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Kurzschluß in der Bildungsreform Zwei Konzeptionen der pädagogischen Reformbewegung | APuZ 24/1975 | bpb.de

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APuZ 24/1975 Artikel 1 Liberalismus -liberale Bildung -liberale Erwachsenenbildung Kurzschluß in der Bildungsreform Zwei Konzeptionen der pädagogischen Reformbewegung

Kurzschluß in der Bildungsreform Zwei Konzeptionen der pädagogischen Reformbewegung

Eugen Lemberg

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Zusammenfassung

Der Streit um die Bildungsreform und die Solidarisierung, die er zwischen radikalen Reformern und Reformgegnern hervorruft, droht den Sinn der großen, nun schon das ganze 20. Jahrhundert erfüllenden pädagogischen Reformbewegung zu verdunkeln und diese selbst zu gefährden. Deshalb ist ein Blick über diese Bewegung und die Unterscheidung zwischen ihrem pädagogischen Kern und ihrer ideologischen Verfremdung notwendig. Das deutsche Bildungswesen ist, so wie es bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus bestand, noch vor dem Einsatz der Industrialisierung konzipiert worden: eine Bildungselite sollte den Adel als Führungsschicht ersetzen. So entstand das Nebeneinander zweier Bildungsschichten, das den Bedürfnissen einer modernen Industriegesellschaft immer weniger entsprach. Ein Neuentwurf war nötig, der neue Schichten an die höhere Bildung heranführte, die frühe Festlegung der Bildungsund Sozialchancen überwand und die Bildungsprogramme den Erfordernissen des technischen Zeitalters anpaßte. Dies und ein neues Verhältnis zur Jugend wie zur Gesellschaft wurde Gegenstand der Reformbewegung des 20. Jahrhunderts. Der Nationalsozialismus und die auf ihn folgende Restauration des vorher gültigen Bildungsdualismus hat sie um Jahrzehnte zurückgeworfen. Versuche, die Nachkriegsgenerationen zu entideologisieren, bewirkten einen ideologischen Stau, der sich Ende der sechziger Jahre durch den Einbruch einer neuen Ideologie, diesmal des Neomarxismus, entlud. Dieser nahm in vieler Hinsicht die Ideen und Impulse der pädagogischen Reformbewegung auf, ja er schien mit ihnen endlich Ernst zu machen und gewann eine breite Schicht junger Pädagogen für sich: Ihre Tendenz zur Überwindung sozialer Bildungsbarrieren wurde jetzt als Chancengleichheit propagiert; die freie Erziehung „vom Kinde aus“ erschien jetzt als antiautoritäre Erziehung; das Streben, den Untertanengeist zu überwinden und mündige Menschen zu erziehen, wurde zum alles beherrschenden Lernziel „Emanzipation“; Selbsttätigkeit und Kritikfähigkeit, zur „großen Verweigerung" verfremdet, drohten in Manipulation und Gesinnungspädagogik umzuschlagen. Die davon betroffene Gesellschaft reagiert z. T. mit der Ablehnung aller, auch notwendiger Reformen. So kann die zweite Welle der Reform die pädagogische Revolution unseres Jahrhunderts aufs Spiel setzen.

I.

Der Streit um die Bildungsreform, über den Minister stürzen, Parteien in Krisen geraten, Straßendemonstrationen stattfinden, ist angesichts des beschleunigten Gesellschaftswandel nicht verwunderlich. Was ihn aber gefährlich macht, das ist die Polarisierung, in die sich die streitenden Gruppen offensichtlich hineinmanövrieren: ein Gegeneinander, in dem es keinen Austausch von Argumenten mehr gibt, sondern nur noch festgelegte Feindbilder, starre Fronten. Den „fortschrittlichen“ Pädagogen und Bildungspolitiken!, denen das Neue um seiner Neuheit willen gerechtfertigt scheint oder von einer Ideologie vorgeschrieben wird, stehen die „Reaktionäre“ gegenüber, die jede Reform ablehnen. Welche Bildungskonzeption sich durchsetzen soll, ist keine Frage ihrer besseren Eignung oder nachprüfbaren Erfolge mehr, sondern eine Frage der Macht und der Weltanschauung. Wenn ein Streit aber in diesem Stadium angelangt ist, dann bleibt das Streitobjekt regelmäßig auf der Strecke: im vorliegenden Fall-das Bildungswesen und die darin zu bildende Jugend.

In einer solchen Situation gibt es nur eine Rettung. Sie liegt darin, daß eine Gruppe von Beteiligten die nächsthöhere Ebene gewinnt, um von dort aus die Fronten zu überblicken, die Motive und Hintergründe beider streitenden Parteien herauszuarbeiten und in jeder von ihnen den Wahrheitskern, ihr berechtigtes Anliegen zu entdecken. Es muß versucht werden, hinter dem bildungspolitischen Gefechtslärm des Augenblicks den Sinn der großen Reformbewegung I zu klären, die nun schon fast unser ganzes zwanzigstes Jahrhundert erfüllt, und in der unser Streit um Gesamtschule und Rahmenrichtlinien nur eine Episode darstellt.

Die ganze Reform und der Streit um sie rührt daher, daß es kein absolut richtiges und all-zeit gültiges Bildungsideal gibt, dem nur ein bestimmter Aufbau des Bildungswesens entspräche, sondern daß alles, was eine Gesellschaft an Bildung betreibt, von der jweiligen Lage und den Bedürfnissen dieser Gesellschaft, ja von ihren Wertvorstellungen, und Ideologien bestimmt ist. Wie und wozu erzogen werden soll, was ein Mensch wissen und können muß, um dem Leben in seiner Welt gewachsen zu sein und als gebildet anerkannt zu werden, das ist kein ewiges göttliches Gesetz, sondern eine Sadie der gesellschaftlichen Übereinkunft. Da sich aber jede menschliche Gesellschaft ständig wandelt, muß sich auch das, was sie für bildungswichtig hält und zum Bildungsziel erhebt, ständig verändern. Damit zugleich aber auch die Einrichtungen, in denen und durch die sich Bildung vollzieht, die Schulen und insgesamt das Bildungswesen.

So sind auch die uns überlieferten und lange Zeit hindurch gewiß bewährten Schulformen und Bildungsverfahren in einer bestimmten Epoche und Gesellschaft nach deren Bedürfnissen geschaffen worden und tragen den Stempel ihrer Entstehungszeit an sich. Das Gymnasium zum Beispiel, das uns so teuer ist, sich jahrzehntelang bewährt hat und weit über die deutschen Grenzen hinaus Vorbild war, ist in seiner bis heute gültigen Grundform um 1800 aus dem Bedürfnis entstanden, die überlieferte Führungsschicht in Staat und Gesellschaft, nämlich den grundbesitzenden Adel, durch eine neue Führungsschicht aus dem Bürgertum zu ersetzen und zu ergänzen, die man den Adel oder die Partei der Gebildeten nannte und die sich durch eine nicht jedermann zugängliche Bildung aus der Masse des Volkes heraushob; eine Elite also, die sich nicht durch berufspraktische Verwendbarkeit, sondern durch harmonische Bildung der Persönlichkeit auszeichnen sollte. Die Vorbilder dieser harmonischen Persönlichkeit sah man damals in der Antike. Daher die uns gar nicht mehr verständliche Bedeutung, die das Gymnasium den alten Sprachen und Kulturen beimaß, denen gegenüber sich die deutsche Sprache und Dichtung, die eigene Geschichte und die moderne Geographie erst allmählich durchsetzten. In dieses Gymnasium drangen die Naturwissenschaften erst später ein, lange Zeit ein wenig gering geachtet. Die Technik hat darin — wie wichtig sie auch geworden ist und wie sehr sie die Jugend interessiert — immer noch keinen Platz, und die Wirtschaft wird bis heute geflissentlich ignoriert; sie gilt bei vielen Gebildeten der alten Art als banausisches Erwerbsstreben und bleibt Autodidakten überlassen. Politische Bildung ist in den gymnasialen Bildungskanon immer nur nach politischen Katastrophen eingedrungen, nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg, oft gegen den heftigen Widerstand der berufenen Hüter der allein würdigen klassischen Bildung. übrigens hatten es ja auch die Frauen schwer, in das Gymnasium und gar in die Universität einzudringen.

Der Sinn des Gymnasiums war also — nach der französischen Revolution und der napoleonischen Ära doppelt fühlbar — die Ablösung des Adels durch eine nicht durch Grundbesitz, sondern durch Bildung qualifizierte Führungsschicht für den sich formenden bürgerlichen Nationalstaat. Man muß gestehen: es hat diese Mission erfüllt, sogar in einem durchaus demokratischen Sinn, wie das Frankfurter Professorenparlament von 1848 zeigt.

Die Tragik dieses Gymnasiums und der es stützenden Ideologie aber lag — wie Theodor Litt in einer berühmten Studie nachgewiesen hat — darin, daß sie genau am Vorabend der industriellen Revolution entworfen worden waren. Diese Industralisierung hat der klassischen Bildungsidee in kurzer Zeit alle ihre Voraussetzungen entzogen. Einmal erforderte sie eine viel breitere Schicht von technisch und wirtschaftlich Gebildeten, ein Bedarf, der erst allmählich durch die Aufnahme von . Realien“ in das gymnasiale Bildungsprogramm, dann aber durch die Schaffung neuer Schultypen, des Realgymnasiums und der Realschule, gedeckt werden konnte. Dazu mußte aber auch die breite Masse, die man in vorindustriellen Epochen dem Analphabetentum überlassen hatte, eine Art von Bildung erfahren, die sogenannten Kulturtechniken und praktisches Wissen und Können erlernen. Dafür entwickelte man prompt eine entsprechende Bildungsideologie, die Lehre von der soge-nannten volkstümlichen Bildung, einen Mythos der Volksschule mit deutschkundlichen, heimatkundlichen und berufspraktischen Inhalten, die später zum Ausbau eines beruflichen Schulwesens führten.

So aber sind von zwei verschiedenen, historisch und soziologisch bedingten Ausgangspunkten her zwei verschiedene Bildungskonzepte entstanden und allmählich auf einander zugewachsen, jede von ihnen mit einer eigenen Ideologie unterbaüt, gegen einander abgegrenzt und mit dem entsprechenden Dünkel, aber auch mit Minderwertigkeitskomplexen auf einander reagierend. Als mit der fortschreitenden Industrialisierung und Verstädterung nicht nur neue Unterrichtsstoffe sondern auch neue Menschenmassen ins Gymnasium drängten, konnte von einer Gelehrten-oder Eliteschule bald keine Rede mehr sein. Auf der anderen Seite wuchsen durch Technisierung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung die Anforderungen auch an die Volksschule, die eine das Gymnasium imitierende Mittelschule, später Realschule, aus sich hervortrieb und die Grundschule als Kinderschule isoliert zurückließ. Angesichts dieses Durcheinanders an veränderten Funktionen mußte die ganze Konstruktion des Bildungswesens neu durchdacht werden. Ein Neuentwurf aus einem Guß wurde fällig, nicht nur aus sozialem Ressentiment aufsteigender Schichten, sondern auch um der Funktionstüchtigkeit dieses Bildungswesens willen. Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bemühen sich die besten Pädagogen um diesen Neuentwurf: um ein Schulwesen, das nicht auf zwei einander sozial und ideologisch fremd gegenüberstehenden Bildungsklassen beruht, das die Kinder nicht schon in frühem Alter in verschiedenen Säulen nach oben führt, zwischen denen es keine Übergänge gibt, so daß Schicksal und gesellschaftlicher Rang der Schüler schon mit zehn Jahren festgelegt werden. Nach Stufen statt in Säulen soll dieses Schulwesen aufgebaut sein, Über-gänge von einem zum anderen Typ auch in späterem Alter, nach Begabung und Leistungswillen, nicht nach Sozialschicht gestattend. In den zwanziger Jahren ging es deshalb um die Einheitsschule, die schon aus terminologischen Gründen scheiterte. Heute ist es die Gesamtschule, die dieses Problem lösen soll. Auch sie wird von ihren Vorkämpfern wie vom Publikum oft als sozialistische Einrichtung für Gleichmacherei und Niveau-senkung mißverstanden und erweckt in der Tat dort, wo sie hastig und unter Klassenkampfparolen verwirklicht wird, einen solchen Eindruck. Aber sie ist, vernünftig und in Zusammenarbeit von Schule und Familie entwickelt, eine notwendige Konsequenz aus der die Klassengegensätze auf natürliche Weise überwindenden und differenzierenden Gesellschaftsentwicklung. Auch die Bildungsinhalte können nicht unbesehen aus den Fächer-und Stoffkatalogen des 19. Jahrhunderts übernommen werden. Inzwischen haben sich auch die Universitätsdisziplinen, auf denen der gymnasiale Bildungskanon beruht, weiterentwickelt: neue Forschungsaufgaben sind dazugekommen, zwischen den Wissenschaften haben sich inter-disziplinäre Fachgebiete ergeben, die Biochemie zum Beispiel, die soziologisch gesehene Geschichte und Geographie. So bedurfte es auch nicht erst der Rahmenrichtlinien, um die gemeinsame Bildungsaufgabe etwa der Geschichte, Geographie und Sozialkunde zu entdecken. Von den Bildungszielen her mußten die überlieferten Unterrichtsfächer neu durchdacht werden, wollte man sie nicht aus bloßer Tradition, um ihrer selbst willen, wie im Leerlauf weiterbetreiben. Ein solches Umdenken haben schon frühere Bildungspläne — z. B. gerade die hessischen Vorläufer der Rahmenrichtlinien — eingeleitet.

Einen entscheidenden Wandel hat die Bildungsreform allerdings in der Grundeinstellung zum Kind und zum Jugendlichen gebracht. Schon zu Beginn dieses Jahrhunderts, das man — voller Illusionen — das Jahrhundert des Kindes genannt hat, ist immerhin Eigenart und Eigenwert des Kindes und des Jugendlichen erkannt worden, die keine bloßen Vorstufen des Erwachsenen mehr bleiben sollten. Gruppenunterricht, Selbsttätigkeit des Kindes, freie Schulen, musische Betätigung und Bewegung, helle Räume, Verbindung von theoretischer und handwerklicher Ausbildung etwa in Landerziehungsheimen, Schulversuche aller Art: das alles hat den Stil des Bildungswesens — wenn auch nicht überall mit dem gleichen Erfolg — von Grund auf geändert, zumindest das pädagogische und bildungspolitische Gewissen der Öffentlichkeit geweckt. Das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern hat sich grundlegend gewandelt — nicht ohne Krisen natürlich, aber in Richtung auf Kameradschaft und Verständnis an Stelle starrer Autorität. Daß es heute vielfach — etwa in manchen Erscheinungen der sogenannten antiautoritären Erziehung — ad absurdum geführt wird, sollte den Blick für das Wesentliche dieses Stilwandels nicht verstellen.

Das Prinzip aber, an dem sich die ganze, hier nur an einigen Symptomen skizzierte Bildungsrevolution des 20. Jahrhunderts orientiert, ihr ideologischer Kern, liegt in der Gesellschaft. An ihr und an ihrem Bedarf an Gebildeten und Ausgebildeten orientiert sich alles, was an Bildung eingerichtet, vorgenommen und geplant wird. Das ist ein großer Unterschied zum klassischen Glauben an ein vorgegebenes, ewig gültiges Bildungsideal, wie er jene erste Epoche unseres Bildungswesens vom 19. Jahrhundert bis in den Zweiten Weltkrieg hinein bestimmt hat. Mit diesem Bedarf der Gesellschaft als Maßstab bekam erst eine pädagogische Tatsachenforschung statt idealistischer Deklamationen ihren Sinn, eine Soziologie, eine Ökonomie des Bildungswesens, eine Planung — auch wenn uns alle diese Disziplinen schwere Fehleinschätzungen zunächst nicht erspart haben. In den Augen der klassischen Bildungsidealisten freilich waren und sind solche Ökonomie und Planung ein Sakrileg. Die moderne Industriegesellschaft aber kann ohne sie nicht auskommen.

Mit dieser Skizze ist vielleicht deutlich geworden, daß ein Verzicht auf Reformen, eine Rückkehr zu „bewährten“ Einrichtungen und Verfahren, ein Stillstand im Bildungswesen weder möglich noch sinnvoll ist. Das sollten sich jene vergegenwärtigen, die in dem Glauben, gewisse Neuerungen und Experimente der letzten Jahre abwehren zu müssen, auch dieser großen Bildungsreformbewegung des 20. Jahrhunderts in den Arm fallen möchten. Sie sollten jene erste Welle der Reform von der heutigen zweiten unterscheiden. Nicht Fortschritt und Beharren, Reformwille und Reformfeindschaft stehen einander gegenüber, sondern zwei verschiedene Konzeptionen von der seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Gang befindlichen, notwendigen und garntcht mehr rückgängig zu machenden Reform des Bildungswesens. Das erfordert einen Versuch, nun auch jene zweite Reformkonzeption zu analysieren, die uns seit einigen Jahren im Schulwesen und in der Lehrerschaft gegenübertritt und nun auch in die Schulbehörden eingedrungen ist, nicht ohne maßgebenden Einfluß auf Teile der Reform und auf die Entwicklung neuer Lehrpläne — eben der Rahmenrichtlinien — zu gewinnen: eine fest unrissene Ideologie, in Dogmen formuliert und leidenschaftlich geglaubt, ihre Gläubigen zu rücksichtslosem Einsatz bewegend.

II.

Wenn man einer Bewegung oder Gruppe, einer bestimmten Ideologie oder Glaubensrichtung gegenübersteht, dann tut man gut daran, sich nicht — wie allerdings weithin üblich — auf ihre Fehler und Schwächen zu konzentrieren, um sie leichter bekämpfen zu können, sondern im Gegenteil: das Wertvollste und Beste an ihr aufzusuchen, ihren Wahrheitskern und die Ursache, also auch die Rechtfertigung ihres Auftretens. Auch die neomarxistische Pädagogik, jene zweite Welle unserer Bildungsrevolution, hat ihren Wahrheitskern, ist aus einer bestimmten Situation entstanden und rechfertigt sich daraus. Schon daß sie einen beträchtlichen Teil der Jugend, Junglehrer und Lehrstudenten fasziniert und mit einem missionarischen Elan erfüllt, wie er sich etwa in den Rahmenrichtlinien äußert, verrät die quasireligiöse Funktion dieser Pädagogik ebenso wie ihre Entstehungsgeschichte.

Auf die ideologische Überbeanspruchung der Deutschen, insbesondere der deutschen Jugend, durch den Nationalsozialismus reagierten die Pädagogen der Nachkriegszeit mit dem Versuch einer totalen Entideologisierung: Nie wieder sollte die deutsche Jugend in den Bann einer nationalistischen Ideologie, ja überhaupt einer Ideologie geraten. Der Erfolg dieser Entideologisierung war jene „skeptische Generation", deren Ideologie es war, keine Ideologie zu haben, sich für nichts zu engagieren, nur dem kritisch geprüften Eigeninteresse zu folgen. Weder diese Jugend noch ihre Erzieher waren sich der anthropologischen Grundtatsache bewußt, daß keine Gesellschaft ein Vakuum an Ideologie ertragen kann, daß ein solches Vakuum automatisch eine neue Ideologie , ansaugt‘. Schon gegen Ende der fünfziger Jahre konnte man diesen Pädagogen der Entideologisierung voraussagen, daß ihnen die Jugend — und gerade nicht ihr schlechtester Teil — in das Lager derer davonlaufen werde, die ihr eine Ideologie anbieten, nämlich die Vision einer besseren Zukunft und Gesellschaft, für die es sich zu kämpfen und zu opfern lohnt, in deren Dienst ein neuer Sinn des Lebens zu finden ist.

Und in der Tat: Mitte der sechziger Jahre war die neue . Religion'da: eine ausgesprochene Erlösungslehre, die die gegenwärtige Gesellschaft als im Elend befindlich, als erlösungsbedürftig zeigte, eine Erlösungstat in Gestalt einer radikalen Veränderung verkündete, dem einzelnen nicht nur Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen versprach, sondern von ihm auch Hingabe und Opfer verlangte: den riskanten Widerstand gegen die etablierten Gewalten, aber auch selbstlosen Dienst an den Benachteiligten dieser Gesellschaft, an Asozialen und Kindern. Es verdient allen Respekt, was da von jungen Menschen für die — nach ihrer Meinung — „Erniedrigten und Beleidigten" getan wird; und selbst das, was sie für deren politische Revolutionierung tun, ist in ihren Augen Dienst, Hilfe, Mission. Wenn die dem gleichen Glauben anheimgefallenen Autoren der Rahmenrichtlinien die gleiche Missionstätigkeit in die Schule hineintragen, dann machen sie auch diese zum Instrument einer Glaubensverkündigung, und es ist gar nicht unrichtig, wenn diese Schule der Rahmenrichtlinien als die neue Konfessionsschule bezeichnet wird. Auch darin gleicht die neue Lehre einer Religion, daß ihr Lebensprinzip der Wille zum Glauben ist, der sich durch entgegenstehende Realitäten nicht beirren läßt.

Welches ist nun diese neue Konfession oder Religion, die sich in einen tiefen Gegensatz zur etablierten Welt der Erwachsenen bringt, die die Gesellschaft nach ihrem Bild vom Sein Sollenden verändern will und das gesamte Bildungswesen in ihren Dienst zu nehmen sucht? Wenn man die Vereinfachung in Kauf nimmt, ohne die sich diese Religion nicht auf einen Nenner bringen läßt, dann definiert man sie am besten als eine merkwürdige — weil in beiden Teilen gar nicht angelegte — Synthese der Lehren von Karl Marx und Sigmund Freud. Die zentrale Gottheit dieser Religion ist — so könnte man pointiert sagen — eine heilige Zweifaltigkeit von Marx und Freud, und Herbert Marcuse ist ihr Prophet; daneben natürlich noch eine ganze Reihe kleinerer Propheten und Kirchenväter. Das ganze stellt ein widerspruchsvolles System dar, von Intellektuellen, besonders aus dem Umkreis der soge-nannten Frankfurter Schule, entwickelt und vom orthodoxen Marxismus-Leninismus der Sowjetunion logischerweise erbittert abgelehnt. Es ist hier weder möglich noch beabsichtigt, die ganze Dogmatik dieser Religion auszubreiten. Darum seien nur einige ihrer Grundzüge angedeutet, vor allem, soweit sie in der neomarxistischen Pädagogik als Bildungsoder Lernziele auftreten und die Rahmenrichtlinien bestimmen.

Von Marx stammt die Vorstellung, daß die Geschichte der Menschheit mit all ihren Konflikten aus Klassenkämpfen bestehe und daraus zu erklären, aber auch aus diesem einen Punkte zu kurieren sei. Schuld an ihnen sei — ebenso monokausal — das Privateigentum an Produktionsmitteln, das die Klasse der Ausbeuter begründet habe. Seine Aufhebung würde diese Klasse beseitigen und die klassenlose Gesellschaft herbeiführen, in der kein Mensch den andern ausbeuten und jeder die von allen gemeinsam hergestellten Produkte nach seinen Bedürfnissen erhalten würde. Damit hat der Marxismus alles, was zu einer Erlösungslehre gehört: das Feinbild in Gestalt der herrschenden Kapitalistenklasse, den Sündenfall als Aneignung der Arbeitsergebnisse durch den Klassenfeind, den Kampfauftrag zur Vernichtung der Ausbeuterklasse mittels Klassenkampf und eine Eschatologie, die für das Endzeitalter die klassenlose Gesellschaft verheißt. Das sind genau jene Motive, die den Erlösungsreligionen ihre faszinierende Wirkung verleihen: die Fähigkeit, ihren Gläubigen das Elend zu erklären, unter dem sie leiden, ihnen den bösen Feind zu zeigen, der an allem schuld ist, zugleich aber Hoffnung die auf Erlösung und die Verheißung eines glücklichen und gerechten Endzeitalters zu verkünden, nicht zuletzt aber den Menschen die Möglichkeit und den Auftrag zu vermitteln, an dieser Erlösung selbst mitzuwirken und ihrem Leben damit einen Sinn zu geben. Auch das Christentum arbeitet im Grunde mit den gleichen Motiven.

Während so Marx alle Schuld der Gesellschaft zuschiebt und das Heil von einer Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse erwartet, sieht Freud nur das Individuum und erwartet dessen Befreiung von der Erhellung seines Unbewußten, vom Abbau dadurch bedingter Zwänge und — so wenigstens verstehen es seine neomarxistischen Schüler — vom Lustgewinn, den die Institutionen mit ihren Tabus nur verhindern. Es liegt auf der Hand, daß diese grundverschiedenen Welterklärungen und Zielsetzungen eine Synthese von Marx und Freud durch Jahrzehnte verhindert und bei ihren Schülern viel Geist und einige Rabulistik erfordert haben. Der gemeinsame Nenner der beiden Lehrsysteme steckt freilich gerade in dem, was ihre heutigen Anhänger vor allem interessiert: in der Freiheit von jeder Herrschaft, in der Selbstbestimmung des Individuums und in der zum Zentralbegriff der Pädagogik erhobenen Emanzipation.

Es liegt eine gewisse Logik darin, daß ausgerechnet diese widersprüchliche, in vielem schon widerlegte, in der Praxis — etwa des Sowjetsystems — vielfältig korrumpierte Großideologie ganze Generationen in ihren Bann geschlagen hat. Einmal haben nationalistische Ideologien, unter dem Sammelbegriff Faschismus zusammengefaßt, nicht nur durch ihre Kriegskatastrophe sondern auch durch die alles Nationale entwertende Großraum-struktur der modernen Technik, Wirtschaft, Politik bei den Industrienationen ihren Kredit verloren. Das Heil der Welt scheint vielen in der entgegengesetzten Richtung zu liegen: in einer weltweiten Emanzipation der sozialen Unterschichten, der Frauen, der unterentwik-

kelten Länder, Völker und Rassen. Der Marxismus, der im 19. Jahrhundert eine dieser Emanzipationsbewegungen stimuliert und begleitet hat, bietet sich auch heute wieder als Ideologie dafür an — nicht ohne dabei im Nationalismus der Entwicklungsländer Konkurrenz und Unterstützung zugleich zu erhalten. Zum andern erzeugen Unübersichtlichkeit und Leistungsdruck der modernen Industriegesellschaft vor allem bei jungen Menschen ein Gefühl des Ungenügens und der Angst, eine Sehnsucht nach Befreiung aus den Zwängen der Gesellschaft, einen Haß gegen ihre Institutionen und die sie verwaltenden Menschen. Etwas Geschlossenes, Unbegreifliches, Feindseliges steht ihnen darin — das ist ihr Eindruck — gegenüber. Auch dafür aber liefert der Marxismus — und mancher Zug aus der Lehre Freuds — eine erhellende Theorie, mag diese auch ursprünglich auf wesentlich andere, nämlich frühindustrielle Zustände abgestimmt gewesen sein. Für alle übrigen Nöte, für die menschlichen, beruflichen und sexuellen, scheinen ebenfalls Marx und Freud Befreiungsimpulse, zumindest Rechtfertigungen einer Enttabuisierung bereitzuhalten — auch wo zu diesem Zweck sowohl Marx als auch Freud gründlich verfremdet werden müssen. Zu diesen Gründen, gerade in einem durch Freud verfremdeten Marxismus die zeitgemäße Heilslehre zu erblicken, kommen noch einige andere, besonders erziehungsbedeutsame hinzu. Die gesamte, vorhin skizzierte Bildungsreform der letzten Jahrzehnte mit ihrer Tendenz zur Überwindung sozialer Stände und Schranken, zur Stufenschule für alle, zur freien Erziehung „vom Kinde aus" und zur Erziehung des „mündigen Menschen" scheint in der neomarxistischen Pädagogik auf den ersten Blick ihre radikale Verwirklichung zu finden. Chancengleichheit, Emanzipation, Erziehung zu kritischem Denken statt des Ein-lernens überlieferten Sachwissens, Lernen durch Selbsttun statt passiven Hinhörens, freies Auftreten statt ängstlichen Gehorsams vor fremder Autorität, alles Ziele der Schulreform schon der Zwanziger Jahre: hier scheinen begeisterte Pädagogen damit endlich Ernst zu machen. Allein, gerade diese radikale Verwirklichung jahrzehntelang erstrebter Reformen erweist sich als der dialektische Umschlag, als Aufhebung, ja als Preisgabe ihres eigentlichen Sinns. Was hier vor sich geht, ist wie ein Kurzschluß in der Bildungsreform. An einigen Leitmotiven der neomarxistischen Pädagogik mag das deutlich werden: Da ist zunächst ihr laut verkündetes oberstes Lernziel, die Emanzipation. War noch vor wenigen Jahren der mündige Mensch das Ziel politischer und gesellschaftlicher Bildung, ein klarer, juristisch definierter Begriff, der die Fähigkeit bezeichnet, sich auf Grund sachli-eher Informationen und Vergleiche für dieses oder jenes Verhalten zu entscheiden, so fehlt dem Begriff der Emanzipation das Ziel. In den Köpfen der zu Emanzipierenden kann er sich in die „große Verweigerung" verwandeln, wie sie Herbert Marcuse als Antwort auf die Zwänge der Gesellschaft, auf ihren Leistungsdruck und auf ihre Tabus verkündet. So emanzipieren sich die Betroffenen auch von dem nur mühsam und zunächst ohne Einsicht in seinen Zweck zu erwerbenden Sachwissen, das die Voraussetzung für Vergleiche, selbständiges Urteil und freie Entscheidung darstellt. Das Lernziel, etwa in den Rahmenrichtlinien als fertiges Urteil formuliert, wird so zum Bekenntnis. Das Ergebnis eines solchen Lernprozesses ist — was immer man von Kritik und Selbstbestimmung deklamieren mag — ein urteilsloser, unkritischer, zu Selbstdisziplin unfähiger, auf eine bestimmte Gesinnung verpflichteter, eben manipulierter und manipulierbarer Schüler. Emanzipation ist in Manipulation umgeschlagen.

Eine der auf solche Art vorgeschriebenen Einsichten ist die vom Klassencharakter der Gesellschaft. Ihn überall zu durchschauen, darauf ist der Unterricht nach den Rahmen-richtlinien angelegt. Geschichte und Gesellschaftslehre schrumpfen zu einer Sammlung von Beispielen und Beweisen für diesen Klassencharakter der Gesellschaft und für den allgegenwärtigen Klassenkampf. Unter diesem Leitmotiv erscheinen alle Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen organisieren und erleichtern sollen, als Instrumente der herrschenden Klasse zur Unterdrückung und Ausbeutung der Beherrschten: Ehe und Familie, Schule und Betrieb, Wirtschaft und Staat. Eltern, Lehrer, Vorgesetzte und Helfer aller Art geraten in die Rolle von Klassen-feinden, von deren Herrschaftsanspruch sich zu emanzipieren ein wichtiges Lernziel ist. Die derart nur als Feind erlebbare und bei Erfolg solcher Erziehung ausgeschaltete Autorität verschwindet aber nicht ersatzlos. Das lehrt die Geschichte aller großen Gesellschaftsver-änderungen. Eine andere Autorität, in der Regel unerbittlicher und inhumaner, tritt an ihre Stelle. Da sie im Namen der revolutionären Ideologie ausgeübt wird, wächst sie zum Gesinnungsterror. Das ist der Sinn jener These von der Verschärfung des Klassenkampfes im revolutionären Stadium. Die Diktaturen, in die die Revolutionen nach ihrem Durchbruch regelmäßig umschlagen, illustrieren sie zur Genüge.

Ein weiteres Dogma der neomarxistischen Pädagogik betrifft die klassengemäße Erziehung der Arbeiterkinder. Chancengleichheit für Kinder aller Sozialschichten, wie sie die Reformbewegung seit den zwanziger Jahren durch Einheitsoder Gesamtschule erstrebt, durch Schulgeld-und Lernmittelfreiheit zum Teil erreicht hat, genügt ihr nicht. Kompensatorische Erziehung, die das unleugbare Handicap unterschichtlicher Herkunft überwinden sollte, lehnt sie ab, weil dadurch die Arbeiter-kinder ihrer Schicht entfremdet würden, Nicht Aufstieg in die Mittelklasse, sondern Stärkung ihres proletarischen Klassenbewußtseins sei notwendig. Daß diesen Kindern damit die Möglichkeit vorenthalten wird, der eigenen Klasse wirklich zu helfen, ficht solche Eiferer nicht an, weil ihnen die Geschichte der Arbeiterbewegung offenbar unbekannt ist. Wie Menschen den Klassenkampf führen sollen, die aus lauter Klassensolidarität daran gehindert wurden, die Hochsprache der Mittelschicht zu lernen, das wird wohl das Geheimnis dieser Kurzschlußpädagogen bleiben. Den gleichen Effekt zum Schaden der eigenen Sache muß auch der Kampf gegen das Leistungsprinzip haben, zu dem das berechtigte Streben der ursprünglichen Reform nach Überwindung der Stoffhuberei in der alten Paukschule ausgeartet ist. Wer sich vor lauter Ablehnung der bestehenden Gesellschaft, ihrer Technik und Kultur weigert, das in ihr notwendige Wissen und Können zu erwerben, der verzichtet auf die Möglichkeit, diese Gesellschaft zu verändern. Die Vorkämpfer der großen Bildungsreform, die doch die Gesellschaft, zumindest ihr Bildungswesen, ebenfalls verändern wollten, wußten sehr wohl, daß ein gewisser Grad von Selbstidentifizierung mit dieser Gesellschaft, aber-auch die Beherrschung ihrer Techniken und das Wissen um ihre Traditionen Voraussetzung für solche Veränderung sind. Die von neomarxistischen Pädagogen und Wissenschaftlern mehrfach geäußerte Furcht, solche Fähigkeiten und Leistungen würden nur zur Erhaltung des bestehenden Systems ausgenützt, selbst die auf Verbesserungen abzielende Erforschung seiner Probleme würde nur „systemstabilisierend“ wirken, hat etwas Groteskes an sich. Mit derart absichtlicher Ignoranz hat noch nie jemand eine Gesellschaft verändert; er hat damit höchstens dem Fanatismus und dem Gesinnungsterror Tür und Tor geöffnet. Manchmal scheint es, als wäre gerade dies die unausgesprochene Absicht derer, die gegen den Leistungsdruck zu Felde ziehen.

Wenn die Pädagogen der Marx-Freudschen Heilslehre die Gesellschaft schon nicht verändern können, so verändern sie wenigstens das Weltbild ihrer Schüler. Sie verengen seinen Horizont und sie konzentrieren es auf die Innenpolitik, genauer: auf eines ihrer möglichen Probleme. Das Weltbild der kommenden Generation droht monokausal und introvertiert zu werden. Wenn zum Beispiel, den Rahmenrichtlinien zufolge, Geschichte und Geographie in das Fach Gesellschaftslehre integriert werden, dann ist zunächst zwar — trotz der Proteste der Fachhistoriker — ein notwendiges, schon in den Saarbrücker Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz wie in einzelnen Bildungsplänen angestrebtes Reformziel verwirklicht, die Geschichte aus ihrer l’art-pour-l’art-Rolle befreit und zum Element politischer Bildung gemacht. Zugleich aber ist sie, auf das einzige Motiv der sozialen Auseinandersetzungen — sprich Klassenkampf — hin abgesucht, zur bloßen Sammlung von Argumenten für den Neomarxismus degeneriert. Die Geographie vermittelt — mit polemischer Wendung gegen die Landeskunde — kein Bild von der Welt mehr, von ihren Menschen, Völkern und Kulturen, weil diese alle nur soweit interessant sind, wie sie Beweise für das Zentraldogma des neuen Glaubens hergeben. Von Außenpolitik und Welt-kunde, vom Kräftespiel der Staaten und Mächte ist kaum die Rede mehr — es sei denn unter dem Gesichtspunkt des antiimperialistischen Kampfes der Entwicklungsländer, und das streng nach der Sprachregelung des Marxismus-Leninismus. Das Merkwürdige aber ist: gerade das System der sozialistischen Staaten bleibt unbekannt, seine Wirklichkeit wird verdrängt, dem Vergleich und der Kritik entzogen. Glaube und Gesinnung sind offenbar auch hier wichtiger als Wissen und eigenes Urteil.

Der Blindheit für andere als soziale Kategorien, denen gegenüber Außenpolitik, Auslands-kunde, internationale Machtphysik, aber auch das Verständnis für fremde Kulturen und Ideologien völlig zurücktreten, entspricht eine ähnliche Blindheit für die Institutionen.

Sie ist als Reaktion auf die in der früheren Sozialkunde übliche, mechanische und langweilige Institutionenkunde verständlich, schüttet aber insofern das Kind mit dem Bade aus, als sie dem Schüler ein ideologisch verzeichnetes Weltbild vermittelt, in dem es statt Institutionen nur noch Prozesse gibt. Das fördert die im Jugendlichen ohnehin vorhandene Neigung, an die Institutionen mit moralischen Kategorien heranzugehen und ihre Funktion zu verkennen. Genau hier aber wurzelt das jugendspezifische Unverständnis für die Demokratie mit ihren cnecks ana oaiances, ihrem Auffangen der menschlichen Unzulänglichkeiten und ihren Kompromissen. So kann sich auch das Mißverständnis ausbreiten, Demokratie bedeute Freiheit von Herrschaft, während sie doch eine Herrschaftsform darstellt — nur eben die mit soviel Freiheit, als unter Menschen möglich ist.

An den meisten der hier charakterisierten Thesen der Marx-Freudschen Heilsund Glaubenslehre sind die Grundgedanken und Ansätze der großen Bildungsreform unseres Jahrhunderts unverkennbar. In vieler Hinsicht fühlen sich die Jünger des neuen Glaubens jenen Zielen verbunden, denen auch frühere Generationen, eben die der Schulreformer von Bertold Otto bis Eduard Spranger, dienten: freie Entfaltung des jungen Menschen — heute Emanzipation genannt, Förderung des Talents ohne Rücksicht auf soziale Herkunft — heute als Chancengleichheit propagiert, Überwindung des Untertanengeistes — heute als antiautoritäre Erziehung mißverstanden, Selbsttätigkeit und Kritikfähigkeit — heute ebenso erstrebt wie in der früheren Reformbewegung, wenn auch ohne die Selbsttäuschung zu merken, die ihren Umschlag in die Manipulation verschleiert.

Es ist die Tragik dieser zweiten Welle der großen Bildungsreform, daß sie die Ziele der ersten aufgenommen und radikalisiert, damit aber auch — einem Gesetz der Dialektik zufolge — in ihr Gegenteil verkehrt, dem Scheitern ausgesetzt, ja die Gefahr heraufbeschworen hat, mit ihnen zugleich die mühsam erkämpfte demokratische und rechtsstaatliche Struktur unserer Gesellschaft zu zerstören.

Die davon betroffene Gesellschaft reagiert verständlicherweise mit der Ablehnung aller Reformen, auch der seit Jahrzehnten erstrebten, durch den säkularen Gesellschaftswandel notwendig gewordenen Veränderungen des Bildungswesens. Wie in solchen Situationen üblich, steigern sich die Extreme gegenseitig ins Irrationale. Aber solche Polarisierung ist kein unabwendbares Schicksal. Es kommt nur darauf an, die Ausbildung falscher Fronten zu vermeiden: nicht fortschrittliche Schulpolitik und Ablehnung aller Reformen stehen einander gegenüber, sondern die erste, aus der demokratischen Bewegung aufsteigende Welle der Schulreformen und die zweite, vom Neomarxismus inspirierte, die ursprüngliche Reformbewegung radikalisierende, damit aber auch aufs Spiel setzende Welle der pädagogischen Revolution unseres Jahrhundert*.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Eugen Lemberg, Dr. phil., geb. 1903, habilitiert an der deutschen Universität Prag; war 1955— 57 Leiter der Schulabteilung im hessischen Kultusministerium, 1957— 72 Professor für Soziologie des Bildungswesens am Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung in Frankfurt/M. Veröffentlichungen u. a.: Osteuropa und die Sowjetunion 1950, 2. Aufl. 1956; Die Vertriebenen in Westdeutschland, 3 Bde, hrsg. mit F. Edding u. a., 1959; Das Bildungswesen als Gegenstand der Forschung, 1963 (Hrsg.); Nationalismus, 2 Bde, 2. Aufl. 1967/68; Reformation im Kommunismus? Ideologische Wandlungen im Marxismus-Leninismus Ostmitteleuropa, 1967; Schule und Gesellschaft (mit A. Bauer und R. Klaus-Roeder), 1971; Ideologie und Gesellschaft. Eine Theorie der ideologischen Systeme, ihrer Struktur und Funktion, 2. Aufl. 1974.