I. Zur Geschichte der deutschen Parlamentsverwaltung
Das Amt des Parlamentsdirektors ie Verwaltung des Deutschen Bundestages esteht heute aus den beiden Hauptabteilun-en „Wissenschaftliche Dienste" und (Allge-eine) „Verwaltung" sowie dem „Presse-und iformationszentrum". Der Bundestag knüpfte isgesamt, also auch in der inneren Organisa-on und Verwaltung, an die Praxis des Reichsiges an. Dieses Erbe wurde teils sogleich mofiziert, teils allmählich dem Wandel der par-mentarischen Institution angepaßt.
ie Parlamentsverwaltung ist so alt wie die arlamentarischen Körperschaften selbst; ihre ntwicklung und ihre sich im Laufe der Zeit erändernde Stellung sind jedoch noch weithend unerforscht. Nach der Geschäftsordmg obliegt heute und oblag bereits vor der ovemberrevolution 1918 die Hausverwal-
dem Präsidenten. Die Verwaltung (Buau) leitete ein Bureaudirektor (Preußen, ichstag, Sachsen), Kanzleidirektor (Hessen), rchivar (Baden, Württemberg und Bayern) ler Syndikus (Hansestädte und Braunhweig). Diese Beamten waren in der Regel währte Praktiker des Parlamentsbetriebs, e alle kniffligen Fragen der durch ständigen auch und Kodifizierung nur scheinbar er-arrten, förmlichen Regeln der Geschäftsording beherrschten.
ar Bureaudirektor leitete zugleich in fachli-er und personeller Beziehung die gesamte nere Verwaltung des Parlaments, den techschen Apparat, vom Archiv über Kasse, ilkulatur, Botenmeisterei und Hausdrucke-i bis hin zur Bibliothek und zum Stenogra-enbüro.
Dem Direktor des Preußischen Ab-ordnetenhauses _ des mit 433 (seit 1908 gar 443) Mitgliedern vor dem Reichstag . Mitglieder) größten deutschen Parlaents — unterstanden 1913 beinahe 300 Ar-Iter, Angestellte und Beamte. Die Direkto-nstelle wurde in Preußen seit 1906 dem hö-ren Dienst zugerechnet. August Plate, Bu-audirektor beim Abgeordnetenhaus seit 1901, führte nun den Titel eines Geheimen Regierungsrats. Sein Kollege beim Reichstag, „Geheimrat" Bernhard Jungheim, avancierte nur bis zum Geh. Rechnungsrat, der letzten Stufe des höheren Subalterndienstes.
Der Parlamentsdirektor erfüllte als Chef einer größeren Verwaltung mit Behördencharakter, als erster Adlatus des Parlamentspräsidenten sowie als Ratgeber und Zahlmeister der Abge-ordneten — im Reichstag erst seit 1906 — wichtige Aufgaben im Parlamentsalltag. In der Praxis hatte sich im Preußischen Abgeordnetenhaus, im Reichstag und wohl auch in den größeren Parlamenten der Einzelstaaten, insbesondere Süddeutschlands, eine weitgehende Kompetenz des ersten Parlamentsbeamten für den gesamten Parlamentsbetrieb herausgebildet. In Preußen (bis 1906) und im Reichstag war der Parlamentsdirektor nach Titel und Rang in die 4. (vorletzten) Klasse der höheren Beamten eingestuft. Im Hof-Rang-Reglement belegte der Parlamentsdirektor den 55. Platz und
INHALT I. Zur Geschichte der deutschen Parlaments-verwaltung 1. Das Amt des Parlamentsdirektors 2. Die Anfänge der Parlamentswissenschaft in Deutschland 3. Geh. Regierungsrat August Plate — Direktor beim Preußischen Abgeordnetenhaus II. Dokument:
„Kurzer Rückblick auf mein Leben“
von August Plate 1. Allgemeines 2. Familie und Beruf 3. Gemeinnützige und Vereinstätigkeit III. Vom „Dreiklassenparlament" zur demokratischen Volksvertretung IV. Ein Monarchist als Diener der Republik? rangierte damit noch vor den Mitgliedern des Herren-und Abgeordnetenhauses. Dennoch war weder im Reich noch in den Ländern bis zur Novemberrevolution 1918 für die Besetzung dieser höheren Beamtenstellung eine abgeschlossene, zum Richteramt befähigende juristische Vorbildung die Regel. Nicht einmal in den Jahren der Weimarer Republik setzte sich im Reichstag oder im Preußischen Landtag das in der übrigen Verwaltung ausgebildete Juristenprivileg durch. Die Parlaments-verwaltung war mit Ausnahmen — Bayern, Württemberg, aber auch Braunschweig und Hamburg — keine Laufbahn für Juristen.
Der beamtenrechtliche Status der Parlaments-beamten war im Reich lange umstritten und in den Ländern sehr unterschiedlich geregelt. So oblag im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus die Anstellung der Beamten dem Parlamentspräsidenten. Weitergehende Befugnisse — Bestrafung, Suspendierung, Entlassung und Pensionierung — erkannte die Staatsregierung in Preußen nicht an, vielmehr beanspruchte diese Rechte der Minister des Innern als der zuständige „Parlamentsminister". Auch das Anstellungsrecht des Präsidenten beruhte in Preußen nur auf einem wenig soliden Fundament. Ein jährlich in den Etat übernommener Vermerk sicherte dem Präsidenten das Recht zur „Anstellung aller Beamten und Diätare (Hilfsarbeiter)" zu.
Die Reichstagsbeamten standen nach Rechten und Pflichten den Reichsbeamten gleich. Der Reichstagspräsident übte „alle Funktionen" einer Reichsbehörde aus; so ernannte er die Beamten, hatte aber auch das Recht zur Feststellung der Bezüge und zur Entlassung. Dies war in Preußen auch nach 1918 nicht der Fall. In den übrigen Parlamenten (2. Kammern) des Reichs zeigte die Praxis von diesem Grund-muster auffällig abweichende Varianten. So ernannte in Hessen und Bayern der Großherzog bzw.der König die etatsmäßigen Beamten. In Sachsen stellten die Stände den Direktor an, der die Kanzlei der beiden Kammern leitete, das Archiv verwaltete und der Regierung lediglich benannt wurde. In Baden wählten die Kammern die ständigen Beamten, die den Staatsbeamten gleichgestellt waren. In Württemberg schließlich wählten die vereinigten Kammern den Archivar; die Wahl wurde zur Bestätigung dem König mitgeteilt, die Wahl der übrigen auf Lebenszeit angestellten Beamten lediglich angezeigt. Die Dienststellung entsprach grundsätzlich den für die königlichen Beamten geltenden Rechten und Pflichten.
Diese vielfältige, aus der unterschied einzelstaatlichen Tradition herrührende bis zum Ende der Weimarer Republik keineswegs abgesch Kammern) des Reichs zeigte die Praxis von diesem Grund-muster auffällig abweichende Varianten. So ernannte in Hessen und Bayern der Großherzog bzw.der König die etatsmäßigen Beamten. In Sachsen stellten die Stände den Direktor an, der die Kanzlei der beiden Kammern leitete, das Archiv verwaltete und der Regierung lediglich benannt wurde. In Baden wählten die Kammern die ständigen Beamten, die den Staatsbeamten gleichgestellt waren. In Württemberg schließlich wählten die vereinigten Kammern den Archivar; die Wahl wurde zur Bestätigung dem König mitgeteilt, die Wahl der übrigen auf Lebenszeit angestellten Beamten lediglich angezeigt. Die Dienststellung entsprach grundsätzlich den für die königlichen Beamten geltenden Rechten und Pflichten.
Diese vielfältige, aus der unterschied einzelstaatlichen Tradition herrührende bis zum Ende der Weimarer Republik keineswegs abgeschlossene Entwicklung als Hintergrund mit einbezogen werden man den historisch-politischen Stellet des ersten Parlamentsbeamten richtig schätzen. Die Amtstradition war bis i Weimarer Zeit vielfach von großer Bede für das Selbstverständnis des Parlame rektors. Im Reichstag und im Preußische geordnetenhaus gab der beamtenrech Status den Amtsträgern keine besonder! torität. Diese gründete allein in den Le gen der langjährigen Amtsträger, di „Handwerk" von der Pike auf in der: mentsVerwaltung gelernt hatten 1).
Die boshafte Bemerkung von Walter me 2) über das Verhältnis von Parlame rektor und Parlamentspräsident in der marer Nationalversammlung — „wenn in der Praxis der Reichstagsdirektor Ge rat Jungheim, hinter dem Präsidente stehend, die Verhandlungen nach der 1 gen Geschäftsordnung lenkte" — mag überspitzt sein, traf aber doch den Ke: Sache. Selbst der langjährige Reichstag; dent Paul Löbe war nach dem Urteil de liner Verlegers Hans Moeller geger „energischen" Nachfolger Jungheims, hold Galle, „ohnmächtig"
Aber die Parlamentsdirektoren vermiet doch peinlich, aus der Anonymität, den sen des Parlaments, hervorzutreten. Das hen eines Präsidenten, das Geschick seiner verhandlungsführung war zum Teil auch das Ergebnis der „stillen" Zuarbeit des Parla-mentsdirektors. Das berichtet Ernst Müller-Meiningen selbst über den parlamentarisch o erfahrenen, geschickten und humorvoll-witzigen Präsidenten Franz Graf Ballestrem [1898— 1906), der die Geschäfte des Reichstags nach zeitgenössischem Urteil vorbildlich leitete und dem Amte „Würde und Autorität" Jab:
„Gewandt, um nicht zu sagen , gerissen’ lein Geschäftsgebaren. Sein Souffleur, der steinerne Gast’, Bureaudirektor Knaak, soll rwar großen Anteil an seinem Ruhm haben, aber jedenfalls war Ballestrem ein sehr guter Präsident.“
Der Bureaudirektor war mehr als nur der Souffleur" des Präsidenten hinter oder neben iem Präsidentenstuhl oder auch an einem ei-jenen Tisch, so z. B. in Württemberg und Sraunschweig. Er war in der Regel während ier Verhandlungen und bei wichtigen Aus-schüssen, deren Schriftführung ihm oblag, ständig anwesend. Die Beobachtung von Karl Meisser daß der Direktor „nur selten" in ien Reichstag „hereinkommt", sollte nicht iberschätzt werden. Fotografien von späteren leichstagsverhandlungen zeigen stets einen lufmerksamen Beobachter der Szene in unnittelbarer Nähe des Präsidenten: Bureaudi-ektor Reinhold Galle.
Ein vertrauensvolles, zumindest korrektes Verhältnis zu den Abgeordneten aller Parteiin war für die Amtsführung des Parlaments-lirektors nicht minder wichtig. Was E. Mül-er-Meiningen Bureaudirektor Knaak, seinem Protektor", und dem damaligen Stellvertreter Rechnungsrat Jungheim — „Muster naaks, ines tüchtigen Bureaubeamten, stets liebens-vürdig, gewandt, wie nur ein Reichstagsbesein konnte I" —, nachrühmt, galt imter für die meisten leitenden Beamten der vohl eutschen Parlamente. /ie Novemberrevolution 1918 brachte an der Spitze der Parlamentsverwaltungen keine Veränderungen. Eine ausgeprägte bürokratische Stabilität kennzeichnet die deutschen Parlamentsverwaltungen auch in der Weimarer Republik. Fast ein Drittel der zwischen 1925 und 1933 amtierenden Direktoren war bereits vor der Revolution im Amt. Entscheidende parteipolitische Einflüsse bei Stellenbesetzungen sind bis zum Einzug nationalsozialistischer Mehrheiten nicht nachzuweisen 2. Die Anfänge der'Parlamentswissenschaft in Deutschland . Die deutschen Parlamentsbeamten waren Praktiker, die sich in der Regel nicht auf das nahezu unerschlossene Gebiet der Parlamentswissenschaft vorwagten Qas von Sir Thomas Erskine May — 1871— 1886 Clerk des Unterhauses — 1844 veröffentlichte Handbuch über das Verfahren des englischen Par-laments (Treatise on the Law, Privileges, Pro-
ceeding and Usage of Parliament) erschien zwar 1860 zum erstenmal in deutscher Übersetzung, ein vergleichbares Werk aus der Fe-der eines deutschen Parlameptsbeamten ließ jedoch fast ein halbes Jahrhundert auf sich warten. Erst 1903 veröffentlichte August Plate bei M. Pasch (Berlin) nach den Akten eine große kommentierte Ausgabe derGeschäfts-ordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, die die Praxis des Abgeordnetenhauses und des Reichstages, der 1867 die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses übernommen hatte, darstellte
Mehr als ein Jahrzehnt später gab Bernhard Jungheim „Die Geschäftsordnung für den Reichstag mit Anmerkungen" (1916) heraus; ein Jahr davor erschien von dem Staatsrechtler Julius Hatschek der erste Band einer im Auftrage des Deutschen Reichstages geschriebenen, aber unvollendet gebliebenen Gesamtdarstellung: „Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches".
Die Arbeit Jungheims erreichte nicht den Standard des Kommentars von August Plate, dem „unstreitig durch langjährige Beschäftigung mit und in dem Material" besten Kenner der Materie, wie August Wolfstieg, Direktor der Bibliothek des Abgeordnetenhauses, in den „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" schrieb. Die zeitgenössische wissenschaftliche Öffentlichkeit zeigte nur wenig Interesse. Außer Wolfstieg besprachen den Kommentar noch der Berliner Gerichtsassessor Dr. Adam und Conrad Bornhak a. o. Professor für Staatsund preußisches Verwaltungsrecht an der Universität Berlin. Alle Rezensenten stimmen im Urteil über die „unbedingte aktenmäßige Zuverlässigkeit" (A. Wolfstieg) überein. Schärfer aber als Wolfstieg, der nun eine „Grundlage für weitere Arbeiten auf diesem Gebiete" gegeben sah, und Adam, der einschränkend darauf hinwies, daß Plate auf eine „selbständige Kritik der Vorschriften wie der Praxis" verzichtet habe, hob Bornhak das Einmalige „dieser gründlichen und erschöpfenden Darstellung des Parlamentsgebrauchs" hervor: „Der Commentar hat keinen eigentlich wissenschaftlichen Charakter, und deshalb ist eine eingehende kritische Besprechung hier ausgeschlossen. Verf. hat sich vielmehr eine ganz andere Aufgabe gestellt. Er will nachweisen, wie die Geschäftsordnung bisher gehandhabt worden ist. Wer die Bedeutung der parlamentarischen Übung kennt, wird ermessen, daß dies für die Praxis unendlich viel wichtiger ist als die Darlegung einer eigenen subjectiven Ansicht selbst seitens des berufensten Auslegers." 3. Geheimer Regierungsrat August Plate — Direktor beim Preußischen Abgeordnetenhaus Die Biographie der deutschen Parlamentsbeamten liegt im allgemeinen im dunkeln und ist nur mit großen Mühen aus den Akten und gelegentlichen Erwähnungen in den Memoiren von Abgeordneten aufzuhellen Das biographische Nachschlagewerk „Wer ist’s?" von Hermann A. L. Degener bietet zwar in mehreren Ausgaben die wichtigsten beruflichen und persönlichen Daten über August Plate, nicht aber über den Bureaudirektor des Reichstags, Bernhard Jungheim.
Die in Familienbesitz erhaltenen, bisher u kannt gebliebenen kurzen Lebenserinne gen von August Plate lassen nuncersin Herkunft, Bildung und „Laufbahn“ eines bedeutendsten deutschen Parlamentsbean überhaupt erkennen. Die Erinnerungen sei ßen aber nicht nur eine biographischeli sie bieten zugleich Einblick in die innere ganisation des größten deutschen Parlam vor der Novemberrevolution 1918, dessen gedrucktes Aktenmaterial im Staatlichen chivfonds der DDR (Zentrales Staatsarc Abt. Merseburg) zwar erhalten, aber w erschlossen ist.
Die Erinnerungen Plates sind ein einzigart Dokument zur Geschichte des PreuBisc Abgeordnetenhauses und zur Geschichte deutschen Parlamentsbeamten . überha Weder von einem Vorgänger oder Nachfo im Amt noch von einem anderen leiten deutschen Parlamentsbeamten sind ähni Aufzeichnungen bisher bekanntgeworden, der Nacht vom 11. auf den 12. November! an der Schwelle einer neuen Zeit" skiz te August Plate im Büro des Abgeordne hauses „mit Hilfe der Kurzschrift“ seinen bensweg, einige „flüchtig beschriebene E ter", die über die Karriere des Sohnes e kinderreichen Arbeiters in die Spitzenposi des preußischen Dreiklassenparlamentsber ten.
Diese Karriere paßt nicht in das Schema e preußischen Beamtenbiographie. Der Em kömmling, der in seiner Jugend die tiefen zialen Spannungen und Scheidungen sehen arm und reich, zwischen Tagelöhn Arbeitern und Ackerbürgern in der kle niedersächsischen Heimatstadt erlebt nicht vergessen hatte, erfuhr auch auf Höhepunkt seiner „Laufbahn", als er esse „ziemlich weit" gebracht hatte, daß er se Herkunft nicht entrinnen konnte. In der waltung des Preußischen Abgeordnetenha konnte der strebsam-tüchtige, ungemein dungsfähige Beamte zwar Karriere mac für den märkischen Junker blieb er aber was er von Geburt war: der Sohn eines) rers. Die Parlamentsverwaltung war nicht mokratischer als das Dreiklassenparlam sie gab nur dem Fähigsten die Chance, ei Sprossen auf der Leiter der bürgerlin Rangordnung zu erklettern. Die Klassenba ren wurden durch den Aufstieg einzelne leitende Stellungen nicht gefährdet.
August Plate war kein Mann, der es i hatte, „messingsch" zu reden. Er war der ste deutsche Parlamentsbeamte, der 1909 1 London reiste und sich dort mit keinem geringeren als dem Clerk des Unterhauses, Sir Courtenay Peregrine Ilbert, dem bekanntesten und berühmtesten zeitgenössischen Parla-mentsbeamten und Parlamentswissenschaftler, unterhielt. Kurz vor Kriegsausbruch empfing Plate in Berlin noch einen Beamten des Unterhauses. Der Krieg zerstörte diese Kontakte, und sie lebten in der Weimarer Zeit nicht wieder auf.
A. Plate war sich seiner Leistungen bewußt. Seine „Neuerungen" in der Praxis des Preußischen Abgeordnetenhauses sprechen für sich. Die Akten belegen wahrscheinlich noch deutlicher die ordnende, straffende Hand dieses Beamten, der sein „Handwerk“ von Grund auf gelernt hatte, der aber in jahrzehntelanger Bürotätigkeit nicht den Blick und die Bereitschaft für ganz anders geartete — gemeinnützige (Pestalozzistiftung), ideelle (Wahlhelfer Egidys 1893), aber auch praktische (Übernahme eines heruntergewirtschafteten Obstgutes) —Aufgaben verlor.
Durch Zufall glückte dem jungen Kanzleigehilfen 1882 der Sprung aus der Provinz nach Berlin. Der Hilfsarbeiter beim Abgeordnetenhaus und ehemalige Volksschüler, der davon jeträumt hatte, das Buchdruckerhandwerk mit regelrechter Gymnasialbildung" zu erlerren, nützte seine Freizeit zum Besuch öffentli-: her Vorlesungen an der Universität und der umboldt-Akademie. Durch ständigen Eigen-interricht, auf Reisen in fast alle Länder Eu-opas, Nordafrikas und nach Kleinasien „er-varb"
Plate jene „höhere Bildung", die für «inen späteren „Beruf" notwendig war. Der Jeamte hatte manche Lehrer, aber nur wenige Förderer": den langjährigen Stenographen eim Reichstag, Eduard Engel, und, zugleich „Vorbild", Bureaudirektor Kleinschmidt, ils len „Bildner junger Bürobeamten". Verehrung empfand Plate nur für einen Präsidenten (Graf (on Schwerin), Dank schuldete er v. Kröcher; üe beiden anderen Präsidenten (v. Köller und ' Erffa) „hatten keinen erziehlichen Wert für nich, sie konnten mir keine Verehrung ein-lößen". Nur Autorität durch Leistung zählte, anderen und bei sich selbst. Das Urteil ist 21 charf, aber nie verletzend. Das System, das len Aufstieg ermöglichte, die Demütigung zu-ieß, wird nicht in Frage gestellt.
) as Abgeordnetenhaus war für August Plate i „Volksvertretung", der er ein Leben lang hne Skrupel gedient hatte; mit keiner Silbe äußert er sich über das größte innenpolitische Toblem Preußens, die Reform des Dreiklasenwahlrechts. Dieses Wahlrecht verhinderte noch 1903, als die Sozialdemokratie „nach langen Jahren der Wahlenthaltung sich zum ersten Male in größerem Umfange an der Wahl beteiligte", den Einzug „auch nur eines einzigen Abgeordneten“ dieser Partei in das Abgeordnetenhaus. Erst 1908 wurden 7 Sozialdemokraten gewählt. Der vor allem von der Sozialdemokratie, in der Endphase des Krieges aber selbst von bürgerlich-konservativer Seite (Hans Delbrück, Friedrich Thimme, Adolf Grabowsky, Siegfried v. Kardorff u. a.) geführte Kampf gegen ein Wahlsystem, „das den größten Teil der Bevölkerung" entrechtete schlägt sich in den Aufzeichnungen Plates nicht nieder. Was Plate über das Wahlsystem dachte, deckt er nicht auf. Selbst in der Stunde des offenbaren Zusammenbruchs löst sich die Zunge des loyalen Beamten nicht zu grundsätzlicher Kritik. Das Leitbild des unpolitischen (Fach-) Beamten, dem sich Plate auch als Direktor des „Dreiklassenparlaments" verpflichtet fühlte, zerbrach auch in der Revolutionsnacht nicht.
Die minutiöse, unretuschierte Darstellung des kleinbürgerlich-proletarischen Milieus in einer deutschen Kleinstadt im Ausgang des 19. Jahrhunderts, die Aufhellung der Parlamentspraxis des Preußischen Abgeordnetenhauses in den beiden letzten Jahrzehnten vor der Revolution machen die Aufzeichnungen Plates zu einer ebenso reizvollen wie sozialgeschichtlich bedeutsamen Quelle. Darüber hinaus belegt der „Rückblick" Plates aber zugleich die Haltung und Rolle der deutschen Beamtenschaft während der Novemberrevolution 1918 und des Übergangs zur Republik.
In der nächtlichen Stille nach dem ersten revolutionären Sturm, an der Wende oder dem Ende seiner Laufbahn reizte es Plate, „einen Teil der in einem . getreuen Gedächtnis’ aufbewahrten Leiden und Freuden", seines „Lebens", seiner „Laufbahn", den „geliebten Kindern zu überliefern". Mit Dankbarkeit gedenkt Plate nach dem Zusammenbruch der al-ten Ordnung jener, die ihn förderten. Das Amt und die Person des Bureaudirektors beim Preußischen Abgeordnetenhaus war zu sehr Teil der alten Ordnung, daß Plate nun selbst, an der „Schwelle einer neuen Zeit", fürchten mußte, mit in den Abgrund gezogen zu werden. Seit dem Tode des Grafen Schwerin am 4. November 1918 war Plate in der Führung der Geschäfte weitgehend auf sich allein gestellt. Das Abgeordnetenhaus hatte sich „zum Zwecke der ungestörten Tätigkeit des Wahlrechtsausschusses" am 23. Oktober bis zum November vertagt 15). In diesen letzten Wochen saß Plate an seiner „Arbeit über die parlamentarischen Erfordernisse bei Einsetzung einer Regentschaft". Die Revolution spülte überholte Zugeständnisse, letzte Reformpläne hinweg. Eine gewisse Hoffnung konnte Plate nun vielleicht daraus schöpfen, daß am 9. November 1918 im Auftrage von Friedrich Ebert und Bill Drews, dem amtierenden Minister des Innern, der Sozialdemokrat Paul Hirsch, ein „Gönner" des Bureaudirektors, faktisch ‘die Macht übernommen hatte und am 12. November 1918 im Auftrage des Vollzugsrates der Arbeiterund Soldatenräte die erste revolutionäre Preußische Staatsregierung bildete. Durch Verordnung vom 15. November wurden Abgeordneten-und Herrenhaus beseitigt; über den Protest des Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses, Dr. Felix Porsch (Zentrum), ging die revolutionäre Staatsregierung „zur Tagesordnung über"
Die stenographische Fassung der Aufzeichnungen Plates ist verschollen; die maschinenschriftliche, hektographierte Übertragung Umfang von 24 Seiten im Kanzleiformat m einem Exemplar erhalten. Der Zeitpunkt Übertragung ist nicht bekannt. Nach e handschriftlichen Notiz auf dem Titel wurde das Exemplar „von den Platekinde einer Tante gewidmet, gelangte aber sp wieder in die Hand einer Tochter Plates, es an ihren Bruder Dietrich weitergab Das nachfolgende Dokument gibt die! Zeichnungen von August Plate unverk wieder. Schreibfehler wurden stillsdn gend berichtigt, Orthographie und Zeichen zung unter Beachtung offensichtlicher Spr eigenheiten behutsam normalisiert. Ui Streichungen oder Sperrungen in der Vorl werden durch Kursivdruck abgehoben, E gungen des Bearbeiters im Text durch ecl Klammern [] nachgewiesen. Die wen von Plate selbst stammenden Anmerkur werden durch *) bezeichnet, die Anmerl gen des Bearbeiters durchlaufend numer Die Abkürzungen M. d. R., M. d. A. I M. d. H. in den Anmerkungen weisen auf Mitgliedschaft im Reichstag, Preußischen geordneten-bzw. Herrenhaus hin.
II. Dokument
Wer geboren in bösesten Tagen, Dem werden selbst die bösen behagen.
Goethe, Westöstlicher Diwan
Kurzer Rückblick auf mein Leben
von August Plate Geheimer Regierungsrat Direktor beim Preußischen Abgeordnetenhause Geschrieben in der Nacht vom 11. auf den 12. November 1918 an der Schwelle einer neuen Zeit Meinen Kindern zur Erinnerung und zum Trost, und zur Ermunterung beim Ausblick in eine ungewisse Zukunft 1. Allgemeines Ich bin [am 26. Februar 1860] in einem mit höheren Schulen nicht gesegneten Landund Ackerstädtchen Niedersachsens [Wolmirstedt b. Magdeburg] geboren, in einer Plattdeutsch sprechenden kinderreichen Arbeiterfat aufgewachsen und habe in dieser Umgel fast 23 Jahre meines Lebens verbracht. Plan meiner Kindheit, einer höheren S bildung teilhaftig zu werden und dann Buchdruckergewerbe zu erlernen, um €diesem womöglich bis zum Faktor zu brir scheiterte an dem Geiz und dem kleinli Sinn eines kinderlosen Onkels, der als Sd setzer in einer großen Provinzialstadt 1 So mußte ich mit dem Unterricht in i fünfklassigen Volksschule vorlieb neh Neben dem Unterricht mußte ich in Haus Feld Hilfe leisten, zeitweise auch Lohna verrichten. Die vornehmste Arbeit war Beschäftigung in der Apotheke, wo ich lieh zwei bis drei Nachmittagsstunden Pfenniglohn Pflaster und Pulver abwog, meranzenschalen verlas, Preislisten absd und dergl. mehr.
Die zu meinem jetzigen Beruf erforder höhere Bildung erwarb ich zunächst c mehrjährigen Eigenunterricht bei einem strebsamen, spottbillig arbeitenden Volks), chullehrer später durch einen bis in die allerletzte Zeit fortgesetzten Selbstunterricht. Außer andern Fächern des höheren Unterrichts betrieb ich Lateinisch, Französisch, Italienisch, Englisch, Flämisch und auch ein klein wenig Türkisch. In freien Nachmittagsund Abendstunden besuchte ich öffentliche Vorlesungen an der Universität Berlin, dem staatswissenschaftlich-statistischen Seminar, dem orientalischen Seminar und der Humboldt-Akademie. Von meinen Lehrern nenne ich [Heinrich von] Treitschke Adolf Wagner Erich Schmidt [Otto] Dam-bach Geheimrat August Meitzen Missionsdirektor [Karl Gottlieb] Büttner In der Humboldt-Akademie hörte ich vor 30 Jahren allein und vor 2 Jahren mit meinem lieben Sohne Dietrich. In den letzten Jahren verdanke ich dem Lesen der Schriften meines verehrten Gönners, des Professors Eduard En-gel erhebliche Förderung.
Meine Reiselust trug zur Erweiterung des Gesichtskreises bei, wenn ich ihr auch während der harten Lehrlings-und Gesellenjahre aus Mangel an Mitteln und noch mehr an Zeit in keiner Weise frönen konnte. Erst vom 28. Lebensjahre ab bereiste ich fast alle Gaue de Vaterlandes und sah mit selbstverdiente Gelde Teile von England, Holland, Belgie den Baltischen Landen, Litauen, Osterreic Ungarn, Bulgarien, der Schweiz, Italien, Po tugal, Algier, Tunis, Griechenland und di Türkei, sowie einzelne Plätze der Küste vc Kleinasien. Zustatten kam mir ferner eir rege, noch heute ungezähmte Leselust, die ic trotz der äußerst bescheidenen Mittel mein, Eltern schon früh befriedigen konnte, weil ic vom 12. Lebensjahre ab als Primus omniu (Erster in der Klasse) die Leihbücherei mein Schule verwaltete und dafür Befreiung vc der Leihgebühr genoß. Diese war Übrigei einfach und billig (’n Sechser for dat gro Book, ’n Drier for dat ‘kleine Book) ) . Nic unerheblich gewann meine Allgemeinbildur durch das Lesen und Ausziehen aller wörtl chen Berichte über die Verhandlungen d Abgeordnetenhauses, zu der ich durch die B arbeitung der jährlichen Geschäftsübersicht« genötigt war, nicht minder auch durch meii seit dem Amtsantritt des Präsidenten Graf« Schwerin fast ständige Anwesenheit in d« Vollsitzungen und in allen Sitzungen des Ä testenrats als dessen Schriftführer, sow durch den lebhaften, oft über das rein Diens liehe hinausgehenden lebhaften Verkehr m so vielen hervorragenden Männern aus all« menschlichen Berufen und aller politisch« Anschauungen. Auch der werktätige Betri« der Landwirtschaft und Gärtnerei auf eine eigenen abgesondert gelegenen Hofe [Marie au bei Zossen], dem ich die letzten 9 Jah oblag, hat mein Wissen und Können erweite und mir viele neue Beziehungen eingetr gen.
Meine Charakterbildung verdanke ich in e ster Linie der ernsten, ehrenfesten Haltui meines Vaters und der unendlichen Liebe ui nimmermüden Sorge meiner unvergeßlich« Mutter, deren Leben ein einziges Duldertu war.
Später wirkte das Vorbild meines durch eise nen Fleiß ausgezeichneten Lehrmeisters i Abgeordnetenhause, Bürodirektor und G heimrat August Kleinschmidt, ein Bauernsol aus Westpreußen, war mehr Drillmeister a Erzieher. Er genoß einen wohlverdienten R als Bildner junger Bürobeamten und als ras loser, allzeit gefälliger Ordner des pari mentarischen Dienstes Die väterliche Fürsorge und Förderung, die er mir hat angedeihen lassen, werden mir, meinen Geschwistern und Kindern stets unvergeßlich sein.
In den letzten 6 Jahren erfreute ich mich des segensreichen Umganges mit dem Präsidenten Grafen von Schwerin-Löwitz, der vor wenigen Tagen (am 4. November) zu rechter Zeit für den begeisterten Vaterlandsfreund entschlafen ist. Er lud mich zu häuslichen und Familienveranstaltungen und würdigte mich häufig einer längeren Unterhaltung und seines ehrenden Vertrauens auch in andern als streng dienstlichen Angelegenheiten, so daß ich manchen Einblick in seine vornehme Denkungsart tun konnte. Er war ein Muster von Besonnenheit und Milde und von treuestem Pflichtgefühl in hundert Ehrenämtern erfüllt. Auch der Gräfin, einer in tätigem Christen-tum aufgehenden, vorurteilslosen und gütigen Frau, muß ich hier dankbar gedenken. Preuße, Konservativer und Agrarier vom reinsten Wasser, war der alte Graf der beste Vorgesetzte in meiner fast 45jährigen Beamtenlaufbahn. Ich werde dem verehrungswürdigen Manne Dankbarkeit und Liebe bewahren über sein Grab hinaus und bis an meines
Präsident Jordan von Kröcher unter dem ich 11 Jahre lang als Direktor arbeitete, war ein kluger Mann, eine eigenartige Persönlichkeit, nicht ohne Wohlwollen und Teilnahme für seine Umgebung. Meine Tätigkeit hat er mündlich häufig und schriftlich wiederholt in Berichten an die Regierung anerkannt. Ich kann und darf ihm meine warme Dankbarkeit nicht unausgesprochen schuldig bleiben. Seine erziehliche Bedeutung für mich ist zweifelhaft. Er stellte sich immerhin als ein Charakter dar, der zur Beobachtung reizte und dessen vorurteilsfreie Beobachtung sich bei richtiger Nutzanwendung lohnte. Herr v. Kröcher war nicht immer der gradsinnige, aufrechte und tapfere Mann, der er vielen zu sein schien. Seine „Forsche" lag mehr im Förmlichen und militärisch Tadellosen (Korrekten); siehe das mißglückte Schnurrbartverbot für die Unterbeamten und manches andere. Die große Linie, die wirkliche Stärke gingen ihm ab. Im Grunde genommen war er vielmehr furchtsam — besonders vor den Führern seiner Fraktion—, bequem, weich und vor allen Dingen nicht verantwortungsfreudig. Das zeigte sich z. B. in seiner grundsätzlichen (programmatischen) Erklärung über das Recht und die Pflicht des Präsidenten zur Auslegung der Geschäftsordnung, die an knapper Folgerichtigkeit allerdings nichts zu wünschen übrig läßt und deshalb besticht. Ich h*abe sie mit den Erklärungen früherer Präsidenten in meiner Erläuterung (Kommentar) zur Geschäfts- ordnung zusammengestellt Man vergleiche u. a. die mannhafte Gestalt [Max von] Forckenbecks Von anderen, weniger bekannt gewordenen Belegen will ich schweigen. Aber seine „Kanonenstiefel" und seine „Nerven bis zum Schaffott" habe ich immer nur für Wahlredeblüten gehalten. Ähnlich die „Sozialdemokratie als Objekt der Gesetzgebung". Zwar hat er den Hausknechtsparagraphen im Jahre 1910 eingeführt, dessen erste und einzige Anwendung aber seinem unglücklichen, weniger bequemen und gelassenen Nachfolger überlassen, wie mir dieser nach vollbrachter Tat vorwurfsvoll klagte Graf Schwerin, der dem bald danach verstorbenen, nur wenige Monate im Besitz des Präsidentenstuhles gewesenen Herrn von Erffa folgte, war — trotz des starken und gestrengen „Oberpräsidenten" v. Pappenheim — nicht unweise, folgsam und gewaltsam genug in die Fußstapfen seines Vorgängers zu treten Freiherr von Erffa — jeder Menschenfreundlichkeit bar — und von Kröchers Vorgänger der alte Herr [George] von Köller hattet keinen erziehlichen Wert für mich; sie konn ten mir keine Verehrung einflößen.
Das Preußische Abgeordnetenhaus hat runc 70 Jahre bestanden und rund 10 Präsidenter an seiner Spitze gesehen. Die letzten 40 Jahre gehörten dem konservativen Zeitalter an Unter den vier Präsidenten dieses Abschnittes war der letzte [Graf Schwerin-Löwitz] unzwei felhaft der bedeutendste. Leider hatte er das Amt nur 6 Jahre hindurch inne, der erste [v Köller] dagegen 18 Jahre. Schade für miet und für das Haus! — Einen überaus starken Einfluß auf meinen in neren Menschen übte der Verkehr mit den feurigen, mit volkstümlicher Beredsamkeit be gabten Moritz von Egidy [1847— 1898], den aus der Art geschlagenen Husaren-Obers und politischen und religiösen Edelschwär mer. Ihn unterstützte ich bei seiner Reichs tagskandidatur in den neunziger Jahrei des vorigen Jahrhunderts in zahlreichen stark besuchten Wählerversammlungen und sonntäglichen Vorträgen. Seine unter dem selbst-geprägten Wahlspruch " Religion nicht mehr neben unserem Leben, unser Leben selbst Religion"
betriebene „Propaganda der Tat" im edelsten Sinne hat gewiß viel Gutes gewirkt, wenn sein Name heute auch fast verschollen ist. Mancher von seinen Hörern, dessen „positives Christentum" sich früher im fleißigen Kir-
chenbesuch und im Gebet am gutbesetzten Mittagstisch erschöpft haben mag, wird heute in guten Taten, in seinem gesamten Handeln und Wandeln, in positiver Betätigung des Christentums Befriedigung suchen zum eigenen Glück und zum Wohle der Mitmenschen. In Egidys Gesellschaft lernte ich den Vater der deutschen Fliegerei, Otto Lilienthal [1848— 1896], einen edlen Menschenfreund von vielen Gaben, und seinen nicht minder trefflichen Bruder Gustav [1849— 1933] kennen. Gustav Lilienthal, ein sozial denkender Mann, baute mir vor 20 Jahren in Lichterfelde ein Häuschen und ist mir samt seiner Familie noch heute in Freundschaft verbunden.
Wie ich mit Erfolg und Mißerfolg seit 20 Jahren im Verein mit meiner Frau für meine Kinder und später auch mit ihnen gearbeitet habe, darüber werde ich auf besonderen Blättern mir und ihnen Rechenschaft ablegen Diese Arbeit wurde durch den unseligen Krieg in ihrem Erfolg zwar arg verkümmert, aber nie unterbrochen, sondern von meiner Frau und meinen älteren Kindern tapfer weitergeführt. Der Mensch gleicht dem Magneten: je mehr man ihm anhängt, desto stärker wird er. Die wachsende Einsicht in den Segen des edlen Landbaues und in die Notwendigkeit einer vom Geiste der Einordnung und des Gehorsams durchtränkten Zusammenarbeit erfüllt mich mit hoher Freude. Dies und die auch in den schwersten Zeiten bewährte Standhaftigkeit und Hingabe an die gemeinsame Sache berechtigt mich und meine Frau zu den schönsten Hoffnungen für die Zukunft unserer Kinder trotz der jammervollen Lage des Vaterlandes. Fortan wird die Persönlichkeit mehr gelten als der Besitz. Und „Denen, die Gott (das Gute) lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen." (Römer 8, 28).
Von jeher war es mein Stolz, meine eigenen kleinen Angelegenheiten durch meinen Beruf mit den höchsten Belangen des Vaterlandes verknüpft zu wissen. Diese Verknüpfung kann mir jetzt zum Verhängnis werden. Wie ich im Jahre 1882 kurz vor Beginn eines neuen Landtages meine Laufbahn im Dienste der Volksvertretung an einem düsteren Herbsttage begann, so können jetzt nach 36 Jahren diese entscheidungsschwangeren Herbsttage das Ende meiner beruflichen Laufbahn bedeuten oder aber auch zu einem zweiten Frühling werden. An dieser Wende oder dem Ende meiner Laufbahn reizt es mich, ihr rückblikkend dankbaren Herzens einige in nächtlicher Stunde mit Hilfe der Kurzschrift flüchtig beschriebene Blätter zu widmen und so nach dem Worte unseres großen Dichters einen Teil der in einem „treuen Gedächtnis" aufbewahrten Leiden und Freuden meines Lebens meinen geliebten Kindern zu überliefern. 2. Familie und Beruf Da ich nicht Buchdrucker mit regelrechter Gymnasialbildung werden konnte, wurde ich ohne sie in meinem Heimatstädtchen Schreiberlehrling. Ich kam so in die Beamtenlaufbahn, der vorher noh kein Mitglied meiner Familie seit Erschaffung der Welt angehört hatte und in die allem Anschein nach auch keines meiner 5 Kinder eintreten wird. Kaum 14 Jahre alt, wurde ich [am 11. April 1874] vor einem würdigen Kreisgerichtsrat in Vatermördern für den Staatsdienst [als Kanzleigehilfe] vereidigt. So kindlich war mein Sinn bei der feierlichen Handlung, daß ich (die drei Schwurfinger vor der Nase) mir das Kichern kaum verbeißen konnte. „Halb Kinder-spiele, halb Gott im Herzen", sagt Goethe im Faust. Dank der Fürsorge meines unmittelbaren Vorgesetzten ernährte und erhielt ich mich schon vom 15. Lebensjahre ab selbständig und — wie ich wohl sagen darf — anständig. Ich kleidete mich standesgemäß, hielt auf eigene Kosten zwei Tageszeitungen (die Deutsche Pfennigzeitung [Magdeburg] und die damals von Friedrich Bodenstedt dem Dichter der „Lieder des Mirza Schaffy", begründete Tägliche Rundschau) und schuf mir nach und nach eine ansehnliche Bücherei. Ein Vetter baute mir für 80 M ein niedliches Bücher-spind dazu, und ich schmückte es mit Stand-bildchen Goethes und Schillers, die ich von einem wandernden italienischen Figurimann er-stand. Alles bei 2 M Tageslohn, der sich bis zu meiner Übersiedlung nach Berlin nicht erhöhte. Mein erster Vorgesetzter, der Gerichtsaktuar Hermann Rudorf, ein Schneiderssohn und früherer Kurrendejunge, war wie ich ein Schüler von Franz Sachs. Rudorfs Kenntnis von Land und Leuten, seine zunftwidrige Freundlichkeit und stete uneigennützige Hilfsbereitschaft waren für die Gerichtseingesessenen, namentlich die bäuerliche Bevölkerung des über 30 km langen Bezirks, von um so größerem Werte, als sich kein Rechtsanwalt und Notar am Orte befand. Er stand deshalb in höherem Ansehen als die fremd zugewanderten Assessoren und Kreisrichter, allerdings nicht bei den ihm untergebenen Gerichtsdienern. Diese konnten ihm den unstandesgemäßen Kurrendejungen nicht vergessen. „Rudorf selbst ist nicht da", seufzte einmal ein Bäuerlein enttäuscht, als er nur den Kreisrichter sah.
Meiner Mutter, einer Künstlerin im Hungern und Haushalten, gab ich die Hälfte meines Lohnes für das Mitessen in der lOköpfigen Maurersfamilie und für die Mitbenutzung des einzigen 14— 16 qm großen Wohnzimmers und einer aus rohen Brettern gezimmerten Dachkammer. Wer Friedrich Hebbels Selbstbiographie und „Friedesinchens Lebenslauf" von [Heinrich] Sohnrey gelesen hat, kann sich eine Vorstellung von dem Leben meiner Kindheit und Jugend machen Auch in „Lienhard und Gertrud" finden sich Anklänge. Nur war mein Vater kein Lienhard, sondern ein charakterfester, enthaltsamer Mann. Eine desto tüchtigere Gertrud war mei-ne Mutter, ohne jemals auch nur den Namen ihres Vorbildes gehört zu haben. Unser Haus war nämlich vollkommen literaturfrei. Als ich heranwuchs, und man wohl so etwas wie Hunger auch nach geistiger Nahrung bei mir ahnte, munkelte Vater etwas von „Büchern", die bei der Tante Nettelbeck verborgen sein möchten. Tante Nettelbeck, eines kleinen Ak-kerbürgers Frau, war eine Schwester des Va-ters und hatte als Mädchen bei dem Kreisse kretär des Ortes gedient. Sie setzte unserei ungeschminkten Plattdeutsch stets eine gezie te, feierliche Aussprache des Platt entgege: die an Messingsch grenzte und uns Kii dem zur Erheiterung diente. Eigentlich hätte wir ihr Dank wissen müssen für die warn: und überzeugte Art, mit der sie stets für de „Naamen Plaate“ eintrat.
Ich blieb, beiläufig bemerkt, zum Kummer a ler „bildungs" lüsternen Tanten meinem g liebten Familienplatt treu, aus Furcht v« dem Messingsch und nach dem gute Spruch:
Hoch oder platt, Drög odej matt, Groff oder fin, Beer oder Win, Aber echt mut et sin.
In diesem Vorsatz wurde ich von den Elter von Vaters Bruder Karl und von zwei Vettei des Vaters, den Brüdern Bosse, bestärkt, vc Christel, dem Maurer, und Fritz, dem Sehe meister.
Bei Tante Nettelbeckin also klopfte ic schüchtern, aber hoffnungsvoll an, und nac vielem Suchen fand man in einem Komode kästen einen alten Katalog vom Goethe-Sch ler-Museum in Weimar. Also auch dort vo ständige literarische Unverdorbenheitl I mußte mir eben meine geistige Nahrui selbst beschaffen.
Unsere leibliche Nahrung war vielleicht not dürftiger, als die einer Berliner Arbeiterfan lie während des Weltkrieges und der eng chen Hungerblockade. Wir lebten —; unb wußt und ohne alle Ernährungswissensche — nur pflanzenkostlich, wie meine Mutter p stalozzi-gertrudisch wirkte, ohne es zu wi sen. Das Abendbrot bestand jahrelang jede Wochentag aus Pellkartoffeln und für eint Sechser (5 Reichspfennige) Saatöl (Rüböl). E Hering für die ganze Familie bildete bei Abendessen eine seltene Leckerei. Es s denn, daß es zu gewissen Jahreszeiten Pe jes-Heringe (Pfennig-Heringe) zu kaufen ga Dann erhielt jedes Kind einen ganzen Herii für sich. Die übrigen Mahlzeiten entsprächt dem Abendessen. Mehr als 1/4 Pfund Fleisi gab es zu Mittag nie. Für die ganze Famili Häufig gab es statt dieser Höchstmenge f einen Sechser Talg an das Eintopfgericht. I gentliche Leckereien waren uns unbekani Bücklinge, die nicht als Nahrungs-, sondern als Genußmittel angesehen wurden, habe ich z. B. nur kennengelernt, wenn ich den Vater zum „Quartal" begleitete. So nannte man das nicht vierteljährlich, sondern jährlich nur einmal stattfindende Stiftungsfest des Maurer-vereins. Eine Flasche süßen Weizenlagerbiers (Ammenbier oder wegen seiner Mattigkeit unanständig auch noch anders genannt) und ein Bückling bildeten für uns Kinder den Hochgenuß auf diesem „Ball". Die Mutter besuchte auch diese einzige Gelegenheit zur Geselligkeit nie. Vielleicht war sie als „Bürgerstochter" (Tochter eines mit 9 lebenden Kindern gesegneten Schuhmachermeisters ohne Gesellen und Lehrlinge) zu stolz dazu, vielleicht litt es auch ihre Sparsamkeit nicht; das Letzte ist wahrscheinlicher. Von Leckereien nenne ich noch Apfelsinen. Sie waren uns lange Zeit nur vom Hörensagen bekannt, wie etwa eßbare Schwalbennester einem kas-subischen Bauern. Als ich einmal von Berlin aus Apfelsinen für meine jüngeren Geschwister nach Hause schickte, und zwar Blutapfelsinen, um als „reicher Onkel" zu protzen, warf man die vermeintlich faule Ware auf den Misthaufen. Ein ander Mal hatte ich eine Literflasche Rotwein zu 80 Pf von Oswald Nier dem Ungegipsten bei dem ich um 60 Pf zu Mittag speiste, an die Mutter geschickt. Als ich ein halbes Jahr später nach Hause kam, holte sie die sorgfältig verwahrte unberührte Flasche aus dem Koffer hervor, um mich damit zu „traktieren" (zu bewirten). Wir kannten Wein natürlich nur vom Heiligen Abendmahl her. Das alles erklärt sich, wenn man zweierlei bedenkt. Erstens hatte mein Vater um 1870 herum als siebenköpfiger Familienvater bei vierzehnstündiger Arbeitszeit die ganze Woche 3 Taler Lohn. Sage und schreibe drei Taler gleich neun Reichsmark! Später stieg das Einkommen auf die glänzende, von den Nachbarn geneidete Höhe von 5 Talern. Um es zu erreichen, mußte der Vater von Montag früh bis Sonnabend abend fern von der Familie ohne Pflege hausen, sich selbst beköstigen, seine Schlafstelle in Ordnung halten usw. Ein schweres Opfer für seinen auf das Häusliche gerichteten Sinn! Und zweitens war es ein bombenfester Grundsatz meiner Mutter, auch bei dem kleinsten Einkommen etwas beiseite zu legen, zu sparen, um ihre Kinder möglichst sorgenfrei zu stellen. Das Gegenbuch der Sparkasse und das Beitragsbuch der Sterbekasse (Totenlade) waren heilige und heilig gehaltene Urkunden einer elterlichen Für-und Vorsorge, die ihresgleichen sucht und schwerlich findet.
Bei aller Armut errangen sich meine Eltern durch Fleiß, Sparsamkeit und würdige Haltung doch schon früh ein gewisses Ansehen. Ich redete einst in der Spielviertelstunde einen Jungen an, der einsam und unbeachtet dastand. Sein Vater hieß Jakob, und der halb-verblödete, arme Knabe wurde Jack oder Jack Jakob genannt. Er hat später in seinem Schwachsinn durch geschlechtliche Verbrechen viel Unheil angerichtet. Um ihn zu trösten, versuchte ich ihm klarzumachen, daß sein Vater mit meiner Großmutter mütterlicherseits, einer geborenen Freier, entfernt verwandt sei. Ein Schulkamerad, Wilhelm Schröder, (Sohn eines Tagelöhners und später Schneidergeselle) hörte dies und rief bewundernd aus: „Ooch, kiek mal, der Jack hat 'ne . reiche Tante'". Auf diese Einschätzung meiner Mutter war ich — mit kapitalistischen Anschauungen erblich belastet — nicht wenig stolz. Es fehlte aber auch nicht an Gelegenheiten, wo der rührende und harmlose Mutter-und Bürgerstolz der Mutter gedämpft wurde. Bei einer öffentlichen Schülerprüfung hatte sich die bescheidene Frau meinem eigenen, in der Schule erkämpften Range entsprechend, in die vorderste, von wirklichen „Bürgersfrauen" eingenommene Stuhlreihe gewagt. Sie wurde durch die wegwerfende Bemerkung einer Malermeisterswitwe, deren Sohn später allerdings Pastor wurde, in ihre Schranken zurückgewiesen; die unstandesgemäße Nachbarschaft behagte der Dame nicht. Doch darf ich hier nicht vergessen, daß auch der Vater auf solche Anschauungen stieß, die ihn um so schmerzlicher berührten, als sie ihm aus dem Kreise seiner Geschwister entgegentraten, soweit diese dem Stande der selbständigen Handwerker und Ackerbürger angehörten. Ein freundschaftlicher Verkehr mit diesem Teil der Verwandtschaft hat nie stattgefunden. Ja, ein älterer Bruder meines Vaters, der als Tischlermeister in der nahen Großstadt wohnte, trieb die Standesabsonde-rung so weit, daß er unser Haus überhaupt mied. Wir Kindern lernten den Onkel iemals kennen, obwohl er öfters in unserem, kaum 4 000 Einwohner zählenden Städtchen weilte, um andere standesgemäße Verwandte und Jugendfreunde zu besuchen. Der Vater litt sehr unter dieser Mißachtung, die gar nicht am Platze war, denn er stand seinen Geschwistern an Wissen und Können keineswegs nach. Er schrieb einen vernünftigen, fehlerfreien Brief in zierlicher Handschrift, hatte es in Reserve und Landwehr zum Unteroffizier und Korporalschaftsführer gebracht und als solcher 1866 und 1870/71 Dienst getan. Ein widriges Schicksal: Krankheit und allzufrüher Tod des Vaters, Verkrüppelung und Hilfsbedürftigkeit der Mutter hatten ihn gehindert, ein Handwerk zu erlernen, in dem er es zu einer bescheidenen Selbständigkeit hätte bringen können. Trost und Ersatz bot uns die innige Freundschaft mit Onkel Karl (Vaters Bruder) und Tante Settchen (Mutters Schwester), einem Maurerehepaar. Wir liebten und verehrten diese guten Menschen fast so sehr wie die eigenen Eltern. Besonders der schwer geprüften Tante gedenken wir noch heute, über 30 Jahre nach ihrem Heimgang, in stiller Dankbarkeit. Ähnliches mußte ich selbst von den nächsten Angehörigen meiner daran unschuldigen Frau erleben, obwohl ich es in Proleten-Keckheit als lebenslänglich angestellter Beamter des Preußischen Abgeordnetenhauses in der bürgerlichen Rangordnung schon ziemlich weit gebracht zu haben glaubte. Und Ähnliches widerfuhr mir sogar noch, als ich „nach aller verständigen Meinung" mit der Beförderung zum Direktor und Geheimrat die höchste mir zugängliche Sprosse auf der Leiter dieser Rangordnung erklommen hatte. Ich traf eines Tages bei meinem Präsidenten seinen Onkel, einen alten Herrn von noch älterem Adel, Rittergutsbesitzer und früher Landrat meines heimatlichen Nachbarkreises, in dem jener Malerssohn Pfarrer war. Ich begrüßte ihn als Landsmann warm, aber mit geziemender Ehrerbietung. Er erkundigte sich nach meiner Familie, und als ich ihm freimütig Bescheid gab, bemerkte er: „Na, nun weiß ich doch, wohin Sie gehören, wenn ich solche Leute auf dem Bau arbeiten sehe." Sagte es und verließ das Zimmer ohne Gruß. Zur Ehre des Präsidenten muß ich berichten, daß er mir hinterher sagte, er finde meine Haltung „grade forsch". Dies Erlebnis erbitterte mich keineswegs, belustigte mich vielmehr. Ich erwog, wie weit es diese Familie vom märkischen Uradel, deren Glieder sich von jeher besonders stark zum „positiven Christentum" hielten, es auf 800jährigem Grundbesitz in 25 Ge-
schlechtem gebracht hatte, und welchen Er-folges sich eine märkische Maurersfamilie in einer einzigen Generation rühmen durfte. Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. — Trotz alledem lebte ich glücklich und zufrieden in meiner Familie und im Städtchen und arbeitete nach dem Verlassen der Schule über 8 Jahre im Bürodienst der Gerichts-, Gemeinde-und Polizeiverwaltung und lernte alle die tausendfältigen kleinen Verhältnisse und Beziehungen ländlichen und kleinstädtischen Lebens kennen So manchen Kauf-und Altenteilsvertrag für Bauers-und Büdnersleute baute ich, den der Kreisrichter nach Vorlesung vor den Beteiligten einfach unterschrieb. Ich gewann auf diese i*Wsee Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Gedankenwelt der bäuerlichen Bevölkerung. Später lernte ich die Gemeinde-, Schul-, Polizei-und Standesamtsverwaltung meines Heimatortes und die Amtsanwaltschaft für den ganzen Gerichtsbezirk in selbständiger Arbeit von Grund aus kennen. Besonders die damals noch so trostlose Verfassung des Armen-oder besser Bettelwesens machte tiefen Eindruck auf mich. Das Leben des Armen-und Siechenhauses und seiner unglücklichen Insassen kannte ich schon von der Knabenzeit her. Das öde, höhlenartige Bauwerk lag nicht weit vom Elternhause an einem Kreuzweg. Einst schickte mich die mitleidige Mutter mit einer Suppe zu einem schwerkranken, schwachsinnigen Armenhäusler, der in seinem Unverstand von einem an Gift verendeten Hahn gegessen hatte. Ich traf ihn und einen sterbenden Greis, einen Dachdecker namens Legerlotz, auf niederen Strohlagern, die zu Häcksel zermürbt waren und von Ungeziefer aller Art wimmelten. Von Erbarmen und Ekel erfüllt und tief erschüttert kehrte ich zur Mutter zurück. Die Erinnerung an diese traurigen Dinge ist noch heute nach 50 Jahren in mir lebendig.
Vergnügungen im landläufigen Sinne kannte ich in diesen Jahren nicht. Meilenweite sonntägliche Wanderungen durch die 2 km entfernte menschenleere, aber wildreiche Lotz-linger Heide waren meine Leidenschaft. Georg Schmidt, ein angehender Gerichtsaktuar, war meist mein einziger Genosse; wir brachten es auf 55 km den Tag. Das Schreien, Spie-len, Kegelschieben war mir ein gar verhaßter Klang.
Fast ein Jahr lang machte ich durch zahllose Bewerbungen den verzweifelten Versuch, aus der Enge der Heimat in den aussichtsvolleren Dienst einer größeren Stadt oder einer Eisenbahnverwaltung zu kommen. Da gelang mir infolge freundlicher, aus eigenem Antriebe geübter Vermittlung zweier Landsleute) das nie Erstrebte, nie Erträumte, aus den kleinsten Verhältnissen unmittelbar in die Reichshauptstadt und in den Dienst einer der höchsten Stellen des Landes zu kommen. Das Glück fiel mir über Bitten und Verstehen in den Schoß. Im Besitz einer Fülle von praktischen Erfahrungen und einiger Fertigkeit in der Kurzschrift, die ich von dem Wanderlehrer eines auswärtigen Vereins (Rudolf Benekke) erlernt hatte, trat ich Ende Oktober 1882 mit viel Zuversicht und den besten Vorsätzen in den Dienst des Preußischen Abgeordnetenhauses über. Mein Bürgermeister (Karl Marschall) war kurz vorher wegen andauernder Krankheit ausgeschieden, und ich hatte ihn häufig und zuletzt ganz ersetzen müssen. Nur ungern, aber mit den besten Wünschen, ließen mich die Stadtväter (der Beigeordnete und drei Ratsmänner) ziehen. Wenn ich doch wenigstens 5 Jahre älter wärel Aber mit 22 Jahren könnten sie mich unmöglich zum wirklichen Bürgermeister machen. So hieß es bedauernd bei meiner Verabschiedung, obwohl ich ein halbes Jahr früher notgedrungen einen hohen Rat durch einen Teilstreik in einige Verlegenheit hatte versetzen müssen. In den Sommersemestern von 1884, 1885 und 188S in der sessionsfreien Zeit arbeitete ich neben dem Dienst im Abgeordnetenhause bei der Bauabteilung und der ersten (Regierungs-) Abteilung des Berliner Polizeipräsidiums um die Berechtigung zur Anstellung im Bürodienst zu erwerben. Mein Einkommen stieg beim Eintritt in den Parlamentsdienst mit einem Schlage auf das Dreifache, sank aber 1884— 1886 ganz erheblich. Doch konnte ich trotz des kostspieligen Lebens in der Großstadt dank dem von Vater und Mutter ererbten Sparsinn, ohne mir etwas zu entziehen, genug erübrigen, um teilweise mit recht gutem Erfolg mehrere von meinen nachgeborenen sieben Geschwistern auf eine über den Stand der Eltern hinausgehende Stufe zu he-ben. Da dies aus der Ferne und in einem Orte ohne höhere Schulen nicht möglich war, nahm ich vier von den Geschwistern (den einzigen um 10 Jahre jüngeren Bruder und drei zum Teil noch erheblich jüngere Schwestern) in den mit meinen Spargroschen selbstgeschaffenen Junggesellenhaushalt auf.
Die erste Hälfte meiner 36jährigen parlamentarischen Tätigkeit verbrachte ich nach und nach in allen Zweigen des Büro-und Verwaltungsdienstes. In der zweiten Hälfte lag mir als Direktor die Leitung des Gesamtbüros des Abgeordnetenhauses und die Beratung des Präsidenten in der Leitung der Verhandlungen und der inneren Verwaltung ob Nur aus dem Gedächtnis und ohne Zuhilfenahme der Akten des Hauses, die überall Spuren meiner Tätigkeit enthalten, führe ich hier einige Hauptarbeiten aus diesem größten Abschnitt meines Lebens an.
Schon mehrere Jahre vor meiner Beförderung zum Direktor, nämlich im Jahre 1898, schrieb ich für das Ministerium des Innern eine längere, erschöpfende Abhandlung über die Tagesgelder und Reisekosten der Abgeordneten Die jährliche Übersicht über die Tätigkeit des Hauses (ausführliches systematisches Sachverzeichnis) arbeitete ich vollständig um. Sie wurde reichhaltiger und gründlicher, verlor aber trotzdem so stark an äußerem Umfang, daß eine jährliche Druckkostenerspamis von 10 000 bis 20 000 Mark, je nach dem Umfang der Session, erzielt wurde Auch im übrigen war ich auf die übersichtlichere Gestaltung des Drucksachenwesens, seine Vereinfachung und vor allen Dingen Verbilligung bedacht. In wiederholten ausführlichen, von mir bearbeiteten Berichten des Präsidenten an die Oberrechnungskammer ist der Nachweis hierfür erbracht worden. Ich schätze die Ersparnisse der Druckkosten im Laufe der Jahre auf mehrere Hunderttausend, vielleicht eine hal-be Million Mark.
Beim ersten Wechsel der Legislaturperiode nach meinem Eintritt in das Direktoramt gab ich das Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus in der jetzigen, vollständig veränderten Form heraus, über die Erweiterung des Inhalts spricht das Vorwort in der ersten Auflage dieser Arbeit
In demselben Sommer schrieb ich meinen bekannten Kommentar zur Geschäftsordnung des Hauses, eine Arbeit, wie sie in Deutschland noch nicht und im übrigen auf der gan-zen Welt bis dahin nur von den Franzosen [Jules] Poudrau und [Eugene] Pierre und von Thomas Erskine May dem berühmten Chiefclerk des englischen Unterhauses, geleistet worden war. May hatte gleich mir von Jugend auf und von der Pike an im Parlamentsdienst gestanden und war beim Ausscheiden zum Mitgliede des Oberhauses aufgerückt. Erst viel später haben der österreichische Archivar Dr. [Karl] Neisser (nach mehrwöchigem Studium in Berlin) und danach mein Kollege [Bernhard] Jungheim vom Deutschen Reichstage (dieser in Gemeinschaft mit Dr. Kurt Perel die Geschäfts-Ordnung ihres Bereichs in ähnlicher Weise schriftstellerisch bearbeitet.
Im Jahre 1904 schrieb ich aus Anlaß eines Rechtsstreites gegen die Verwaltung des Hauses einen Aufsatz über die verwaltungsrechtliche Stellung des Präsidenten, der von dem Vorsitzenden des Seniorenkonvents, früheren Finanzminister [Arthur] Hobrecht und von verschiedenen Mitgliedern, namentlich dem früheren Obertribunalrat [Victor] Rintelen und dem jetzt noch lebenden Abgeordneten [Max] Broemel beifällig beurteilt wurde. Man argwöhnte, ich könne mir die Arbeit von einem Verwaltungsjuristen ha-ben machen lassen).
Abgesehen von dem Drucksachenwesen war ich auch in den übrigen Zweigen der Verwaltung auf Vereinfachung und Verbilligung bedacht. So betrieb ich z. B. die Vereinfachung des stenographischen Dienstes und die bessere wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Stenographen. Ich wollte beides und eine Minderung des Kostenaufwandes durch Zusammenlegung der Stenographenbüros beider Häuser des Landtages erzielen. Die Schreiben des Präsidenten an den Minister des Innern vom 12. November 1907 und 2. Februar 1909 gehören zu meinen Arbeiten auf diesem Gebiet ) .
Leider scheiterte der Plan, vermutlich an der Eifersucht des Herrenhauses auf seine selbständige Stellung.
Auch die Zusammenlegung der Büchereien beider Häuser mußte bei dieser Haltung des anderen Hauses unausgeführt bleiben. Die Aufrechterhaltung der kostspieligen beiden Sondereinrichtungen für das Herrenhaus wirkte bei dessen geringfügiger Tätigkeit auf die Dauer und nach der Vereinigung beider Körperschaften unter einem Dach gradezu lächerlich
Diese beiden Fälle von Absonderungssucht rufen in mir die Erinnerung wach an die ablehnende Haltung des Herrenhauses gegenüber den Wünschen der Mitglieder des Abgeordnetenhauses, das bei Erbauung der Landtagsgebäude übrig gebliebene Gartenstück mitbenutzen zu dürfen. Und ferner an die Weigerung des Herrenhauses, mir den Durchgang durch das Herrenhausgebäude nach meiner Dienstwohnung zu gestatten
Den Tagegeldansprüchen von Doppelabgeordneten [im Reichstag und im Abgeordnetenhaus] trat ich im Jahre 1917 in einer längeren Schrift entgegen, die den Akten des Hauses und des Ministeriums einverleibt worden ist. Meine darin ausgesprochene Ansicht wurde von den rechtsverständigen Mitgliedern des Vorstandes durchaus geteilt. Ein höherer Verwaltungsbeamter und Mitglied des Hauses nannte die Schrift eine „Assessorarbeit", was aus solchem Munde schon etwas besagt.
An der Verbesserung und Reinigung der Sprache im Parlamentsbetrieb habe ich von jeher gearbeitet. Die letzte Frucht dieser Arbeit ist der in diesem Jahre von dem Geschäftsordnungsausschuß und von dem Hause angenommene Antrag Just-Graef auf Reinigung der Geschäftsordnung. Ich schrieb dazu eine Begründung, die in den Akten des Hauses zwar nicht enthalten ist, aber in der Be-gründungsrede des Antragstellers verwertet wurde Mein Schwager, Geheimrat [Os-bert] Döhl, war hierbei und in Geschäftsordnungsfragen mein verdienstvoller Mitarbeiter.
Erwähnen darf ich noch eine Reihe von ausführlichen Darstellungen der Einrichtungen des Abgeordnetenhauses, die ich unter anderen dem sächsischen, bayrischen, dänischen, österreichischen, japanischen Parlament und der in der Bildung begriffenen Russischen Duma geliefert habe. Die letzte und erschöpfendste Arbeit dieser Art ist die in den Akten des Abgeordnetenhauses unter Nr. III 419 enthaltene Zusammenstellung vom 10. Februar 1918, die ich für die werdende polnische Volksvertretung angefertigt habe. Sie ist, wie mir polnische Mitglieder des Hauses erzählten, in Warschau beifällig und dankbar aufge-nommen worden. Noch kurz vor dem Kriege besuchte mich ein Beamter des englischen Unterhauses, nachdem ich mich 1909 mit meinem Kollegen Sir Courtenay Ilbert im Londoner Parlamentshause unterhalten hatte. Aus eigener Anschauung kenne ich ferner die Parlamentsgebäude von München, Budapest, Sofia, Athen, Brüssel, Riga und Mitau.
Aus der neuesten Zeit führe ich eine kleine Arbeit über die parlamentarischen Erfordernisse bei Einsetzung einer Regentschaft an, die, wenn auch nicht in dienstlicher Form in die Akten des Staatsministeriums gelang sein dürfte. Durch die Ereignisse der letztei Tage ist sie natürlich ganz überflüssig ge worden. 3. Gemeinnützige und Vereinstätigkeit Vor vielen Jahren war ich einmal unbesolde tes, aber arbeitendes Vorstandsmitglied eine vegetarischen Konsumgenossenschaft. In dei Jahren 1886 und 1890 war ich auf der nacl Tausenden zählenden Versammlung Deut scher Naturforscher und Ärzte und bei den noch zahlreicheren Internationalen medizini sehen Kongreß als Büro-und Kassenleiter tä tig. a Später bekleidete ich mehrere Jahre hindurcl unter der Oberleitung des früheren Finanzmi nisters Hobrecht das Ehrenamt eines Ge schäftsführers der Deutschen Pestalozzistii tung, einer zum hundertsten Geburtstage de großen Volkserziehers begründeten Anstall in der arme Waisenkinder durch einklassige: Schulunterricht, verbunden mit praktische Tätigkeit in Landwirtschaft und Viehzuch unter Leitung ihres Lehrers und Hausvaters nach pestalozzischen Grundsätzen erzöge: werden. Ich bewirkte in diesem Amt aus eige nem Antriebe den Verkauf des Grundbesitze der Stiftung vor den Toren Berlins mit einer Erlöse von fast 2 Millionen Mark und sorgt für die Beschaffung eines Grundstücks zur Aufbau neuer Anstaltsgebäude.
Als ehrenamtlicher Geschäftsführer eine Kriegsstiftung beschäftigte ich mich in de: Jahren 1916 und 1917 eingehend mit der Wai senerziehung. Ich studierte, zum Teil an Oi und Stelle, die Geschichte und die Einrichtun gen der August Hermann Franckeschen Stil tungen in Halle an der Saale, der [Marie] Na thusiusschen Anstalten in Neinstedt am Harz des Rauhen Hauses in Hamburg u. a.
Im Beamtenvereinswesen konnte ich mic nach meiner Beförderung zum Direktor niet mehr in dem früheren Maße betätigen. Der ei genartige Dienst verbot mir den Besuch de abendlichen Vereinssitzungen. Die letzte Ai beit im Beamtenwesen ist ein Aufruf an di Deutsche Beamtenschaft zur Beteiligung a der Kriegsanleihe. Er wurde zunächst von ei nigen Führern, dem Vorsitzenden des Verbar des Deutscher Beamtenvereine und desse Vertreter, überaus kalt aufgenommen, fan dann aber in einer auf meine Veranlassun veranstalteten Versammlung von mehr al 60 Verbandsvorsitzenden erfreulichen Ar klang Auch der Erfolg wird gut gewesen sein, wie ich aus dem überraschenden Ergebnis im Kreise der Beamten des Abgeordnetenhauses schließen darf.
Als Sohn einer kinderreichen, in den dürftigsten Umständen lebenden Arbeiterfamilie und selbst Vater von 5 Kindern beschäftigte ich mich von jeher gern mit der Bevölkerungspolitik, insbesondere mit der besseren Versorgung der kinderreichen gering besoldeten Beamten. Ich bin Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik und habe als Mitglied ihres Sonderausschusses für Beamtenwesen im Jahre 1917 eine Bittschrift über die Teuerungszulagen an alle deutschen Regierungen und Volksvertretungen verfaßt, auch zahlreiche Aufsätze für Beamten-, Offiziers-, und Soldatenblätter und Tageszeitungen geschrieben Im Dienste des Abgeordnetenhauses gab ich dieser meiner Lieblingsbeschäftigung schon vor dem Kriege Ausdruck durch die verkappte Einführung von laufenden Kinderzulagen für die Lohnange-stellten des Hauses und von einmaligen Geburtsprämien Auch die Schaffung eines besonderen Ausschusses für Bevölkerungspolitik im Abgeordnetenhause darf ich auf mein Betreiben zurückführen. Entsprechende Anträge habe ich aus eigenem Antriebe verfaßt und mit Hilfe von verständnisvollen Mitgliedern des Hauses zur Annahme gebracht Von meinen Gönnern und Helfern nenne ich hier nur den verehrten Abgeordneten [Wilhelm] Linz den fruchtbaren Dr. [Martin] Faßbender (Herausgeber eines großen Werkes über Bevölkerungspolitik), den rastlosen Dr. [Joseph] Heß und den verdienstvollen ersten Vorsitzenden des neuen Ausschusses, Abgeordneten Paul Hirsch Mei-ne Ansichten auf dem Gebiet der Teuerungszulagen und der künftigen Besoldungsregelung sind niedergelegt in einer ohne Namensnennung in drei Auflagen erschienenen Schrift: Teuerungszulagen und Bevölkerungspolitik. Ein Wort für unsere darbenden Beamtenkinder [3. Auflage 1917],
III. Vom „Dreiklassenparlament" zur demokratischen Volksvertretung
Am 12. November 1918 rief die neue Preußische Staatsregierung alle Beamten und Angestellten auf, „ihre Tätigkeit auch unter den veränderten politischen. Verhältnissen fortzu-setzen" Auch die revolutionäre Regierung war — „ganz besonders im Interesse der schwer gefährdeten Volksernährung" — auf die Loyalität und Mitarbeit der Angestellten und Beamten angewiesen. So verebbte die revolutionäre Welle vor den Amtsstuben. Für radikale Neubesetzungen der leitenden Positionen waren ohnehin weder Pläne noch das dazu nötige Reservoir an Spezialisten vorhanden.
Vorübergehend zogen nun die revolutionären Räte in das Abgeordnetenhaus ein. Der Vollzugsrat der Berliner Arbeiter-und Soldatenräte richtete hier seine Büros ein. Am 16. Dezember 1918 traten im festlich geschmückten Plenarsaal des Abgeordnetenhauses 514 Delegierte zum ersten Rätekongreß zusammen. Die sozialdemokratische Mehrheit sprach sich für die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung aus.
Die Wahlen für die Nationalversammlung wurden für den 19. Januar, die Wahlen für die verfassunggebende Preußische Landesversammlung auf den 26. Januar 1919 angesetzt. Mit der Einberufung der Landesversammlung am 13. März endete die revolutionäre Phase, begann für August Plate ein neuer Abschnitt. Wie weit die revolutionären Organe, die im Abgeordnetenhaus tagten oder Büros einrichteten, auf die alte Verwaltung zurückgriffen, ist nicht bekannt, jedenfalls besorgten Stenographen aus dem „Büro des früheren Abgeordnetenhauses“ die Niederschrift des Kongresses, den man ohne den eingespielten Verwaltungsapparat des Hauses wohl kaum hätte veranstalten können Der vom Kongreß gewählte, im ehemaligen Herrenhaus residierende Zentralrat zur parlamentarischen Überwachung des Rates der Volksbeauftragten, der revolutionären Reichsregierung, und der preußischen Regierung richtete ein eigenes Zentralbüro ein, dessen Leitung der Arbeiter-sekretär und Berliner Stadtverordnete Adolf Ritter, ein ehemaliger Schneider, übernahm
Die Sozialdemokratie zog als stärkste Fraktion in die Landesversammlung ein. Das Ziel einer sozialistischen Mehrheit wurde jedoch deutlich verfehlt So etablierte sich auch in Preußen eine Notgemeinschaft aus Sozialdemokraten, Demokraten und Zentrum, die Weimarer Koalition, die dem Lande, wie Otto Braun in seinen Memoiren schreibt, „eine gewisse Stabilität und Kontinuität" sicherte. Der Kapp-Putsch im März 1920 veränderte die innenpolitische Situation im Reich und in Preußen „völlig" Paul Hirsch trat unter dem Druck seiner Partei als Ministerpräsident zurück. Der Nachfolger, O. Braun, forderte in der Landesversammlung die unnachsichtige Bestrafung der am Kapp-Putsch beteiligten Beamten. Die Polarisierung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft nahm zu und brachte bei den folgenden Wahlen einen deutlichen Rechtsruck.
Mit der Einberufung der Landesversammlung begann in der Karriere von August Plate mehr als nur ein neue? Lebensabschnitt. Schon bald deutete alles auf einen neuen „Frühling", an den der Parlamentsdirektor in der Revolutionsnacht nicht recht zu hoffen gewagt hatte.
Alterspräsident Carl Herold eröffnete am 13. März 1919 die Preußische Landesversammlung, die den Vorsitzenden des Zentralrats der Deutschen Sozialistischen Republik, Robert Leinert (1873— 1940), seit der Revolution Oberbürgermeister von Hannover, zu ihrem Präsidenten wählte Der neue Präsident, der seine Kindheit im Armenhaus verbracht hatte, und der alte Bürodirektor kannten sich seit 1908, als Leinert — der einzige außerhalb Berlins gewählte Sozialdemokrat — in das Abgeordnetenhaus einzog. Am 9. Mai 1912, nach der Anwendung des „Hausknechtsparagraphen“ durch den Präsidenten v. Erffa, hatte Leinert unter dem Beifall der Sozialdemokraten ausgerufen: „Ich bedauere nur, daß ich in dem Augenblick, als ich überfallen wurde, nicht bewaffnet gewesen bin, um mich gegen diese infame Beeinträchtigung meiner verfassungsmäßigen Rechte zu schützen" Nun war Leinert Präsident und Plate, der Vorgesetzte jener „Beamten des Hauses", die auf Anordnung v. Erffas den Abgeordneten Borchardt dem Polizeileutnant zeigen mußten, sein erster Diener. Diese Vergangenheit, wenn nicht vergessen, zählte doch wenig. Die Landesversammlung brauchte eine Geschäftsordnung. Bei der Neufassung konnte die Mitarbeit Plates, des besten Kenners der „Materie", nur nützlich sein. Bereits in der ersten Sitzung brachte Alterspräsident Herold einen von allen Parteien unterstützten Antrag ein, „die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses in der Fassung vom 4. Juli 1918 unter Wegfall aller durch die Umwälzungen hinfällig gewordenen Bestimmungen als vorläufige Geschäftsordnung der Landesversammlung" zu übernehmen. Zugleich-forderte der Antrag die Einsetzung eines Ausschusses mit der Aufgabe, eine endgültige Geschäftsordnung auszuarbeiten. Zu den Neuerungen der vorläufigen Geschäftsordnung zählte der Fortfall des berüchtigten „Hausknechtsparagraphen". Der Antrag wurde gebilligt und ein Ausschuß von 21 Mitgliedern eingesetzt, der unter Vorsitz des Sozialdemokraten Wilhelm Siering am 27. März zu seiner ersten Sitzung zusammentrat
Im Plenum wurde am 11. April 1919 zum erstenmal über die Vorlage einer neuen Geschäftsordnung debattiert. Der Präsident, der nach der alten (und neuen) Geschäftsordnung an den Sitzungen der Ausschüsse „mit beratender Stimme teilnehmen" konnte, hatte Plate zu seinem „Vertreter bestellt". Leinert schickte nun auch im Plenum den Direktor zur Rednertribüne. Als „Vertreter" des Präsidenten nahm Plate am 11. April Stellung zur Vorlage. Plate verteidigte den Vorschlag des Ausschusses, Anträge ohne Gesetzentwurf in nur einmaliger Beratung zu erledigen, gegen den Vorwurf, dadurch eine parlamentarische Minderheit vergewaltigen zu wollen. Anhand der Geschäftsordnungen des Abgeordnetenhauses, des Herrenhauses, des Reichstages und der Nationalversammlung, aber auch der Übung des Unterhauses — „man hat dort keine festen Vorschriften, sondern sammelt Regeln und Gewohnheiten" —, der Geschäftsordnungen des österreichischen Abgeordnetenhauses, der französischen Deputiertenkammer und der belgischen Kammer suchte Plate nachzuweisen, daß dort in der Regel weit schärfere Vorschriften üblich waren, „um die Zeit des Hauses zu schonen". Eine Gewähr gegen die „Abwürgung" oder „Vergewaltigung“ einer Minderheit in den Ausschüssen — so schloß Plate seine in der deutschen Parlamentsgeschichte wohl einzigartige Wortmeldung — werde schon dadurch verhindert, „daß auf Antrag von 15 Mitgliedern ein Ausschuß wegen der Führung seiner Geschäfte zur Rechenschaft gezogen werden und daß ihm eine Vorlage genommen und einem anderen (Ausschuß) übertragen werden kann. Bis-her waren die Ausschüsse bekanntlich souverän"
Die wenig glückliche Bezugnahme Plates auf die Geschäftsordnung des alten Herrenhauses gab Adolph Hoffmann (USPD) Gelegenheit zu einer beißenden Replik. Zur Wortmeldung selbst bemerkte Hoffmann spöttisch: „Ich freue mich ja, daß wir heute mal eine Neuerung hier zu verzeichnen haben, daß unser Herr Bürodirektor das Wort genommen hat. (Zuruf: Warum nicht!) — Habe gar nichts dagegen, es ist sogar sehr angenehm! Ich habe neulich selbst gebeten, der Herr Bürodirektor möchte doch das Wort nehmen als der berechtigtste Ausleger unserer Geschäftsordnung. Da hat es der Herr nicht getan, weil wir im Rechte waren.“
Dieser Hieb galt dem Präsidenten Leinert, die Prügel erhielt der „Herr Bürodirektor". Die Landesversammlung folgte jedoch dem Vorschlag Plates. Nach der Annahme der Abänderungsanträge zur vorläufigen Geschäftsordnung am gleichen Tag würdigte der Berichterstatter des Ausschusses, der Demokrat Ernst Meyer, abschließend die Mitarbeit Plates:
„Ich möchte deshalb heute die Gelegenheit benutzen, hier zu betonen, daß die sehr schwere und umfangreiche Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses eine außerordentlich wertvolle Grundlage in der Vorlage des Herrn Direktors erhalten hat, einer Vorlage, die in gleicher Weise in sachlicher Beziehung den wichtigsten Gesichtspunkten, der Macht und dem Ansehen des Hauses, dem Schutze der Minderheiten und der leichten Erledigung der Geschäfte Rechnung trägt und in formeller Beziehung durch schönen Aufbau und reine Sprache ausgezeichnet ist. Der Ausschuß hat dem Herrn Direktor seinen Dank dafür ausgesprochen, und er zweifelt nicht, daß bei der fortschreitenden Beratung das Haus diesen Dank vollauf teilen wird. (Bra-vo!)“ • Die Beratungen im Ausschuß über die endgültige Geschäftsordnung zogen sich dann noch fast ein Jahr hin. Am 10. Februar 1920 legte der Ausschuß einen endgültigen Entwurf der Geschäftsordnung vor Der Entwurf sah entscheidende Neuerungen vor. So wurden jetzt die Fraktionen und der Ältestenrat ausdrücklich durch die Geschäftsordnung anerkannt. Im Gegensatz zu Gesetzentwürfen, Verordnungen und Staatsverträgen, die wie bisher in drei Lesungen behandelt werden sollten, wurde für Vorlagen eine einmalige Beratung empfohlen. Interpellationen erhielten die Bezeichnung Große Anfragen, bei der Besprechung dieser Anfragen war die Einbringung sachlicher Anträge zulässig. Nicht ohne Bedeutung für die Praxis war auch der Vorschlag, für Reden eine Höchstdauer festzulegen, falls der Ältestenrat dies auf Grund eines mit dreiviertel Mehrheit gefaßten Beschlusses beantragte.
Die Sachkenntnis Plates wurde vom Ausschuß und vom Plenum anerkannt, seine Vor
Schläge fanden jedoch nicht immer Zustimmung. So hatte Plate nach dem Vorbild des Unterhauses die „Einführung" eines Regelbuches für noch nicht erprobte, erst nach längerer Übung in die Geschäftsordnung aufzunehmende Neuerungen empfohlen Diese Anregung wurde jedoch von der Mehrheit des Hauses verworfen. Am 28. Februar 1920 nahm die Landesversammlung nach Abschluß der Beratungen die Geschäftsordnung an. Die revidierte Geschäftsordnung vom 24. November 1921 übernahm „im wesentlichen die Bestimmungen der Geschäftsordnung vom 28. Februar 1920 Der „Entwurf" Plates hatte sich als eine tragfähige Synthese aus allgemein bewährten Regeln des parlamentarischen Geschäftsgangs und den durch „Umwälzungen" notwendig gewordenen, längst überfälligen Neuerungen erwiesen. Die späteren Korrekturen berührten nicht den Kern des Plateschen Entwurfs. Der Versuch, mit Hilfe einer Ge-
schäftsordnungsänderung im Frühjahr 1932 die Wahl eines „Nazi-Ministerpräsidenten" zu verhindern und die Amtsführung des preußischen Kabinetts in der Phase des parlamentarischen Niedergangs zu stabilisieren, schlug fehl Es gab keine „anderen Mittel", die Geschäftsordnung auszulegen, „als daß das Haus die Geschäftsordnung auslegt, und das Haus hat keine anderen Mittel, die Geschäftsordnung auszulegen, wie seine Mehrheit"
IV. Ein Monarchist als Diener der Republik?
Das Vertrauensverhältnis zwischen Robert Leinert, dem sozialdemokratischen Präsidenten der Landesversammlung, und August Plate, dem alten und neuen Bürodirektor, war spätestens im Sommer 1920 zerrüttet. Am l. Juni 1920 beantragte Plate mit Bezug auf § 13 der Verordnung über die einstweilige Versetzung der unmittelbaren Staatsbeamten in den Ruhestand die Versetzung in den gesetzlichen Ruhestand. Nach einer Anweisung der Preußischen Staatsregierung vom 12. Juli 1919 lag die Beweislast in diesem Falle beim Gesuchsteller. Der Beamte hatte „glaubhaft" zu machen, „daß die Umgestaltung des Staatswesens den Grund für sein Gesuch bildet", andernfalls der Versetzung nicht stattzugeben sei
Vor dem Hintergrund der von der Landesversammlung lobend anerkannten Aktivität Plates wirft das an den Präsidenten der verfassunggebenden Landesversammlung gerichtete Entlassungsgesuch mehr Fragen auf, als es auf den ersten Blick zu beantworten scheint:
„Auf Grund des § 13 der Verordnung vom 26. Februar 1919 (Gesetzsammlung Seite 33) beantrage ich hiermit, mich zum 1. Oktober d. J. mit dem gesetzlichen Ruhegehalt in den Ruhestand zu versetzen.
Ich versichere, daß ich diesen Antrag . infolge der Umgestaltung des Staatswesens'stelle. Ich bin überzeugter Anhänger der monarchischen Staatsform. Es dürfte ferner genügend bekannt sein, daß ich auch außerdem mit dem Geiste durchaus nicht Einverstanden bin, der durch die Staatsumwälzung heraufgeführt worden ist, der je länger je mehr in der Verwaltung und unter den Beamten und Angestellten um sich greift und den ich, vom Standpunkte des Staats-und Gemeinwohls aus betrachtet, für verderblich halte.
Diese Überzeugung macht es mir zu meinem schmerzlichen Bedauern unmöglich, noch länger in einer Verwaltung zu arbeiten, der ich 38 Jahre lang, davon 19 in leitender Stellung, mit Hingebung gedient habe"
Gewiß, Plate war in der Monarchie bis zur letzten Sprosse einer bürokratischen „Laufbahn" geklettert. Der Rote Adlerorden 3. Klasse mit Schleife, Schwertern und Schwertern am Ringe, der Königliche Kronenorden 3. Klasse, oldenburgische und sächsische Ehrenzeichen sowie die Rote-Kreuz-Medaille in Silber legten auch äußerlich davon Zeugnis ab. Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei war in der Tradition der preußisch-deutschen Parlamentsverwaltung ausgeschlossen, das Bekenntnis zum Kolonialgedanken, durch Mitgliedschaft in der Deutschen Kolonialgesellschaft nachgewiesen, kein Akt der politischen Demonstration. In der Verknüpfung der „kleinen Angelegenheiten" des eigenen Lebens und Berufs „mit den höchsten Belangen des Vaterlandes" hatte Plate vor 1918 innere Befriedigung gefunden. Im „Rückblick" klingt bei aller Sorge über die weitere Entwicklung auch vorsichtige Kritik an Personen (v. Kröcher, v. Erffa), aber auch an den sozialen Verhältnissen der Zeit an. Die Erstarrung des gesellschaftlichen Lebens mußte gerade der „Aufsteiger" erfahren. über Wilhelm II. und das „monarchische System" verliert Plate im „Rückblick" kein Wort. Auch eine mögliche Regentschaft wird nur unter dem Gesichtspunkt der „parlamentarischen Erfordernisse" erwähnt.
Was bewog Plate nun zu diesem Bekenntnis? War es nur die Notwendigkeit, sein Gesuch „glaubhaft" machen zu müssen? Oder hatte Plate in der Revolutionsnacht, aus welchen Gründen auch immer, seine innersten Ansichten verschwiegen? Nun ist nicht anzunehmen, daß Plate in diesem Fall in den langen Dienstjahren vor der Revolution seine Ansichten verhehlt hätte. Gerade Leinert wären sie wohl kaum verborgen geblieben. Sachverstand reichte allein nicht aus, dem alten Bürodirektor Gelegenheit zu geben, eine neue Geschäftsordnung auszuarbeiten. Die Tatsache der Mitarbeit Plates an der Neufassung der Geschäftsordnung läßt zumindest auf ein allgemein anerkanntes, dienstlich-korrektes Verhalten Plates vor der Revolution schließen. Die Tatsache dieser Mitarbeit ist aber auch Beleg genug für die weitgehende Bereitschaft des Bürodirektors, die „Umwälzungen" zu akzeptieren.
Gibt es andererseits Indizien dafür, daß in die Verwaltung der Landesversammlung ein neuer, verderblicher Geist mit der Revolution eingezogen war? Tatsächlich veränderte sich der Beamtenkörper der Parlamentsverwaltung nach der Revolution zahlenmäßig nur wenig. Allerdings wurde ein größerer Teil des un-ständigen Personals in das Beamtenverhältnis übernommen. So vervierfachte sich gegenüber 1913 die Zahl der Beamten und Hilfsbeamten (31/123) bis 1927, während die Zahl der Angestellten und Arbeiter zusammen sich fast um ein Viertel verminderte (33/220 gegenüber 47/160) Diese sozialen Verbesserungen gefährdeten aber nicht die Tradition parteipolitischer Neutralität bei der Besetzung der Führungspositionen der Parlamentsverwaltung: alle Plate im Amte nachfolgenden Direktoren (Martzy, Döhl und Kienast) standen bereits vor der Revolution im Dienst des Abgeordnetenhauses und traten politisch nicht hervor.
Was also waren die Hindergründe für den überraschenden Schritt Plates im Juni 1920? 93 Der in der Pensionierungsakte erhaltene Schriftwechsel hellt die Zusammenhänge nicht mit letzter Klarheit auf. Im Sommer 1920 teilte Leinert dem Minister des Innern mit, daß Plate bereits am 13. November 1918 in einer Ansprache an die Beamten der Verwaltung und dann erst recht während des Kapp-Putsches seine wahre reaktionäre Gesinnung offenbart habe. Allein die Belegstükke, die ein sicheres Urteil darüber zulassen, fehlen in der Akte.
Leinert sandte am 6. Juni 1920 das Gesuch Plates urschriftlich an das Staatsministerium mit dem Ersuchen um eine Entscheidung und dem Hinweis, daß die Anwendung der Verordnung bei dem Versetzungsantrag eines Stenographen der Landesversammlung verneint worden sei. Der Präsident des Staatsministeriums (O. Braun) reichte das Gesuch „zuständigkeitshalber" am 2. Juli an den Minister des Innern weiter, behielt sich aber „bei der Zweifelhaftigkeit des Falles" vor, „ihn gegebenenfalls im Staatsministerium zur Sprache zu bringen". Am 16. August endlich bat der Innenminister im Einverständnis mit dem Finanzminister Leinert mit Eilpost um Mitteilung, „ob Direktor Plate nach dortiger Auffassung durch die seinem Anträge gegebene Begründung bereits glaubhaft gemacht hat, daß die Umgestaltung des Staatswesens den Grund für das von ihm beabsichtigte Ausscheiden bildet, oder ob die vorliegenden Begleitumstände die Annahme rechtfertigen, daß der Antrag nicht durch die Umgestaltung des Staatswesens veranlaßt ist". Es sei allerdings „nicht angängig", aus dem Fall des ersten Vorstehers des Stenographischen Büros Krause „vorgreifende Beschlüsse" zu ziehen, da „es diesem Beamten nicht gelang, das Vorhandensein eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Umgestaltung des Staatswesens und der von ihm verfolgten Absicht glaubhaft zu machen".
Grundsätzlich hielt der Innenminister (Carl Severing) „eine Beschlußfassung durch das Staatsministerium für geboten, da die Rechtslage keineswegs geklärt ist". Am 26. Juli sprach er sich im Hinblick auf die langjährige Tätigkeit Plates „im Dienste des Staates" für die Genehmigung des Gesuchs aus: „Die verantwortliche Stellung, die er in den letzten Jahren als Bureaudirektor des Abgeordnetenhauses bekleidete, lassen eine Abweichung von der im Falle des Stenographen eingeschlagenen Praxis nicht ungerechtfertigt erscheinen."
Leinert äußerte sich am 26. August auf das Schreiben des Innenministers vom 16. August. Die Darstellung Leinerts ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: „Der Direktor bei der Preußischen Landesversammlung, Geheimer Regierungsrat Plate, hat mir gegenüber früher nicht zum Ausdruck gebracht, daß er ein überzeugter Anhänger der monarchischen Staatsform ist. Auch habe ich im Gegensatz zu den in seinem Gesuche vom l. Juni d. J. gemachten Angaben nicht den Eindruck gewinnen können, daß Herr Plate mit dem durch die Staatsumwälzung herauf-geführten Geiste nicht einverstanden sei. Erst sein Verhalten während des Kapp-Putsches hat mich davon überzeugt, daß Herrn Plates wahre Gesinnung mit der bei ihm vorausgesetzten nicht übereinstimmt und ist mir sein Benehmen seit dieser Zeit immer unerträglicher geworden. — Die Personalakten des Direktors Plate und eine Nachweisung seiner Versorgungsgebührnisse füge ich bei, ebenso das Aktenstück der Preußischen Landesversammlung über den Staatsumwälzungsversuch vom 13. März 1920 (ANr. 14), indem ich auf die darin enthaltenen Verfügungen des Herrn Plate und seiner an die Beamten des Abgeordnetenhauses am 13. November 1918 gehaltenen Ansprache aufmerksam mache".
Die Anlagen fehlen in der Akte. Die Vorwürfe sind daher nicht zu überprüfen. Das Schreiben dokumentiert jedoch, daß Leinert bis zum Kapp-Putsch offenbar seinem ersten Beamten voll vertraute. Merkwürdig ist, daß die Ansprache Plates am 13. November 1918 dem Präsidenten unbekannt blieb oder keinen Anlaß zu Nachforschungen gab. Merkwürdig ist nicht weniger, daß der Präsident den leitenden Beamten nicht von sich aus wegen seines Verhaltens während des Kapp-Putsches zur Rechenschaft zog, wie es Ministerpräsident Otto Braun am 30. März im Landtag allen Beamten angedroht hatte, die sich in das Kapp-Abenteuer eingelassen hatten Mit Sicherheit belegt das Schreiben nur, daß seit dem Kapp-Putsch die Zusammenarbeit zwischen Leinert und Plate „immer unerträglicher" geworden war. Der Ablauf des Kapp-Putsches ist möglicherweise für den Hintergrund der Affäre nicht ohne Bedeutung. Auf der Sitzung am 4. März hatte sich die Landesversammlung bis zum 16. März vertagt. Eine der ersten Kundgebungen der Kapp-Regierung war am 13. März die Auflösung der Landesversammlung „in Anbetracht der veränderten politischen Lage" Noch am gleichen Tag brandmarkte Leinert von Hannover aus dieses „unerhörte, schändliche Beginnen". Gleichzeitig wies er die Abgeordneten darauf hin, daß die Landesversammlung nach der vorläufigen Verfassung nicht aufgelöst werden könne.
Aufständisches Militär besetzte noch am 13. März das Haus und verweigerte den Abgeordneten mit Gewalt den Zutritt. In einer Auseinandersetzung über den Kapp-Putsch gab allerdings der deutschnationale Abgeordnete Dr. Regenborn zu, mit seiner Legitimationskarte in das Haus gelangt zu sein, wie „auch Vertreter anderer Parteien auf dieselbe Weise" Es ist unwahrscheinlich, daß Plate in dieser außergewöhnlichen Situation Verfügungen erlassen hat, die im Nachhinein als offene „Beihilfe und Unterstützung" gewertet werden konnten. Die Pensionierung hätte dann zwar die Auseinandersetzungen mit Lei-nert beenden, nicht aber ein disziplinarisches oder strafrechtliches Verfahren verhindern können. Die Annahme liegt vielmehr nahe, daß Plate — ohne Weisungen des legalen Parlamentspräsidenten — Befehle der Militärs oder der Kapp-Regierung entgegennahm oder ausführte. Das Verbleiben im Ämt allein war mit den Dienstpflichten vereinbar und konnte nicht gerügt werden. Da der Inhalt der Verfügungen Plates vom 13. März nicht erwähnt wird, ist es müßig, darüber zu spekulieren. Immerhin wäre es möglich, daß sich Plate in diesen Verfügungen gegen eine zwar von Ebert, den sozialdemokratischen Ministern und dem Parteivorstand der SPD, nicht aber von der Reichsregierung erlassenen Aufruf zur Arbeitsniederlegung der Beamten ausgesprochen hat. Das würde die allmähliche Zuspitzung der Beziehungen Leinert/Plate und auch die Begründung des Entlassungsgesuchs erklären. Die „Verfügungen" waren jedenfalls so beschaffen, daß für den Präsidenten Stellung und Gesinnung Plates je länger je mehr ins Zwielicht gerieten.
Als Plate bis Ende Juli keine Antwort auf sein Gesuch erhalten hatte, richtete er am 4. August ein zweites Schreiben an Leinert, das die möglichen Zweifel gegen die Anwendbarkeit des § 13 der Verordnung vom 26. Februar 1919 beseitigen sollte.
Auch auf dieses Gesuch erfolgte keine Ant-wort. Daraufhin beantragte Plate mit Schreiben vom 31. August an die Minister des Innern und der Finanzen die Versetzung in den Ruhestand auf Grund § 24 des Zivilpensionsgesetzes vom 27. März 1872. Ärztliche Zeugnisse vom 21. Juni und 30. August 1920 bescheinigten die Dienstunfähigkeit auf Grund langjähriger schwerer Leiden und „infolge der ununterbrochenen aufopfernden Berufsarbeit". Eine Abschrift ging Leinert'zu, der am 3. September vom Innenminister um „Äußerung" gebeten wurde, „ob auch nach dortigem pflichtgemäßen Ermessen der Beamte für unfähig erachtet wird, seine Amtspflichten ferner zu erfüllen". Inzwischen hatte der Präsident des Staatsministeriums am 25. August dem Innenminister mitgeteilt, daß man jetzt der „Ansicht“ sei, „daß glaubhaft gemacht ist, daß die Umgestaltung des Staatswesens den Grund für das Gesuch bildet", ohne damit „der dortigen Entschließung vorgreifen zu wollen". Plate beharrte nun jedoch auf seinem abgeänderten Gesuch; Leinert bescheinigte am 15. September schließlich die Unfähigkeit zur weiteren Erfüllung der Dienstpflichten. Nach monatelangem prozeduralen Tauziehen wurde damit die Zurruhesetzung zum 1. Januar 1921 wirksam.
Die Landesversammlung nahm von der Pensionierung Plates und dem Amtsantritt des Bürodirektors Georg Martzy keine Notiz. Der Beamte, der mit seinem „Kommentar“ (1903) den ersten grundlegenden Beitrag zur deutschen Parlamentswissenschaft geleistet und bei der Neuordnung der Geschäftsordnung des preußischen Parlaments größten Einfluß ausgeübt hatte, geriet in Vergessenheit. Plate hatte sich in seinem Beruf, der sein Leben war, erschöpft. Zwei Jahre nach der Pensionierung verschied August Plate im Alter von 63 Jahren am 21. Oktober 1923 in Strausberg, wo er ein Jahr zuvor Haus und Grund erworben hatte. Wenig später starben auch die beiden bedeutendsten Kollegen Plates: Bernhard Jungheim, seit 1923 vom Reichstag verabschiedet, und Sir Courtenay llbert, der 1921 mit dem besonderen Dank des Unterhauses entlassen worden war.