I.
Im Prolog zu einer wissenschaftlich-politischen Zwischenbilanz, die im Frühjahr 1974 aus Anlaß des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Bundesrepublik, publiziert worden ist, hat der Berliner Politologe Richard Löwenthal einen Beweis für die gleichzeitige Stabilität und Wandlungsfähigkeit dieses Staates gerade darin gesehen, „daß auch die neue Polarisierung in der Bundesrepublik den Konsens der großen demokratischen Parteien über Charakter und Spielregeln unseres politischen Systems nicht erschüttert hat" Im Gegensatz zu dieser Einschätzung steht eine große Zahl wahrer Kassandrarufe, die den drohenden Verfall der verfassungsmäßigen Legitimitätsgrundlage der Bundesrepublik beschwören und zur Verteidigung des Grundgesetzes gegenüber einem vor allem von links gesehenen Generalangriff gegen die Verfassungsordnung aufrufen. Die lebhafte und oft polemische öffentliche und publizistische Diskussion, die in den zurückliegenden Monaten zwischen den beiden großen politischen Lagern über die Funktion und die Zielwerte des Grundgesetzes geführt worden ist, mußte in der Tat zumindest zeitweise den Eindruck hervorrufen, die Verfassung sei nicht mehr die gemeinsame Basis der konkurrierenden politischen Kräfte in der Bundesrepublik, sondern eine Art propagandistischer Frontlinie zwischen den Blöcken. Das „Jubiläumsjahr" des Grundgesetzes war durch einen politischen Generalstreit um die und mit der Verfassung gekennzeichnet, der zwischen Regierungskoalition und Opposition in außergewöhnlicher Schärfe ausgetragen wurde.
Die öffentliche Kontroverse hatte ihre Höhepunkte zwischen der sogenannten Verfassungsdebatte des Bundestages im Februar und dem Jahrestag der Verkündung des Grundge-setzes im Mai 1974. Im Umkreis dieser Daten artikulierten auch Parteiminderheiten und politisch-gesellschaftliche Gruppen im Vorfeld oder außerhalb der Bundestagsparteien ihr Verfassungsverständnis, allerdings mit einer wesentlich geringeren Publizität als die etablierten Parteien. Darüber hinaus waren das Grundgesetz und aktuelle Probleme des Verfassungsverständnisses in verstärktem Maße auch Gegenstand der nicht im engeren Sinne parteigebundenen wissenschaftlichen und politischen Publizistik. Mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom „Verfassungstag" hat die Debatte an Lautstärke und Intensität verloren, ohne daß sich allerdings in den hauptsächlichen Streitpunkten ein tragfähiger Konsens über die Parteigrenzen hinweg schon abgezeichnet hätte. Nach wie vor steht der wechselseitig erhobene Vorwurf im Raum, die jeweils andere Seite betreibe eine parteipolitische Okkupation des Grundgesetzes, um die ausschließliche oder zumindest vorrangige Legitimität eigener Zielsetzungen nachweisen und damit zugleich den politischen Gegner an den Rand der Verfassung und in die Nähe des Verfassungsfeindes drängen zu können. Auch weiterhin scheint die Verfassung für die tagespolitischen Auseinandersetzungen zur Disposition zu stehen: Verfassung als Parteiprogramm.
Der Streit um das richtige Verfassungsverständnis ist gegenwärtig also keine Episode. Nur eine ganz oberflächliche Betrachtung könnte in der bloßen Tatsache, daß in diesem Jahr ein Vierteljahrhundert nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vergangen ist, mehr als den unmittelbaren Anlaß für eine grundsätzliche Verfassungsdiskussion sehen. Vielmehr bündelte die diesjährige Kontroverse nur die verschiedenen politischen Streitobjekte, die schon seit einigen Jahren einen jeweils punktuellen Verfassungsdissens zwischen den beiden politischen Großorganisationen und ihren Interessengruppen sichtbar gemacht haben. Dabei steht außer Frage, daß der Regierungswechsel des Jahres 1969 und dann besonders die seit 1971/72 stärker gewordene innen-und außenpolitische Konfrontation zwischen Regierungskoalition und Opposition — für die sich in der öffentlichen Diskussion schnell der von vornherein negativ besetzte Begriff der Polarisierung gefunden hat — ursächlich mit der Zunahme parteipolitischer Zugriffe auf das Grundgesetz Zusammenhängen. Nahezu alle wichtigen Entscheidungen oder politischen Perspektiven dieser Jahre sind in den politischen Auseinandersetzungen von verschiedenen Seiten mehr oder weniger fest mit verfassungsrechtlichen Bezugspunkten verknüpft worden. Das gilt für die Ankündigung einer umfassenden „Reformpolitik" und für die damit ursprünglich verbundene Regierungsformel „Mehr Demokratie wagen" ebenso wie für konkrete Entscheidungen und politische Zielsetzungen der sozialliberalen Koalition (vor allem im Bereich der Außen-und Gesellschaftspolitik) und die im Zuge der Polarisierüng wieder aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen des Staats-und Demokratieverständnisses. Die Zuspitzung materieller politischer Kontroversen auf die Alternative von Verfassungsvollzug oder Verfassungswidrigkeit fand auf der institutioneilen Ebene ihre Entsprechung in den Auseinandersetzungen um die Funktion des Bundesrates im parlamentarischen Regierungssystem und um die politische Belastbarkeit des Bundesverfassungsgerichts. Innerhalb des Regierungs-bzw. Oppositionslagers traten differenziertere Beurteilungen politischer Vorgänge und Zielsetzungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten in der öffentlichen Kontroverse hinter der Parteiräson eines massiven Konfrontationskurses zunächst weitgehend zurück. Allerdings stellte sich, gerade auch im Hinblick auf die Artikulation des jeweiligen Verfassungsverständnisses, das Problem der inneren politischen Integration der beiden Parteiblöcke unterschiedlich. Für die Öffentlichkeit schien es anfangs nur innerhalb der Regierungsparteien, besonders in der SPD, zu existieren. Vor allem die CDU hat mit der Behauptung operiert, erst die von den Jungsozialisten diskutierte Perspektive einer systemüberwindenden Reformpolitik habe den prinzipiellen Verfassungskonsens der staatstragenden Parteien aufgekündigt, die SPD auf einen tendenziell nicht mehr verfassungskonformen Kurs geführt und damit eine politische Generaldebatte über die Grundlagen der Verfassungsord. nung überhaupt erst nötig gemacht.
Die Frage, wem die verfassungspolitische Polarisierung in erster Linie anzulasten sei, hat in den Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition eine wichtige Rolle gespielt, ohne allerdings zu anderen als wiederum konfliktverschärfenden Antworten zu führen. Spätestens zu Beginn dieses Jahres, nachdem sich die CDU mit ihrer Forderung nach einer grundsätzlichen Verfassungsdebatte im Bundestag durchgesetzt hatte, war indessen nicht mehr zu übersehen, daß die Opposition selbst eine über die Klärung kontroverser Fragen hinausgehende Strategie des parteipolitischen Verfassungskonflikts verfolgte, um sich als die einzige geschlossene politische Kraft auf dem Boden entschiedener Verfassungstreue darzustellen Schon vor dieser parlamentarischen Debatte über das Grundgesetz stand jedenfalls fest, daß sie den Rahmen der vorausgegangenen Auseinandersetzungen kaum verlassen, zugleich aber das politische Klima für die folgenden Diskussionen und Erklärungen zum Verfassungsjubiläum wesentlich vorausbestimmen würde. Der Versuch eines Resümees der diesjährigen parteipolitischen Kontroversen um das Grundgesetz kann also von dieser Debatte ausgehen, zumal sie von den beteiligten Parteien mit der ausdrücklichen Absicht geführt worden ist, ihr jeweiliges aktuelles Verfassungsverständnis vor der Wähleröffentlichkeit darzulegen.
II.
Schon vor der Verfassungsdebatte waren deren mögliche Ergebnisse in den politischen Kommentaren der Presse überwiegend skeptisch beurteilt worden. Angesichts der zurückliegenden Auseinandersetzungen schien es mehr als zweifelhaft, ob es den Bundestags-parteien gelingen konnte, ein gemeinsames VerfassungsVerständnis sichtbar zu machen, das über plakative Bekenntnisse zu den Prin-zipien des Grundgesetzes hinausgehen und gerade die prinzipielle Legitimität unterschiedlicher politischer Zielsetzungen im Rahmen der Verfassung als konstitutive Notwen 3 äqkeit für einen Basiskonsens herausstellen virde
Verlauf und inhaltliche Struktur der Debatte mH und 15. Februar 1974, die von Femseben und Rundfunk direkt übertragen wurde, laben diese Skepsis weitgehend bestätigt.
Zwar gab es zwischen den fast dreißig Dis-
aus Bundestag und Bundesrat zum Teil erhebliche Unterschiede hinsichtlich des inhaltlichen Niveaus und der politischen Zielrichtung der Argumentation.
Aber zumindest für den Fernsehzuschauer süßten die Inhalte der differenzierteren Dis-
kussionsbeiträge hinter der Vordergründigleit kleinlichen Besserwissens, hinter dem Streit um Zitate und Terminologien sowie dem oft leeren Pathos großer Worte und feindselijer Polemik weitgehend zurücktreten. Es lohnt gewiß nicht, darauf hier noch einmal im einzelnen einzugehen Aber die Begleitumstände der Debatte waren doch mehr als bloß bedauerliche Entgleisungen auf beiden Seiten.
Sie formten sich vielmehr zu dem politischen Rahmen, in dem Feindbilder auf die Grundlage der Verfassung projiziert und verfassungsrechtliche Grundbegriffe zu politischen Fahnenwörtern aufgebläht werden konnten. Insofern hinterließ die Bundestagsdiskussion kaum den Eindruck einer „klärenden Debatt .'Sie zog eher die Verfassung noch stärker in die politische Konfrontation hinein als daß sie wesentlich dazu beigetragen hätte, die oft genannte „Basis“ des Grundgesetzes als Rahmen für die Austragung politischer Konflikte auch für eine breitere Öffentlichkeit verständlich und überzeugend zu thematisieren. Im Hinblick auf die damals anstehenden Landtagswahlen hatte die Verfassungsdehatte ferner durchaus den Charakter einer Wahlkampfveranstaltung. Die Diskussionsbeiträge, die das argumentative Gespräch über die Parteigrenzen hinaus suchten und teilweise auch fanden, waren deutlich in der Minderzahl.
Der Debatte im Bundestag lag ein Entschließungsantrag zugrunde, den die CDU/CSU-Fraktion Ende 1973 eingebracht hatte und dessen Titulatur („Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland“) und Begründungszusammenhang bereits vermuten ließen, daß die Opposition die Plenardiskussion über aktuelle Probleme des Verfassungsverständnisses offensiv gegen die politische Linke zu führen gedachte. Ganz offensichtlich war der Antrag seiner Tendenz nach darauf gerichtet, vor allem Probleme des Schutzes der Verfassung zu behandeln. Diese Zielrichtung, wie auch die Tatsache, daß die Debatte ursprünglich für den historisch nicht unbelasteten 18. Januar beantragt worden war, wurden außerhalb des Oppositionslagers scharf kritisiert. Keineswegs nur linke Kritiker vermuteten im Vorgehen der CDU die Absicht, sich nach ihrer Verdrängung aus der Rolle der „Staatspartei" nunmehr als „Verfassungspartei“ darzustellen Die apodiktische Sprache und die beiden inhaltlichen Schwerpunkte des Antrages: negativ die Kampfansage gegen „Verfassungsfeinde“ in staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen, positiv das kompromißlose Bekenntnis zum politischen Ordnungsmodell der sozialen Marktwirtschaft, mußten ihn im Rahmen einer Generaldebatte über das Grundgesetz für die Regierungskoalition von vornherein als ein nicht konsensfähiges Abgrenzungspapier erscheinen lassen. Die Regierungsparteien legten einen Tag vor der Debatte einen Alternativ-Antrag vor, der in allgemeiner gehaltenen Wendungen ein Bekenntnis zu den „Wert-und Zielvorstellungen des Grundgesetzes“ formulierte und im Gegensatz zum Antrag der Opposition besonders auf die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus des Sozialstaates abhob
Der Antrag der Opposition wurde von dem hessischen CDU-Abgeordneten Dregger begründet Obwohl der Entschließungsantrag und seine Zielrichtung offenbar auch in-nerhalb der CDU selbst umstritten waren kann die Dregger-Rede doch als Ausdruck für die Mehrheitsmeinung innderhalb der CDU/CSU angesehen werden, zumal dies mehrere Sprecher der Fraktion, besonders auch ihr Vorsitzender Carstens, ausdrücklich betonten. Nach Auffassung der CDU/CSU lagen Notwendigkeit und Sinn einer Verfassungsdebatte im Bundestag darin, „Klarheit zu schaffen, die in lezter Zeit in Frage gestellten Verfassungsgrundsätze zu bekräftigen und auf diese Weise das Vertrauen in den demokratischen Staat wiederherzustellen, bei den Bürgern drinnen und bei den Nachbarn draußen“ (Dregger, S. 5005), und die Frage zu beantworten, „ob innerhalb der einzelnen demokratischen Parteien dieser Republik das Grundgesetz noch die gemeinsame Basis ist" (Filbinger, S. 5058)
Charakteristisch für die inhaltliche Struktur der Reden Dreggers und anderer Sprecher der Opposition waren die Verklammerung und der Austausch jeweils unterschiedlicher Ebenen der Argumentation, Einerseits wurden politische Zielaussagen durch Begriffe des Verfassungsrechts abgestützt, gleichzeitig aber der Bedeutungsgehalt von Verfassungsnormen direkt oder indirekt aus eigenen politischen Wertentscheidungen abgeleitet. Die sich daraus notwendig ergebene Aufladung der Verfassung mit einem spezifischen Parteiinteresse ist gegenwärtig zwar keineswegs ein Kennzeichen allein konservativer Politik. Sie ist ebenso in bestimmten Gruppen der Linken als der Versuch erkennbar, aus allgemeinen Normen und Sätzen der Verfassung ein genaues 'und verbindliches inhaltlich-organisatorisches Politikmodell abzuleiten. Dennoch ist ein grundlegender Unterschied nicht zu übersehen: Alternative (und das heißt gegenwärtig: linke) Verfassungsinterpretationen müssen ihren auf Veränderung zielenden Ansatz ausdrücklich formulieren und offenlegen, wobei eben totale oder punktuelle Okkupationen der Verfassung relativ leicht zu durchschauen sind. Demgegenüber* kann sich das veröffentlichte konservative Verfassungsverständnis noch in der politischen Offensive defensiv artikulieren, sofern es nur gelingt, die verfassungspolitische Argumentationslinie bereits im Vorfeld eigener Interessen anzulegen. In letzter Konsequenz muß dies bedeuten, den eigenen, quasi absoluten Anspruch auf „Verfassungstreue" dadurch zu verdecken, daß dem politischen Gegner einerseits die unbedingte Verfassungstreue abgesprochen, ihm aber andererseits ein absoluter Anspruch auf die Verfassung unterschoben wird. Zumindest der Tendenz nach wurde diese Strategie in der Bundestagsdebatte von der CDU/CSU verfolgt
Die Verknüpfung eigener politischer Präferenzen (die als solche im Rahmen des Grundgesetzes zweifellos legitim sind) mit verfassungsrechtlichen Argumenten wurde besonders in den Reden von Dregger (S. 5007 f.), Filbinger (S. 5065 f.) und Carstens (S. 5174 f.)
deutlich Zwar wurde von Dregger und Carstens durchaus eingeräumt, daß die Frage des Wirtschaftssystems nicht unmittelbar eine Frage des Verfassungsrechts, sondern primär eine solche der politischen Entscheidung sei. Die Begründung der eigenen politischen Option in dieser Frage nahm jedoch den eigentlichen Sinn dieser Formulierung wieder zurück, indem über den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes doch wieder ein „innerer Zusammenhang" zwischen der sozialen Marktwirtschaft und dem „Fortbestand und der Verwirklichung unserer Verfassungsordnung" (Dregger, S. 5008) hergestellt wurde.
Ähnlich wie Dregger argumentierte der Fraktionsvorsitzende Carstens, der im Hinblick auf die Möglichkeit von Sozialisierungen die Auffassung vertrat, daß damit die „wirtschaftliche Leistungsfähigkeit" und der „Freiheitsspielraum des einzelnen Menschen" verringert würden. „Aber was wir noch mehr befürchten, ist, daß, falls man die sozialistische Reform, die . . . nach unserer Meinung keine Reform wäre, in unserem Lande einführte, dies dann allerdings die letzte Reform wäre, zu der unser Land mit friedlichen Mitteln in der Lage wäre. . . . Dann würde ein riesiger Apparat, sei es ein staatlicher, sei es ein Apparat anderer Organisationen, sich über unser Land, über unsere Wirtschaft, über unsere Gesellschaft stülpen, und es würde zu der Er-j starmng durch den Apparat führen, deren Zeugnis wir in all den Ländern finden, die seit 10, 20, 30 oder 40 Jahren mit Versuchen dieser Art experimentieren" (S. 5174).
Zwar hat kein Redner der Opposition der SPD direkt unterstellt, sie erstrebe ein politisches Zielmodell in der von Carstens skizzierten Art. Da jedoch der von der CDU gebrauchte Sozialismus-Begriff definltorisch an einem solchen Negativ-Modell aufgehängt wurde, konnte daraus die Behauptung abgeleitet werden, sozialdemokratische Reformpolitik laufe per se Gefahr, In Richtung einer „sozialistischen Diktatur'umzukippen. In der Debatte richtete sich diese Argumentation zwar in erster Linie gegen die Jungsozialisten; letztlich zielte sie aber auf die SPD als Ganzes. Denn die Opposition konzentrierte sich darauf, die tatsächlichen Differenzen innerhalb der Sozialdemokratie hinsichtlich der Integration divergierender politischer Positionen in der Partei als Ausdruck ihrer mangelnden Fähigkeit zur Geschlossenheit auf dem Boden des Grundgesetzes zu thematisieren Die Stoß-richtung der Juso-Debatte zielte aber tiefer. Mit großer Erbitterung wurde zwischen CDU/CSU und SPD über die inhaltliche Bedeutung der meistzitierten Formulierung des Godesberger Programms der Sozialdemokratie („Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt") gestritten, nachdem Dregger in seiner einleitenden Rede der SPD vorgeworfen hatte, diese Zielaussage sei „antipluralistisch, antidemokratisch und im Grunde totalitär“ (S. 5005) Dieser massive Angriff der CDU/CSU ist ein deutlicher Beleg für ihren Versuch, politische Konfliktlinien zwischen den Parteien in ihrer Argumentation so mit verfassungsrechtlichen Bezugspunkten zu verbinden, daß der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit jederzeit für die politischen Auseinandersetzungen verfügbar ist
Mit dieser Feststellung wird die prinzipielle Legitimität verfassungsrechtlicher Fragestellungen in der politischen Kontroverse zwischen Opposition und Regierung natürlich keineswegs angezweifelt. Das gilt auch für das Thema „Demokratie und Gesellschaft“ als dem eigentlichen Zentralproblem der gegenwärtigen Kontroversen um die Auslegung des Grundgesetzes. Mit ihrer Argumentation in der Verfassungsdebatte hat die CDU/CSU-Opposition jedoch zu erkennen gegeben, daß ihr primär daran gelegen war, inhaltlich-politische Differenzen zwischen den Parteien in den damit zusammenhängenden Fragen durch den okkupatorischen Rückgriff auf interpretationsbedürftige und damit auch der politischen Diskussion nicht entzogene Verfassungsnormen vor der Wähleröffentlichkeit von vornherein für sich zu entscheiden.
Wo die Reaktion der Regierungsparteien, besonders der mancher Redner der SPD, vornehmlich in der Zurückweisung vorausgegangener Angriffe der Opposition bestand, trugen ihre Ausführungen ebenfalls nur wenig zur Klärung der kontroversen Grundfragen des gegenwärtigen Verfassungsverständnisses bei. Die Neigung zu einer „Bekenntnisorgie“ in Sachen Verfassungstreue, vor der der FDP-Abgeordnete Hirsch warnte (S. 5026), gab es nicht nur bei der Opposition, und auch bei der SPD fehlte es nicht an Versuchen, Argumenten der Gegenseite durch inhaltlich wenig erhellende Gegenangriffe auszuweichen.
Immerhin gab es auf beiden Seiten des Bundestages Beiträge, in denen Diskussionsanstöße gegeben und aufgenommen wurden und die über bloße Feststellungen und Behauptungen hinaus zum Versuch politischer Analyse vorstießen. Nicht zu Unrecht sind besonders die Reden des CDU-Abgeordneten von Weiz-säcker (S. 5149 ff.) und der Bundesminister Ehmke (S. 51588 ff.) und Maihofer (S. 5139 ff.) als das „eigentliche K* ernstück der Debatte bezeichnet worden Hier wie in einer Reihe weiterer Reden aus allen drei Fraktionen wurde die Ebene bloßer Bekenntnisse verlassen und statt dessen versucht, Erkenntnisse zur Diskussion zu stellen und die Prämissen der Argumentation offenzulegen. Voraussetzung für die kontroverse politische Diskussion über das Grundgesetz und im Rahmen des Grundgesetzes waren der Verzicht auf die Fortführung des polemischen Streites um den „Kernbestand“ der Verfassung, der entgegen der Begründung des CDU-Antrages auch in der Regierungskoalition nicht umstritten ist, und auf die direkte oder indirekte Ableitung politischer Zielsetzungen aus den Normen des Grundgesetzes.
Die Anerkennung der Tatsache, daß innerhalb des Verfassungsrahmens die Verfolgung unterschiedlicher, sich gegenseitig ausschließender, aber gleichwohl verfassungskonformer politischer Konzeptionen möglich ist bedeutete zwar nur einen Minimalkonsens. Aber dieser war in der Verfassungsdebatte das Optimum des im Hinblick auf ein gemeinsames Verfassungsverständnis der drei Fraktionen überhaupt Erreichbaren. Insofern erhielt das Selbstverständliche in der Debatte eine aufklärerische Funktion, indem es der parteipolitischen Indienstnahme der Verfassung die Möglichkeit einer Grundübereinstimmung hinsichtlich der Legitimität von Alternativen gegenüberstellte. Zentrales Thema dieser Beiträge waren die politischen und verfassungsrechtlichen Probleme, die mit der sozialstaatlichen Interpretation der Grundrechte Zusammenhängen. In Ansätzen wurde der Versuch erkennbar, verfassungsrechtliche Grundbegriffe wie „Freiheit“ und „Gleichheit“ in Anknüpfung an die Demokratisierungsdiskussionen der zurückliegenden Jahre zu problematisieren. Zwar führten die verschiedenen Beiträge nicht über die Positionen hinaus, die von den Parteien schon in den vorangegangenen politischen Auseinandersetzungen bezogen worden waren; es wurde aber immerhin deutlich, daß die Diskussion über die unterschiedlichen Auffassungen „von Freiheit und gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen von Freiheit“ (Ehmke, S. 5147) nicht an den Tabugrenzen der Wirtschaftsordnung haltmachen kann, wenn sie über den Austausch leerformelhafter Erörterungen hinaussführen soll.
Aber auch die reflektierteren Partien der Verfassungsdebatte blieben in die harte Konfrontation zwischen Opposition und Regierung im Streit um das richtige Verfassungsverständnis einbezogen, so daß gerade in der Diskussion der zentralen politischen Fragen die inhaltliche Konkretisierung der unterschiedlichen Positionen doch wieder hintei dem Hin-und Herschieben von Begriffen und Problemen zurücktrat. Von Rednern beider Seiten wurde auf den Veränderungsdruck in der Gesellschaft und auf die Diskrepanz zwischen Problemstau und Problemlösungskapazität hingewiesen. Aber zwischen der Thematisierung dieser Einsicht und der von Vertretern der Regierung bezeichneten Notwendigkeit zum „Geltendmachen von gesamtgesellschaftlichen Interessen gegenüber den reinen Marktmechanismen“ (Ehmke, S. 5143) blieben Begriffe wie Investitionslenkung, Industrie-struktur und multinationale Konzerne, aber auch solche wie Freiheit, Solidarität und Chancengleichheit relativ isolierte Größen, deren unvermittelte Anbindung an das Grundgesetz in der Debatte kaum klärend wirken konnte.
Zweifellos war es für die Sozialdemokraten in der Bundestagsdebatte nötig, die Vereinbarkeit ihrer Konzeption des „demokratischen Sozialismus" mit dem Grundgesetz zu vertreten und den Versuch zurückzuweisen, die politisch-gesellschaftlichen Weichenstellungen der fünfziger Jahre nachträglich als verbindliches Verfassungsgebot festzuschreiben. An Bekenntnissen zum „demokratischen Sozialismus" hat es auf seifen der SPD in der Bundestagsdebatte auch nicht gefehlt. Gerade die parlamentarische Verfassungsdiskussion hat aber auch gezeigt, daß es dabei nicht genügt, der Gegenseite ihrerseits ein „verfassungswidriges Verfassungsverständnis" aus der Defensive heraus vorzuwerfen. Einer verfassungspolitischen Konzeption des Faktischen dürfte nur durch eine politische Konzeption zu begegnen sein, die in der Lage ist, ihre langfristigen Perspektiven mit der Frage nach ihren konkreten Realisierungschancen überzeugend zu vermitteln.
In der Verfassungsdebatte des Bundestages, deren inhaltlicher Verlauf durch den CDU/CSU-Antrag schon weitgehend vorstrukturiert war, konnte das natürlich nicht gelingen. Trotz der relativ offenen und unpolemischen Auseinandersetzungen zwischen einigen Sprechern der Regierungsparteien und den Vertretern eines aufgeklärten Konservatismus innerhalb der Unionsparteien (neben von Weizsäcker namentlich Maier, S. 5089 ff.) überwog am Ende doch der Eindruck eines bloßen Parteienstreits über das Grundgesetz. Sofern in Ansätzen ein Konsens auf einer relativ abstrakten Ebene des Verfassungsverständnisses vorhanden war, blieb dieser mit den konkreten Streitfragen, die die Opposition zum Anlaß der Debatte gemacht hatte, unverbunden. Die Auseinandersetzungen um die Schul-und Hochschulpolitik vor allem der sozialdemokratisch geführten Landesregierungen, um „Verfassungsfeinde“ im allgemeinen und im öffentlichen Dienst, aber auch der Streit um das Prol’am des imperativen Mandats brachten praktisch keine politische Klärung und ließen die Gegensätze zwischen Regierung und Opposition teilweise größer erscheinen, als sie es in Wirklichkeit sind. Das lag zweifellos im Interesse der Opposition, die die Debatte ganz offensichtlich mit dem Ziel geführt hat, die Regierungsparteien und besonders die SPD mit Hilfe des Grundgesetzes offensiv einzukreisen, um deren Versuche, die Diskussion auf eine andere Ebene zu führen, in der Öffentlichkeit als Flucht vor den „Grundfragen der Verfassung“ erscheinen zu lassen
Der jeweils unterschiedliche, aber generell doch kurzfristig taktische Stellenwert, den die Verfassungsdebatte für die beteiligten Parteien hatte, machte es von vornherein wahrscheinlich, daß trotz der vor allem von der CDU/CSU behaupteten Grundsätzlichkeit der Problemstellung eine Reihe wesentlicher verfassungspolitisdier Fragen nicht diskutiert werden würde. Die Verfassungsdebatte selbst hatte also nur eine begrenzte Aussagekraft für das Verfassungsverständnis der Bundes-tagsparteien, nicht zuletzt deshalb, weil die Parteien versuchen mußten, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten in den zur Diskussion stehenden Streitpunkten in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner durch demonstrative Geschlossenheit zu überspielen. Das traf besonders für die Sozialdemokraten zu, gegen deren linken Flügel sich die Initiative der Opposition ausdrücklich gerichtet hatte. Deshalb war der Mangel an Konkretheit in den Aussagen der SPD zu Problemen der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung auch darauf zurückzuführen, daß sie es bei aller Betonung der inhaltlichen Offenheit des Grundgesetzes vermied, auf die umstrittenen politischen Konzeptionen der Jungsozialisten inhaltlich differenziert einzugehen. Die SPD fand, in der Verfassungsdebatte keinen überzeugenden Weg aus dem Dilemma, sich einerseits den Weg für strukturelle Veränderungen des Wirtschafts-und Gesellschaftssystems im Rahmen des Grundgesetzes argumentativ freizuhalten und sich dabei andererseits gegen die Angriffe der Opposition zur Wehr setzen zu wollen, sie habe ein gestörtes Verhältnis zur sozialen Marktwirtschaft. Für die FDP stellte sich das entsprechende Problem nicht in gleicher Weise (jedenfalls spielte der politische Standort der Jungdemokraten in der Verfassungsdebatte nur eine untergeordnete Rolle), so daß sich deren Redner relativ unbefangen zur prinzipiellen Offenheit der Verfassung äußern konnten Die CDU/CSU trat in der Debatte (trotz unterschiedlicher Argumentationsebenen bei einigen ihrer Redner) als geschlossene Einheit auf. Diese Geschlossenheit hatte ihren politischen Preis aber in der offensichtlichen Zurückdrängung des „sozialen Gewissens“ der Union: der Sozialausschüsse. Von einigen Zwischenfragen abgesehen, konnte oder wollte in der Verfassungsdebatte keiner ihrer führenden Repräsentanten mit eigenen Auffassungen zu Wort kommen.
III.
Nach dem Verlauf der parlamentarischen Verfassungsdebatte war nicht zu erwarten, daß bis zu den aus Anlaß des 25. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes geplanten Verfassungsfeiern ein unstrittiger Basis-konsens zwischen den Regierungs-und Oppositionsparteien wiederhergestellt sein würde. Die Zweigleisigkeit im Verfassungsverständnis setzte sich vielmehr fort und fand ihren Ausdruck im Verzicht auf eine gemeinsame zentrale V Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes geplanten Verfassungsfeiern 23) ein unstrittiger Basis-konsens zwischen den Regierungs-und Oppositionsparteien wiederhergestellt sein würde. Die Zweigleisigkeit im Verfassungsverständnis setzte sich vielmehr fort und fand ihren Ausdruck im Verzicht auf eine gemeinsame zentrale Veranstaltung zum Verfassungstag 24). Statt dessen fanden parallel mehrere Festakte statt, die die kontroversen Positionen noch einmal zum Ausdruck brachten, sie aber auch teilweise in einer gewissen Feiertagsharmonie verschwinden ließen 25): »Die Paulskirche in Frankfurt wurde zu einem Ort der rhetorischen Pflichtübungen der beiden großen Parteien. Urteile über die Qualität der rechtlichen Grundordnung unseres Staates rauschten am Bürger vorbei.“
Es kann jedenfalls nicht behauptet werden, daß die Bundestagsparteien aus Anlaß der Verkündung des Grundgesetzes nennenswerte Anstrengungen unternommen hätten, um das oft berufene . Verfassungsbewußtsein“ der Mehrheit der Bevölkerung, welches die Grundlage für die Legitimation des demokratischen Staates sein soll, wesentlich zu fördern. Gerade die Veranstaltungen zum Verfassungstag haben deutlich gemacht, daß der „mündige Bürger“ in den Diskussionen um das Grundgesetz vorwiegend als bloßer Adressat von Appellen auftritt. Wie Umfragen vermuten lassen, dürfte sein Verfassungsbewußtsein bereits durch eine mangelnde Kenntnis derjenigen Verfassungsnormen, die in den aktuellen Kontroversen um die Verfassungsauslegung eine zentrale Rolle spielen, entscheidend beeinträchtigt sein Auch dies ist ein Teil der oft beschriebenen „Verfassungswirklichkeit“ nach 25 Jahren Grundgesetz: Die Auseinandersetzung um Inhalt und Zielbestimmung der Verfassung ist eine Sache von wenigen.
Verglichen mit der Verfassungsdebatte im Bundestag hatten auch die Erklärungen der Parteien am Rande der Festveranstaltungen zum Verfassungsjubiläum sehr deutlich an Schärfe verloren, sie ließen aber auch prinzipielle Erörterungen vermissen. Während es im Februar zumindest noch Ansätze zu einer gemeinsamen Diskussion gegeben hatte, war wenige Monate später ein deutlicher Rückzug aus der öffentlichen Grundsatzkontroverse zu verzeichnen. Angesichts der politischen Auseinandersetzungen um die Verantwortung für die zunehmende Arbeitslosigkeit und steigenden Inflationsraten, nach dem plötzlichen Kanzlerwechsel in Bonn und den Wahlniederlagen der SPD bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg und den Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Nordhessen schien der Grundsatzstreit um die Verfassung zu einem abstrakten und für die Öffentlichkeit politisch nicht mehr aktuellen Thema geworden zu sein. Allerdings wäre es verfehlt, aus der weitgehenden öffentlichen Stillegung der Grundsatzauseinandersetzungen um das richtige Verfassungsverständnis auf ihre politische Irrelevanz zu schließen. In den Wahlkämpfen des Frühjahrs hat insbesondere die CDU an ihre Argumentation aus der Bundestagsdebatte angeknüpft und ihre Zweifel an der Entschlossenheit der SPD zur Verteidigung des Rechtsstaats für die Wählerwerbung nutzbar gemacht. Mit dem großen regionalen Schwenk der Wähler zur CDU und dem unverkennbaren Ansteigen eines neokonservativen Trends in der Bevölkerung, dessen Ursachenanalyse im einzelnen noch aussteht hat sich jedoch der Stellenwert des Verfassungsstreits für die Parteien verschoben. Es sind zwar bisher noch keine sicheren Aussagen darüber möglich, ob sich der politische Aufwärtstrend der Unionsparteien, der auch bei den Landtagswahlen in Niedersachsen, Bayern und Hessen angehalten hat, tatsächlich in einem langfristigen Umschwung der Wählermeinung fortsetzen wird. Die politische Rehabilitierung des „Konservativen“
und der ihr entsprechende Verlust an Vertrauen in die Perspektiven sozialdemokratischer „Reformpolitik" sind jedoch unverkennbar. Und unmittelbar vor der 25. Jahresfeier des Grundgesetzes schien der Rücktritt von Bundeskanzler Brandt, noch bevor die Regierung Schmidt ihre politische Konzeption vorgelegt hatte, den „Abschied vom Wunderglauben" gewissermaßen regierungsoffiziell zu bestätigen.
Daß die grundsätzlichen Erklärungen der CDU zum Verfassungstag (verglichen mit der Verfassungsdebatte im Februar) jetzt weitgehend darauf verzichteten, ihre Argumentation offensiv an der behaupteten VerfassungsWidrigkeit des „demokratischen Sozialismus" zu orientieren dürfte mit dieser seit dem Frühjahr veränderten politischen Situation für die Opposition Zusammenhängen. Besonders angesichts der politischen und personellen Implikationen des Kanzlerwedisels, die in der CDU eine erhebliche Irritation hervorriefen, hätte die erneute Beschwörung eines pauschalen verfassungswidrigen Sozialismus-Verdachts wohl kaum noch einen besonderen parteitaktischen Nutzwert gehabt, zumal die vorangegangene Verfassungsoffensive gegen die SPD in.der liberalen Öffentlichkeit überwiegend negativ beurteilt worden war. Die Opposition bezeichnete in ihren Verlautbarungen zum Verfassungsjubiläum das Grundgesetz als den Rahmen „für das geregelte Austragen von Uberzeugungs-und Interessenunterschieden" und als „das schützende Bollwerk gegen Verfassungsfeinde und Extremisten“
Die politische Zielrichtung beider Formulie-
ist in den Erklärungen der CDU/CSU rungen deutlich zum Ausdruck gekommen. Das Be-* kenntnis zur Vorwärtsverteidigung der „streitbaren Demokratie“ als einem nach Auffassung der Opposition tragenden Prinzip des Grundgesetzes bleibt in der Kontinuität langjähriger Forderungen, die von der Bundesregierung und den sozialdemokratisch geführten Landesregierungen ein härteres Vorgehen gegen die politische Linke verlangen. Der Austragung gesellschaftlicher Interessen-konflikte sollen dort Grenzen gezogen werden, wo er in eine „Herausforderung des Staates“ umschlägt Diese Formel wird aus einem vorgegebenen Verständnis von „Gemeinwohl“ abgeleitet, das sich allgemein gegen die Macht partikularer Gruppen, konkret aber vor allem gegen die gegenwärtigen Teilhabe-und Mitbestimmungsansprüche der Gewerkschaften richtet. Hatten die Sprecher der Opposition in der Verfassungsdebatte noch behauptet, die bestehende Wirtschaftsordnung sei zwar vom Grundgesetz nicht zwingend geboten, aber doch über den allgemeinen Freiheitsbegriff indirekt fest mit der Verfassungsordnung verbunden so wird inzwischen im Sinne einer direkten Ableitung der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft aus dem Grundgesetz argumentiert. Der Führung der CDU/CSU wird ausdrücklich empfohlen, die verfassungsrechtliche Begründung ihrer Option für die soziale Marktwirtschaft präziser zu formulieren Hier handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Argumentation mit eindeutiger politischer Zielrichtung: „Wenn die Alternative zum marktwirtschaftlichen System für verboten ausgegeben wird, nur weil man sie für schlecht hält, dann begeben wir uns per Selbstzensur auf den Weg von einer offenen zur geschlossenen Gesellschaft. Er führt mit Sicherheit weit weg von der Verfassung.“
Auf dem politisch und verfassungsrechtlich gegenwärtig am meisten umkämpften Gebiet, in den Auseinandersetzungen um das Problem der „Verfassungsfeinde“ im öffentlichen Dienst, fallen bereits Worte, die eine solche Richtung mindestens andeuten. Denn unabhängig von der Streitfrage nach der verfassungsrechtlichen Qualität sowohl des bisherigen „Radikalenerlasses“ als auch der jetzt anstehenden gesetzlichen Regelung (deren Verfassungskonformität keineswegs nur von Kritikern von links angezweifelt wird kann es nur als eindeutiger Ausdruck eines restriktiven Demokratie-und Verfassungsverständnisses gewertet werden, wenn bereits die politische Demonstration gegen gesetzgeberische Vorhaben als potentielle Verfassungsfeindschaft eingestuft wird Die Oppositionsparteien verzichten zwar inzwischen darauf, ihre Identität als Verfassungspartei mit Hilfe des Zweifels an der Verfassungstreue der SPD nachweisen zu wollen. Aber nach wie vor betrachten sie sich als die politischen „Gralshüter des Grundgesetzes“ Der CDU-spezifische Inhalt der Formel von der „Solidarität aller Demokraten" bezeichnet den Versuch, das verfassungsrechtlich nur defensiv legitime Prinzip der „streitbaren Demokratie" als Frontlinie eigener Interessen in das Feld politisch-gesellschaftlicher Konflikte vorzuverlegen.
In der Tat befindet sich die sozialdemokratische Partei, verglichen mit der Reformeuphorie der letzten Jahre, inzwischen eindeutig in der politischen Defensive. Noch Ende 1973 meinte ein zur Parteilinken zählender Autor glauben zu können, daß die Mehrheit der Bevölkerung „die Einführung sozialistischer Reformen billigen würde" In dieser Sicht hätten also die Auseinandersetzungen der SPD mit den Unionsparteien um die prinzipielle Verfassungskonformität eines „demokratischen Sozialismus" keineswegs nur den Charakter einer politisch defensiven Argumentation gehabt. Inzwischen steht die SPD jedoch vor allem vor der Frage, ob der Rückzug zum Vertrauten, den die Wählerbewegungen und der Meinungsumschwung dieses Jahres zu signalisieren scheinen, einfach die bloße Angst vor weiteren „Experimenten" oder nicht vielmehr umgekehrt die Enttäuschung über das Ausbleiben struktureller Reformen ausdrückt. Die Antwort ist politisch umstritten. Unabhängig davon tritt jedoch inzwischen innerhalb der SPD die Ambivalenz der Formel des „demokratischen Sozialismus’ wieder deutlicher in Erscheinung, die seit den fünfziger Jahren vornehmlich der Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus gedient hatte und hinsichtlich ihrer positiven Zielsetzung relativ unbestimmt geblieben war. Erst seitdem sich seit Ende der sechziger Jahre wieder ein stärkerer linker Flügel in der Partei gebildet und die Diskussion über die konkreten Inhalte des „demokratischen Sozialismus" als einer sozialdemokratischen Alternative zum derzeitigen sozioökonomischen System der Bundesrepublik wiederaufgenommen hat, spielt dieser Begriff eine größere Rolle in den Auseinandersetzungen mit der CDU/CSU. Zugleich markiert jedoch die Frage nach seiner konkreten politischen Zielsetzung die Richtung der politischen Differenzen innerhalb der SPD selbst 6.
In der Verfassungsdebatte hatte der General-angriff der CDU/CSU der Sozialdemokratie die Solidarisierung nach außen auf der Plattform des „demokratischen Sozialismus" erleichtert. Für die Öffentlichkeit waren die auch in der Debatte durchaus sichtbar gewordenen Auffassungsunterschiede bei einzelnen sozialdemokratischen Rednern hinter der Konfrontation zwischen Regierung und Opposition zurückgetreten. Die Äußerungen von sozialdemokratischer Seite zum Grundgesetz im Laufe dieses Jahres zeigen jedoch, daß die über plakative Formulierungen hinausgehenden Aussagen über die Perspektiven eines „demokratischen Sozialismus" im Rahmen des Grundgesetzes eher die Ausnahmen als die Regel sind. Angesichts des dezidierten Bekenntnisses des neuen sozialdemokratischen Bundeskanzlers zur Marktwirtschaft schienen besonders manche Erklärungen zum Jahrestag des Grundgesetzes selbst, in denen noch einmal die „abenteuerliche Idee" (Ehmke) zurückgewiesen wurde, die Verfassung enthalte eine Garantie der bestehenden Wirtschaftsordnung nur noch einen sozialdemokratischen Erinnerungswert zu bezeichnen, überhaupt argumentierten die öffentlichen Erklärungen der Sozialdemokraten zum Grundgesetz vorwiegend im Sinne der Weiterentwicklung des Sozialstaats auf den nicht erst seit 1969 eingeschlagenen Wegen. Trotz der in der Verfassungsdebatte angeklungenen grundsätzlichen Thematisierung der Sozialstaatsproblematik kann keine Rede davon sein, daß die SPD versucht hätte, die in der Partei geführte Fernzieldiskussion an die Erörterung verfassungsrechtlicher Fragen, etwa mit dem Blick auf ein alternatives Sozialstaatsmodell, anzubinden.
Die SPD hat es in den Auseinandersetzungen zwischen den Parteien um das Verständnis des Grundgesetzes letztlich nicht vermocht, sich aus der Einschnürung durch die Opposition freizumachen, zumal innerhalb der Partei die Tendenz zur repressiven Solidarität immer deutlicher zutage tritt und manchen sozialdemokratischen Äußerungen zum „Grundgesetz in Not" eine inhaltliche Differenz zur CDU/CSU nicht mehr anzumerken ist. Eine im Ansatz klärende innerparteilich-öffentliche Diskussion hat es praktisch nur zum Problem des „imperativen Mandats“ gegeben Hinsichtlich einer verfassungskonformen Regelung des Problems der „Verfassungsfeinde" im öffentlichen Dienst konzentriert sich die Regierung auf die (keineswegs bedeutungslose) Auseinandersetzung mit den Gegenvorstellungen der CDU/CSU. Gerade in dieser Frage zeigt sich aber, wie sehr sich die SPD als größte Regierungspartei in der verfassungspolitischen Diskussion in der Defensive befindet. Den prinzipiellen verfassungsrechtlichen Bedenken und Argumenten gegen den Gesetzentwurf der Regierung ist sie in der öffentlichen Diskussion bisher eher ausgewichen, ohne doch verhindern zu können, daß ihr die Opposition den Vorwurf mangelnder unbedingter Bereitschaft zur Verteidigung der Verfassungsordnung mit Aussicht auf Resonanz in der Bevölkerung machen kann. Bei der ersten parlamentarischen Beratung der vorliegenden Entwürfe zur gesetzlichen Regelung dieser Frage, die Mitte November im Zeichen neuer politischer Terroraktionen in der Bundesrepublik stattfand, fand sich die SPD der Opposition gegenüber wieder in der gleichen Lage wie zur Zeit der Verfassungsdebatte. Wiederum hatte sie sich gegen Vorwürfe der CDU zu verteidigen, die Zweifel an der verfassungspolitischen Zuverlässigkeit der SPD mit der Behauptung tendenzieller Verfassungswidrigkeit sozialdemokratischer Politik verbanden
Die SPD befindet sich nach den parteipolitischen Auseinandersetzungen um das richtige Vertassungsverständnis offensichtlich in einem Zustand allgemeiner Verunsicherung. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung, mit der sie in Nordrhein-Westfalen auf die öffentliche Diskussion über die umstrittenen Richtlinien für den Politikunterricht in den Schulen durch die Vorlage einer geänderten Fassung reagiert hat. Die Umstände dieser Entscheidung und die ausdrückliche Anbindung der neuen Richtlinien an das Grundgesetz lassen nur den Schluß zu, daß die nordrhein-westfälische SPD versuchen will, den Streit um die Schulpolitik im Hinblick auf die Landtagswahlen im kommenden Frühjahr zu entschärfen Unabhängig von den Inhalten der bisherigen und der neuen Richtlinien scheint sich die SPD damit gewissermaßen selbst zu bestätigen, daß die Verfassungskonformität ihrer Schulpolitik nicht eindeutig 40 war. Zumindest dürfte die CDU kaum darauf verzichten, sich dieses Argument als Beleg für die Berechtigung und die Notwendigkeit ihres Verfassungsstreits mit der SPD partei-taktisch nutzbar zu machen. In eine ähnliche Richtung weist auch die keineswegs überzeugende Haltung der Bundesregierung in den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung, nachdem sich auch in dieser Frage die politische Diskussion auf die Ebene des Verfassungsrechts zu verschieben beginnt
Die FDP hat in ihren Erklärungen zum Verfassungsjubiläum wie auch in den jeweils aktuellen Auseinandersetzungen, in die Grundfragen des Verfassungsverständnisses einbezogen waren, versucht, sich als selbständige politische Kraft zu profilieren. Sie hat sich jeweils dort mit den Sozialdemokraten solidarisiert, wo die CDU/CSU versucht hat, sich als die einzige unbedingt verfassungstreue Partei darzustellen. Ihre Sprecher sind in den Diskussionen über die Frage nach der Offenheit der Verfassung für unterschiedliche wirtschafts-und gesellschaftspolitische Konzeptionen zum Teil deutlich über entsprechende Aussagen von Sozialdemokraten hinausgegangen Da das Bekenntnis der FDP zur prinzipiellen politischen Offenheit der Verfas'sung aber auf die bloß theoretische Denkbarkeit „sozialistischer“ Ordnungsmodelle im Rahmen des Grundgesetzes begrenzt bleibt, deren möglicher Realisierung sich die FDP widersetzen werde, hat diese Position der CDU/CSU weniger Angriffsflächen geboten als die Haltung der SPD. Im Parteienstreit um das Grundgesetz ist das generelle Bemühen der FDP, die Abwertung der Verfassung zur Legitimationsinstanz politischer Interessen zu verhindern, zweifellos ein positiv zu wertender Faktor. Allerdings bietet die politische Praxis durchaus auch Anlaß zu gewissen Zweifeln an der unbedingten Konsequenz dieses Bestrebens: Wenn Teile der FDP in der jüngsten Wendung der Auseinandersetzungen um den Koalitionskompromiß in der Mitbestimmungsfrage verfassungsrechtliche Vorbehalte machen, so ist es zumindest fraglich, ob hier nicht auch politische Konflikte innerhalb der Bundesregierung mit Hilfe des Grundgesetzes entschieden werden sollen.
In den parteipolitischen Kontroversen um das Grundgesetz haben auch die Jugendorganisationen der Bundestagsparteien entschiedene Positionen bezogen, die gegenüber den Standorten der Parteien jeweils mehr oder weniger deutlich verschoben sind. Das trifft noch am wenigsten für die Junge Union zu, die von den Jungsozialisten und Jungdemokraten wegen ihrer Weigerung zur Abgabe einer gemeinsamen Erklärung zum Verfassungstag scharf angegriffen worden ist, die aber bei aller Identifizierung mit den inhaltlichen Aussagen der CDU deren Tendenz zur Selbstdarstellung als Verfassungspartei nicht gefolgt ist Die entschiedenste Alternativposition zur Haltung der Bundestagsparteien haben die Jungsozialisten und Jungdemokraten in einer Reihe von zum Teil gemeinsamen Kundgebungen und Erklärungen formuliert. Insbesondere die Jungsozialisten hatten sich, schon lange bevor das Grundgesetz in diesem Jahr zur propagandistischen Frontlinie zwischen den Parteien wurde, mit dem Vorwurf verfassungsfeindlicher Tendenzen auseinandersetzen müssen. In den meisten dieser Angriffe war allerdings vorwiegend nur die politische Begrifflichkeit der Jungsozialisten („DoppelStrategie", „Systemüberwindung", etc.) in einer Art Reizwortkatalog zusammengestellt. Unabhängig von der Frage, die als solche zweifellos legitim und notwendig ist, unter welchen Bedingungen und mit welchen politischen und gesellschaftlichen Neben-und Folgewirkungen die Realisierung der zentralen Forderungen der Jungsozialisten überhaupt möglich wäre, zielen solche Angriffe darauf ab, das Denken in grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Alternativkonzeptionen ganz allgemein unter die Vermutung der Verfassungswidrigkeit zu stellen. Besonders von der CDU/CSU wird die Diskus-sion über die Verfassungskonformität jungso-zialistischer Forderungen von vornherein zu einer Abwehr-Debatte hinter dem Schutzschild des Grundgesetzes verdreht. In dieser Situation richteten sich die Erklärungen der Jungsozialisten (und Jungdemokraten) zum Verfassungstag vor allem gegen alle Versuche, „das Grundgesetz insgesamt für den gesellschaftlichen Status quo zu vereinnahmen Ob das Urteil der Jungsozialisten über die „Verfassungswirklichkeit“ der Bundesrepublik und ihre Charakterisierung der bestehenden Gesellschaft als „Klassengesellschaft" realistisch ist — diese Fragen sind jedenfalls keine Fragen des Verfassungsrechts; ebensowenig sind es von vornherein die Ziel-perspektiven, die die Jungsozialisten aus ihrer Gesellschaftsanalyse ableiten. Ihre Erklärungen zum Verfassungsjubiläum versuchen in der Tat, die Umrisse einer Systemveränderung auf dem Boden und im Rahmen des Grundgesetzes zu entwerfen Ein über pauschale Verdächtigungen hinausgehender Nachweis, daß die politische Konzeption der Jungsozialisten die Verfassungsordnung des Grundgesetzes sprengen würde, ist von ihren Gegnern zwar behauptet, aber noch nicht erbracht worden.
IV.
Die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien um das Verständnis und die politische Funktion der Verfassung zeigen insgesamt die weit fortgeschrittene Tendenz zur Instrumentalisierung des Grundgesetzes für die Legitimierung eigener und die Zurückweisung gegnerischer Interessen. Entgegen einer verbreiteten Ansicht, welche die Indienstnahme der Verfassung vor allem denjenigen politischen Gruppen enlastet, die seit dem Ende der sechziger Jahre mit unterschiedlichen Zielsetzungen auf die „Veränderung der Gesellschaft" und die „Überwindung des Systems“ hinarbeiten, zeigen aber gerade die diesjährigen Kontroversen um das Grundgesetz, daß vor allem die konservativen Gegner der gegenwärtigen Bundesregierung die politische Entscheidungsbefugnis über die verfassungskonforme Ausdeutung des Grundgesetzes für sich beanspruchen.
So unbestritten es im Spektrum der politischen Linken Gruppen gibt, die das Grundgesetz als bloßen „Bauplan" der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt ablehnen so unbestreitbar es innerhalb der Linken auch Versuche gibt, aus einzelnen Verfassungsbe
Stimmungen direkte Handlungsanweisungen zur Verwirklichung einer „säkularisierten Heilsordnung“ abzuleiten: die Verwerfungen im Verfassungsverständnis, die sich aus der Taktik der CDU/CSU ergeben, „jede gesellschaftspolitische Initiative erst einmal mit der Drohung einer Verfassungsklage“ zu beantworten sind für den Prozeß der Konfliktlösung im politischen System der Bundesrepublik ebenfalls problematisch. Dies gilt vor allem deshalb, weil die Opposition angesichts der gegenwärtigen politischen Kräfteverteilung in Bund und Ländern die Möglichkeit beansprucht, ihr Verfassungsverständnis gegen die Regierung auch institutionell durchzusetzen. In der Tat zeigen die seit 1969 andauernden Auseinandersetzungen um die politische Funktion des Bundesrates, in dem die Mehrheit der von CDU und CSU regierten Länder in zahlreichen Fällen versucht hat, gesetzgeberische Initiativen der Regierungskoalition abzublocken, erhebliche Störungen des Verfassungskompromisses auch im institutioneilen Bereich an. Daß im parlamentarischen System der Bundesrepublik die prinzipielle Verwendung des Bundesrates als „Gegenregierung" systemwidrig wäre, ist nicht zweifelhaft aber auch nach einer entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Sommer dieses Jahres stehen sich die Auffassungen von Regierung und Opposition unvermindert kontrovers gegenüber Die Störung politischer Legitimationsprozesse setzt sich darüber hinaus in den wiederholten Versuchen der CDU/CSU fort, parlamentarische Entscheidungen gegen ihre Interessenlage nicht hinzunehmen, sondern sie aus den Institutionen des parlamentarischen Regierungssystems in die Verfassungsgerichtsbarkeit zu verlagern.
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß das Bundesverfassungsgericht bei einer Überlastung mit aktuell-politischen Streitfragen die ihm vom Grundgesetz zugewiesene Aufgabe, verfassungsrechtliche Konflikte verbindlich und mit befriedender Wirkung zu entscheiden, gerade nicht erfüllen kann. Der Versuch, das Gericht „als dritte Kammer für die Revision parlamentarischer Niederlagen“ einsetzen zu wollen kann letztlich nur die systemwidrige Konsequenz haben, der Verfassungsrechtsprechung zunehmend Entscheidungen abzuverlangen, die in den politischen Kompetenzbereich des Gesetzgebers fallen Es ist auch zweifelhaft, ob die offensichtliche Strategie des permanenten -Kompe tenzkonflikts langfristig im Interesse der CDU/CSU selbst liegt, da sie die Glaubwürdigkeit ihrer verfassungsrechtlichen Argumentation im je konkreten Einzelfall nur - be einträchtigen kann.
In den öffentlichen Auseinandersetzungen um ihr jeweiliges Verhältnis zur Verfassung sind die Bundestagsparteien einer grundsätzlichen Thematisierung der gegenwärtigen Funktionsund Legitimationsproblematik des parlamentarischen Systems weitgehend ausgewichen. Bei aller wechselseitigen Polemik ist stets ein gewissermaßen negativer Basiskonsens wirksam geblieben: Die Parteien waren bemüht, alle diejenigen Fragen aus dem Streit um das Grundgesetz herauszuhalten, die ihnen die öffentliche Problematisierung ihrer eigenen politisch-gesellschaftlichen Rolle abverlangt hätten. Insbesondere haben es ihre zahlreichen Erklärungen zum Jubiläum der Verfassung vermieden, die politische Bedeutung des Grundgesetzes in der Entwicklung von fünfundzwanzig Jahren Bundesrepublik zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion zu machen. Im Parteienstreit um das Grundgesetz hat es zwar zahllose Polemiken gegen die Politik der jeweils anderen in der Vergangenheit gegeben. Aber die zahlreichen Verfassungsänderungen seit 1949 und die Pläne für weitere Veränderungen des Grundgesetzes, also gerade diejenigen Probleme, deren öffentliche Diskussion dem vielberufenen „mündigen Bürger'die Relevanz von Verfassungs. normen für den politischen Konflikt unmittelbar hätte verdeutlichen können, haben in den Auseinandersetzungen zwischen den Parteien so gut wie keine Rolle gespielt. Während die Berufung auf das Grundgesetz zur Abwehr von „Systemveränderern“ geradezu inflationäre Züge angenommen hat, bleibt die mehr als zwanzigjährige Politik kontinuierlicher Systemveränderung durch die staatstragenden Parteien selbst außerhalb der Diskussion
Die Bilanz des Parteienstreits um das Grundgesetz ist am Ende des Verfassungsjahres insgesamt negativ. Sie enthält kaum Anzeichen dafür, daß sich die Bundestagsparteien als die wesentlichen Träger der bisherigen und der künftigen Verfassungsentwicklung in absehbarer Zeit auf ein gemeinsames Verständnis der Funktion des Grundgesetzes für die politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einigen werden. Jedenfalls ist nicht abzusehen, daß die weit fortgeschrittene Tendenz zur Verwendung der Verfassung als Auswahlkatalog höchster Normen zur Legitimierung partikularer Interessen abnehmen wird. Die politische Langzeitwirkung dieser „Grundgesetztheorie“ jedoch bereits zeichnet sich deutlich ab: Ihre Variante von links, die in der bekannten Formulierung Hans Magnus Enzensbergers, das Grundgesetz sei ein „Versprechen, einzulösen durch Revolution“ schon vor Jahren ein griffiges Schlagwort gefunden hat, hat die neuerliche Grundsatzdiskussion in der Öffentlichkeit zwar bis zu einem gewissen Grade ausgelöst. Der Konservatismus in Politik und (worauf hier nur summarisch hingewiesen werden kann) Wissenschaft hat sich aber von Anfang an nicht darauf beschränkt, die Indienstnahme der „Verfassung als Parteiprogramm" entschieden zurückzuweisen; er hat mit inzwischen schon erheblichem Erfolg versucht, diese Zurückweisung linker Verfassungsokkupationen mit der Absicherung des Grundgesetzes gegen das Denken in politischen Alternativen überhaupt zu verbinden.