Die folgenden Ausführungen beinhalten zwei Zielsetzungen und bewegen sich entsprechend auf zwei Argumentationsebenen: Einmal wollen sie aufmerksam machen auf eine gerade anlaufende Kontroverse zwischen Hans-Ulrich Wehler als Wortführer der modernen deutschen Sozialgeschichte und Andreas Hillgruber, der für eine stärkere Stellung der „politischen Geschichte moderner Prägung" plädiert Zum anderen möchte ich auf dem Hintergrund meiner Forschungen zur englischen Geschichte zu dieser Kontroverse Stellung beziehen. Idi meine, daß Forschungen zur englischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert geeignet seien, von dem sterilen Streit um den Primat der Außenpolitik oder den der Innenpolitik, auf den sich streckenweise die Kontroverse zwischen Wehler und Hillgruber redu-ziert wegzuführen und sich statt dessen auf das erkenntnisfördernde Gebiet der Wechselwirkungen zwischen „innerstaatlichem Systemwandel und internationaler Konstellation" zu konzentrieren.
Die Verbindung zwischen beiden Diskussionsebenen besteht darin, daß der englischen Politik zum einen die Verselbständigung der Exekutivgewalt nachgesagt und die Kunst nach-gerühmt wird, vermeintliche Sachzwänge zu mildern und sozialökonomisch bedingte Frontbildungen zu lockern und ferner zugestanden wird, daß die Entwicklung Englands nicht nur wesentlich durch internationale Ereignisse bestimmt worden sei, sondern England auch immer bestrebt sein mußte, die welt(wirtschafts-) politischen Konstellationen zu beeinflussen. Die Kunst des Politischen und der Einflußbereich der Außen(wirtschafts) politik, die im englischen Fall also als Erfahrungs-tatsachen anerkannt werden, sind nicht ohne weiteres oder nicht allein mit sozialhistorischen Erklärungsmodellen zu fassen; sie verweisen auf Gesichtspunkte, die Kriterien für die Bestimmung des Gegenstandsbereichs und der spezifischen Sehweise einer politischen Geschichte abgeben.
An einem ausgewählten Beispiel der englischen Geschichte, dem mit den Symbolworten der britischen Friedensstrategie 1917/1919 „Innere Sicherheit" und „British Peace“ umrissenen Komplex, ließen sich, so meine ich. Er kenntnisinteressen und Untersuchungsmethoden einer Politikhistorie demonstrieren. Es geht darum, den von Hillgruber stellvertretend formulierten Anspruch einer „politischen Geschichte moderner Prägung" einzulösen -ohne sich deshalb Hillgrubers Position in allem anschließen zu müssen —, d. h. aufzuzeigen, daß politische Geschichte Zusammenhänge aufzuhellen vermag, die die Sozialgeschichte nicht in den Griff bekommt oder gar nicht mehr in ihr Blickfeld einbezieht.
Zur Kontroverse Wehler-Hillgruber
In der deutschen Geschichtswissenschaft galt der Streit über den Primat der Innen-oder den der Außenpolitik lange Zeit als überholt; ein Lösungsmodell, eine Synthese konnte allerdings nicht gefunden werden. Niemand rüttelte daran, daß die Bedingungen politischen Handelns mit sozialgeschichtlichen Methoden am besten erschlossen werden können; historiographisch gesehen, stimmen auch noch Hillgruber und Wehler in der Beurteilung der Fehlentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert überein — Hillgruber begründet damit die Forderung nach einer politischen Geschichte moderner Prägung Wie Hillgruber der Sozialgeschichte bescheinigt daß sie den Nachholbedarf nach 1945 zum großen Teil wettgemacht habe, so räumt auch Wehler ein, daß „kein durchschlagendes Argument zu erkennen sei, mit dem die prinzipielle Berechtigung, ja Notwendigkeit einer modernen Politikgeschichte bestritten" werden könnte. Wehler bestreitet dann aber, daß Hillgrubers Programm einer politischen Historie „modern" sei — er hält den Anspruch der modernen Sozialgeschichte auf eine Vorrangstellung aufrecht, zumindest so lange, bis die Integrationsfähigkeit einer modernen Politikhistorie überzeugend dargelegt sei.
Es kann m. E.freilich nur darum gehen, für die politische Geschichte einen Platz im Rah-men einer umfassend verstandenen Gesellschaftsgeschichte zu beanspruchen, die auf Max Webers „Theorie sozialen Handelns" aufbaut Die Aufgabe, den „Politik" begriff vor dem Hintergrund der Gegenwart als analytischen Begriff zu entwickeln und für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen, muß freilich in einem anderen Zusammenhang geleistet werden. Die Perzeption und Rezeption der Politikwissenschaft ist jedenfalls seit langem im Gange, gerade unter Politikhistorikern. Mag auch der „Hinweis auf Programme und Entscheidungen" — auf deren heuristischer Funktion im folgenden der Nachdruck liegt — „nicht jedermann befriedigen" (Wehler, S. 22), so ist der Nachweis der Leistungsfähigkeit dieser Betrachtungsweise immerhin ein Schritt, um das Tätigkeitsfeld, die Denkansätze und die Untersuchungsmethoden einer politischen Geschichte zu umreißen, die sich der sozialökonomischen Bedingtheit politischen Handelns bewußt ist und auf den Ergebnissen sozialgeschichtlicher Forschungen aufbaut, aber andererseits auch davon überzeugt ist, daß eine Deutung, die bei diesen Erkenntniszielen stehen bleibt, das politische Handeln im engeren Sinn verfehlen würde; dies gilt gerade für den Bereich der Interdependenz zwischen Innen-und Außenpolitik.
Der Chor der Stimmen, die einer Erforschung des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses zwischen Innen-und Außenpolitik das Wort reden ist kaum noch zu übersehen; die Zahl der Studien, die diesem Ruf felgen oder genügen, läßt sich hingegen an einer Hand abzählen Selbst hier ist noch der Abstrich zu machen, daß zwar die „innenpolitische Präformierung von außenpolitischen Handlungen" in vielen Varianten aufgedeckt worden, die Einwirkung der internationalen Konstellation — vermittelt durch verschiedene Akteure — auf das politisch-soziale System aber immer noch eher ein Postulat der Forschung geblieben ist Diese Diskrepanz kann man als Zeichen dafür nehmen, daß in der Geschichtswissenschaft die Tendenz vorherrschte, das Postulat der Analyse jener Wechselbeziehungen zwischen Innen-und Außenpolitik nur noch in einer Richtung zu erfüllen. Dieser Umstand veranlaßte Hillgruber, die vermeintliche Monopolstellung der Sozialgeschichte anzuprangern; dies wiederum foderte Wehler zu einer Verteidigung der Vorteile der Einseitigkeit heraus.
Als Hillgruber im Herbst 1970 die Freiburger Sozialhistoriker und 1972 auf dem Regensburger Historikertag die moderne Sozialgeschichte in ihren verschiedenen Spielarten der Unzulänglichkeiten und Einseitigkeiten bezichtigte, fand die Kontroverse noch nicht statt; man gewann den Eindruck, als handle es sich um einen Vorstoß, für den kein Anlaß bestehe und der deshalb wie ein Schlag ins Wasser war, ohne Kreise zu ziehen. Die Auseinandersetzungen um Studienordnungen — hochschulintern — und die öffentlich geführten Kontroversen um die Rahmenrichtlinien für den Geschichtsunterricht waren zunächst gleichfalls nicht dazu angetan, einen Methodenstreit vom Zaun zu brechen. Die in den fünfziger und sechziger Jahren geführten Debatten über das Verhältnis von Geschichts-und Politikwissenschaft, Sozialgeschichte und Sozialwissenschaf-ten hatten das Selbstverständnis des Faches so nachhaltig geprägt, daß kaum jemand einen Anlaß erblickte, kritisch gegen die von den modernen Sozialhistorikern — Conze, Wehler, Kocka, H. Mommsen u. a. —vorangetriebenen Veränderungen des Bewußtseinsstandes zu Felde zu ziehen; die Auseinandersetzung fand freilich um so intensiver in den Ausbildungsstätten — in Seminaren und anläßlich öffentlicher Vorträge — statt Da auf dieser Ebene der Angriff auf das Fach Geschichte und die Erkenntnis-bzw. politische Bildungsfunktion der historischen Methode zielte, engagierten sich gerade Sozialhistoriker für die Aufgabe, Geschichte als moderne Forschungsdisziplin zu verteidigen. Kritik an sozialgeschichtlich orientierten Arbeiten wurde hingegen nur auf Teilgebieten in fachwissenschaftlichen Diskussionen vorgetragen
Erst als Hillgruber sich in seiner „Deutschen Geschichte 1945— 1972. Die deutsche Frage in der Weltpolitik" (1974, S. 164) zu dem Satz verstieg: „Die fragwürdige These von einem . Primat der Innenpolitik’ lieferte solchen Forderungen (nach radikalen Reformen, d. h. einer „sozialen Revolution auf Raten", — dies sei im Grunde die einzige Aufgabe der Gegenwart; der Verfasser) eine wissenschaftliche Scheinlegitimation" sahen sich die Vertreter der Sozialgeschichte gezwungen, zu der politisch eingefärbten Kampfansage Stellung zu nehmen und in einer wissenschaftlichen Polemik die Frage aufzuwerfen, welche politische Tendenz bzw. welche politischen Implikationen in Sozialgeschichte bzw. „politischer Geschichte" stecken Der Waffenstillstand, den ein feinfühliger englischer Historiker als Kennzeichen der Braunschweiger Versamm-lung deutscher Historiker und Geschichtslehrer im Oktober 1974 festzustellen glaubte, scheint damit gebrochen Der Sozialgeschichte wurde ein verhängnisvoller Einfluß auf die Bildungsund Schulpolitik zugeschoben; sie fand sich in den großen Zusammenhang der . Reformneurose'eingeordnet. Hillgruber vermengte den Streit um einen Platz der politischen Geschichte, vor allem der Außenpolitik, neben der Sozialgeschichte mit dem politisch akzentuierten Disput, ob „. Reformen'im gesellschaftlichen Bereich absoluten Vorrang vor Problemen der internationalen Politik und Sicherheit des Staates und der Bündnisgruppe, der dieser angehörte, zu beanspruchen hätten".
Wie die Geschichte der Geschichtswissenschaft das wechselseitige Stützungsverhältnis zwischen deutschenHistorismus (Primat der Außenpolitik) und dem machtpolitischen Irrweg des deutschen Nationalstaats aufgedeckt hatte, so stellte Hillgruber für die unmittelbare Erlebnisgegenwart eine geistige Verwandschaft und Gesinnungsbrüderschaft zwischen Bildungsreform und moderner Sozialgeschichte heraus ohne freilich sozialhistorische Schulen zu nennen, die er für verantwortlich an dieser Entwicklung hält. Da es andererseits nicht Hillgrubers Absicht ist — wie man den Zitaten entnehmen könnte —, die Sozialgeschichte vom Thron zu stoßen bzw. wieder in die Verbannung der „Oppositionswissenschaft" zu schicken, kann man erwarten, daß Hillgruber in seiner Replik auf Wehler dieses mögliche Mißverständnis ausräumt, d. h. die Spreu — jene dritte der von Hillgruber genannten Richtungen, die unter dem Namen Sozialgeschichte auftrete, um damit ihr Interesse an politischer Indoktrination zu tarnen — vom Weizen — dem Kreis, der die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft" trägt — zu sondern.
Obwohl Wehler sich nicht von Hillgruber auf den Kampfplatz ziehen läßt deutet doch einiges darauf hin, daß die Schärfe ihrer Auseinandersetzung mit dem Streit um das Selbstverständnis und die etatmäßige Ausstattung der verschiedenen Richtungen der Geschichtswissenschaft, mit Studienreform und Rahmen, richtlinien für den Geschichtsunterricht zu tun hat. Dafür spricht unter anderem, daß beide Kontrahenten einander vorrechnen, welchen Einfluß und welche Macht die Gegenseite übe, daß sie den höheren politischen Erziehungswert für ihre Disziplin beanspruchen, u. a. m. Sollte sich diese Vermutung bewahrheiten, so ist zu befürchten, daß die politische Dimension des Streites die methodisch-theoretische Seite verdrängen könnte. Da beide Kontrahenten einander prinzipiell zugestehen, daß ihre Denkansätze und ihr methodisches Instrumentarium aufeinander zuarbeiten, reduziert sich der Interessenkonflikt darauf, wer wen vereinnahmen dürfe bzw. wer federführend sei, wer Zubringer-oder Ergänzungsdienste leisten solle.
Hillgrubers Plädoyer, Internationale Politik und Außenpolitik müßten angesichts der „gleichbleibenden Bedeutung der Gegensätze 'zwischen den Weltmächten“ „für den Verlauf der allgemeinen Geschichte" in den Lehrplänen an den Schulen und in den Themenbereichkatalogen für das Geschichtsstudium stärkere Berücksichtigung finden beruht auf der Annahme, daß ein lediglich von der Sozialgeschichte her vermitteltes Geschichts-und Politikverständnis zu kurz greife. Wenn auch der Bereich Außenpolitik — Internationale Politik im Themenbereichkatalog der Kultusministerien ausgesprochen Stiefmütter-lich behandelt wird so ist in der Geschichtswissenschaft unumstritten, daß Außenpolitik als Gegenstandsbereich einen eigenen Stellenwert besitzt; die unmittelbare Erlebnisgegenwart der Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg läßt daran keinen Zweifel. Souveräne Darstellungen — wie die von Richard Löwenthal oder Hans Peter Schwarz — tragen dazu bei, die Bedeutung der zwischenstaatlich-internationalen Beziehungen ins Bewußtsein zu heben.
Es ist gewiß nicht Wehler oder der deutschen Sozialgeschichte anzulasten, wenn diese Tatsache in der Bildungspolitik verdrängt wird, sondern dem Verspätungseffekt in der Wahrnehmung, daß die Geschichtswissenschaft sich zumindest seit den sechziger Jahren nicht mehr durch Studien alten Stils zur großen Politik ausweist und auszeichnet. Unterschwellig ist freilich nicht zu verkennen, daß Wehlers Bestreben, Hillgrubers politische Geschichte als Rückfall in die „Politik der Großen Kabinette" einzuordnen, und umgekehrt Hillgrubers Angriff gegen den Alleinvertretungsanspruch der Sozialgeschichte die Tendenz erkennen lassen, unter Rechtfertigung ihrer jeweiligen For-schungssdiwerpunkte zugleich den Anspruch einer integralen Geschichtsschreibung zu verfechten, d. h. vorzugeben, die jeweils andere Forschungsrichtung ihrem Rang entsprechend angemessen zu berücksichtigen. So läuft Hillgruber Gefahr, die Ergebnisse sozialgeschichtlieber Forschungen zur bloßen Hintergrunds-information zu degradieren während Wehler durch ein indirektes Beweisverfahren die Schlußfolgerung aufdrängt, sozialökonomische Erklärungsmodelle hätten auch in der internationalen Politik ihre Funktion, ja, ihre Ergebnisse dürften relevanter sein als die Erkenntnisse eines politikgeschichtlichen Denkansatzes. Von diesem aktuellen Wissenschafts-und bildungspolitischen Bezugspunkt her ist es zu erklären, daß die Kontrahenten sich im Zuge ihrer Argumentation von der gemeinsamen Ausgangsposition entfernen und versuchen, die andere Seite ins Abseits von „Opas Politik der Großen Kabinette" oder „unseriöser Tendenzhistorie“ zu manövrieren, d. h. zu unterstellen, Sozialgeschichte kümmere sich weniger um Geschichte der praktizierten Politik, sondern formuliere, gestützt auf die Analyse der sozialen Wirklichkeit, Politik, wie sie hätte sein sollen
Wehlers und Hillgrubers Wege trennen sich, sobald es darum geht, generell den Handlungsspielraum der Amts-und Entscheidungsträger — „im Selbstverständnis der Handelnden und in der um die Erfassung der Sachzusammenhänge bemühten historischen Deu-tung“ — zu bestimmen. In ihren historischen Arbeiten verfallen Wehler und Hillgruber jedoch in den gleichen Fehler: Ebenso wie Wehler die fatale deutsche Situation vor dem Ersten Weltkrieg nicht so sehr Bismarcks unfähigen Nachfolgern anlastet, sondern die entscheidende Weichenstellung auf Bismarcks Wirtschafts-und Sozialimperialismus zurückführt, die „unter dem Primat der gesellschaftlichen und politischen Systemerhaltung" erfolgen mußte sieht auch Hillgruber die deutsche Außenpolitik der Zwangsläufigkeit eines Prozesses unterworfen. Er spricht von einer „unaufhebbaren Grundproblematik dieses Verhältnisses" — d. h.des Gegensatzes zwischen dem englischen „Balance-of-Power" -Interesse und Deutschlands halbhegemonialer Stellung — stützt seine These jedoch auf eine recht fragwürdige, eher geistesgeschichtliche Konstruktion, die von den sich wandelnden innenpolitischen Kräftekonstellationen (vor allem in England) und den wirtschaftshistorischen Phasen gleichermaßen abstrahiert und außerdem den weltpolitischen Spielraum Englands in den 1870/1890er Jahren nicht zutreffend einschätzt In der praktischen historischen Arbeit versteifen sich beide Kontrahenten auf eine Betonung des „Prozeßcharak. ters der Geschichte" gegenüber dem „Moment der Entscheidungen", wobei die auf das Ganze gerichteten Erklärungsmodelle sich natürlid darin unterscheiden, daß Wehler die Begrifs. bildung aus wirtschaftlichen und gesellscha liehen Daten ableitet, Hillgruber hingegen von einer Deutung des Mächtesystems ausgeht. Damit hängt der zweite Kontroverspunkt zu sammen: Ob es zulässig sei, Außenpolitik als Bereich „originärer Machtpolitik“ zu betrachten und zu fordern, daß dem Eigengewicht des internationalen Systems entsprechend ein eigenständiges analytisches Instrumentarium entwickelt werden müsse Mit Wehler kann man kritisieren, daß der Machtbegriff zu undeutlich und vor allem zu wandlungsfähig und konstellationsgebunden ist, um vom Ansatz originärer Machtpolitik her einen Gegenstandsbereich konstituieren zu können ähnlich den „sozialen Klassen und Gruppen, Institutionen und Strukturen" als einem der Definitionsmerkmale für Sozialgeschichte.
Hillgrubers Position
Zur Rechtfertigung eines eigenständigen Untersuchungsobjektes „Außenpolitik" bzw. „Politik" werden in der Regel — so auch von Hillgruber — fünf Erfahrungssätze herangezogen: 1. „Alle soziale Dynamik wie andererseits alle ideologische Sprengkraft seit Beginn der industriellen Revolution .. . haben das Eigengewicht der historisch geprägten Staaten und die relative Autonomie ihrer Außenpolitik ... * nicht beseitigt" In die gleiche Richtung zielt der Vorbehalt Böhmes gegen Wehlers Standpunkt, man müsse, ausgehend von den modernen Wachstums-und Konjunkturtheorien, die politischen und ökonomischen Ereignisse analysieren: Die Perzeption der vor allem an der amerikanischen Entwicklung gewonnenen theoretischen Modelle dürfe nicht zur Unter Schätzung der machtstaatlichen (u. a. handels-und finanzpolitisch geprägten) Traditionen Alteuropas führen 2. Die Übertragung der Erkenntnismethoden, die für den Bereich der Innen-und Gesellschaftspolitik entwickelt worden seien müsse an den Wirklichkeiten der internationalen Politik ebenso scheitern wie die im Analo-gieschluß zur Innenpolitik entwickelten normativen Kategorien der Völkerbundsbewegung gegenüber den Realitäten der Zwischenkriegszeit und der Ära des Kalten Krieges versagt hätten. 3, In allen Gemeinwesen treffe man auf Konventionen („operative ideals"), die zur Kontinuität der nationalen Geschichte beitragen Hillgruber nennt diesen Faktor „politisch": Diese politischen Traditionen, die „oft lange über den ursprünglichen Realitätsbezug" hinaus fortdauern seien nicht reduzierbar auf sich wandelnde wirtschaftliche Interessen. Gesellschaftliche Verhältnisse seien zwar die Bedingung der Möglichkeit bestimmter Regime, der Wirkungschancen von Ideologien u. a. m., aber sie könnten nicht als direkte Ursache innen-und außenpolitischer Koalitionsbildung, imperialistischer Politik bestimmter Observanz etc. akzeptiert werden: " By itself, the socio-economic composition of the leaders and members of a national political Organization does not explain its larger purposes and functions. In no small measure, these are defined by dominant political Personalities. Although such political actors cannot afford to disregard these socioeconomic constrains alltogether, they nevertheless Claim and secure the discretion to shape policy and make decisions. Needless to say, the more elitist and authoritarian the ideology and structure of political organizations, the greater this leeway." 4. Ohne die soziale Gebundenheit, d. h. das Interesse jedes Regimes an der Bewahrung der bestehenden sozialen Struktur, abstreiten zu wollen, lasse sich immer wieder eine relative Entscheidungsfreiheit der Machteliten feststellen; die Bestimmung des Anteils, den die politisch Verantwortlichen an der Bestimmung politischer Alternativen hben, die es in jeder Situation in begrenzter Zahl gebe, sei eine der wichtigsten Aufgaben politischer Geschichte 5. Außenpolitische Neuorientierungen find Handlungen, die als Reaktion auf Veränderungen im Geflecht der internationalen Beziehungen erfolgen und daher nur in geringem Maß als Ausfluß eigener Entscheidungen eines Staates zu betrachten wären könnten daher auch nicht mit Hilfe sozialökonomischer Erklärungsmodelle gedeutet werden Hillgruber fordert deshalb, daß historische Analysen über die Erkenntnisinteressen einer Sozialhistorie hinausgehen müßten die Geschichte als Resultat sozialökonomisch geprägter Interessenkonflikte begreife Er wirft der Sozial-geschichte vor, daß sie zwar die konstitutiven Merkmale einer Situation aufdecke, aber trotz des Verzichts auf politische Momentaufnahmen und auf detaillierte Studien des Entscheidungshandelns das Recht beanspruche, Urteile über politisches Handeln, über Versagen oder Leistungsfähigkeit politischer Akteure und Regime fällen zu dürfen. Er fordert deshalb, daß politische Geschichte durch intensive Detailforschung die Erkenntnisziele der Sozial-geschichte in mindestens zwei Richtungen ergänzen müsse und ergänzen könne Einmal müsse sie die Intentionen und Interessen der Führungsgruppen, zum anderen die politische Strategie und Taktik rivalisierender Macht-eliten herausarbeiten, „policy and politics", machtpolitische Kalkulation und Ideen/Ideologien untersuchen.
Zwei Argumente können Hillgrubers Plädoyer für eine politische Geschichte stützen: 1. Politisches Geschehen ist zwar durch die restriktiven Bedingungen politisch-sozialer Systeme gebunden, doch besagen diese Bedingungen noch nicht, warum Ereignisse einen bestimmten Verlauf nahmen und nicht andere Ergebnisse nach sich zogen: „Dem Inhalt nach sind die spezifisch politischen Fragen keine Sachfragen, sondern Fragen des Selbstverständnisses der Beteiligten. Politische Probleme entzünden sich zwar an Sachfragen und werden schließlich in der Form von Sachentscheidungen gelöst; aber die eigentlich politische Relevanz entsteht aus dem Bezug der Sachfragen auf das Selbstverständnis der damit befaßten Personen . .. Aus dem Blickwinkel des Selbstverständnisses ist nicht das entscheidend, was ist, sondern das, was aufgegriffen wird, und die Art, wie es aufgegriffen wird ... Es geht also nicht darum, was ist, sondern wie das, was ist, unabhängig davon wie es wirklich ist, kommunikationsbezogen ausgelegt wird." 2. Dem Kompromißcharakter praktizierter Po. litik sollte ein analytisches Instrumentarium entsprechen, das erlaubt, die Prozesse der Um. formung von Interessen in politisch artikulierte Meinungen und Handlungsbereitschat ten sowie die vom Regierungssystem gezogenen Grenzen für die unmittelbare Umsetzung ökonomischer und sozialer Macht in politische Herrschaft zu erfassen
Während Sozialhistoriker das erste Stützargument nicht unterschreiben würden, können sie den zweiten Gesichtspunkt geradezu als ih: Privileg betrachten, haben doch Wehler, Kocka, Winkler u. a. auf diese Erkenntnis aufbauend Erklärungsmodelle entwickelt, die sich gegen monokausale Interpretationsschemata abgrenzen. Im Unterschied zu Hillgruber betone ich daher, daß politische Geschichte-geht man davon aus, daß von niemandem ernsthaft die Existenz eines eigenen Untersuchungsobjekts für außenpolitische Studien bestritten wird — einen Anspruch, die Perspektiven der Sozialgeschichte um wichtige (auch im Hinblick auf Lernprozesse) Erkenntnisziele ergänzen zu können, nur auf die Untersuchung von Motivations-und Wirkungszusammenhängen gründen sollte. Hinsichtlich der Bestimmung des Handlungsspielraums und der Präokkupationen politischer Gesellschaften und politischer Akteure muß Politikhistorie auf den Ergebnissen einer Sozialgeschichte aufbauen (das ist mehr als Vermitteln von Hintergrund-wissen!), die, ausgehend von Analysen des Wirtschaftsablaufs, die jeweilige Schärfe sozialer Konfliktsituationen, Ursachen und Typen der Gruppenbildungen zu bestimmen sucht
Zur Kritik Wehlers an Hillgruber
Wer ein Wort für die politische Geschichte einlegen will, kann nicht an den Einwänden vorbeigehen, die Wehler gegen Hillgruber aufführt. Wehlers Kritik läuft auf die Feststellung hinaus, daß Hillgruber zwar zugestehe, eine politische Geschichte moderner Prägung müsse die Vorzüge der modernen Sozialgeschichte integrieren, dieses Eingeständnis aber dadurch wieder zurücknehme, daß er die Ergebnisse der Sozial-und Wirt-schaftsgeschichte lediglich als „Hintergrund" politik-historischer Analysen begreife Da Hillgruber weder theoretisch noch in seinen Schriften die Symbiose einer Politikhistorie mit Theorie und Methode der modernen Sozialgeschichte vollziehe, erwiesen sich die Kriterien, die Hillgruber zufolge eine moderne politische Geschichte ausmachen sollen, als ein Rückgriff ins Arsenal des Historismus und der preußisch-kleindeutschen politischen Schule. Wehler untermauert diese verkürzt wiedergegebene Schlußfolgerung damit, daß er Hillgruber die gleichen Schwächen ankreidet, die aus der Kritik an der deutschen historischen Schule bekannt sind: 1. Hillgruber werte theoretische Konzeptionen über das Ganze nachdrücklich ab Diese Abwehrhaltung gegenüber geschichtstheoretischen Modellen und Perspektiven werde ergänzt durch theoretische Fehler 2. Hillgruber verkenne, daß man trotz allen Bemühens um intersubjektive Überprüfbarkeit reaktionäre von fortschrittlichen Forschungsergebnissen unterscheiden könne Mit anderen Worten: Das Plädoyer für eine Verfeinerung der historischen Analyse des Moments politischen Entscheidungshandelns tendiere zu konservativen Einstellungen. Die Sozialgeschichte hingegen vermittle Einsichten in die Möglichkeiten der Veränderbarkeit und Beeinflussung der Politik und sei unter dem Gesichtspunkt des sozialen Lernens fortschrittlicher zu nennen 3. Hillgruber bestreite, daß Paradigmata wie sozialer Wandel, Industrialisierung oder organisierter Kapitalismus dazu beitragen könnten, außenpolitische Ereignisse einzuordnen indem Hillgruber das von der moder-nen Sozialgeschichte entwickelte Begriffsinstrumentarium von der Analyse der internationalen Politik fernhalten wolle versperre er sich die Möglichkeit, gesellschaftliche Konstellationen und wirtschaftliche Interessen so zu untersuchen, wie er es seinen eigenen Absichtserklärungen zufolge tun müßte. 4. Hillgrubers starke Betonung der Zielvot Stellungen der die Entscheidungen fällende Führungsgruppen stehe in Gefahr in de politischen Ideengeschichte oder bei der An lyse programmatischer Aktionsentwürfe stek kenzubleiben, statt die Frage nach Genesis Wirkung und Abhängigkeit ihres Echos vo realhistorischen Bedingungen zu beantworten
Aufgaben und Fragestellungen einer „politischen Geschichte"
Die Kritik an der einseitigen Argumentation beider Kontrahenten soll deutlich machen, daß der Versuch, Aufgabenbereich und spezifische Fragestellungen der politischen Geschichte darzulegen — also analog zur Sozialgeschichte deren Gegenstandsbereich zu bestimmen und deren besondere, auf politische Prozesse gerichtete Sehweise zu umschreiben —, nur insoweit gelingen kann, wie die Verselbständigung der Exekutivgewalt bzw. die relative Eigenständigkeit des Staates und Staatsapparats (Kocka) nachgewiesen und damit ein Bereich des „Politischen" aufgezeigt werden kann, der nicht auf die Formel „Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse" zu reduzieren und daher mit sozialökonomischen Untersuchungsmethoden nicht voll zu erfassen ist. Da aber gerade führende Sozialhistoriker—Wehler, Kocka, Winkler — diesen Umstand in ihre Erklärungsmodelle (organisierter Kapitalismus, Sozialimperialismus) einbeziehen, kann dies kaum ein Streitpunkt zwischen Sozialgeschichtlern und Politikhistorikern sein, was Hillgruber jedoch nicht wahrhaben will. Eben-so unangebracht wäre es, die „historisde Methode" allein für die Politikhistorie zu» klamieren, da gerade in den eingangs erwähn ten Grundsatzdiskussionen über das Fai Geschichte an Schulen und Hochschulen -ne ben Th. Nipperdey, Hillgruber u. a. -ft rende Sozialhistoriker die Unersetzbarkeil und den . politischen Bildungswert'der Grund Prinzipien historischen Denkens hervorgehtben und erläutert haben
Wenn ich im folgenden versuche, „politische Geschichte“ an einem Beispiel vorzuführen, st beschränke ich mich darauf, innenpolitische Gegebenheiten und außenpolitische Konstellationen in ihrem wechselseitigen Bedingungsverhältnis aufzuzeigen wobei ich die Gesichtspunkte herausgreife, von denen ic meine, daß sie sich durch den praktischen Erweis ihrer Erklärungsfunktion auch gegen de von Wehler stellvertretend geäußerte Kritik halten lassen. Diese Aspekte sind: 1. Was leistet der Hinweis auf Handlungskor zepte der Akteure und auf die Entscheidungssituation? Welche heuristische Funktion W die Herausarbeitung der Intentionen, der pol. tischen Landkarte in den Köpfen von Eü rungsgruppen? Wir dürfen darauf verweise: daß Hillgruber und Hans Peter Schwarz von ähnlichen Denkansätzen her bemerkenswerte Interpretationen der deutschen Außenpolitik vor 1914 bzw.der deutschen Nach-kriegsgeschichte 1945— 1949 gelungen sind. 2. Kann politische Geschichte von ihrem Beobachtungsfeld her Begriffe entwickeln, die das Vermittlungsproblem von Programm und politischer Praxis lösen, Vergleiche ermöglichen, Hypothesen für die kausale und funktionale Erklärung umstrittener Phänomene bieten und insofern mit den Ansprüchen einer modernen Sozialgeschichte gleichzustellen sind? Ich werde dies am Begriff „Friedensstrategie“ positiv beantworten. 3. Läßt sich die Auffassung erhärten, daß über den allseits akzeptierten Leitsatz des Primats der Innenpolitik hinaus — daß nämlich das Ziel gesamtgesellschaftlich verantwortlichen Handelns die Bewahrung der bestehenden sozialen Strukturen sei — eine zweite Erfahrungstatsache Beachtung finden muß, daß nämlich Außen(wirtschafts) politik restriktive Bedingungen der Innenpolitik schafft und ausmacht?
Die Beantwortung dieser Fragen anhand eines der englischen Geschichte entnommenen Modellfalles werde ich z. T. in Form der Kritik an einem Vertreter der Forschungsrichtung versuchen, der 1. vom Primat der Innenpolitik her argumentiert und 2. grundlegende Werke über den ausgewählten Untersuchungsgegenstand vorgelegt hat. Mit A. J. Mayer, dessen Arbeiten die gesellschaftliche Dynamik als Bestimmungsfaktor der Außenpolitik ausge-ben wählen wir einen gleichwertigen Stellvertreter für die Position, die von Wehler gegen Hillgruber eingenommen wird
Um den Streitpunkt zu verdeutlichen, möchte ich die Kritik an der Gegenposition vorweg-nehmen: Mayer analysiert in seinen Studien über den Ersten Weltkrieg und die Revolutionen und Friedensschlüsse 1918/19 nicht das Entscheidungshandeln, sondern beschränkt sich darauf, die Entscheidungssituation zu identifizieren; bedeutsame Kurswechsel zwingt er in das für den Einstieg ins Thema hervorragend geeignete Deutungsschema des Gegensatzes zwischen Beharrungs-und Bewegungskräften, ergänzt durch die These der „Erosion der lebenswichtigen stabilisierenden Mitte" in den USA wie in England. Er spricht von „Versagen", „Einschwenken auf die Linie der Reaktion" etc. oder davon, daß Spitzenpolitiker wie Wilson und Lloyd George, aufgerieben zwischen dem Druck einer sich organisierenden starken Rechten und einer ungeduldigen Linken, die Nerven verloren und resigniert ihren Kampf für vernünftige Konflikt-regelungen aufgegeben hätten Mayer gibt diese Deutungen als das aus, was sie sind: Rückschlüsse von Ereignissen auf vermutete Handlungszwänge, wobei bewußt offengelassen wird, ob die Akteure selbst die Konsequenzen im Sinne der erwähnten Deutungen zogen oder ob die von Mayer aufgedeckten Ursachen für einen Kurswechsel die in der Entscheidungssituation einzig möglichen und denkbaren gewesen sind. So richtungsweisend seine Deutungen sind die sich am konkreten Handlungsablauf orientieren, so tragen sie doch wenig zur Analyse der Motivations-und Wirkungszusammenhänge des Entscheidungshandelns bei. Die Frage, welchen Handlungsspielraum die innenpolitischen Krisen und die Interessen der übrigen Mächte den englischen Akteuren ließen und ob bzw. wie diese versuchten, ihre Bewegungsfreiheit zwischen den vereinten Kräften der inneren und äußeren Reaktion bzw. Revolution zu sichern, d. h letztlich: Spielraum für politisches Handeln zu retten und die Dinge im Fluß zu halten -dieses Untersuchungsfeld vernachlässigt nicht nur A. J. Mayer
Zum Verhältnis von Innen-und Außenpolitik am Beispiel der britischen Friedensstrategie 1918/19
Der Historiker, der die Wirkungs-und Motivationszusammenhänge zwischen Innen-und Außenpolitik erkennen will, muß den jeweiligen zeitgenössischen Erfahrungshorizont rekonstruieren, in dem die Amtsträger handeln, um Einblick in die Lagebeurteilung und die Beweggründe des Handelns zu gewinnen, und um aus der Vielzahl möglicher und denkbarer Interdependenzen zwischen sozial-, finanz-, rüstungs-und außenpolitischen Interessen und Aktionen jene herauszukristallisieren, die zu einer Strategie zusammengefaßt wurden und das Entscheidungshandeln nachweislich bestimmten. Es gilt, die Denkfiguren und Motive herauszuarbeiten, die die politische Orientierung der (englischen) Machteliten und der ihnen entsprechenden Meinungen in der Öffentlichkeit bewirkt haben. Die maßgebenden Ideen und Ideologien, die sich aus Lagebeurteilungen, Handlungsanweisungen und den faktischen Aktionen rekonstruieren lassen, benutzen wir dann als heuristischen'Wegweiser zur Entwirrung ineinanderverwobener Wirkungsebenen und Handlungsabläufe. Diese zu Leitvorstellungen gebündelten Motivationszusammenhänge nehmen gewiß nicht die Ergebnisse der historischen Analyse vorweg, doch begreife ich die das Grund-muster konstanter, handlungsrelevante Motive prägenden Argumentationsketten als Markierungszeichen, die den Blick auf sonst schwer erkennbare Wirkungszusammenhänge len-ken Ich sehe keine andere als die hier skizzierte Möglichkeit, um die Aufgabe jeder Wissenschaft, die Wirklichkeit denkend zu ordnen, in Angriff zu nehmen und die Über-lagerung von Ereignissen oder die Verklammerung der Aktionsebenen zutreffend zu bestimmen. Die Voraussetzung dafür, daß Leitvorstellungen bzw. Argumentationsketten politischer Gruppen eine derart fundamentale heuristische Funktion erfüllen können, ist eine sorgfältige Analyse des politisch-sozialen Systems"; denn die Analyse (außen) politischer, gesamtgesellschaftlich verantwortlicher Entscheidungen muß die Konstellation des jeweils relevanten gesellschaftlichen Kraftfeldes im Blid haben, um jene Anleitungen zum Handeln herauszufinden, deren Diskussionswürdigkeit in der Sicht der am Willensbildungsprozeß Beteiligten nachgewiesen werden kann". Die zulängliche Zuordnung von Meinungsbekundungen und deren Motivation einerseits und einflußreichen Trägergruppen andererseits muß gewährleistet sein; nur sie schützt davor, in den Fehler zu verfallen, die für eine Gruppierung kennzeichnende Argumentation bzw. Interessenlage zur Erklärung der „off ziellen" (Außen) Politik heranzuziehen, ohne die Übereinstimmung in Denkansätzen, Urteils-kriterien und Interessenlage zwischen den Entscheidungsträgern und den Trägergruppen bestimmter Konzeptionen zeigen zu können Die methodische Schlußfolgerung daraus lautet, daß eine politikhistorische Deutung aufbauen muß auf Analysen der Machtstrukturen, auf dem Aufriß der Machteliten sowie auf den Ergebnissen einer breiten sozialhistorischen Forschung, die nicht nur innenpolitisch die sozialökonomischen Interessenkonstellationen bestimmt, sondern auch sozialökonomische Strukturen und Wandlungsprozesse an sich herausarbeitet '
Da Außenpolitik als Sicherung von nationalen Interessen zugleich auch immer innenpolitische Komponenten miteinschließt, benötigt man zur Erklärung außenpolitischer Vorgänge und Ereignisse einen Begriff, der innenpolitische Denkgewohnheiten; individuelles und gruppenspezifisches Geschichtsbewußtsein, Erfahrungswissen und Erwartenshaltungen, sozio-kulturelle Gesichtspunkte, Interessenlage und Formation von Einflußgruppen sowie ideologische Momente mit nationalen wirtschaftlichen Interessen und außenpolitischen/internationalen Bestimmungsfaktoren zusammenspannt. Die Kurzformel für dieses „conceptual framework“ nenne ich — auf den Un-
tersuchungsfall bezogen — „Friedensstrategie
In der Begriffsbildung knüpfe ich an das in der Sprache der Quellen erkennbare Problembewußtsein an: Dem englischen Regierungschef Lloyd George und seinen Ratgebern ging es im Zusammenhang mit der inneren und äußeren Friedenssicherung am Ende des Ersten Weltkrieges darum, Leitformeln bzw. Symbolworte zu entwickeln, die eine Gewähr dafür bieten sollten, daß zum einen die sozialen Spannungen in England überhaupt ein Minimum an Handlungsfähigkeit und Bewegungsfreiheit in der Außenpolitik zuließen und zum anderen die in der Außenpolitik angestrebten Ziele Spielraum für innenpolitische Strukturreformen schufen.
Strategie als zielgerichtete Zusammenschau von Absichten und Interessen sowie Macht-eliten als gesamtgesellschaftlich verantwortlich handelnde Entscheidungsträger gehören logisch zueinander. Die Verwendung beider Denkkategorien dient dem Zweck, jene Schwerpunkte in den verschiedenen Bereichen politischen Geschehens festzustellen, die in der Vorstellungswelt der entscheidenden Machteliten zusammengehören und aufgrund der Einflußchancen dieser Gruppen in deren Sinn gestaltet werden sollten. Beide Begriffe sollen gewährleisten, daß die verschiedenen Aktionsebenen gedanklich so aufeinander bezogen werden können, daß der tatsächliche geschichtliche Ablauf untergliedert und durchschaubar wird.
Die innen-und außenpolitischen Dimensionen der britischen Friedensstrategie
In einer thesenhaft formulierten Übersicht möchte ich nun einige der Ergebnisse zum konkreten Thema vorstellen, die sich meines Erachtens nur mit dem zuvor skizzierten In-strumentarium erzielen lassen Die Ausführungen beruhen auf der hier nicht näher zu erläuternden Annahme, daß der Kriegsausgang 1918 England letztmalig die Chance ein-räumte, entscheidend auf einen europäischen Friedensschluß einzuwirken und vor allem das Dreiecksverhältnis mit Deutschland und Ruß-land in eigener Regie neu zu regeln. Mir geht es im folgenden in erster Linie darum, zu zeigen, daß die britische Politik bei der Verfolgung ihrer äußeren Sicherheitsinteressen zugleich auch immer die innenpolitische Konstellation im eigenen Land ebenso wie die Verbindung mit der Szenerie in Deutschland und in Rußland im Auge hatte.
Da die englischen Politiker, insbesondere jedoch Lloyd George, gewohnt waren, einerseits internationale Krisen zu nutzen, um innenpolitische Kontroversen in den Hintergrund zu drängen, andererseits aber außenpolitische Ereignisse nach ihren innenpolitischen Vorbedingungen zu befragen, mußten sie nach der deutschen Niederlage und Revolution eine Antwort auf die Frage finden, inwiefern die sozial-revolutionäre Gefahr, die von Rußland ebenso wie von der 1914 vertagten Generalstreiksdrohung der drei größten britischen Gewerkschaften herrührte, die Stabilität des britischen Systems bedrohte und inwieweit die sozial-revolutionäre Stoßrichtung in Verbindung mit der machtpolitisch-expansiven Stoß-richtung des Bolschewismus den Friedensschluß in Frage stellen könnte. In der Sicht Lloyd Georges und seiner engeren Ratgeber mußte die englische Politik sich auf die Wechselbeziehungen zwischen drei Ereignisebenen einstellen. Den Bezugspunkt für die Koordinierung dieser drei Aktionsbereiche — „labour", Deutschland, Rußland — bildet die Einsicht, daß der Friedensschluß im machtpolitischen wie im sozialpolitischen Bereich Auswirkungen haben müsse, und zwar nicht nur in England, sondern vor allem auch in Deutschland und in Rußland. Die Devise hieß für Lloyd George, die politischen Verhaltensregeln und Erfolgsrezepte allgemeingültig anzuwenden, sie also nicht nach den Anwendungsbereichen von Innen-und Außenpolitik auseinanderzuhalten Machtpolitische Gesichtspunkte und das Gebot der Rücksichtnahme auf die Bedingungen, die eine flexible, auf Systemerhaltung bedachte Gesellschaftspolitik ermöglichten, sollten miteinander in Einklang gebracht werden. Für den Premier stand die . performance'der britischen Politik auf der Bühne der Weltpolitik in einem unauflösliche Funktionszusammenhang mit der Demonstra tion der Effizienz und Glaubwürdigkeit da britischen Staats-, Wirtschafts-und Gesell schaftsordnung; umgekehrt erkannte er, da! die Durchsetzung eines . British Peace'helfet würde, auch die Probleme der inneren Sicher heit zu bewältigen. Die beiden Aspekte brit scher Sicherheitspolitik verschmolzen zu eine das Handlungsbewußtsein prägenden Nom Der subjektiven Überzeugung wie den objektiven. Bedingungen zufolge war es entscheidend, ob die britische politische Führung in der Lage war, einerseits in der Innenpolitik Errungenschaften aufzuweisen, die innere Sicherheit verbürgten, andererseits aber diese Erfolge außenpolitisch zu nutzen; denn wegen des Scharniers von Wirtschafts-und Finanz-politik bekäme die britische Regierung unmittelbar zu spüren, ob ihr die Koordination und Synchronisation von Innen-und Außer Politik zu einer britischen Friedensstrategie gelang oder ob ihr — sichtbar in den Folgen für die Exportwirtschaft und in der eingeschränkten Funktion als Finanz-und Handels-zentrum der Welt — der Erfolg versagt bliebe.
Auf eigene Erfahrungen gestützt, empfahl Lloyd George seinen Koalitionspartnern in der Regierung und den internationalen Verhandlungspartnern den Leitsatz, daß die Welt nur in Frieden leben könne, wenn sie ihre Gegner nicht zu unversöhnlichen Feinde« mache; andernfalls gewähre man den Radikalen einen Freibrief zur Zerstörung der bestehenden . social fabric'. Dieser Leitsatt müsse für die Politik insgesamt gelten, obm Unterschied der innen-und außenpolitischen Handlungsebenen ): „Ich bekämpfe den Bolschewismus nicht mit Gewaltmitteln, sondern begegne der Gefahr damit, daß ich einen Weg suche, wie die berechtigten Forderungen n befriedigen seien, die der Protestbewegung Auftrieb geben . . . Als Resultat dieser Bem» hungen kann ich feststellen, daß militante ge werkschaftsführer uns am Ende geh haben, einen Konflikt zu vermeiden, stattRadikalisierung voranzutreiben.“
Mit dieser Argumentation, die die Einsidh den Zusammenhang von innerer Frie Sicherung und europäischer Neuordnung widerspiegelt, verteidigte Lloyd George die im Fontainebleau-Memorandum vorgetragene Krisenstrategie gegen die Kritik Clemenceaus; er spielte dabei bewußt auf die andersartige innen-und außenpolitische Marschroute der französischen Regierung an. Der Leitsatz spiegelt nicht nur das Selbstverständnis englischer Politik wider, wonach gute Innenpolitik auf lange Sicht die beste Außenpolitik verbürgt (Bracher); vielmehr lieferten auch aktuelle Anlässe der konservativ-liberalen Koalitionsregierung unter Lloyd George den Aufhänger, um unter den Devisen „innere Sicherheit" und „British Peace" ihre Position gegen die Labour Party, aber auch gegen einen sog. Wilsonoder einen Clemenceau-Frieden zu behaupten
Phasen der Friedensstrategie Lloyd Georges
Vom Kabinett Mitte Februar 1919 aufgrund einer zunehmenden Verschlechterung der Wirtschaftslage und eines drohenden Generalstreiks nach London zurückgerufen, entwickelte der britische Regierungschef ein Konzept, das einerseits seiner Koalitionsregierung den Weg zur Sicherung des inneren Friedens weisen und andererseits ihm selbst den nötigen Bewegungsspielraum zur Durchsetzung eines „British Peace“ auf der Pariser Friedenskonferenz gewährleisten sollte. Hatte Lloyd George seit dem Waffenstillstand den Kurs gesteuert, durch den schnellen Abschluß eines Präliminarfriedens die Hände frei zu bekommen für die Einlösung seines Programms zur Erneuerung der wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse, so setzte er nunmehr unter dem Druck des drohenden Klassenkampfes den Akzent auf wirkungsvolle sozialpolitische Beschwichtigungsaktionen. Die seit langem in Vorbereitung befindlichen Reformprojekte, die deutlich von der Absicht sozialer Pazifizierung geprägt waren, sollten jenen Burgfrieden wiederherstellen, den Lloyd George benötigte, um auf der weltpolitischen ariser Aktionsbühne einen „British Peace" durchzusetzen. Parallel dazu beanspruchte er England die ideologische Führungsrolle den Westmächte; er wollte seine Regierung zu ahnbrechenden Strukturreformen anspornen, ’m den anderen Mächten die Attraktivität des Atischen Modells für die Emanzipation der Arbeiterschaft unter deutlicher Abgrenzung zum Bolschewismus demonstrieren und dies in einen Führungsanspruch gegenüber Wilson ummünzen zu können In geschickter Rollenverteilung gingen Lloyd George und seine engeren Mitarbeiter daran, auch bestimmte führende Repräsentanten der Oppositionsparteien und der Gewerkschaftsbewegung in die Friedensstrategie des Regierungschefs einzuweihen und innenpolitisch einen Aufschub, einen Waffenstillstand zu erreichen. Lloyd George vermochte seine Gesprächspartner davon zu überzeugen, daß die wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Weichenstellungen zwar auf dem Gesetzgebungsweg eingeleitet und vorgeklärt werden müßten, daß die Entscheidungen sinnvollerweise aber erst fallen dürften, wenn die Präliminarien des Friedensvertrages, vor allem die militärischen und wirtschaftlichen Bestimmungen sowie die interalliierten Beziehungen, voran die Schulden-und Reparationsfrage, hinreichend geklärt seien.
Insgesamt gesehen, läßt sich in bestimmten Phasen eine genaue Korrespondenz zwischen dem innen-und außenpolitischen Verhalten der britischen Regierung auf drei Ebenen nachweisen. In der Phase November 1918 und im Februar/März 1919 entschied sich die britische Regierung für eine Erfüllungspolitik gegenüber berechtigten Forderungen von „labour" -Seite, beabsichtigte gleichzeitig psychologisch-materielle Stützungsaktionen für die als gemäßigt geltenden Regierungen in Deutschland zur Eindämmung der bolschewistischen Gefahr und beschloß schließlich eine Containment-Strategie gegenüber dem Lenin/Trotzki-Regime in den Randstaatengebieten. Unter veränderten Umständen und Bedingungen praktizierte die britische Regierung im Januar/Februar 1919 sowie im Mai 1919 demgegenüber eine Politik der harten Hand sowohl gegen die als preußischer Militarismus diffamierten Streikdrohungen der drei großen, in der „Triple Alliance" vereinten Gewerkschaften als auch gegen den in Deutschland festgestellten-Rechtsruck. Diese Politik der harten Hand wurde begleitet von einer Entspannungsoffensive gegenüber dem bolschewistischen Rußland mit dem Ziel, zu testen, ob das dort herrschende Regime dem eigenen Kalkül zugänglich sei, d. h.seine ideologischen Triebkräfte im Interesse einer Stabilisierungspolitik zügeln würde.
Diese schematisch scheinende Grobeinteilung der englischen Politik in der Übergangsphase läßt sich aus den Zeugnissen der engeren Berater Lloyd Georges herauskristallisieren, aber auch zu den erwähnten Zeitpunkten als Handlungsmaxime des Premierministers feststellen sowie als Befund einer historischen Analyse des politischen Geschehens hervorheben. Ich will daher die Grobeinteilung mit einigen Details untermauern
Die erste „conciliation" -Phase (November 1918)
In der ersten „conciliation" -Phase, im November 1918 gingen die Kräfte um Lloyd George von drei Annahmen aus: 1. Man erkannte Anzeichen dafür, daß in de besiegten Feindstaaten — nach dem Musterde: russischen Revolutionen von 1917 — auf de militärischen Zusammenbruch eine politisdh moralische Krise folgen und sich zum Geburts helfer der Revolution auswachsen könnte m „The Prime Minister said that it would seen that events were taking a similar course in Germany to that which had taken place i Russia." Die schnelle Verwirklichung des Waffenstillstands sollte das Risiko vermin dem, daß „das deutsche Volk unter dem Doppeldruck von Niederlage und Hungersnot in den Abgrund gerissen werde, der schon Ruß-land verschlungen habe" d. h. England wollte stabilisierend auf die erste, auf die demokratische Phase der Revolution einwirken. 2. In England erwartete man, daß nach Einstellung der militärischen Kampfhandlungen der einheitsstiftende Faktor „war effort" fortfallen, gruppenegoistische Interessen hervor treten und soziale Konflikte freigesetzt würden. Die schwere Hypothek der sozialen Krisenjahre 1910— 1914 und der im Krieg angereicherte zusätzliche Zündstoff, sichtbar in der seit dem Sommer 1918 ununterbrochen anhaltenden Streikwelle, vergegenwärtigten das beträchtliche Explosivpotential. 3. Entsprechend dem Informationsstand über den Bolschewismus sowie über die jeweiliger Chancen der Parteien im russischen Bürgerkrieg schwankte die Einschätzung der äußerer Bolschewismusgefahr. Je nachdem, ob mä den Nährboden des Bolschewismus in Mib ständen der Agrarverfassung erblickte oder den Bolschewismus als Inkarnation der Klassenkampfidee deutete, sah man entweder der Ansteckungsbereich auf Zwischeneuropa b schränkt oder hielt ein Ubergreifen des , Bati lus" auf die durch den Krieg ohnehinschwächten Industrienationen, voran Deutschland und England, für wahrscheinlich
Die Gegenmaßnahmen zur Eindämmung dieser drei Gefahrenherde sahen in der Reihenfolge der ihnen zuerkannten Priorität vor: Da die Regierung die größte Gefahrenquelle in dem zunehmenden Kohärenzverlust des britischen Sozialverbands erblickte, wollte sie alle Kräfte auf den „effort to win the peace" konzentrieren, d. h. Sorge tragen, daß die Burgfriedenspolitik erneuert und für die Einleitung der überfälligen Reform der englischen Wirtschafts-und Sozialstruktur genutzt wurde Nur diese Krisenstrategie schien geeignet, die Entstehungsbedingungen des Bolschewismus, hier verstanden als aktuelle Inkarnation der Klassenkampfidee, nicht erst aufkommen zu lassen. Die Stoßrichtung der projizierten Maßnahmen zielte darauf, die Beharrungskräfte daran zu hindern, den Sieg über Deutschland für ihre Zwecke auszuschlachten der Sieg sollte vielmehr als Reformimpetus dienen Konkret zielte die Regierungspolitik darauf ab, durch Taten mit Signalwirkung den gemäßigten Gewerkschaften den Rücken zu stärken, da nur dann eine Aussicht bestand, den Radikalen den Wind aus den Segeln zu nehmen Lloyd George setzte deshalb durch, daß die den Gewerkschaften im Krieg gegebenen Versprechen, vor allem die Wiederherstellung der „pre-war practises" sowie ein . Sozialpaket'und Statusverbesserungen der Arbeiterschaft, eingelöst wurden Außerdem, leitete die Regierung Hilfsaktionen ein, um „employment and food" sicherzustellen, d. h.den vermuteten Wirkungszusammenhang zwischen Hunger und Arbeitslosigkeit einerseits und Bolschewisierung andererseits zu unterbrechen
Parallel zu dieser Strategie der Systemstabilisierung durch Wandel wollte Lloyd George in der Außenpolitik den Weg zur Etablierung einer dauerhaften Friedensordnung ebnen bzw. offenhalten; die Schutzmaßnahmen vor der Revolutionierungsgefahr im eigenen Land sollten also durch ein gleichgerichtetes Ergänzungsprogramm im zwischenstaatlichen Bereich abgesichert werden. Die Stützungsaktionen sollten den Sozialdemokraten und so-zialliberalen Reformern in Deutschland zugute kommen, die einen Weg zwischen Reaktion und Revolution bahnen wollten; falls sich diese demokratischen Kräfte aktiv dem Polarisierungsprozeß in den Weg stellen könnten, würden sie die Siegermächte vor der Wiederholung des Dilemmas bewahren, mit dem sie im russischen Fall konfrontiert waren, nämlich entweder aktiv im Bürgerkrieg zu intervenieren oder den Ausgang des Konfliktes passiv abzuwarten. ’ Da das Vorhaben, die sozio-ökonomische Neuordnung im eigenen Land mit der „european reconstruction" abzustimmen, dem ökonomischen Interesse der britischen Exportnation an der Konsolidierung einer liberalen, verkehrswirtschaftlichen Grundordnung der Nachkriegszeit nutzen würde, zog Lloyd George das Experiment vor, auf indirektem Wege die Kräfte des dritten Wegs in Deutschland zu unterstützen, die einen demokratischen Verfassungsstaat nach westlichem Muster anstrebten.
In zahlreichen Reden, unter anderem vor Gewerkschaftsführern und Industriellen am 13. November 1918 unterstrich Lloyd George die innere Zusammengehörigkeit zwischen dem Beschwichtigungskurs gegenüber „labour" und dem Gebot einer konzilianten Behandlung der neuen deutschen Regierung. Das Krisenrezept des Kreises um Lloyd George ist bewußt als Umkehrschluß zu Lenins Thesen konzipiert, wonach das Schicksal des internationalen Klassenkampfes in Deutschland entschieden werde und ein bolschewistisches Rußland angesichts eines Blocks konsolidierter kapitalistischer Staaten keine Über-lebenschancen besitze. Zahlreiche Äußerungen Lloyd Georges und seiner Mitstreiter untermauern den Eindruck, daß der englische Premier sich als direkter Gegenspieler Lenins zu profilieren suchte. Da Lenin vom Triumph der reaktionären Kräfte in den Siegerstaaten und von der rigorosen Ausnutzung der Niederlage Deutschlands durch die alliierten Siegfriedensparteien einen Durchbruchserfolg der Revolution erhoffte, wollte Lloyd George im vorgreifenden Gegenzug die englische Politik auf eine Linie bringen, die „labour" keinen Anlaß zur Radikalisierung und Deutschland keinen Grund zum Abschluß des angedrohten Teufelspaktes mit den Bolschewisten geben würde
Die Furcht vor einem deutsch-russischen Pakt bedingte, daß die englische Politik imme dann, wenn sie sich gegen Tendenzen Deutschland einen Siegfrieden aufzuoktrop ieren, zur Wehr setzte, gegenüber dem bo schewistischen Rußland die Politik der hare Hand oder der offensiven Abgrenzung en schlug. Im November 1918 geschah dies deu lieh mit dem Kabinettsbeschluß, das Experiment der Randstaatenlösung vorsichtig fortzuführen. Diese Marschroute war damit verbun den, Agrar-und Sozialreformen in den Rand Staaten und in den Nachfolgestaaten zu erm tigen-, man erhoffte sich davon einen politischen Nebeneffekt, da man meinte, nach den Agrarreformen würden die Randstaatenregime weniger krisenanfällig sein, sich also als widerstandsfähig gegenüber deutschen oder rassischen Pressionen erweisen Um den Im munisierungseffekt gegen den Bolschewismus an allen drei Fronten, an denen die expansive Ideologie anzutreffen war, zu erhöhen, leitete das britische Kabinett außerdem auch eine ge zielte und breit angelegte Gegenpropagandi in die Wege
Die erste Phase der „Politik der harten Hand'(Januar/Februar 1919)
Ich wende mich nunmehr dem zweiten A tionstypus zu und konzentriere die Beweisführung auf den Zeitraum Januar/Anfang Februar 1919. Innenpolitisch konfrontiert k einem Katalog von Forderungen -unter denen eine 3O°/oige Lohnerhöhung für die Bert arbeiter herausragte, begann die Regierung von ihrer sozialen Pazifizierungspolitik ata rücken und eine Verteidigungsfront zu errichten. Die Regierung fühlte sich unmittelbar angesprochen, da sie 1. im Krieg die Kontrolle über den Bergbau übernommen hatte und da 2. die Forderung nach Nationalisierung der Schlüsselindustrien in ihren Augen darauf hinauslief, den Staat dauerhaft zum Tarifpartner der militanten „Miners’ Federation" zu madien. Gestützt auf pessimistische Konjunktur-beobachtungen, richtete sie ihr Verhalten an der Devise aus, daß jetzt die beste Gelegenheit sei, einen Tarifkonflikt erfolgreich auszufechten; man ging davon aus, dieser würde früher oder später ohnehin ausbrechen Angesichts der schlechten Auftragslage der Unternehmen und der angespannten Haushaltslage des Staates stieg die Risikobereitschäft einer Regierung, in der starke Kräfte die Ansicht vertraten, man müsse ein Exempel statuieren, um der Tendenz zur unbegrenzten Fortschreibung der inflationären Formelkompromisse der Kriegszeit ein Ende ohne Schrecken zu bereiten. Wenn erst die Friedensproduktion angelaufen sei und die für England unerläßlich gehaltene Exportoffensive eingesetzt habe, könne die Regierung nicht mehr ohne die Gefahr einer Paralysierung des gesamten Wirtschaftslebens die Durchhalteparole gegen eine von Lohnforderungen ausgehende Kostenexplosion ausgeben.
Die britische Regierung rüstete sich innenpolitisch für einen Fall, den sie als Verschwörung gegen die legitime Autorität der Regierung auffaßte und mit gleicher Energie abzuwehren gedachte wie den deutschen Angriffskrieg.
We are determined to fight Prussianism in the industrial world as we fought it on the continent with the whole might of the ation. Hatte Lloyd George — nicht zuletzt aus dem Zugzwang seiner Abwehrgesdhtte gegen die von Foch artikulierten französischen Friedensziele — in der Phase unmittelbar nach dem Waffenstillstand sorgfältig vermieden, die Kampfparolen gegen den deut-5 en Kriegsgegner in die innenpolitische Deate zu werfen, so machte er am 11. Februar d y vor dem Unterhaus keinen Hehl daraus, te sdie täglich sich vermehrenden Nachrich-
n u er Streiks in England ebenso wie die unbefriedigenden Berichte über den Stand der Entwaffnung Deutschlands als Störung seiner Bemühungen um einen baldigen Friedensschluß betrachtete; er bezichtigte die Streikbewegung, sie gefährde die Handlungsfähigkeit der Regierung und bedrohe damit die äußere Sicherheit des Landes. Mit Einigungsappellen und mit dem Hinweis, daß der Kriegszustand noch nicht beendet sei, suchte er nationale Geschlossenheit zu erzwingen; er wllte verhindern, daß die Wogen der um sich greifenden Sozialkonflikte die Pariser Friedenskonferenz in ihren Strudel einbezogen.
In seiner Sicherheitspolitik gegenüber Deutschland kam die Kampfbereitschaft gleichfalls wieder zum Vorschein. Die Feststellung, daß eine Reaktualisierung der deutschen Gefahr gegeben sei, stützte Lloyd George auf die Niederlage der Spartakisten in Deutschland; er deutete das Ende der Januar-Unruhen und den Ausgang der Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung als eine entscheidende Niederlage Lenins im Kampf um Deutschland In dieser Phase sprach Lloyd George davon, daß der Bolschewismus nur als agrar-revolutionäre Bewegung wirkliche Erfolgsaussichten besitze Die Anziehungskraft der kommunistischen Parolen auf die Industriearbeiterschaft der westlichen Länder schien damit geschwächt Gleichzeitig beobachtete er im politischen Kräfte-spektrum Deutschlands einen Rechtsruck sowie Anzeichen einer nationalen Widerstandsbereitschaft gegen die in den Gesprächen über eine Waffenstillstandsverlängerung vorgetragenen Sicherheitsforderungen der Siegermächte. Daraus leitete er die Schlußfolgerung ab, alle Anstrengungen auf eine beschleunigte Entmilitarisierung Deutschlands zu konzentrieren; er plädierte für die Verabschiedung der militärischen Bestimmungen des Friedensvertrags und gegebenenfalls für eine Verschärfung der Blockade oder für militärische Demonstrationsakte mit dem Ziel, jede Hoffnung der Rechtskräfte in Deutschland auf Entrüstungsaktionen im Keim zu ersticken
In dieser Phase, in der auf deutscher Seite (Erzberger, Groener) entschiedene Hoffnungen auf die Errichtung einer gemeinsamen Front gegen den Bolschewismus genährt wurden, fehlte auf Seiten Lloyd Georges — im Unterschied zu W. Churchill oder Milner — aus den genannten Konstellationszusammenhängen die . Bereitschaft, den Appeasementkurs fortzusetzen und in gewisser Weise zum logischen Abschluß zu führen. Während Deutschland sich anbot, im gemeinsamen westlichen Interesse Abschirmdienste gegen den Bolschewismus im eigenen Land und in „Zwischeneuropa" zu leisten, befreite die nachlassende Gefahr eines deutsch-russischen „Bündnisses" unter bolschewistischem Vorzeichen Lloyd George von der Notwendigkeit, die deutschen Spekulationen auf einen Verhandlungsfrieden zu honorieren, d. h.seinen Appeasement-Kurs nicht nur in den innenpolitischen Richtungskämpfen zu artikulieren, sondern diesen auch auf zwischenstaatlicher Ebene wirksam werden zu lassen Lloyd George ging zu diesem Zeitpunkt davon aus, daß in Deutschland nicht mehr der Umschlag der „demokratischen" in die „bolschewistische“ Phase der Revolution zu befürchten wäre, sondern vielmehr ein Aufbäumen des deutschen Nationalismus und Militarismus; der Krieg war für ihn noch nicht beendet
Im Januar/Februar 1919, als die deutsch, sowjetrussischen Beziehungen auf einem Tief-punkt angelangt ware fand die Politik der harten Hand gegenüber Deutschland und gegenüber „labour" ihre Ergänzung in Sondierungsaktionen gegenüber Lenin Diese Verständigungsaktionen, die unter den Ne men Prinkipo-Plan und Buckler-Mission bekanntgeworden sind, waren von der Absicht bestimmt, durch Reduzierung des Druds von außen eine innere Modifizierung des bolschewistischen Systems zu begünstigen" Das Bemühen um einen Interessenausgleid sollte helfen, das Dilemma einer Friedenskonferenz zu überwinden, auf deren Tagesordnung ein „European resettlement“ stand, eine Aufgabe, die nach Auffassung von Lloyd George nicht ohne Deutschland oder Rußland bewältigt werden könne. Ihm ging es dann herauszufinden, ob Deutschland oder Rußland der vernünftigere Partner wäre; beide Kontrahenten zu beteiligen, hielt Lloyd George aus vielen Gründen für zu riskant.
Die Appeasement-Offerte gegenüber Lenin hatte mehrere Ursachen: Einmal wollte Lloyd George die alliierte Intervention in Rußland die die sozialen Unruhen in England anheizte zurücknehmen und Churdhils Kreuzzugspläne verhindern zum anderen schien machtpolitisch jetzt eher die Gefahr eines deutsch-russischen Bündnisses unter der Führung deutscher Rechtskräfte zu drohen. Daher empfahl sich eine Sondierungsaktion bei den Bolschewisten, die bewußt daran anknüpfte, daß man von Lenin, nicht aber von Koltschak, Denikin oder den Exilgruppen in Paris Andeutungen erhalten hatte, daß er (T Anin) die von England begünstigte Randstaatenlösung unter Umständen tolerieren würde
Der Kurswechsel im Januar/Februar 1919 läßt sich demnach wie folgt zusammenfassen: Aus dem Scheitern des bolschewistischen Drangs nach Westen an der deutschen Sperrmauer leitete Lloyd George den Erfahrungssatz ab, der Bolschewismus erziele nur unter osteuropäischen Strukturbedingungen seine volle Wirkung. Als Produkt einer agrarisch-feudalen Umwelt identifiziert, wurde die These entwertet, der Bolschewismus leite eine neue Epoche der Weltrevolution ein und entzünde in den Industrienationen die Fackel des Um-sturzes. Im Vertrauen auf die abklingenden internationalen Revolutionsgefahren scheute die Lloyd George-Regierung nicht mehr das Risiko, auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen Engpaßsituation eine ohnehin wünschenswert erscheinende Politik der harten Hand gegenüber den massiven Forderungen der organisierten Arbeiterschaft einzuschlagen. Da die Gefahr eines übergreifens der bolschewistischen Revolution auf Mitteleuropa und auf England gebannt schien und außerdem eine diplomatische Initiative mit dem Ziel, den Einflußbereich des Sowjetregimes auf dessen De-facto-Herrschaftsbereich abzugrenzen, eine zusätzliche Sicherung herbeiführen sollte, hatte die britische Regierung die Möglichkeit erhalten bzw. sich geschaffen, die von der sozialen Protestbewegung ausgehende Herausforderung als Machtkampf zwischen legitimierter Amtsgewalt und Partikularinteressen auszugeben und zu ihren Gunsten zu entscheiden zu suchen.
Die von den Deutschen vorgebrachte Klage, die Lloyd George sich im November 1918 zu eigen gemacht hatte, daß nämlich ein harter Kurs Deutschland in die Arme des Bolschewismus treibe, erschien ihm in dieser Phase als Verschleierungsmanöver eines Rechtsrucks in Deutschland, von dem er befürchtete, er würde die von den Siegermächten angestrebte Friedensordnung aus den Angeln heben Mit-entscheidend für sein Einschwenken auf den von Frankreich beharrlich verfolgten Kurs, Deutschland verschärfte Sicherheitsleistungen abzuverlangen, waren zwei konkrete Tatsachen: 1. Um den Demobilmachungsprozeß in England nicht unterbrechen zu müssen blieb der englischen Regierung nur die Option, das deutsche Potential für eine mögliche Auflehnung gegen den Friedensvertrag drastisch zu reduzieren; 2. Lloyd George traute dem Ebert/Scheidemann-Regime nicht länger zu, erfolgreich einen Mittelkurs zu steuern Da er in Deutschland das Schlimmste, d. h. ein links-oder rechtsextremes Regiment, nicht mehr ausschloß, mußte ihm daran liegen, Deutschland die Aufnahme von Feindseligkeiten zu verwehren. Die zweite „conciliation" -Phase (Februar/März 1919)
Die daran anschließende erneute Appease-
ment-Phase Mitte Februar/Ende März 1919 -
ist bestimmt vom Streikvotum der Bergarbeiter (21. — 24. 2. 1919), der wachsenden Arbeitslosigkeit und der Stagnation des Wirtschaftslebens, die den Premierminister zu schnellen Entschlüssen veranlaßten ferner vom Eintreffen beunruhigender Nachrichten über die kritische innenpolitische Lage in Deutschland und von Plänen, den Vormarsch des Bolschewismus und die Offensive der 3. Internationale durch wirtschaftliche Stabilisierungshilfe einzudämmen. Diese Phase läßt sich kurz auf folgende Formeln bringen: Durch einen entschlossenen Reformkurs, d. h. durch das Erbringen von Vorleistungen an „labour", wollte die Regierung die graduelle Veränderbarkeit des Systems demonstrieren und die soziale Konfliktlage entschärfen; sie erwartete, daß die innenpolitische Entspannung sich außenpolitisch positiv auswirken würde, indem sie die englische Position auf der Friedenskonferenz stärkte und durch ihr Modell der friedlichen Regelung von Sozialkonflikten einen beruhigenden Einfluß auf andere europäische Staaten ausübte, die vom Bolschewismus direkt bedroht waren Das Angebot eines „gerechten“ Friedens an Deutschland sollte die Gefahr vermindern, daß der Konfliktstoff in Mitteleuropa zur Explosion gebracht würde (Fontainebleau-Memorandum). Da die verworren-zugespitzte Konstellation als Nährboden des Bolschewismus galt, sollte die Entspannungsoffensive in Zentraleuropa stabilisierend wirken dies wiederum könnte auf die Innenpolitik positiv zurückwin. ken, insofern die Appeasement-Strategie jenen Konsens mit der gemäßigten Labour-Opposition förderte, der zur Lösung der wirtschaftlich-strukturellen Probleme in England unentbehrlich schien
Die zweite Phase der „Politik der harten Hand'(Mai 1919)
Im Mai 1919, der letzten hier zu behandelnden Phase des zweiten Aktionstyps, verlor die Beschwichtigungspolitik gegenüber „labour'wie gegenüber Deutschland erneut ihren hohen Stellenwert Dies ist nur zum Teil auf die Pressionsmanöver der Siegfriedenspartei zurückzuführen, die sich im April 1919 deutlich sichtbar in Szene zu setzen begann. Hatte Lloyd George in der Fontainebleau-Phase Einschüchterungsversuche gegenüber Deutschland als „Hilfsdienste für Revolutionäre“ verpönt, so erwog er im Moment der Übergabe des Friedensvertrags den Einsatz von Druck-mitteln, um die deutsche Unterschrift zu erzwingen, genauer, um den Einfluß der Richtung Brockdorff-Rantzau zu brechen Gegenüber „labour" und den Gewerkschaften bezog seine Regierung zu diesem Zeitpunkt gleichfalls eine Position der Stärke; eine massive antibolschewistische Propagandakam pagne rundete das Bild ab.
Diese zumindest taktische Verhärtung in der Haltung Lloyd Georges steht in einem direkten, vom Premierminister ausdrücklich betonten Zusammenhang mit der sich abzeichnenden Umwälzung der inneren Verhältnisse in Rud-1 land In seiner Umgebung meinte man, deutliche Anzeichen für den bevorstehenden Zusammenbruch des Lenin/Trotzki-Regimes unter dem Ansturm der weißrussischen Offensiven sehen zu dürfen. Ein übergreifen des Bolschewismus nach Westen schien nicht mehr zu drohen. Im Gegenteil: Erstmals seit dem November 1918 geriet die Herrschaftsbasis der Bolschewisten selbst in Gefahr. Für Lloyd George kam es in dieser Situation, in der in Deutschland wie in Rußland nationalistisch-antidemokratisch-militaristische Kräfte auf dem Vormarsch waren, darauf an, ein Bündnis der potentiellen Militärdiktaturen schon im Ansatz zu zerschlagen. Da Koltschak und Denikin von materiellen Hilfeleistungen der Westmachte abhängig waren, um ihre Augenblicks-erfolge konsolidieren zu können, schickte Lloyd George sich an, im Gegenzug Garantien für eine demokratisch-föderalistische Neuordnung in Rußland einzufordern. Nach dieser Umgestaltung, deren Analogie zu Lloyd Georges Plänen für eine Umwandlung der Habsburger Monarchie im Krieg unverkennbar ist, würde Rußland jeder Affinität zum „Prussianism" entbehren, sich also in eine gesamteuropäische Friedensordnung einfügen lassen
Die dritte „conciliation" -Phase (Juni 1919)
Als sich diese Pläne seit Ende Mai zerschlugen, leitete Lloyd George erneut eine „peace with appeasement" -Offensive gegenüber Deutschland ein Gleichzeitig nahm er nochmals Anlauf, in England die Möglichkeit zu eröffnen, daß seine Regierung nach dem Abschluß des Friedensvertrags mit Deutschland das in der Zwischenzeit innenpolitisch suspendierte Reformprogramm mit Nachdruck in Angriff nehmen könnte; er wollte dadurch den inneren Frieden langfristig sichern, so wie er hoffte, den äußeren Frieden durch seine Revisionismusinitiative von Anfang Juni 1919 auf dauerhafte Grundlagen stellen zu können. Die Androhung, er werde Neuwahlen „ausschreiben und die Koalition mit den Konservativen durch ein Bündnis mit sozialliberalen Reformern ersetzen sollte die festgefahrenen innenpolitischen Fronten auflockern und die Atmosphäre zugunsten einer „national reconstruction government“ schaffen. Es stellte sich freilich heraus, daß Lloyd George diese Option versperrt war; er konnte nur noch nach dem Motto handeln: „If you can’t beat them, join them“. Das überwechseln Lloyd Georges zu den stärkeren Bataillonen, d. h. zu der nach rechts abschwenkenden Mehrheit der Regierungsparteien, belastete das Verhältnis zwischen Regierung und Arbeiterbewegung und zerstörte damit die Basis aller Reconstruction-Konzeptionen. Seit dem Sommer 1919 hatte die Lloyd George-Regierung weder innen-noch außenpolitisch den Bewegungsspielraum, der für die von mir skizzierte Entwicklung in der Waffenstillstandsphase mit der Variation des Dreiecksverhältnisses „labour" —Deutschland — bolschewistisches Rußland so überaus charakteristisch war.
Schlußfolgerungen
Welche Verbindungslinien ergeben sich vom aisgewählten Beispiel nun zu den im ersten Teil erörterten Fragen? 1. Das Entscheidungshandeln berücksichtigt als wesentlichen Faktor das politische Vermögen bzw. Unvermögen der konkurrierenden Kräfte — d. h. im konkreten Fall: innenpolitische Opposition, Deutschland, Rußland —, das nicht auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns zu reduzieren ist. Die Analyse dieser politischen Konjunkturlage verknüpfte die aktuellen Tagesfragen mit den sozialstrukturellen Bedingungen der innenpolitischen Szenerie einerseits — „Triple Alliance" contra sozialliberale Reformkoalition — und einem grundsätzlichen außenpolitischen Orientierungsproblem — d. h. England zwischen Deutschland und Ruß-land — andererseits. 2. Die Analyse ergab ein Interaktionsschema zwischen den drei Handlungsebenen „Deutschland", „Rußland" und „innere Reformpolitik". Von hieraus bietet sich auch ein Ansatzpunkt für eine vergleichende Betrachtung des englischen mit dem deutschen politischen System; denn mit dem aufgezeigten Motivations-und Wirkungszusammenhang zwischen „social appeasement", „conciliation“ und „Containment" läßt sich die von E. Kehr und seinen Nachfolgern (Wehler) für die deutsche Politik als beherrschend festgestellte Krisenstrategie mit den Elementen a) Solidarprotektionismus (verschiedener Spielart) gegen die Sozialdemokratie, b) „Englandhaß" und c) Rußland-Furcht-Komplex vergleichen. Die Aufdeckung einer vergleichbaren Konstellationsfigur ist natürlich noch nicht das Vergleichsverfahren selbst, leistet aber doch eine Identifikation der vergleichbaren Aspekte. 3. Das Beispiel veranschaulicht ferner, daß Konflikte, die dem sozial-ökonomischen Sektor zuzurechnen sind, in Termini der internationalen Politik umdefiniert werden (und umgekehrt). Diese Aufhebung der traditionellen Grenzen zwischen Innen-und Außenpolitik ist uns für die Zeitgeschichte selbstverständlich. Im konkreten Fall wurde festgestellt, daß dieser Vorgang unter der Voraussetzung bestimmter Situationsmerkmale sich phasenweise und -spezifisch wiederholte. Auch diese Beobachtung spricht gegen die Einseitigkeit einer Deutung, die auf die determinierende Wirkung ökonomischer Triebkräfte und gesellschaftlicher Konfliktlinien abhebt. Das Beispiel verdeutlicht die Wichtigkeit der an sich banalen Forderung, das Verhältnis zwischen langfristigen innen-und außenpolitischen Konstellationen und kurzfristigen Konjunkturphasen/Handlungszeiträumen stets neu zu überprüfen, um Kurzschlußurteile über die jeweilige Phase, d. h. die Gefahren einer Tendenzhistorie, zu vermeiden. Die Unentbehrlichkeit einer wechselseitigen Ergänzung von Analysen der handlungsrelevanten Konzeptionen in Entscheidungssituationen und sozialgeschichtlichen Untersuchungen von Prozessen bzw. Ereignisketten liegt auf der Hand. 4. Das konkrete Beispiel der englischen Friedensstrategie nach innen und außen in den geschilderten Phasen vor dem Friedensschlu veranschaulicht, daß die Spannungen und U gleichgewichtigkeiten im politisch-soziale System, aber auch in{den internationalen fr Ziehungen in den jeweiligen Phasen unter schiedlich intensiv ausgeprägt waren und/oder entsprechend gedeutet wurden. Lloyd Georg» und seine Ratgeber . operationalisierten'bestimmte Daten bzw. Informationen über de Realfaktoren „labour", „Deutschland" um „Rußland" für ihr Entscheidungshandelnit November 1918 bzw. März 1919 ersichtlich a ders als in den Phasen Januar bzw. Mai 191) Es ist daher zu fragen, a) ob sie die Gefahr eines Ausbruchs der Krise in der 1. Phas höher einschätzten als in der 2., in der sie sid zutrauen, den inneren Krisenherd zu isolieren, b) ob der . objektive'Befund einer hist rischen Analyse mit der subjektiven Beurteilung des Handlungsspielraumes überei stimmt. Die Herausarbeitung des Interaktions typs weist also auf die letztlich sozialgeschidt lieh zu beantwortende Frage zurück, was 6 mit der in den Quellen beschworenen Krise Situation auf sich habe. 5. Das Beispiel macht auch deutlich, daß inne politische . Krisen’ auf außenpolitische Et scheidungssituationen bestimmend einwirke: die ihrerseits rückwirkend den innenpd tischen Handlungsspielraum . krisenhaft r. spitzen oder entschärfen können. Die wedtse seitige Kontrolle der Ergebnisse und der Vefahrensweisen der Sozialgeschichte und k politischen Geschichte sollte verhindern, d entweder die Lagebeurteilung der handelnde: Politiker oder gesellschaftspolitische Erb'rungsmodelle allein zur Analyse politisd Handelns herangezogen werden. 6. Auf dem Hintergrund der durch den Kr. -forcierten Auseinandersetzungen um die I sellschaftspolitischen Zielsetzungen für r Nachkriegszeit machte die durch den rus sehen Bolschewismus aktualisierte Revo" tionsfurcht einen beherrschenden Grund des Zeitgeschehens 1917/1919 aus. Dieser > stand erklärt die Zuflucht der Politiker • manipulatorischen politischen Strategien der Mehrdimensionalität des Feindbildes, schewismus’ findet dieser Sachverhalt se Ausdruck. Der Bandbreite des Bolsdiewi® Begriffs entspricht die Vielzahl und ¥antg tät der politischen Krisenrezepte zur andersetzung mit diesem Phänomen.
Eine lyse, die sich auf die „sozialen Strukturen und Institutionen, Klassen und Gruppen" beschränken würde — so unverzichtbar diese für die Beurteilung des Komplexes innere Sicherheit/Friedensschluß/Bolschewismus ist —, wäre unzureichend für die Bestimmung des Spielraums, den gerade die Mehrdeutigkeit des Revolutions-ZBolschewismus-Phänomens in den drei Blickfeldern des englischen Aktionszentrums — „labour", Deutschland, Rußland — der britischen Politik eröffnete. 7. Die Variabilität — die aufzudecken ein der konkreten Analyse war — veranschaulicht den Grad der Konzessionsgeneigtheit und Kompromißfähigkeit des (englischen) Regierungssystems gegenüber den Kräften im Innern, die nicht direkt zu den . herrschenden Klassen'zählen, sowie gegenüber jenen anderen „großen Mächten", zu denen wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse unterschiedlichen Ausmaßes — je nach Art und Sektor der Beziehungen sowie den jeweiligen innenpolitischen Gegebenheiten auf der Gegenseite — bestanden. Die Relation zu bestimmen zwischen der Kompromißfähigkeit nach innen und außen und diese Feststellungen mit den Ergebnissen der Analysen anderer politisch-sozialer Systeme zu vergleichen, wäre der nächste Schritt.