurde durch diese Anbauten abgestützt, korrigiert; es wurde umverteilt und verbessert. Aber die Marktwirtschaft blieb all dem gegenüber primär."

Dies war eine für die CDU folgenschwere Entwicklung: Es mußte der Eindruck entstehen, als gebe es nur einen Strom sozialpolitischen Denkens und Handelns: Gewerkschaften, Sozialdemokratie, Sozialismus.

Diese pragmatisch verfälschte und theoretisch verkürzte Soziale Marktwirtschaft wurde gleichzeitig als universales Ordnungsprinzip für die Gesellschaft schlechthin begriffen und verkündet. Der ordnungpolitische Dualismus der fünfziger und sechziger Jahre kannte nur zwei sich scheinbar ausschließende Steuerungsmechanismen: Markt und Staat. Andere Steuerungsmechanismen wurden theoretisch ausgeblendet und in der Praxis mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen angewandt. Die theoretische Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft unterblieb.

Die Folgen dieser Entwicklung:

— Als die Neue Linke innerhalb und außerhalb der SPD nicht so sehr die ökonomische Effizienz, sondern vor allem die Legitimität unserer Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung in Frage stellte, fand sie auch bei vielen, die mit Sozialismus nichts im Sinne hatten, offene Ohren. Wer auf eine mora-lische Herausforderung mit ökonomischen Argumenten reagiert, hat immer schon verloren. Die Neue Linke offenbarte eine Legitimitätsschwäche unserer staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung.

— Jene Bereiche der Gesellschaft und der Wirtschaft, die nicht marktmäßig gesteuert werden, wo der Wettbewerb durch Konzentration beeinträchtigt wird, können nicht länger aus dem Bewußtsein verdrängt werden. Die Steuerungsdefizite in unserer Gesellschaft sind offensichtlich, sie treten immer schmerzlicher zutage. Dabei handelt es sich fast durchweg um Bereiche, in denen der Markt nicht versagt, sondern einfach überfordert ist. Wer dennoch diese Steuerungsdefizite mit dem bloßen Hinweis auf die Vorzüge der Marktwirtschaft beantwortet, verliert immer mehr seine Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft.

So geriet die CDU ordnungspolitisch immer mehr in die Defensive, je mehr die Menschen merkten, daß sie nur noch sektoral, im industriellen Bereich der Gesellschaft, gut versorgt sind.

Die Grenzen der Industriegesellschaft Dies gilt a fortiori für eine Zeit, da sich unsere von einer industriellen zu einer nachindustriellen Gesellschaft wandelt Diese neue ordnungspolitische wirft Probleme auf.

In der industriellen Gesellschaft lag das Schwergewicht auf der Produktion und Verteilung industrieller Güter. Die nachindustrielle Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Bedeutung des tertiären Sektors (Dienstleistungen), des quartären Sektors (kollektive Güter) sowie der Produktion und Verteilung von Wissen und Information (quintärer Sektor).

Die Nachkriegszeit, die Phase Erhard, stand im Zeichen einer Ausweitung des industriellen Wachstums, gemessen am Bruttosozialprodukt. Wirtschaftspolitik war weitgehend Industriepolitik. Als Maßstab für die Wohlfahrt eines Volkes galt die Statistik für Volkseinkommen und Sozialprodukte.

Heute wächst die industrielle Produktion weniger rasch. Im sekundären Sektor treten erste Sättigungsgrenzen auf. Die anderen Sektoren der Gesellschaft nehmen hingegen einen wachsenden Anteil ein. Die Nachfrage in diesen Bereichen ist noch nicht erschöpft, vermutlich in naher Zukunft auch unerschöpflich. Die Versorgungsprobleme haben sich aus dem sekundären Sektor (Industrie) vor allem in den Dienstleistungsbereich und in den Bereich der kollektiven Güter verlagert.

Hier liegt wiederum kein spezifisches Problem der CDU. Nicht nur sie wurde von den neuen Problemen und Defiziten überrascht. Theoretiker wie Politiker konzentrierten sich lange Zeit auf den industriellen Bereich und vernachlässigten die nicht-marktwirtschaftlich lösbaren Probleme. Das ökonomische Denken war fast ausschließlich ein marktökonomisches Denken.

Heute müssen die wachsenden Probleme der nachindustriellen Gesellschaft theoretisch und politisch verarbeitet werden. Diese Aufgabe verlangt nach einer Ergänzung der Marktökonomik durch eine Nicht-Marktökonomik sowie nach der Entwicklung einer politischen Ökonomie der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei behalten die Grundgedanken der Neoliberalen nach wie vor ihre Gültigkeit. Sie müssen freilich durch neuere Erkenntnisse ergänzt werden. Mit dem Wandel von der industriellen zur nachindustriellen Gesellschaft hat sich die Bedürfnis-und Interessenlage der Menschen zwar nicht grundsätzlich verändert, wohl aber differenziert und ausgeweitet. Güter werden vor allem durch ihre Abwesenheit als wertvoll erfahren. In einer Gesellschaft, deren Mitglieder mit materiellen Gütern weitgehend saturiert sind, stellt sich erneut und elementar die Frage nach geistigen und ideellen Werten: nach Selbstverwirklichung, Partizipation, Transparenz, die Frage nach dem Sinn der ganzen Veranstaltung, die sich Gesellschaft und Staat nennt.

Die Erfahrungen der Menschen sind heute durch die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft mit geprägt. Diese Erfolge beruhten darauf, daß für den einzelnen der Sinn von Arbeit und Leistung unmittelbar einsichtig war. Das hat sich inzwischen geändert. Heute ist der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Leistung nicht mehr so einfach einsehbar wie früher. Viele glauben an Wohlstand nicht durch persönliche Leistung, sondern durch Ansprüche an den Staat: Leistungskritik, begleitet vom Verfolg angeblich höherer Werte, immer im Vertrauen darauf, daß die Arbeit ohnehin die anderen tun Die Grenzen des Wachstums Die Grenzen des Pluralismus und des Marktes traten verschärft in das Bewußtsein der Menschen, als der Bericht des Club of Rome die Welt auf die „Grenzen des Wachstums“ aufmerksam machte Jetzt wurde deutlich: die wirtschaftlichen und politischen Erfolge hatten ihren Preis: „Sie wurden erkauft auch durch den Einsatz solcher Faktoren, die bislang abundant waren und nun knapp wurden, für die aber kein Markt bestand und auch keiner instituiert werden konnte: Die . Umwelt'wurde ein knappes Gut, ohne daß sie marktfähig geworden wäre.“

Zugleich rückten durch die im Zeichen des Wirtschaftswachstums erzielten Erfolge ursprünglich nachrangige Bedürfnisse in den Vordergrund — Werte, Bedürfnisse, Nachfrage nach Gütern und Leistungen, die allesamt nicht so ohne weiteres quantifizierbar sind und über Marktpreise verrechnet werden können. Volkseinkommensstatistik und Bruttosozialprodukt sind ein immer unzulänglicherer Maßstab für das soziale „Wohlbehagen" und „Unbehagen" (Olson) der Menschen. Nötig sind „Statistiken über die sozialen Errungenschaften und Rückschläge, die sich nicht in Marktpreisen oder in der Volkseinkommens-Statistik niederschlagen", soziale Indikatoren als „Maßstab für Entwicklungen, an denen eine Gesellschaft ein direktes normatives oder moralisches Interesse hat, das sich in den Zielen der öffentlichen Politik ausdrückt"

In einer Zeit, da ein ökonomischer Markt, eine pluralistisch organisierte Gesellschaft sowie wirtschaftliche Expansion im industriellen Sektor kein Ersatz mehr für Politik sind, kommt auf die politische Führung — ob Partei oder Regierung — eine neue Aufgabe zu: nationale Ziele zu formulieren und durchzusetzen, ohne die Gesellschaft ex ante zu normieren und zu formieren. Dies kann sie nur tun, wenn sie zunächst ihre Gesellschaft versorgt mit Informationen über deren eigene Probleme. Das genau versuchen für die CDU die Mannheimer Erklärung und einzelne Beiträge wie etwa jener von Richard von Weizsäcker: „Chance der Krise" Sie ziehen, insbesondere mit der Neuformulierung der Sozialen Frage, die politische Konsequenz aus der bereits vor sechs Jahren von Mancur Olson vertretenen These: „Der klassische Ansatz zur sozialen Sicherheit, der im Bismarck-Deutschland begonnen ... wurde, (ist) noch weit davon entfernt, die sozialen Probleme zufriedenstellend zu behandeln und zu lösen, die jetzt erkennbar werden."

Neue Qualität der Politik Die verschiedenen Problemkreise konzentrieren sich um einen Punkt: der Bedarf moderner Gesellschaften an aktiver Politik wächst. Die Menschen spüren stärker als früher, daß ihr Glück nicht nur von eigenen, sondern in zunehmendem Maße von politischen Entscheidungen abhängt. Einstellung und Bewußtsein der Menschen haben sich verändert: Sie sind stärker als früher politisch-öffentlich orientiert. Dabei zweifeln die Menschen jedoch mehr und mehr daran, ob die Leistungsfähigkeit von Politikern, Regierungen und Parteien mit den Problemen Schritt hält: daher rührt — bei aller Sicherheit privater — eine Krise der öffentlichen Wertorientierung: Zukunftsangst, Unsicherheit, Orientierungskrisen. Die politische Herausforderung in der Perspektive des Bürgers ist keine punktuelle, sondern eine systemare. Die Bürger fragen und beurteilen Parteien nicht nach diesen oder jenen Einzelentscheidungen, sondern nach ihren politischen Zielen und ihren Fähigkeiten, diese zu verwirklichen. Diese Frage bezieht sich auf die Ziele der Gesellschaft insgesamt und, davon abgeleitet, auf die Ziele gesellschaftlicher Teilbereiche wie etwa des Wirtschafts-, des Bildungs-, des Gesundheits-und Sozialsystems. Die relative Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche muß erneut mit den Zielen der gesamten Gesellschaft in Einklang gebracht werden. „Auigabe der Politik und des demokratischen Staates ist es dabei, der Gesellschaft Ziele zu setzen und die dazu notwendigen Energien zu mobilisieren (Helmut Kohl)." Und an anderer Stelle, konkretisiert auf den Bereich der Wirtschaft:

„Die Soziale Marktwirtschaft ist eine Wirtschaftsordnung im Dienste der Gesellschaft. Die Wirtschaft ist für die Gesellschaft da — und nicht umgekehrt."

Die neuen Antworten Auf diese Fragen geben die Mannheimer Erklärung und das Ende 1975/Anfang 1976 als Entwurf zu erwartende Grundsatzprogramm eine Antwort. Damit stößt die CDU durch zu einer unbefangenen Analyse der internationalen wie der gesellschaftlichen Wirklichkeit und zu einer Weiterentwicklung ihrer ordnungspolitischen Konzeption. Die Mannheimer Erklärung ist vorläufiger Höhepunkt einer Diskussion, die seit einigen Jahren in der CDU im Gange ist. Sie will die Grundlagen für eine Neuorientierung der Politik der CDU schaffen. „Das Ziel der Mannheimer Erklärung ist, mit Hilfe einiger entscheidender Elemente unserer Politik die Grundstrukturen unserer politischen Gesamtstrategie zu verdeutlichen, aus der wir unsere freiheitlichen Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit herleiten“ (Kurt H. Biedenkopf) Die Mannheimer Erklärung stellt weder ein Grundsatzprogramm noch eine Wahlkampf-plattform noch eine auf 1976 fixierte politische Strategie im engeren Sinne dar. Ihr Ziel ist es nicht, zu vielem wenig, sondern zu wenigem viel zu sagen. Eine Kritik, die andere Maßstäbe zugrunde legt, geht an den Absichten der Mannheimer Erklärung vorbei.

Ausgehend von der Erkenntnis, daß sich poli-tilsches Handeln — die politische Aufgabe — aus der Konfrontation einer unverstellten Situationsanalyse mit den eigenen Werten und Zielen ergibt, gliedert sich die Mannheimer Erklärung („Unsere Politik für Deutschland") in zwei große Abschnitte Ausgangstage: Veränderungen der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Lage; Veränderungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland und:

Politische Aufgabe in der Außenpolitik und innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.

Interdependenz von Außen-und Innenpolitik In beiden Abschnitten steht die Interdependenz von Außen-und Innenpolitik im Vordergrund. Die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland setzt die Lösung ihrer inneren und sozialen Probleme voraus. „Außen-und Innenpolitik bedingen einander in ihren Voraussetzungen und Folgen. Wir können unseren Beitrag zur Friedenssicherung, zur Gestaltung einer neuen Weltordnung und damit zur Lösung der Probleme in der Welt nur leisten, wenn wir durch unsere Innenpolitik den inneren Frieden sichern, Wirtschaft und Gesellschaft leistungsfähig erhalten und Freiheit und soziale Gerechtigkeit verwirklichen." Die inneren Probleme unserer Gesellschaft wiederum haben sich verschärft — durch die Veränderungen der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Lage und durch die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse (Intensivierung der Verteilungskonflikte im nationalen wie internationalen Rahmen). Deshalb widmet die Mannheimer Erklärung besondere Aufmerksamkeit „den Veränderungen der politischen Machtverhältnisse, der Verschärfung der Verteilungskonflikte im weltweiten Rahmen, der anhaltenden Konfrontation zwischen Ost und West und der besonderen Bedeutung, die die europäische und die internationale Zusammenarbeit für Sicherheit und Wohlfahrt unseres Landes haben" (Kurt H. Biedenkopf)

Die Mannheimer Erklärung lenkt also die politische Aufmerksamkeit der CDU und der deutschen Öffentlichkeit wieder verstärkt auf die Bedeutung der Außenpolitik. Abgesehen von der Ostpolitik hat die CDU seit etwa 1968 (Berliner Programm) der Gesellschaftspolitik eindeutige Priorität eingeräumt und die Außen-und Sicherheitspolitik vernachlässigt.

Das ist nun nicht mehr länger möglich, gerade um der Gesellschaftspolitik willen. Poli« tische Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind nicht in einem nationalen Schneckenhaus zu bewahren, sondern nur offensiv, gemeinsam mit und für andere zu verteidigen und zu mehren. „Wir müssen also zweierlei lernen. Die Wurzeln außenpolitischer Fehlentwicklung liegen überwiegend in den Schwächen der Innenpolitik der beteiligten Länder. Wer außen-politisch weiterhelfen will, wende zunächst den Blick nach innen und mache seine außenpolitischen Vorschläge im Lichte dessen, was er innen sieht. Und zweitens: Bei allem, was wir tun, bei allem, was wir insbesondere innenpolitisch tun, müssen wir wissen, die Außenpolitik im weitesten Sinne, die Sicherheitspolitik, die Entwicklungspolitik und nicht zuletzt die Weltwirtschaftspolitik wird es erfordern, daß ein wachsender Anteil unserer Kraft, unserer Zeit und ein Anteil dessen, was wir hier zu Hause gemeinsam erwirtschaften, den außenpolitischen Zielen wird gewidmet werden müssen. Das ist schwer. Das ist keineswegs immer populär. Aber wenn wir es unterlassen, tragen wir selbst die Verantwortung dafür, daß unsere eigenen langfristigen Interessen nachhaltig und möglicherweise irreparabel berührt werden. Unser freies Gemeinwesen steht hier vor seiner möglicherweise entscheidenden Bewährungsprobe“ (Richard von Weizsäkker) Damit ist die Verknüpfung von Außen-und Innenpolitik in einer grundsätzlichen Dimension verankert. Die CDU erneuert auf diese Weise ein konstitutives Prinzip der PolitikKonrad Adenauers. Seine Außen-und Innenpolitik wurzelten in den gleichen Wertentscheidungen, beide waren normativ begründet, beide verfolgten die gleichen Ziele. Die Aufgabe der Zukunft besteht darin, Außen-und Entwicklungspolitik in den Dienst jener Werte zu stellen, die wir im Inneren mit einigem Erfolg verwirklichen konnten. Helmut Kohl vertritt in seiner Mannheimer Grundsatzrede einen durch die Werte Freiheit und Gerechtigkeit qualifizierten Begriff von Friede, Entspannung, Fortschritt als verbindlich für Innen-und Außenpolitik. Und Kurt H. Biedenkopf: „Wir müssen unseren eigenen Wohlstand angesichts des Elends in anderen Teilen der Welt durch entsprechende Leistungen zur friedlichen und sozialen Entwicklung derMenschheit rechtfertigen. Sozialer Fortschritt ist ebensowenig wie Solidarität, Freiheit und Gleichheit eine Kategorie, deren Verbindlichkeit an den Grenzen unseres Landes endet.“ In der Mannheimer Erklärung heißt es schließlich: „Unser wirtschaftlicher Wohlstand (verpflichtet uns) zur Solidarität mit den Hungernden und Bedürftigen in der Welt. Die Völker in den Entwicklungsländern nehmen uns heute nach unseren eigenen Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde in die Pflicht."

Die politischen Aufgaben der Bundesrepublik Deutschland ergeben sich ebenso wie jene im internationalen Bereich aus der Analyse der Ausgangslage. Es sind dies — neben der Wirtschafts-und Finanzpolitik:

— die Neue Soziale Frage und — die Verbesserung der Handlungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft.

Die Neue Soziale Frage Die Lösung der Neuen Sozialen Frage stellt sich als vorrangiges Problem dar angesichts — veränderter Grundlagen gesellschaftlicher Macht, — der Grenzen des Marktes, — der Grenzen des Pluralismus. Macht und Ohnmacht verteilen sich in einer durch Verbände und Organisationen geprägten und durch Wissen und Information gesteuerten nachindustriellen Gesellschaft auf eine neue Weise. Es gibt neue Privilegierte und neue Klassen Nicht nur wer über Eigentum, sondern auch wer über Informationen und Verbände verfügt, hat Macht in unserer Gesellschaft: „Die Linie, die Mächtige und Ohnmächtige trennt, läuft nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen den mächtigen Organisationen und den Mächtigen in Organisationen auf der einen und dem Rest der Gesellschaft auf der anderen Seite, einem Rest, zu dem wir alle mit unseren latenten, aber doch vorhandenen Bedürfnissen gehören, Bedürfnissen, die für unser Glück oft entscheidender sind als jene Interessen, auf die mächtige Organisationen durch lauten Lärm aufmerksam zu machen vermögen.“

Und es gibt neue Minderheiten, Schwache und Ohnmächtige, jene, die „am Rande der Gesellschaft schweigend leiden" (M. Olson). Im 19. Jahrhundert war die Soziale Frage leicht und eindeutig auszumachen, ebenso ihre Lösung. Der einzelne (Arbeitnehmer, damals noch Proletarier) konnte nur in kollektiven Verbänden seine organisierbaren Interessen gegenüber Dritten (Arbeitgeber und Staat) wirkungsvoll durchsetzen. Die alte soziale Frage ist heute nicht schlechthin gelöst, wohl aber durch die Demokratisierung des industriellen Konflikts institutionalisiert und dadurch entschärft. Die Neue Soziale Frage löst die alte nicht ab, aber sie überlagert sie mehr und mehr. Sie lautet: Wie kann der ein-zelne seine nichtorganisierbaren und nichtkonfliktfähigen Interessen in und gegenüber mächtigen Verbänden mit Hilfe des Staates (nicht einfach: durch den Staat) durchsetzen? Damit gewinnt die Neue Soziale Frage eine doppelte Dimension:

— sie verweist auf strukturelle Minderheiten in unserer Gesellschaft (z. B. ältere und weibliche Arbeitnehmer, Nichterwerbstätige, Behinderte);

— sie verweist auf latente Gruppen in der Gesellschaft, denen wir alle mit unseren nichtorganisierbaren, aber doch vorhandenen Interessen angehören (z. B. Verbraucher, Sparer, Steuerzahler).

Die Mannheimer Erklärung faßt beide Aspekte des einen Problems zusammen:

„Zu dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sind Konflikte zwischen Produzenten und Nichtproduzenten, zwischen organisierten und nichtorganisierten Sonderinteressen von Bevölkerungsgruppen, zwischen Minderheiten und der übrigen Gesellschaft, zwischen Stadt und Land und zwischen den Machtausübenden und Machtunterworfenen innerhalb der organisierten autonomen Gruppen getreten ... Die Nichtorganisierten, alte Menschen, Mütter mit Kindern, oder die nicht mehr Arbeitsfähigen, sind den organisierten Verbänden in aller Regel unterlegen. Hier stellt sich die Neue Soziale Frage. Die bisherige Betonung des Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital hat häufig die Probleme der wirklich Schwachen und Bedürftigen in unserer Gesellschaft verdeckt. Hierzu gehören die schwierige Stellung der Frau mit ihrer oft unerträglichen Mehrfach-belastung von Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und Haushaltsführung, die Wahrung der Menschenwürde im Alter, die Lage der Gastarbeiter, die soziale Sicherung älterer Selbständiger, die Probleme der Kinder in einer Welt der Erwachsenen, die Frage der Erziehungsfähigkeit unserer Familien und die Schwierigkeiten von Behinderten und Allein-stehenden. Hinzu kommen Probleme wie die Zerstörung der Umwelt, inhumane Stadtplanungen, familienfeindliche Wohnungen und das Phänomen gesellschaftlich bedingter Krankheiten."

Für eine demokratische Verfassung der Verbände Der Grund für das Problem liegt in der Tatsache, daß mächtige Verbände ihre Interessen zu Lasten der Allgemeinheit und auch zu Lasten ihrer eigenen Mitglieder durchsetzen, und dies in doppelter Hinsicht:

— Die Interessen von Minderheiten in Verbänden bleiben unberücksichtigt. Darauf verweist der rheinland-pfälzische Sozial-minister Heinrich Geißler: „Im übrigen kann man auch einmal über die Frage nachdenken, ob die Aufrechterhaltung der Leichtlohngruppen in der Industrie nicht das Ergebnis eines Kartells der zu 86 " Io in den Gewerkschaften organisierten Männer mit den Arbeitgebern ist, die eben auf 0, 5 °/o lineare Lohnerhöhung verzichten müßten, um endlich die Leichtlohngruppen abzuschaffen. Ich glaube, diese Frage betrifft ebenfalls die Mächtigen und die weniger Mächtigen in unserem Staate.'

— Weil nicht alle Interessen und Verbände den gleichen Zugriff zu politischen Entscheidungen haben. Ein Beispiel dafür liefert die staatliche Subventionspolitik: „Wir brauchen nicht alle paar Jahre wieder einen schönen Subventionsbericht. Wir brauchen eine Subventionsprüfung und eine Abschaffung derjenigen Subventionen, die dieser Prüfung nicht standgehalten haben“ (Norbert Blüm)

Die Neue Soziale Frage läßt sich nicht durch den Hinweis auf Caritas verniedlichen oder auf die Finanzkrise abschieben. Sie ist primär keine Frage des Geldes, sondern des politischen Mutes. Sie ist die Form, in der sich heute die alte Frage nach der sozialen Gerechtigkeit neu stellt. „Es sind dies Fragen der Gerechtigkeit, insbesondere der sozialen Gerechtigkeit, die uns in Zukunft beschäftigen müssen und deren Beantwortung möglich bleiben muß, unabhängig von der Frage der Wachstumsrate und damit unabhängig vom Zuwachs des Bruttosozialprodukts, welches zur Verteilung ansteht“ (Kurt H. Biedenkopf)

Wie die Lösung der alten so wird auch die Lösung der Neuen Sozialen Frage auf gesellschaftliche Widerstände stoßen. „Daß wir bei der Antwort auf diese Frage auf Besitzstände stoßen, auf die Besitzstände derer, die von Veränderungen die Bedrohung ihrer Privilegien fürchten, ist eine notwendige Folge des Wandels, der uns zu politischem Handeln herausfordert“ (Kurt H. Biedenkopf) Im Unterschied zu anderen rechnet die CDU jedoch nicht nur mit dem Widerstand jener, die ihre Privilegien auf überkommene Grundlagen gesellschaftlicher Macht gründen, sondern auch jener, die von der Machtverschiebung in der Gesellschaft profitieren.

Die Lösung der alten sozialen Frage erfordert kollektive Interessenverbände, die Lösung der Neuen Sozialen Frage erfordert eine — äußere und innere Verfassung der Verbände, die demokratischen Prinzipien entspricht, — engagierte, motivierte Bürger und — einen handlungsfähigen Staat.

Neue Probleme zwingen zu einer neuen Bestimmung des Verhältnisses Staat — Gesellschaft — Gruppen-Verbände. Dabei geht es darum, die Grenzen des Pluralismus zu überwinden, ohne den Pluralismus als unerläßliches Strukturprinzip einer freien und offenen Gesellschaft preiszugeben.

Staat und Gesellschaft Die CDU versteht den Staat weder als Verlängerung noch als Summe der Gruppenansprüche. Er ist aber auch nicht jene von der Gesellschaft unabhängige und getrennte Instanz, die souverän ein statisches, a priori vorgegebenes und objektiv erkennbares Gemeinwohl definiert und durchsetzt. Weder denunziert die CDU den Staat mit Marx und seinen Nachfolgern als Agenten einer Klasse noch hypostasiert sie ihn mit Hegel und seinen Epigonen als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“. „Der Staat gibt uns keine totale Ordnung. Er ist kein geweihtes überich und besitzt nicht das Amt der Letztinstanzlichkeit für den Menschen. Aber er ist die Institution der frei verantwortlichen Bürger füreinander' Der Staat als gemeinsame Institution seiner Bürger zur Lösung gemeinsamer Probleme — dies ist die theoretische wie politische Alternative zu jedem parteiischen Demokratieverständnis autoritärer wie sozialistischer Prägung. Die Bürger des Staates sind immer zugleich Mitglieder der Gesellschaft, organisiert in Gruppen und Verbänden. Verbände und Staat stehen im Dienste der Bürger. Diese haben persönliche, gruppenspezifische und allgemeine „kollektive" Interessen.

Der Staat wiederum handelt nicht an sich und für sich, sondern durch seine Organe, insbesondere durch seine Regierung entweder in eigenem Interesse, im Interesse von Verbänden oder im Interesse der Bürger. Der Staat und die Gesellschaft stehen sich nicht als abstrakte und selbständige Größen in manichäischer Urgewalt gegenüber. Hier wie sonst erweist sich übrigens ein Vorteil der Mannheimer Erklärung: die nüchterne, analytische Sprache führt zu einer differenzierten Problem-erkenntnis und ermöglicht dadurch eine adäquate Problemlösung.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile — dieser Satz, der manchen (politischen) Philosophen zu tiefsinnigen und politisch meist gefährlichen Spekulationen verleitet hat, läßt sich auch ohne metaphysischen Mehrwert verstehen: Jedes System, jedes „Ganze" besteht aus seinen Teilen und den Beziehungen zwischen ihnen. Diese Beziehungen — etwa im wirtschaftlichen oder im gesellschaftlichen Bereich — zu ordnen ist Aufgabe der staatlichen Ordnungspolitik. Wer mehr will, will eine formierte Gesellschaft — unter welchen politischen Vorzeichen auch immer. Dies ist nicht die Position der CDU und der Mannheimer Erklärung. Es ist aber die Position all jener, die Konflikte in der Gesellschaft nur als antagonistische Konflikte erklären, das politisch-gesellschaftliche Spiel nur als Nullsummenspiel begreifen können, bei dem der eine immer das gewinnt, was der andere verliert, jener also, die die staatliche und gesellschaftliche Veranstaltung nur als societas leonina oder als Klassenkampf beschreiben können. Sie lassen uns nur die Wahl zwischen rechts-oder linksautoritären Lösungen. Dieser Radikalismus ebenso falscher wie extremer Alternativen beruht auf einer unzutreffenden Analyse; seine politischen Konsequenzen gefährden die Freiheit der Menschen und des Staates.

Die CDU will einen handlungsfähigen Staat, weil nur er ein sozial gerechter und liberaler Staat sein kann, einen Staat mit Autorität, keinen autoritären Staat. Helmut Kohl: „Wir wollen einen starken Staat mit Autorität, damit er als gerechter Staat der Anwalt auch der Schwachen, der Nichtorganisierten, der Verbraucher, der Rentner, der Frauen und Kinder sein kann, jener, die häufig am Rande stehen und keine starken Verbände im Rücken haben. Wir müssen von der weitverbreiteten Ansicht loskommen, daß unser Staat ein Selbstbedienungsladen sei, daß diejenigen, die stark und mächtig sind, unbegrenzte Zugriffsmöglichkeiten auf staatliche Leistungen haben.“ Ein solcher Staat liegt im Interesse aller Bürger: „Politische Parteien und Regierungen müssen den Anspruch des Ganzen im Interesse aller notfalls gegen den Anspruch mächtiger Organisationen zur Geltung bringen. In einer offenen Gesellschaft kann das Gemeinwohl nicht ohne Einzel-und Gruppeninteressen auskommen. Aber das Gesamtinteresse ist nicht die Addition von Einzelinteressen' (Helmut Kohl)

Ein Staat, eine Regierung, eine Partei, die ihre Aufgabe so begreifen, werden Ansprüche und Zumutungen zurückweisen müssen. Gleichwohl liegt hier kein Konflikt vor, bei dem nur die eine Seite — Staat oder Verbände — gewinnen kann. Eine grenzenlose Ausweitung verbandlicher Macht ohne Kontrolle liegt auch nicht im Interesse der Verbände selbst. Eine solche Ausweitung würde nämlich den Staat zu direkten Eingriffen zwingen und unterliefe damit gerade die Grundlage verbandlicher Macht und Unabhängigkeit. Hier liegt ein ähnlicher Sachverhalt vor wie auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Staates. Kurzfristig mag es im Interesse einer Regierung oder eines Unternehmens liegen, die Macht auszudehnen und Kontrollen aufzuheben. Dadurch untergraben sie aber jene Grundlagen, auf denen ihre Macht beruht. Für Staat, Wirtschaft und Verbände gilt: maximale Macht ist nicht optimale Macht. Macht ohne Kontrolle verliert ihre Legitimation: sie ruht auf einer brüchigen Grundlage — oder aber auf Gewalt. Für jeden Verband und für die Gesamtheit der Verbände gilt, was Helmut Kohl im Hinblick auf die Gewerkschaften betonte: „Gewerkschaftliche Übermacht zerstört die Grundlagen ihrer eigenen hdacht. In einem , Gewerkschaftsstaat'wären Gewerkschaften allmächtig — und iunktionslos.“

Diese Einsicht ist bei den Verbänden durchaus lebendig. Wer sie als „Raubtiere" zeichnet, entwirft ein Zerrbild. Jeder Verband will nur sichergehen, daß die Berechenbarkeit des Verhaltens der Verbände insgesamt gewährleistet ist — aus gutem Grunde: Das gemeinwohl-orientierte Verhalten eines Verbandes bringt ihm sonst individuellen Nachteil, ohne den gemeinsamen Vorteil zu fördern. Die Aufgabe, die sich hier stellt, ist in den anderen Bereichen durch die staatliche und — im Prinzip wenigstens — durch die wirtschaftliche Verfassung der Sozialen Marktwirtschaft gelöst. Für den Markt der Verbände muß sie noch gelöst werden. Nötig ist eine Verfassung der Verbände, die die Beziehungen des Staates zu den Verbänden, der Verbände untereinander sowie der Mitglieder zu ihren Verbänden regelt. In den Worten der Mannheimer Erklärung: „Die veränderte Stellung des einzelnen in der autonomen Gruppe erfordert, daß unsere Rechtsordnung auch hinsichtlich der demokratischen Gestaltung der Gruppen und des Verhältnisses der Verbände zu ihren Mitgliedern durchgesetzt wird. Dies gilt insbesondere in den Bereichen des Minderheitenschutzes, der Verbandspublizität, der Schiedsgerichtsbarkeit und der Sicherung der demokratischen Willensbildung im Verband. Die berechtigten Interessen und Bedürfnisse des einzelnen müssen im Rahmen des Verbandes berücksichtigt werden." Diese Aufgabe kann weder von einem eng definierten „Verbändegesetz“ — von einem „Gewerkschaftsgesetz", das die CDU nicht will, ganz zu schweigen — noch durch eine Institution — Konzertierte Aktion oder Bundeswirtschafts-und Sozialrat — gelöst werden. Aus guten Gründen lehnt die CDU beides ab. Kurt H. Biedenkopf in Mannheim: „Wir haben nicht die Absicht, die großen Gruppen an die , gesetzliche Leine'zu legen. Es gibt eine ganze Reihe von Fragen, die man in einer freien Gesellschaft nicht durch Gesetze regeln kann, wenn man nicht zugleich die Freiheit zerstören will." Einen Sozialpakt zwischen Staat und Verbänden lehnt die Mannheimer Erklärung ab: „Ein Sozialvertrag zwischen Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften ist ungeeignet, den berechtigten Anliegen der Schwachen in unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen." Wohl aber muß dieses Problem institutionell-ordnungspolitisch gelöst werden. Moralische Anreize — politischer Appell an das Verantwortungsgefühl der Verbände — sind nötig und nützlich, genügen aber nicht. Die CDU hat in den vergangenen Jahren die Scheinwerfer der politischen Aufmerksamkeit auf diese Probleme gerichtet und sie dadurch erst sichtbar gemacht. Helmut Kohl: „Gewerkschaften müssen heute wie andere Verbände und , Mächte'unserer Gesellschaft bestehen vor der Frage nach der Demokratie, die sie in ihren eigenen Reihen verwirklichen und die sie in Staat und Gesellschaft ermöglichen“ und wenig später: „Jede autonome Gruppe in der Gesellschaft, auch die Gewerkschaften, ist immer wieder aufgefordert, ihren Autonomie-anspruch und die ihr gegebenen oder von ihr beanspruchten Kompetenzen zu legitimieren. Jeder Träger von Macht in dieser Gesellschaft muß sich der kritischen Diskussion stellen. Aufgabe der Regierung und der Parteien ist es, darauf zu achten, daß autonome Gruppen ihre Kompetenzen nicht überschreiten, sich selbst nicht von jeglichen Kontrollen freisetzen und in der Handhabung der eigenen Marktchancen nicht das Gleichgewicht der Kräfte zerstören und das Gemeinwohl gefährden.“

Das Verbandswesen muß in eine liberale Ordnungspolitik integriert werden, soll es nicht die Grundlagen der Demokratie gefährden. Die CDU ist dabei, Lösungsvorschläge für dieses für die Zukunft der Demokratie entscheidende Problem zu erarbeiten, ein Problem, das sich in dieser Schärfe freilich nur einer liberalen Partei stellt. Dies erweist sich deshalb als eine schwierige Aufgabe, weil Rechts-und Sozialwissenschaften bisher kaum alternative Lösungsvorschläge erarbeitet und kritisch analysiert haben.

Motivation und Partizipation der Bürger Regierungen und Parteien haben freilich einen größeren Handlungsspielraum, als Ihnen selbst oft bewußt ist. Das ist weitgehend ein Informationsproblem. über die artikulierten Interessen von Verbänden (und ihren Funktionären!) sind Regierungen in der Regel besser informiert als über die tatsächlichen Interessen von Verbandsmitgliedern oder über die nichtorganisierten Interessen aller. Entsprechend war und ist die Politik: Die Subventionen wachsen schneller als der Bundeshaushalt; die Regierung engt ihren eigenen Handlungsspielraum ein. Regierung und Parteien gingen bisher oft von der Annahme aus, die Unterstützung von Verbandsfunktionären sichere ihnen die Wahlunterstützung von Verbandsmitgliedern. Diese Annahme hat sich als unzutreffend erwiesen. Wer nur auf Funktionäre hört, weiß über das, was die Menschen wirklich wollen, nur unzureichend Bescheid. Die Demokratie kennt zum Glück Wahlen, die hier Lernprozesse auslösen.

Die Information der Politiker über die tatsächlichen Präferenzen der Wähler kann nur durch eine verstärkte Partizipation der Bürger innerhalb und außerhalb von Verbänden erhöht werden — Bürgerinitiativen erfüllen dabei eine wichtige Funktion. Dann entsteht jenes aktive Wechselspiel zwischen einer aktiven politischen Führung und einer aktiven Öffentlichkeit, welches Werte, Bedürfnisse und Interessen der Menschen in einem umfassenderen Sinne als bisher berücksichtigt. Das Wertberücksichtigungspotential von Partei und Regierung wird dadurch erhöht, daß sich die Legitimation für politisches Handeln von der Ebene der Verbände stärker auf die Ebene der Bürger zurückverlagert. Das ist der politische und theoretische Grund, warum die Mannheimer Erklärung der Beteiligung, der Motivation und dem Engagement der Bürger so hohen Wert beimißt: „Die große Mehrheit der Bevölkerung ist heute bereit, Entscheidungen, die das öffentliche Wohl betreffen, auch persönlich mitzutragen, wenn ihr diese Entscheidungen einsichtig sind" und wenig später:

„Die ständige, aktive Mitwirkung einer umfassend informierten Bevölkerung an den gesellschaftlichen Planungs-und Entscheidungsprozessen ist für die Erhaltung unserer heutigen Ordnung unverzichtbar.“

Auch in dieser Frage brachte Mannheim einen Wandel. Die CDU gewinnt Anschluß an die wissenschaftliche und politische Partizipationsdiskussion. Sie versteht die Aufgabe und die Rolle des Bürgers auf eine neue Weise: Den Bürger dahin zu motivieren, nicht nur Ansprüche zu stellen, sondern auch Loyalität und Solidarität zu zeigen, wird zu einer wichtigen politischen Aufgabe: „Unser Leitbild ist der sozial engagierte und motivierte Bürger, der über den eigenen Interessen nicht die Bedürfnisse seiner Mitbürger und des Gemeinwesens vergißt. Was das Gemeinwesen für den Bürger leisten soll, kann es nur durch den Bürger leisten. Ein Gemeinwesen, das allen dient, muß auch alle — je nach ihren Kräften — in Pflicht nehmen."

Die aktive Beteiligung der Bürger erhöht die Handlungsfähigkeit des Staates: „Die Entscheidungs-und Durchsetzungsfähigkeit des Staates hängt in der freiheitlichen Demokratie nicht in erster Linie von der verfassungsrechtlichen Stellung seiner Organe, sondern von der Zustimmung seiner Bürger ab. Ein Staat, der diese Zustimmung nicht findet, ist entweder nicht freiheitlich oder nicht handlungsfähig. Der freiheitliche Staat kann die Zustimmung der Bürger nur erwarten, wenn das Leitbild seiner Politik, eine freiheitliche, gerechte und solidarische Gesellschaft ist ... In einer solchen Politik verbinden sich die Zielvorstellungen der vom Volk gewählten und legitimierten Vertreter mit der Bereitschaft der Bürger, die gemeinsamen Ziele zu tragen und zu verwirklichen ... Eine Gemeinschaft wird nur mitgetragen von dem, der an ihr gestaltend mitwirken kann. Die aktive Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben und die umfassende demokratische Kontrolle staatlichen Handelns gewährleisten die Stabilität einer freiheitlichen Gesellschaft. Die Bürger müssen deshalb stärker als bisher die Möglichkeit erhalten, im öffentlichen Leben ebenso mitzuwirken und mitzubestiirfmen wie am Arbeitsplatz oder als Verbraucher.“

Die verstärkte Mitwirkung der Bürger erhöht aber auch die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Diese ist Voraussetzung für die Lösung künftiger Probleme. Die Intelligenz einer demokratischen Gesellschaft liegt in der Mobilisierung der vorhandenen Ideen, Fähigkeiten, Initiativen. Die CDU setzt nicht alleine auf den starken Staat oder gar auf den starken Mann an dessen Spitze, sondern auf die Kreativität und Leistungsfähigkeit des einzelnen in einer freien Gesellschaft. Die politische Aufgabe besteht darin, diese Kräfte freizusetzen und ihnen Ziele zu weisen. Dies hat Voraussetzungen und Konsequenzen.

Die Voraussetzungen:

— eine dezentrale Organisation von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft: „Für die Steigerung der Handlungs-und Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft müssen ihre dezentralen und offenen Strukturen erhalten und weiter ausgebaut werden.“

— Förderung von persönlicher Leistung, deren Erfolg belohnt werden und individuell zurechenbar bleiben muß;

— eine Gesellschaftspolitik, die auf mehr Freiheit zielt und für die mehr Gleichheit „nur" instrumentale Bedeutung hat: mehr Gleichheit um der Freiheit willen.

Die Konsequenzen:

— Entstaatlichung, wo immer möglich. Ein allzuständiger Staat ist unbeweglich, ungerecht, freiheitszerstörend. Nur ein Staat, der sich auf seine eigentlichen Aufgaben besinnt, kann diese — vor allem im sozialen Bereich — wirkungsvoll erfüllen;

— Abschied von dem säkularisierten Glauben:

Was der Staat tut, das ist wohlgetan .... und dessen Umkehrung: Was gut getan werden soll, muß der Staat tun.

Der Staat macht heute zu viel zu schlecht. Die CDU will weniger Staat, dafür einen besseren.

. Nach unserem Staatsverständnis ist es nicht die vorrangige Aufgabe des Staates, für die Bürger eine Unzahl wirtschaftlicher und administrativer Dienstleistungen zu erbringen.“ Die überkommenen Besitzstände, die dabei zu überprüfen sind, betreffen nicht nur die Sozialpolitik. Die Grenzen des Sozialstaates sind nicht erreicht, wohl aber die Grenzen einer un-differenzierten, finanziell nicht durchdachten und rein expansiven Sozialpolitik. „Ich glaube, wir müssen gerade deswegen, weil wir ein großes soziales Erbe zu verteidigen haben, mit der undifferenzierten Verwendung des Begriffes . Grenzen des Sozialstaats'vorsichtig sein. Das Problem der umfassenden Finanzkrise darf nicht einseitig in ein Problem der Krise des Sozialstaates umgemünzt werden." Ein Staat jedoch, der seinen sozialen Regen ergießt über Bedürftige und Wohlhabende, wird unfähig, jenen wirksam zu helfen, die seiner Hilfe tatsächlich bedürfen. Die unsozialste Sozialpolitik ist jene, die schon mittelfristig in eine finanzielle Katastrophe treibt. Wer den Staat überfordert, gefährdet seine Leistungsfähigkeit und damit die Freiheit und soziale Sicherheit des einzelnen.

Dynamische und mehrdimensionale Ordnungspolitik Der Einsicht in die begrenzte Fähigkeit des Staates, alle Probleme zu lösen und alle Übel zu beseitigen, entspricht das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit seiner Bürger: Freiheit als schöpferische Aktivität des Menschen.

Damit steht die CDU im Gegensatz zu allen politischen Gleichheitsprogrammen. Wer — wie der Orientierungsrahmen der SPD — daran glaubt, daß gesellschaftliche Gleichheit politisch machbar ist, der muß die gesellschaftlichen Kosten nennen (Lähmung von Initiative, geringere Leistungsfähigkeit der Gesellschaft insgesamt) und die Rückwirkung auf andere Werte und Ziele angeben, die ein solches Gleichheitsprogramm notwendig mit sich bringt.

Die CDU lehnt-eine stärkere Konzentration Macht beim Staate ab. gesellschaftlicher Der Staat ist nicht allmächtig — und soll es nicht sein. Die CDU setzt auf die Intelligenz der Demokratie, auf die schöpferischen Kräfte einer freien Gesellschaft. Diese Intelligenz beruht in der Nutzung von Wissen, das niemand, — kein einzelner, keine Regierung, keine Partei — als Ganzes je mobilisieren könnte. Gerade in einer Zeit, in der die Schere zwischen dem gesamtgesellschaftlich verfüg-baren und dem individuell erwerbbaren Wissen sich ständig weiter öffnet, kommt es entscheidend darauf an, Staat und Gesellschaft so zu organisieren, daß Wissen, Ideen und Fähigkeiten umfassend aktiviert werden. Daher das Engagement der CDU für eine offene Staats-, Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung. Für die CDU ist nicht „der“ Staat oder „die“ Gesellschaft, sondern der einzelne Bezugspunkt ihrer Politik.

Die differenzierte Analyse der Mannheimer Erklärung rückt die Politik wieder näher an den Menschen und seine Bedürfnisse heran. Im Lichte einer neuen Theorie werden die Konturen einer „Politik um des Menschen willen" sichtbar:

Menschen vertreten Interessen, haben Bedürfnisse, verfolgen Ziele, — die sie alleine oder in Primärgruppen verwirklichen können-, — für deren Befriedung der Markt ein geeignetes Instrument darstellt;

— für deren Wahrnehmung sie auf Verbände angewiesen sind;

— die nur der Staat durchsetzen kann;

— die überstaatliche, supranationale Organisationen erfordern.

Die Menschen suchen also ihre Ziele auf mehreren Ebenen, mit unterschiedlichen-Mitteln zu erreichen. Nur eine (Ordnungs-) Politik, die alle diese Ebenen umfaßt und nicht eine von ihnen willkürlich verabsolutiert, wird dem Menschen mit seinen Hoffnungen und Wünschen gerecht. Helmut Kohls Forderung nach einer „Politik um des Menschen willen" wird so — weil entfernt von jeder sentimentalen Unverbindlichkeit — zu einem Inperativ für eine neue durchgängige Ordnungspolitik. „Wir wollen nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Durchsetzung der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft; denn diese Ordnung ist keine statische Größe' (Helmut Kohl).

Diese Prinzipien aber — Wettbewerb, Gewaltenteilung, Dezentralisation, Freiheit der Wahl zwischen Alternativen — sind nichts anderes als die Prinzipien der Demokratie. Die Neound Ordoliberalen hatten diese Erkenntnis für den industriellen Bereich der Gesellschaft — den wettbewerblich organisierten Markt — fruchtbar gemacht. Sie wußten auch: „Der Wettbewerb ist nicht ein Ersatz für, aber ein Ergebnis der Politik.“

Nach Mannheim ist die CDU in der Lage, aber auch aufgefordert, zu einer mehrdimensionalen Ordnungspolitik durchzustoßen, die den Herausforderungen der Zeit, dem theoretischen Fortschritt der Wissenschaft und den Prinzipien der CDU in gleicher Weise gerecht wird — zu einer Ordnungspolitik, die die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nicht verrät, sie aber dynamisch für alle Ebenen menschlichen Handelns und für sämtliche Sektoren der Gesellschaft weiterentwickelt. Auf diese Weise gelingt es der CDU, „die gewonnenen Ziel-begriffe in einem ordnungspolitischen Gesamtkonzept zu verankern“ Die gleichen Prinzipien kommen überall, wenn auch mit unterschiedlichen Methoden, zur Anwendung. In dieser Weiterentwicklung ihrer ordnungspolitischen Konzeption zeigen sich Wandel und Kontinuität der CDU:

— Die CDU knüpft, insbesondere mit der Neuen Sozialen Frage, an die Tradition der katholischen Soziallehre wie der christlichen Sozialethik an. Christlich-soziale Politik hat sich schon immer um vergessene Minderheiten am Rande der Gesellschaft gekümmert. Sie kann dies jetzt nach Mannheim analytisch klarer, politisch konsequenter und umfassender, weil auch die sprachlosen Mehrheiten einschließend, tun.

Damit wird überhaupt erst die grundsätzliche Alternative sichtbar zu einer Sozialpolitik, die sich aus anderen geistigen Quellen speist und in andere politische Konzeptionen mündet. Bisher floß Sozialpolitik im breiten Strom einer „gewerkschaftlichen Wirtschaftsideologie" 56a). Zwar setzte christlich-soziale Politik politisch andere Akzente, theoretisch lief sie den anderen meist hinterher. Nach Mannheim ist die CDU in der Lage, ihre Sozialpolitik auf ein eigenes, unverwechselbares geistiges Fundament zu gründen und das, was sie sozial-politisch immer schon tat, in einem anderen Lichte und in einem neuen Zusammenhang zu sehen. — Die CDU knüpft an ihre liberalen Prinzipien an, bricht aber den ordnungspolitischen Dualismus der 50er und 60er Jahre auf: zwischen die marktwirtschaftlich geordnete Individualebene und die politisch gesteuerte Staatsebene schiebt sich als dritte, mittlere Ebene jene der Verbände und Organisationen. In einer freiheitlichen Gesellschaft, in der der Markt nicht alles leisten kann und der Staat nicht alles leisten soll (und kann), kommt ihnen wachsende Bedeutung zu.

Auf diese Weise gelingt es der CDU, die Grenzen des Marktes zu überwinden, ohne dessen Prinzipien zu verraten, ebenso die Grenzen des Pluralismus, ohne ihn als Strukturelement einer freiheitlichen Demokratie preiszuge-ben 56b), den Wandel der Gesellschaft zu erkennen, um ihn dann aktiv steuern zu können, statt ihn zu verleugnen, um sich ihm dann nur noch anpassen zu können.

Nach Mannheim ist die CDU eine neue, aber keine andere Partei. Ihr Wandel ist Antwort auf die Herausforderung unserer Zeit: „Unser Land, unsere Politik und damit unser Leben selbst stehen an einer Zeitwende“ (Kurt H. Biedenkopf)

Diese Herausforderung verbietet es, weiterhin so Politik zu machen, als sei nichts geschehen: „Ein neuer Stil, Politik zu betreiben, ist 'Voraussetzung nicht nur für das gute Leben, sondern für das bloße überleben schlechthin' (Helmut Kohl)

Dieser Wandel erfordert aber auch einen Wandel unserer privaten und öffentlichen Einstellungen, denn: „Die gegenwärtigen Krisen sind nicht einfach so vom Himmel über üns gekommen. Sie sind von uns gemacht. Sie liegen in unseren Verhaltensweisen begründet, sie sind das Ergebnis des unbändigen Willens zu einem möglichst gradlinigen Fortschritt, einem Fortschritt, der sein , Maß'am Triumpf des Menschen über die Natur genommen hat. So ist die eigentliche Ursache für die Krisen unserer Zeit in der herrschenden, besitzergreifenden, ausbeutenden Haltung des Menschen gegenüber der Natur, der Gesellschaft, ja, seiner eigenen Geschichte zu sehen. Die Kluft zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Mitmensch, zwischen Mensch und Geschichte ist größer geworden" (Helmut Kohl)

Mit Mannheim nimmt die CDU auch Abschied von einem politischen Stil, der nicht nur für sie typisch war. Die CDU nach Mannheim — nicht nur eine geschlossene Partei, sondern, als Antwort auf die Probleme der Zeit und die Fragen der Bürger, wieder eine Partei mit „neuen Horizonten, neuen Zielen, neuen Idealen"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Präambel der Mannheimer Erklärung; die Mannheimer Erklärung ist im Anhang zum Protokoll des 22. Bundesparteitages der CDU in Mannheim abgedruckt (Herausgeber: Christlich-demokratische Union Deutschlands, Bundesgeschäftsstelle, Bonn).

  2. Zur Situation in der SPD vgl. Warnfried Dettling: Friedliche Koexistenz. Der Konflikt in der SPD, in: Sonde 2/75, S. 36 ff.

  3. Vgl. dazu den Abschnitt „Politik und Intellektuelle“ in dem Buch von Helmut Kohl, Zwischen Ideologie und Pragmatismus. Aspekte und Ansichten zu Grundfragen der Politik, Stuttgart 1974’, sowie ders., Die Stellung der Gewerkschaften in Staat und Gesellschaft, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Oktober 1974 (als Broschüre „CDU und Gewerkschaften" nachgedruckt, Herausgeber: CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abtl. Öffentlichkeitsarbeit — zitiert im folgenden nach dieser Broschüre).

  4. In: Verantwortete Freiheit. Materialien zur Grundsatzarbeit der CDU, Herausgeber: CDU-Bundesgeschäftsstelle.

  5. Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Political Change Among Western Publics (erscheint demnächst).

  6. Dazu: Warnfried Dettling, Grenzen des Pluralismus. Zur Theorie und Kritik der pluralistischen Demokratie, in: Gerd Langguth (Hrsg.), Aspekte zur Reformpolitik, Mainz 1971, S. 49 — 64, sowie Theodore J. Lowi, The End of Liberalism. Ideology, Policy and the Cusis of Public Authority, New York 1969.

  7. Siehe vor allem: Mancur Olson, jun., Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen 1968.

  8. Guy Kirsch, Ökonomische Theorie der Politik, Tübingen — Düsseldorf 1974, S. 130.

  9. Vgl. dazu: Viola Bethusy-Huc, Zum Verbands-wesen in der Bundesrepublik Deutschland, unveröffentlichtes Manuskript, S. 9 ff., sowie Kurt H. Biedenkopf, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität: Die Grundlagen christlich-demokratischer Politik, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Demokratische Gesellschaft. Konsensus und Konflikt, 1. Teil, München — Wien 1975, S. 15— 126, S. 60 ff.

  10. Philipp Herder-Dorneich, Wirtschaftsordnungen, Band 3 der Reihe: Nicht-Marktökonomik, hrsg. von Philipp Herder-Dorneich, Berlin 1974, S. 76 ff.

  11. Dazu: Guy Kirsch, ökonomische Theorie der Politik, a. a. O., S. 13.

  12. Ebenda, S. 18.

  13. Helmut Kohl, CDU und Gewerkschaften, a. a. O., S. 7.

  14. Philipp Herder-Dorneich, Wirtschaftsordnungen, a. a. O., S. 81 ff.

  15. Vgl. dazu Philipp Herder-Dorneich, Wirtschaftsordnungen, a. a. O., sowie Daniell Bell, The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973.

  16. Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975.

  17. Zur Analyse der politischen Auswirkungen: Kurt H. Biedenkopf, Fortschritt in Freiheit. Umrisse einer politischen Strategie, München 1974, S. 15 ff.

  18. Guy Kirsch, Ökonomische Theorie der Politik, a. a. O„ S. 4.

  19. Mancur Olson, Neue Probleme für die Sozialpolitik. Die Rationalität sozialer Indikatoren und sozialer Berichterstattung, in: Guy Kirsch — Walter Wittmann (Hrsg.), Nationale Ziele und soziale Indikatoren, Stuttgart 1975, Seite 144— 159, S. 121. Vgl. dazu auch die verschiedenen Beiträge von Wolfgang Zapf, insbesondere: Zur Messung der Lebensqualität, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 1, Heft 4, Oktober 1972, S. 353— 376; sowie: The Polity as a Monitor of the Quality of Life, in: American Behavioral Scientist, vol. 17 No. 5, May/June 1974, p. 651— 675.

  20. Ursprünglich erschienen in: Sonde 1/75; mehrfach nachgedruckt; als Broschüre veröffentlicht von der Bundesgeschäftsstelle der CDU.

  21. Mancur Olson, Neue Probleme der Sozialpolitik, a. a. O., S. 159.

  22. Helmut Kohl, Mut für eine politische Zukunft. Rede auf der öffentlichen Schlußveranstaltung der 19. Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU am 8. Dezember 1974, Herausgeber: CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abt. Öffentlichkeitsarbeit, S. 17.

  23. Helmut Kohl, CDU und Gewerkschaften, a. a. O., S. 6.

  24. In: Protokoll des 23. Bundesparteitages der CDU, S. 173. Die Rede des Generalsekretärs auf dem Parteitag wurde veröffentlicht von der CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abt. Öffentlichkeitsarbeit, unter dem Titel: Die Politik der Union. Aufgaben und Organisation.

  25. Die inhaltliche Erörterung der Grundwerte bleibt dem Grundsatzprogramm Vorbehalten. Vgl. dazu: Verantwortete Freiheit. Materialien zur Grundsatzarbeit der CDU.

  26. Mannheimer Erklärung, Anhang zum Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 17.

  27. Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 174.

  28. Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 220 ff.

  29. Kurt H. Biedenkopf, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, a. a. O., S. 115.

  30. Mannheimer Erklärung, S. 7.

  31. Vgl. dazu vor allem Helmut Schelsky, Die Areibeit tun die anderen, a. a. O., sowie Ralf Dahrendorf, Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft, München 1972, insbes. S. 126 ff.

  32. Kurt H. Biedenkopf, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, a. a. O., S. 65.

  33. Mannheimer Erklärung, S. 31 ff.

  34. Heinrich Geißler, in: Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 235.

  35. Norbert Blüm, in: ebd., S. 229.

  36. Kurt H. Biedenkopf, in: ebd., S. 179.

  37. Ders., ebd., S. 179.

  38. 2. Bericht der Grundsatzkommission, in: Verantwortete Freiheit, a. a. O., S. 30.

  39. Helmut Kohl, Mut für eine politische Zukunft, a. a. O., S. 5. Zum Staats-und Demokratieverständnis der CDU vgl. auch Helmut Kohl, Das Grundgesetz — Verfassung der Freiheit, in: 25 Jahre Grundgesetz, hrsg. von der CDU-Bundesgeschäftsstelle, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, S. 19— 31; sowie: ders. Zwischen Ideologie und Pragmatismus ..., S. 90— 104.

  40. Ders., CDU und Gewerkschaften, a. a. O., S. 17.

  41. Ders., ebd., S. 7.

  42. Mannheimer Erklärung, S. 36.

  43. Kurt H. Biedenkopf, in: Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 270.

  44. Mannheimer Erklärung, S. 36.

  45. Helmut Kohl, CDU und Gewerkschaften, a. a. O., S. 7.

  46. Ders., ebd., S. 8.

  47. Mannheimer Erklärung, S. 10.

  48. Ebd., S. 12. Dazu vor allem: Fritz Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970, sowie: Paul Kevenhörster, Kontrolle des Verbändeeinflusses im parlamentarischen System. Zur Steuerungskapazität politischer Institutionen gegenüber organisierten Sozialinteressen (unveröffentlichtes Manuskript).

  49. Ebd., S. 34 ff.

  50. Ebd„ S. 37.

  51. Ebd., S. 35.

  52. Ebenda, S. 36.

  53. Heinrich Geißler, in: Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 234.

  54. Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 31; die Mannheimer Grundsatzrede von Helmut Kohl ist veröffentlicht als BBroschüre von der Bundesgeschäftsstelle der CDU, Abt Öffentlichkeitsarbeit, unter dem Tibel: Unsere Politik — Deutschlands bessere Alternativen.

  55. Guy Kirsch, Ökonomische Theorie der Politik, a. a. S. 129. O., Der theoretische Entwurf der Sozialen Marktwirtschaft (Alfred Müller-Armack) enthielt ursprünglich — im Ansatz jedenfalls — die heute notwendig werdende ordnungspolitische Weiterentwicklung. Vgl. dazu u. a. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, hrsg. von Edith Eucken-Erdsieck und K. Paul Hensel, Hamburg 1959, insbes. S. 160 bis 186. Dieses Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft, das wieder grundsätzlicher die ursprünglichen Prinzipien freilegt, kommt zum Ausdruck u. a. bei Helmut Kohl und Heinrich Geißler:

  56. Kurt H. Biedenkopf, in: Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 172.

  57. Kurt H. Biedenkopf, in: Protokoll des 23. Bundesparteitages, S. 179.

  58. Helmut Kohl, Mut für eine politische Zukunft, a. a. O., S. 16.

  59. Ders., ebd., S. 7.

  60. Helmut Kohl, Protokoll des Parteitages, S. 42.

Weitere Inhalte

Warnfried Dettling, M. A., geb. 1943; Studium der Politikwissenschaft, Klassischen Philologie, Soziologie und Philosophie an den Universitäten Würzburg, Freiburg/Brsg., London; seit 1973 Leiter der Planungsgruppe in der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Wichtigste Veröffentlichung: Demokratisierung. Wege und Irrwege, Köln 19754.