Die Schweiz wird oft als Musterbeispiel der sprachlichen Toleranz gepriesen. Aus dem alemannischen Kerngebiet der Urkantone erweiterte sich die Eidgenossenschaft im Laufe von fünf Jahrhunderten zu einem viersprachigen demokratischen Staatsgebilde. Das schwächste Glied im Kranz der schweizerischen Nationalsprachen bildet das Rätoromanische. Seit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches wurde es immer mehr und mehr von den vorrückenden Alemannen in die bündnerischen Gebirgstäler am Rhein und am Inn zurückgedrängt. Mit der Germanisierung der Stadt Chur nach dem Brand von 1464 verlor es das gemeinsame Sprach-und Bildungszentrum. In der Zeit der Reformation und Gegenreformation entstanden die beiden führenden Schriftsprachen: das Ladin am Inn und das Sursilvan in den rheinischen Tälern. Heute werden fünf rätoromanische Idiome in den Schulen gelehrt und geschrieben. Eine intensiv geführte Ausrottungskampagne gegen das Rätoromanische am Ende des 18. und das 19. Jahrhundert hindurch löste eine rätoromanische Reaktion aus: die rätoromanische Renaissance. Verantwortungsbewußte Rätoromanan forderten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bessere Berücksichtigunq und Pflege der romanischen Muttersprache in Schule und öffentlichem Leben. Es entstanden mehrere Sprachgemeinschaften, die heute von der Ligia Romontscha als Dachorganisation in ihrem Bestreben zur Festigung und Rettung der einheimischen Muttersprache unterstützt werden. Die romanische Bewegung wurde und wird entscheidend gestützt durch namhafte Dichter und Wissenschaftler. Dennoch führt das Rätoromanische heute Im modernen Strukturwandel •inen harten Kampf um Behauptung und Existenz.
Ursprung und Entwicklung der Schweizerischen Eidgenossenschaft fußt auf dem Grundsatz fö-deralistisch-demokratischer Gesinnung. Die Landsgemeinde, die heute noch in den Kantonen Ob-und Nidwalden, beiden Appenzell (Inner-und Außerrhoden), Glarus und in den meisten ehemaligen Hochgerichten Bündens weiterlebt, bildet die Urform reiner, lebendiger Demokratie. Alle zwei Jahre versammeln sich die Bürger (neuerdings auch die Bürgerinnen) im sogenannten Ring, wählen ihre Behörden und Stellvertreter und entscheiden über alle wichtigen Gesetze und Erlasse ihrer Gemeinschaft. In den Kantonen, die die Landsgemeinde nicht oder nicht mehr kennen, übt die stimmfähige Bevölkerung dieselben Rechte in der Urnenabstimmung aus.
Urzelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist die Gemeinde. In dieser kleinen Gemeinschaft reifte schon im Frühmittelalter der Gedanke eines engeren Zusammenschlusses zu Markgenossenschaften. Gemeinsam nur konnte man die Gefahren und Tücken in der Gebirgslandschaft einigermaßen bannen, Grund und Steg wahren, Straßen, Verbauungen und öffentliche Bauten errichten und unterhalten. Als Allmend-Korporation verwalteten und bewirtschafteten die Markgenossenschaften den Wald und die gemeinsam genutzten Heim-und Alpweiden. Wachsamen Auges verfolgten die harten Bergler aber auch die politische Entwicklung ihrer nächsten und weiteren Umgebung und wußten ihre angestammte Freiheit und Selbstbestimmung mit dem Einsatz ihrer vollen Kraft zu verteidigen. Aus den Markgenossenschaften an den Ufern des Vierwaldstättersees entstand 1291 der erste Bund der Eidgenossen, dem sich die Bürger der Städte und weitere um ihre Unabhängigkeit besorgte Landorte zur immer mehr erstarkenden politischen Gemeinschaft anschlossen. Mit der zähen Beharrlichkeit der Gebirgseinwohner verband sich glücklich die aufgeschlossene Weltoffenheit der städtischen Handwerker und Kaufleute. Von der Urschweizer Gemeinde Schwyz aber übernahm die Eidgenossenschaft Namen, Wappen und Haltung
Die »Vielfalt in der Einheit*, wie Gottfried Keller die schweizerische Eigenart in der Novelle „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ meisterhaft umreißt, verlangte von allem Anfang an, daß jeder Rücksicht auf den nachbarlichen Mit-genossen nahm, ihn in seiner Wesensart zu verstehen und in seiner Verschiedenheit zu achten suchte. Wenn auch die Eidgenossen nicht immer ein einig Volk waren, so obsiegte glücklicherweise doch immer wieder die Einsicht in die staatenbildende Kraft gegenseitiger Wertschätzung und Toleranz auch gegenüber vorhandenen Minderheiten. Dies zeigt sich heute denn auch beispielsweise in der Tatsache, daß die Schweiz vier Nationalsprachen kennt. Der alemannische Volksschlag, dem die ersten Eidgenossen angehörten, erweiterte sich mit der Angliederung des Levinentals und weiterer Landschaften im italienischsprachigen Tessin bereits anfangs des 15. Jahrhunderts zur zweisprachigen, mit der Aufnahme Freiburgs (1481), der Verbindung mit Genf und der Eroberung der Waadt im 16. Jahrhundert, mit dem Anschluß von Wallis und Neuenburg während des Wiener Kongresses zur dreisprachigen und mit dem Eintritt Graubündens in die Eidgenossenschaft (1803) gar zur viersprachigen Schweiz.
Die Schweiz umfaßt insgesamt nur 41 324 qkm. Auf dieser ausgesprochen kleinen Fläche garantiert das Schweizer Volk in seiner Verfassung die vier Landessprachen. Sie sollen in ihrem heutigen Bestand gewahrt und gepflegt werden. 64, 9 0/o (4 071 289 Einw.) der Schweizer Bevölkerung (6 269 783 Einw.) spricht deutsch, und zwar Schwyzerdütsch, sie lernt die Schrift-
oder Hochsprache in der Schule als erste Fremdsprache, 18, 1 0/0 (1 134 010 Einw.) französisch, wobei die „patois romands" immer mehr von der Schulund Schriftsprache verdrängt werden, 11, 9 0/o (743 760 Einw.) italienisch im südlichen Kanton Tessin und in den bündnerischen Valli und nur 0, 8 °/o (50 339 Einw.) rätoromanisch in den Hochländern Graubündens bzw. als Niedergelassene im schweizerischen Raum (der Rest von 4, 3 °/o (270 385 Einw.) geht in anderen Muttersprachen auf).
Einen Sprachenstreit kannte die Schweiz nie, wenn auch nicht unwesentliche Sprachverschie11 bungen stattfanden, selbstredend zuungunsten der sprachlichen Minderheiten. Am härtesten getroffen wurde und wird der romanische Sprachraum. Einmal fehlt ihm das sprachliche Hinterland, das die anderen Sprachgruppen befruchtet und bereichert, dann aber auch eine Stadt als einigendes kulturelles Sprach-Zentrum, das die ansehnlichen mundartlichen Abweichungen der fünf bis sechs selbständigen Idiome überbrücken und die Entwicklung einer einheitlichen Schriftsprache ermöglichen könnte.
Das einst zusammenhängende romanische Gebiet wird heute durch germanisierte Dörfer und Gegenden in isolierte Landschaften getrennt, die ihrerseits oft aber auch nicht mehr als intakte rätoromanische Flächen angesehen werden dürfen.
Das rätoromanische Stammland zerfällt heute in ein surselvisches (Bündner Oberland) und ein ladinisches (Engadin); dazwischen liegen die besonders stark gefährdeten Dörfer und Täler des Sutselvischen mit Einschluß von Schons, Sutss Surss und Bravuogn.
Im dreisprachigen Kanton Graubünden leben laut Volkszählung vom 1. Dezember 1970 93 359 (57, 6 */o) deutschsprachige, 25 575 (15, 8%) italienischsprechende und 37 878 (23, 4 ’/o) rätoromanischsprechende Einwohner.
Ursprung des Rätoromanischen und bedeutende Einflüsse
Abbildung 1
Karte: Kanton Graubünden —Sprachenkarte
Die Sprachenkarte ist dem Band XVI der Beiträge von schweizerdeutschen Mundartforschung. Die Germanisierung von Bonaduz in geschichtlicher und sprachlicher Schau“ von P. Cavigelli entnommen.
Karte: Kanton Graubünden —Sprachenkarte
Die Sprachenkarte ist dem Band XVI der Beiträge von schweizerdeutschen Mundartforschung. Die Germanisierung von Bonaduz in geschichtlicher und sprachlicher Schau“ von P. Cavigelli entnommen.
Die Bezeichnung »Rätoromanisch* drückt im Wort „Räto“ die ursprüngliche, von den alten Rätern gesprochene rätische Sprache aus, während „romanisch" den Romanisierungsprozeß andeutet, der mit der Eroberung und Unterwerfung der Ureinwohner durch die Römer einsetzte.
Die alten Räter bewohnten in vorgeschichtlicher Zeit die Alpen östlich des Gotthards bis an die Adria, im Süden bis an den Rand der Poebene und nach Norden bestimmt bis an den Bodensee. Als ausgesprochenes Gebirgsvolk führten sie ein hartes Dasein. Trotz der zahlreichen Funde im gesamten Siedlungsraum wissen wir bis heute verhältnismäßig wenig über Ursprung, Herkunft und Lebensart der alten Räter. Sie sprachen eine gemeinsame Sprache, das Rätische, verehrten Stein, Wasser und Feuer als göttliche Gewalten und bearbeiteten mit zähem Fleiß den gebirgigen, kargen Boden. Zahlreiche, typisch alpine Ausdrücke hat das Rätoromanische bis heute bewahrt, so z. B. „bena“ (Mistkarren), „bleis/bleissa* (grasbewachsener, steiler Abhang in den Bergen), „brenta* (Rückentraggefäß), .comba* (hölzernes Halsband für Ziegen und Kälber), „diervet/pl. diarvets“ (Hautflechte), , dratg* (Kornsieb), „frosla" (Hagebutte), „gep/geppa“ (beim Füttern des Viehs getragener Kittel), „laussa* (Traubenkirsche), „sliusa“
Trotz ihrer Abgeschiedenheit im nur schwer zugänglichen Hochland wurden die Räter über kürzere oder längere Zeit von anderen Völkern mehr oder weniger intensiv beeinflußt, so etwa von den Veneto-Illyrern, deren Spuren in Lokalnamen wie Andiast, Plessur, Peist, Vrin, Maliens, Mulogna noch sichtbar sind, und von den Kelten, die außer in Ortsnamen wie z. B. Dardin, Breil, Brinzouls, Ardez, Purtenza/Prättigau auch in Bezeichnungen der bäuerlichen Arbeit wie „carpien“ (Fahrzeug), „tschariesch" (Flachs-, Hanfhechel) ihren einstigen Einfluß nachweislich hinterlassen haben
Mit der Eroberung und Eingliederung in das römische Weltreich im Jahre 15 v. Chr. durch die beiden Stiefsöhne des Kaisers Augustus, Drusus und Tiberius, erfuhr das gesamte rätische Alpenland eine Überlagerung der einheimischen Art durch die lateinische Sprache und Kultur. Die römischen Eroberer anerkennen weitgehend die rätische Autonomie; sie schließen das Gebiet nicht der seit 58 v. Chr. bestehenden Provinz Helvetia an oder der Gallia cisalpina im Süden, sondern bilden neu die Provinz Rätien. Diese umfaßt das Gebiet vom Alpenkamm bis an die Donau. Die südlichen Täler allerdings werden abgetrennt und der Provinz Gallia cisalpina einverleibt; sie nehmen fortan nicht mehr teil an der Entwicklung Rätiens.
Die Romanisierung des rätischen Gebietes erfolgt langsam im Laufe der folgenden Jahrhunderte. Das Latein wird zwar offizielle Sprache in Handel und Verkehr; daneben aber hält sich der rätische Laut vor allem bei den Bauern abseits der ausgebauten römischen Straßen mit regem Transitverkehr. Diese Tatsache bewirkt, daß die alte rätische Sprache sich in manchen Ausdrücken und Wendungen neben dem Lateinischen behauptet. Dies drückt die Bezeichnung „Rätoromanisch" zu Recht aus, denn die sich bildende romanische Sprache deckt sich ebensowenig mit dem klassischen Latein Roms wie die Provinzialsprachen in Hispania und Gallia. Die Rätoromanen nennen ihre Sprache „romontsch/rumantsch", das abzuleiten ist von lat. „romanice" und ausdrückt, daß die Sprechweise nur „romähnlich" sei. Dies trifft auch zu für die Bezeichnung „ladin“ (im Engadin), die zwar von lat. „lingua latina" stammt, aber ebenso wie „romontsch/rumantsch" die rätische Provinzialsprache bezeichnet
Eine Verbreitung und Vertiefung des lateinischen Einflusses bringt die Christanisierung des rätischen Raumes seit den ersten Jahrhunderten mit sich. Chur wird Sitz des Bischofs. Es ist bezeichnend für die konservative Haltung der Rätoromanen, daß sie beispielsweise die älteste christliche Bezeichnung für „Kirche“, nämlich „baselgia" von lat. „basilica", in ihrer Sprache beibehalten haben, während das französische „eglise" und das italienische „chiesa von der späteren lateinischen Form „ecclesia übernommen wurden Kaiser Diocletian teilt im Jahre 300 n. Chr. die Provinz Rätien in eine Raetia prima mit dem Hauptsitz Curia Raetorum (Chur) und eine Raetia secunda mit der Hauptstadt Augusta Vindelicorum (Augsburg). Die Grenze bilden die Bregenzer Ache und der Bodensee. An der Spitze beider Rätien steht jeweils ein Präses, dem die Verwaltung der römischen Teilprovinz obliegt. Die politische Zugehörigkeit zur Gallia cisalpina und die kirchliche zur Diezöse Mailand unterstreichen die Bindung beider Teile an den Süden.
Rätien unter deutscher Herrschaft
Abbildung 2
Karte: Raetia prima und Raetia secunda Provinz Raetien
Karte: Raetia prima und Raetia secunda Provinz Raetien
Mit der Preisgabe der Verteidigungsfront am Limes und dem Rückzug der römischen Legionen fällt die Raetia secunda im Laufe des 5. Jahrhunderts in die Hände der nachstürmenden germanischen Völker und wird endgültig germanisiert. Raetia prima kommt im Jahre 537 unter fränkische Herrschaft. Alemannische Flüchtlinge hatten bereits nach der verlorenen Schlacht am Rhein gegen Chlodwig (496) die Gegenden am Bodensee besetzt. Die Germani-sierung macht in den nächsten Jahrhunderten rasche Fortschritte Die Romanen können sich einstweilen noch südlich der Linie Schanis—Hirschensprung (bei Oberriet) —Götzis (Vorarlberg) halten (vgl. Karte d. Provinz Raetien: punktierte Linie über den Rhein südl.des Bodensees). Diese Sprachgrenze wird im Jahre 806 zur nördlichen politischen Grenze der neuen Unterteilung Rätiens durch Karl den Großen in ein Oberrätien (I a südlich der Land-quart) und ein Unterrätien (I b zwischen der Landquart und dem Hirschensprung).
War Raetia prima bereits mit dem Beginn der fränkischen Herrschaft dem deutschen Reich zugeteilt worden, so erfolgt 843 auch kirchlich die Lostrennung der Diözese Chur von Mailand und die Eingliederung in die Erzdiözese Mainz. Damit sind alle Bindungen mit dem romanischen Süden gelöst. Durch die sich nach Norden öffnenden Täler dringen germanische Einflüsse immer stärker in das rätoromanische Gebiet ein. Dies geschieht vornehmlich über deutsche Feudalherren mit ihrem mitziehenden deutschen Gefolge, zunächst auf dem Bi-
zu Chur, seit der Eingliederung Rätiens in die alemannische Grafschaft (917) auch und in stets zunehmender Zahl auf den erbauten weltlichen Feudalsitzen in Unter-und Oberrätien. Die meisten Burgen Rätiens tragen deutsche Namen.
Inder Zeitspanne vom 10. bis 15. Jahrhundert wird Unterrätien über einen mehr oder weniger langen Weg der Zweisprachigkeit im Ne1 beneinander romanischer Ureinwohner und deutscher Kolonisten germanisiert, ebenfalls Glarus und die Gegenden am Walensee (Gestade der Walchen oder Welschen).
Aber selbst Oberrätien erfährt in dieser Zeit eine intensive Durchsetzung mit dem deutschen Element, einmal dem Rhein nach hinauf bis Chur, dann aber auch, und nicht minder folgenschwer, durch die Ende des 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aus dem Wallis in hochgelegene, dünnbesiedelte rätische Talschaften einwandernden Walser, die zäh an ihrer hochalemannischen Sprache und Kultur festhalten und germanisierend wirken, so von Rheinwald und Safien aus auf den oberen Heinzenberg und ins Albulatal, von Davos aus ins obere Prättigau, von Langwies aus ins obere Schanfigg und Churwaiden.
Seit der Germanisierung der rätischen Hauptstadt Chur, deren Abschluß mehr oder weniger mit dem Neuaufbau nach der totalen Brandkatastrophe von 1464 zusammenfällt, nahm die sprachliche Entwicklung in den einzelnen, durch hohe Gebirgszüge abgeschlossenen Alpentälern Rätiens ihren eigenen, selbständigen Lauf. Im Zusammenhang mit der Ausbreitung der Reformation wurde nicht nur die nächste Umgebung von Chur verdeutscht, sondern auch Seitentäler wie das Prättigau, Schanfigg, Churwaiden und anTHinterrhein Thusis.
Das ganze 19. Jahrhundert hindurch erfreute sich das Rätoromanische nicht sonderlicher Beachtung. Es fehlte denn auch nicht an Stimmen, die dessen Ausrottung mit Stumpf und Stiel befürworteten. Entscheidend war der wirtschaftliche Aufschwung, der vor allem von der ökonomisch-patriotischen Bewegung in Bünden und ihr nahestehenden Männern angestrebt wurde. Der Anschluß Graubündens an die Schweizerische Eidgenossenschaft (1803) stärkte den deutschen Einfluß. Die Einführung der deutschen Schule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in den romanischen Dörfern am Hinterrhein (Imboden, Domleschg, Heinzenberg, Schams) beschleunigte schließlich über das Stadium einer kürzeren oder längeren Zweisprachigkeit die völlige Germanisierung. Daran konnte die Anerkennung des Rätoromanischen als offizielle Kantonssprache im Jahre 1892 in der neukonzipierten Verfassung nicht Wesentliches ändern.
Erfolgreich verteidigten aber die um die Jahrhundertwende gegründeten romanischen Vereinigungen (1885 Societad retoromontscha, 1896 Romania, 1904 Uniun dals Grischs) den Mutterlaut und leiteten mit der sogenannten rätoromanischen Renaissance eine wesentliche Wiederbelebung der romanischen Sprache ein. Eine Reihe namhafter Dichter bereicherten wesentlich die rätoromanische Literatur. Die offizielle Anerkennung des Rätoromanischen als vierte nationale Landessprache erfolgte in der denkwürdigen schweizerischen Volksabstimmung vom 20. Februar 1938 und stärkte entschieden das Selbstvertrauen der Rätoromanen.
Die aktuelle Lage des Rätoromanischen als sprachliche Minderheit
Abbildung 3
Vordringen der Alemannen und weiterer deutscher Kolonisten in den rätischen Raum.
Vordringen der Alemannen und weiterer deutscher Kolonisten in den rätischen Raum.
Wenn auch die Germanisierung Rätoroma-nisch-Rätiens, territorial gesehen, seit der Reformation bis an die Schwelle unseres Jahrhunderts nicht wesentliche Fortschritte machte, so schrumpfte das rätoromanische Gebiet seit 1900 immer mehr zusammen. Von 219 Bündner Gemeinden haben heute noch 81 eine mehrheitlich romanische Bevölkerung. Diese nimmt aber im Kanton Graubünden sowohl absolut wie prozentual stets ab. Von den 50 339 Rätoromanen gemäß Volkszählung von 1970 leben nicht weniger als 12 461 außerhalb Bündens; lediglich 38 878 sind im Kanton ihrer Muttersprache treu geblieben. Betrug beispielsweise der Anteil der romanischen Bevölkerung in Graubünden 1941 noch 31, 3%, so sank er bis 1970 bereits auf 23, 4 °/o. Im selben Zeitraum aber wuchs die deutschsprachige Bevölkerung von 70 421 (54, 9 %) auf 93 359 (57, 6%), und sogar die Italienisch sprechende Minderheit nahm von 16 438 (12, 8%) auf 25 575 (15, 8 %) zu.
Das wirtschaftliche Gefälle führt zur Abwanderung der Jugend, aber auch der Lehrer und Pfarrer, denen anderswo sich weit günstigere Erwerbsmöglichkeiten bieten. Der Gebirgskanton Graubünden hat wenig Industrie. Die touristisch bedingten Ballungen in den Kurorten machen das Aussterben von Höfen und Dörfern nicht wett; überdies verlangt gerade der Fremdenverkehr die Kenntnis anderer Sprachen; das Romanische kommt kaum zum Zuge, es sei denn als interessante Kuriosität. Für die romanische Sprache bedeutet der wirtschaftliche Strukturwandel einen empfindlichen Verlust an Substanz. Die Zunahme der deutschsprachigen Bevölkerung im romanischen Dorf (durch Heirat, Fremdenverkehr, Einführung neuer Industrien) führt zur deutschen Amtssprache und zur deutschen Grundschulung. Aber selbst bei romanischer Grundschulung werden die Schüler mit der Einführung des Deutschen im vierten Schuljahr zweisprachig. Für die intensive Pflege des Rätoromanischen als Muttersprache fehlt oft die notwendige Zeit, mancherorts auch der gute Wille. Im gesamten Erwerbsleben benötigt der Erwachsene möglichst gründliche Kenntnisse des Deutschen. Der Grundsatz der ökonomischen Rationalität spricht gegen eine besondere Pflege des Rätoromanischen. In den Augen weiter Kreise bringt dieses keinen praktischen Vorteil. Warum soll es dann erhalten bleiben? Etwa als Rarität? So droht der Sprache das Absinken zum antiquierten Museumsstück.
Die zahlreichen deutschen Auf-und Inschriften im romanischen Dorf, die stark mit deutschen Ausdrücken durchsetzte Gesprächsart vieler Rätoromanen und die allgemein sich bemerkbar machende sprachliche Unsicherheit in der mündlichen und schriftlichen Formulierung der Gedanken sprechen von einer verbreiteten, resignierenden Gleichgültigkeit in der Beherrschung und Erhaltung der angestammten Muttersprache. Dazu tragen wesentlich auch die. tägliche Überschwemmung der romanischen Bevölkerung mit deutschen Erzeugnissen der Massenpresse bei und das ausgiebige Angebot an deutschen Darbietungen der Massenmedien: Rundfunk, Fernsehen und Film.
Den Zugang zur großen Welt erreicht der Rätoromane heute doch vorwiegend über das Deutsche, wenn er dieses auch auf Grund der Schulbildung und des täglichen Umgangs mit Deutschsprachigen in der Regel kaum vollständig beherrscht. Niemand betrachtet die Erhaltung der eigenen Sprache als außergewöhnlichen Luxus; allgemein würde man ihr Verschwinden als Verlust empfinden und bedauern; dennoch kümmert sich gerade die Jugend vielfach wenig intensiv um ihre Muttersprache und deren Pflege; es mag sogar sein, daß man sie gelegentlich als unnötigen Ballast empfindet, weil die tieferen, seelischen Zusammenhänge eines Sprachwechsels nicht oder bestimmt nicht genügend bekannt sind
Und doch fehlt es wahrlich nicht an Kräften, die sich überzeugt und energisch für die Rettung der rätoromanischen Muttersprache über die Klippen unserer vornehmlich wirtschaftlich interessierten Zeit hinweg einsetzen. Die Ligia Romontscha, 1919 als Dachorganisation aller rätoromanischen Vereinigungen gegründet, koordiniert von ihrem Sitz in der Casa Romontscha in Chur aus die mannigfaltigen Anstrengungen der ihr angegliederten Tochtergesellschaften zur Pflege und Förderung der rätoromanischen Sprache. Sie wird in ihren Bestrebungen durch namhafte Beiträge von Kanton und Bund unterstützt, und selbst private Institutionen bekunden immer wieder ihr Wohlwollen und ihr volles Verständnis für alle Aktionen zur Festigung und Erhaltung des rätoromanischen Lautes.
Hauptanliegen der Ligia Romontscha sind: die Ausbildung der Lehrerinnen für die romanischen Kindergärten (scolettas) in einem eigenen, auf die besonderen Bedürfnisse der romanischen Bevölkerung ausgerichteten Seminar; die Überwachung der „scolettas“ in den Dörfern; die Beratung von Gemeinde-und Schulbehörden; die Förderung des romanischen Unterrichts auf der Primär-, Sekundär-und Mittelstufe; die Organisation und Durchführung von Schulungskursen für die Assimilierung Fremdsprachiger in romanischen Dörfern; die Schaffung der dazu notwendigen audio-
visuellen Unterlagen und Methoden; die Veröffentlichung der notwendigen Wörterbücher für die verschiedenen Idiome; die Herausgabe literarischer und musikalischer Werke für Schule und Haus; schließlich die enge beratende Mitarbeit in den angegliederten romanischen Gesellschaften. Diese ihrerseits redigieren literarisch-bildende Jahrbücher, unterstützen wertvolle Veröffentlichungen, organisieren und romanische Abende, Assimilierungs-und Bildungskurse für Erwachsene und überwachen der durch die Entwicklung sprachlichen Lage in ihrem besonderen Gebiet, die sie möglichst vorteilhaft zu gestalten versuchen. In dieser Aufgabe teilen sich die in der Liga Romontscha angeschlossenen Tochtergesellschaften: Societad retoromontscha (seit 1885), Romania in der Surselva (seit 1921), Uniun dals Grischs (seit 1904) im Engadin, Uniung Rumantscha Surmeir (seit 1921) im Albulatal und Oberhalbstein, Uniun da scripturs romontschs (seit 1946) und die Cumünanza Radio Rumantsch (seit 1946).
Die Sprachgesellschaften veröffentlichen mit großer Anstrengung ihre jährlichen Periodika, belletristisch-literarischen und historischen Inhalts: die Romania den „Ischi" und den „Tschespet", die Uniun dals Grischs den „Cha-lender ladin", die Renania den „Calender per mintga gi", die Uniung Rumantscha Surmeir „II noss sulom", die Uniun da scripturs romontschs „Las novitads litteraras". Eine besondere Stellung nimmt die älteste rätoromanische Vereinigung, die Societad retoromontscha, ein, die seit 1886 ihr Jahrbuch „Annalas“ und seit 1939 den Dicziunari Rumantsch Gri-schun (DRG) herausgibt; bis heute sind fünf Bände und fünf Faszikel des sechsten erschienen und finden in Romanisch Bünden und darüber hinaus, vor allem in wissenschaftlichen Kreisen, Beachtung und Anerkennung.
Eine erfeulich rege Tätigkeit entwickelt die Cumünanza Radio Rumantsch, die werktags während zehn Minuten die romanischen Nachrichten, wöchentlich in „Nossa emissiun" eine halbstündige Sendung zu aktuellen Problemen, die Bauernsendung, Frauen-und Kinder-stunden, an Sonnund Festtagen die romanische Predigt ausstrahlt und in der Sendung „Patnal" vor allem literarische Probleme angeht. Lehrreiche romanische Schulfunksendungen bereitet „Radioscola" vor und bespricht sie anschaulich in der sorgfältig redigierten Einführungsschrift. Im Programm des Schweizerischen Fernsehens der deutschen und rätoromanischen Schweiz nimmt der „Balcun fort" mit seinen regelmäßigen Folgen einen festen Platz ein; zweimal in der Woche wird jetzt auch die „Guet-Nacht-Gschicht" für die Kleinen rätoromanisch gesendet.
Im Jahresbericht der Ligia Romontscha wird jeweils Rechenschaft abgelegt über die geleistete Arbeit und über die Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel; neue Programme und Aktionen werden vorgestellt und besprochen. Die romanischen Gymnasiasten der Kloster-schule Disentis treffen sich in der Academia romontscha, die surselvischen Kantonsschüler in Chur entwickeln eine rege, erfolgreiche Tätigkeit in der Montana, die ladinischen Kantons-und Hochschüler in der Ladinia; an der Universität Freiburg i/Ue bilden die romanischen Studenten in der Rezia eine eigene Verbindung. In den meisten größeren Schweizer Städten sammeln sich die Rätoromanen regelmäßig zu Bildungs-und Gesangsabenden in verschiedenen romanischen Vereinigungen. In allen romanischen Dörfern Graubündens singen Männer und Frauen in Gesangsvereinen und bekunden auf kantonalen und schweizerischen Gesangsfesten und bei besonderen Anlässen wieder die Präsenz des Rätoromanischen durch das klang-und kraftvolle romanische Lied.
Wertvolle konstruktive Arbeit leistet schließlich auch die romanische Presse durch die zweimal wöchentlich erscheinende Gasetta Romontscha (surselvisch) und das Fögl d'Engiadina (ladin), die Wochenzeitung-Casa Paterna und die Monatsblätter Pagina da Surmeir und La Punt. Die Romontscha Disentis gibt Stampa jährlich den Calender Romontsch heraus und neben dem rätoromanischen Verlag Fontaniva Cuera auch romanische Bücher.
Erschwerend wirkt sich bei allen Aktionen das Fehlen einer einheitlichen Schriftsprache für alle rätoromanischen Idiome aus. Nachdem sich die ladinischen und die surselvischen Dialekte in einer organischen Entwicklung seit 400 Jahren zu Schriftsprachen gefestigt hatten, schufen separatistische Tendenzen vor einem knappen halben Jahrhundert noch eine surmeiranische, eine schamserische und eine sutsel-vische Schreibart, die heute nicht mehr wegzudenken sind. Bestrebungen zur Schaffung einer einheitlichen rätoromanischen Schriftsprache scheiterten bereits einmal kläglich vor annähernd hundert Jahren Die gegenwärtigen Anstrengungen müssen als unrealistisch gewertet werden. Hingegen bemühen sich heute Rundfunk und Fernsehen um. eine Annäherung der verschiedenen Schriftidiome durch gezielte Sendungen in allen sprachlichen Varianten und zeitigen gute Erfolge in der Förderung des gegenseitigen Verständnisses.
Erfreulich ist die rege literarische Tätigkeit, vor allem in den beiden Hauptidiomen, einer Reihe talentierter Dichter und Schriftsteller. Sie bereichern die rätoromanische Bevölkerung fortlaufend mit neuen Dichtungen. Wer bei der Ligia Romontscha in Chur Einsicht in die überaus reichhaltige moderne rätoromanische Literatur nimmt, wird erstaunt sein über die Vielfalt an jährlichen Veröffentlichungen und über das beträchtliche Angebot an Büchern aus dem rätoromanischen Schrifttum und an Kompositionen und Schallplatten einheimischen Musikschaffens. Auch wissenschaftlich ist das rätoromanische Gebiet erfreulich gut erschlossen; es liegen gründliche Monographien einzelner Idiome vor, sprachsymbiotische Untersuchungen, historische und geographische Darstellungen. Leider aber fehlt noch bis heute ein umfassendes Werk über die Rätoromanen, ihre Geschichte, Sprache und Kultur. Bund und Kanton befassen sich gegenwärtig mit der Schaffung eines Institutes für Rätische Forschungen in Chur, das die vielfältigen sprachlichen, historischen, soziologischen und volkskundlichen Aspekte des Kantons Graubünden mit seinen drei Sprachen und Kulturen systematisch erfassen und darstellen sollte. Von Zeit zu Zeit treffen sich die Bündner Rätoromanen mit den Ladinern im östlichen Gar-dena-Tal und in den Dolomiten sowie mit den Friulanem im Friaul zu interromanischen Kongressen und Zusammen mit Studientagungen.
den bündnerischen Rätoromanen bilden sie die letzten Restbestände der einst umfangreichen alpinen Rätoromontschia. Auch cie führen einen verzweifelten Kampf um die Weiterexistenz im sie umschließenden italienischen Gebiet.
Eine Prognose über die Zukunft der Rätoromanen und ihrer arg bedrohten Muttersprache ist heute nicht mit Sicherheit zu stellen. Eine solche wurde in den letzten 200 Jahren des öfteren versucht; man räumte ihr keine Uberlebungschancen ein. Noch lebt sie aber, die rätoromanische Sprache. Geistige Größen lassen sich glücklicherweise nicht mit konkreten Maßeinheiten bestimmen.
Viele Kräfte wirken heute überzeugt und konstruktiv für die Erhaltung der rätoromanischen Sprache. Ihr Einsatz ist vielversprechend. Bund, Kanton und die breite Öffentlichkeit scheuen keine Mittel, um die vierte Nationalsprache siegreich über die Klippen unserer Zeit zu retten. Das entscheidende Ja muß aber die rätoromanische Bevölkerung sprechen, „In pievel viva, sch’el vul viver!"
(Ein Volk lebt, wenn es leben will.)
Diese Vermächtnisworte stammen von Prof. R. Vieli, einem großen romanischen Führer (1895— 1953).
Ich bin überzeugt, daß die intensiven Anstrengungen von heute zur Festigung und Rettung des rätoromanischen Wortes Erfolg haben werden und daß unsere Generation ihr rätoromanisches Sprachgut nicht nur ungeschmälert, sondern bereichert den nachfolgenden überliefern kann. Denn mit ihrer Muttersprache stehen oder fallen die Rätoromanen; dessen sind sich wohl die meisten bewußt.
Pieder Cavigelli, Dr. phil., geb. 1913 in Rueun; Ausbildung zum Primarlehrer am Lehrerseminar der Bündner Kantonsschule in Chur, zum Sekundarlehrer an der Universität Zürich; romanistisch-germanistisches Studium an den Universitäten von Zürich, Grenoble, Paris, Perugia. Lehrtätigkeit an der Primarschule von Andiast und Tavetsch-Rueras, an den Sekundarschulen von Bonaduz und Arosa, am unteren Gymnasium und am Lehrerseminar der Bündner Kantonsschule in Chur. Lehrauftrag für rätoromanische Literatur und Einführungskurs ins Surselvische an der Universität Zürich (1974/75).