Notwendigkeit richterlicher Rechtsfortbildung Einmal hat sich die juristische Methodenlehre von der Vorstellung gelöst, daß die gesetzliche Normenordnung lückenlos sei und der Rechts-anwender jeden Rechtsstreit durch bloße Subsumtion des Tatsachenstoffes unter eine gesetzliche Norm lösen könne. Dieses mit dem Kodifikationsideal verbundene Dogma 1), das zu Beginn des Jahrhunderts noch herrschend war, mußte in dem Maße versagen, in dem das Gesetz den Richter im Stich ließ. Die großen Umwandlungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse haben seither den Gesetzgeber nur zu punktuellen, unvollständigen Regelungen
I. Problemstellung
bei Erlaß dieser Gesetze hinausgeht’). Soweit eine gesetzliche Regelung Lücken aufweist (das Gesetz enthält eine Regel nicht, die nach seiner eigenen Teleologie erwartet werden muß
Die These von der Klassenjustiz Die zweite Entwicklung, deren Zeuge Wir sind, ist die Renaissance justizpolitischer Vorstellungen, die auf der marxistischen „Überbau" -These beruhen und bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts in ihren Grundlinien entwickelt worden sind
Nach Karl Marx
Das In dieser Weise von der herrschenden Schicht im Wege der Gesetzgebung durchgesetzte Recht bevorzuge bzw. diskriminiere bestimmte Schichten und Gruppen
Nicht Rechtsbeugung, sondern mangelndes politisches Engagement als Folge unzureichenden politischen Bewußtseins und gewachsene schichtspezifische Präferenzen sind danach ursächlich für Fehlentscheidungen, die der politischen Aufgabe der Rechtsprechung nicht gerecht werden könnten. Abgestellt wird vornehmlich auf folgende Gesichtspunkte: — soziale Herkunft: 5 °/o der Bevölkerung (obere Mittelschicht und Oberschicht) stellen 46 °/o der Richter
— rechtswissenschaftliche Sozialisation auf der Universität und im Beruf
— Mangel an sozialwissenschaftlicher Ausbildung
Diese Analyse stimmt in geradezu frappierender Weise mit den Gründen überein, die schon Karl Liebknecht im Jahre 1910 als „Quellen der Klassenjustiz" beschrieben hat: „Wenn wir sehen, woher unser Richterstand sich re-7 krutiert, so genügt das bereits, um zu kennzeichnen, aus welchem Milieu, aus welchen Auffassungen heraus unsere Richter der Regel nach urteilen werden. Es sind naturgemäß nur die besitzenden Klassen, die für den Richter-stand in Frage kommen ... Daß die Ausbildung der Juristen auf der Universität nebenbei bedauerlicherweise eine sehr unzureichende ist, daß speziell gerade in bezug auf die Ausbildung in sozialpolitischer Hinsicht nicht alles geschieht ... Leider schon auf den werden unsere Universitäten Juristen, unsere künftigen Richter herangedrillt zu einer Beschränktheit der politischen Auffassung, die wir auf das lebhafteste bedauern müssen.“
Die Position Wassermanns
In vorstehendem Aufsatz, der sich eng an seine 1972 erschienene Schrift „Der politische Richter“ anlehnt, hat Wassermann zwar den Zusammenhang zwischen der These von der angeblich bestehenden rechten Klassenjustiz und der postulierten Politisierung der Justiz nicht erneut dargestellt, sondern insoweit auf sein Buch verwiesen und entscheidenden Wert auf die Behauptung gelegt, es solle lediglich erkennbar gemacht werden, daß politisches Richten bereits implizit — allerdings unbewußt — geschehe. Eine realistische Würdigung der von ihm verfochtenen Positionen und ihrer verfassungsrechtlichen und justizpolitischen Implikationen kann aber auf die Einbeziehung des ihnen zugrunde liegenden Verständnisses von der jetzigen Funktion der Justiz nicht verzichten. Freilich kann nicht übersehen werden, daß sich die Akzente gegenüber älteren Veröffentlichungen des gleichen Autors deutlich verschoben haben. Während der Begriff der Klassenjustiz — und damit die Kompensationsfunktion des politischen Richters — gemieden wird, tritt die Auseinandersetzung mit der verfassungsrechtlichen Problematik der Bindung des Richters an das Gesetz in den Vordergrund. Diese Entwicklung gibt zu der Hoffnung Anlaß, daß die Bemühungen um eine sachgerechte Reform des Justizwesens und insbesondere der Juristenausbildung doch nicht in einem hoffnungslosen Stellungskrieg zwischen „Reformern“ und „Konservativen" versanden werden.
2. Funktionen des politischen Richters
Es ist müßig, darüber zu streiten, ob es den politischen Richter bereits gibt oder ob die politische Funktion der Rechtsprechung ein rechtspolitisches Postulat ist. Die Diskussion darüber ließe sich sinnvoll nur dann führen, wenn vorher Einigkeit über den sachlichen Gehalt des Politikbegriffes geschaffen werden könnte.
Zutreffend geht Wassermann davon aus, daß richterliche Rechtsfortbildung Einflüsse auf das Verhalten der gesellschaftlichen Gruppen haben kann. Insbesondere kann die Änderung einer ständigen Rechtsprechung eine ähnliche Wirkung auf die Betroffenen haben wie eine entsprechende Gesetzesänderung. Wenn mit einer Verfestigung dieser neuen Rechtsprechung gerechnet werden muß — bei höchstinstanzlichen Erkenntnissen ist davon in der Regel auszugehen — so werden geschäftliche oder private Dispositionen unabhängig davon darauf eingestellt werden, daß der Richter-spruch keine allgemeinverbindliche Norm ist, sondern nur zwischen den am Rechtsstreit Beteiligten gilt.
Grundsätzlich ließe sich zur Umschreibung der damit verbundenen Probleme durchaus der Begriff „politische Funktion der Rechtsprechung* verwenden. Er könnte im Rahmen rechtswissenschaftlicher Untersuchungen als Sammelbegriff in der Methodenlehre ebenso wie zur Kennzeichnung staatsrechtlicher Fragestellungen nützlich sein. Auch sozialwissenschaftliche Ansätze — etwa der Einfluß der Rechtsprechung auf die sozialreformerische Gestaltung — könnten in dieser Weise gekennzeichnet werden.
Indessen ist nicht zu verkennen, daß mit „Politisierung“ mehr gemeint ist und weitergehende Probleme aufgeworfen werden. Der politische Richter soll sich nach den Intentionen seiner Protagonisten nicht etwa darauf beschränken, die Rechtsordnung zu wahren und — soweit das positive Recht lückenhaft ist — nach den anerkannten Grundsätzen der juristischen Entscheidungstheorie fortzubilden. Er soll vielmehr eine „folgenreiche und phantasievolle Innovationspraxis“
Zwangsläufig und folgerichtig wird die strenge Bindung des Richters an das Gesetz, die das Grundgesetz verbindlich anordnet (Art. 20 Abs. 3 GG), gelockert, ohne eine methodisch gesicherte Schranke der „politischen Produktivität“ sichtbar werden zu lassen. Einer Rechtsprechung, die sich als Teil der politischen Praxis begreift
3. Sozialwissenschaften und Politisierung der Justiz
Einen herausragenden Platz im Rahmen dieser Konzeption nehmen die Sozialwissenschaften ein. Ihr Studium soll helfen, die Wirkungen der Rechtsnormen und ihre Anwendung auf die abhängige Mehrheit der Bevölkerung zu erkennen
Eine besondere Funktion haben dabei die Begriffe „Klassenrecht“ und „Klassenjustiz“; denn „wer diese Instrumente enttabuisiert und mit ihnen das Recht und den Rechtsbetrieb konsequent analysiert, der entreißt die Jurisprudenz ihrer traurigen Rolle als gutbezahlte Herrschaftsdienerin.“
Gewiß hat Wassermann in der vorliegenden Arbeit ambivalente Formulierungen dieser Art gemieden und in den Vordergrund seiner Bemühungen die Absicht gestellt, Fehlerquellen vermeiden zu helfen, die auf mangelnde „Internalisierung" demokratischer Werte zurückgeführt werden könnten. Der Vorwurf, das Leitbild des politischen Richters sei der politische Kommissar
4. Eingrenzung der verfassungsrechtlichen Fragestellung
Untersucht man nicht die Frage nach der inhaltlichen Übereinstimmung einer Entscheidung mit dem Grundgesetz, sondern forscht man nach den Grenzen der Legitimation der Justiz zu sozialreformerischer Gestaltung, so ist die Behauptung zumindest irreführend, auch der politische Richter sei an die Verfassung gebunden und schon deshalb seien verfassungsrechtliche Bedenken unbegründet. Natürlich ist die Rechtsprechung ebenso wie der Gesetzgeber an die Verfassung gebunden. Sollen Jedoch die unterschiedliche Rechtsstellung und Funktion dargestellt werden, die Judikative und Legislative nach dem Grundgesetz haben, so hat es wenig Sinn, auf die grundlegende Gemeinsamkeit hinzuweisen, die alle Träger staatlicher Gewalt miteinander verbindet, nämlich die Unterworfenheit unter die Verfassung. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob nach unserer Verfassungsordnung die Entfaltung „phantasievoller Innovationsprozesse" beim Gesetzgeber monopolisiert ist oder ob auch die Justiz für politische Gestaltungsaufgaben legitimiert ist. Nur im letzten Fall gestattet das Grundgesetz dem politischen Richter die Hoffnung, die „konservativ gestimmten unpolitischen Richter“ könnten zu „Revolutionären" erzogen werden, „die darauf brennten, die demokratische Entwicklung voranzutreiben“
II. Die Legitimation der Justiz zu politischer Sozialgestaltung
1. Verfassungsrechtliche Legitimation
Die Unvermeidlichkeit richterlicher Rechtsfortbildung ist in den Verfahrensordnungen ausdrücklich anerkannt
Die Verfassungsgerichtsbarkeit
Immerhin räumt das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht Entscheidungskompetenzen über Gegenstände ein, die wesentlich politischer Natur sind. So kann es z. B. nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans abschließend befinden. Indessen lassen sich — und darüber besteht anscheinend Einigkeit — aus der besonderen Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit keine Schlüsse auf das Verhältnis zwiB schen Judikative und Legislative ziehen. Die Problematik jeglicher Verfassungsgerichtsbarkeit’
Juristische Methodenlehre
Lassen sich somit den Verfahrensvorschriften und dem Aufgabenkatalog des Bundesverfassungsgerichts keine Anhaltspunkte für die Begrenzung richterlicher Rechtsfindung entnehmen, so kann andererseits auch die juristische Methodenlehre allein nicht ohne Besinnung auf die in der Verfassung getroffenen Grundentscheidungen eine überzeugende Antwort geben. Die Methodenlehre kann uns zwar Maßstäbe dafür liefern, wie der Richter einen Fall zu entscheiden hat; die Grenzen richterlicher Macht im Verhältnis zur gesetzgebenden Gewalt und damit die Frage, ob der Richter über die Rechtsfortbildung hinaus zur Rechts-gestaltung als Sozialingenieur’
Bindung an Gesetz und Recht
Die Grundlage ist Art. 20 Abs. 3 GG; danach ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Der Verfassungsgeber geht, wie Hans H. Klein
Es geht nicht an, gesetzgeberische Entscheidungen mit Verfassungsrang in ihrer rechtlichen Bedeutung als unverbindliches „ursprüngliches Demokratiemodell" (Wassermann) zu bagatellisieren und damit zur Disposition jedes einzelnen Richters zu stellen. Zutreffend hat Badura’
Unbeschadet der unten zu erörternden Frage nach dem Verhältnis der juristischen Methodenlehre zur „politischen Funktion" der Rechtsprechung im gesetzesfreien Raum kann daher schon hier festgestellt werden, daß die Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“
2. Demokratische Legitimation
Die freiheitliche Demokratie lebt, um mit Kelsen
deren Beachtung und Durchsetzung in der Praxis Aufgabe der Justiz ist, ohne daß es darauf ankäme, welche Schicht oder Klasse sich nach Ansicht des Richters im Gesetzgebungsverfahren ungerechtfertigte Vorteile einzuhandeln verstanden hat.
Funktionsspezifische Legitimation
Die demokratische Legitimation staatlicher Machtausübung ist je nach der Funktion des staatlichen Machtträgers unterschiedlich strukturiert. Die Legitimation des Richters fließt aus dem Auftrag des Volkes, wie er im Gesetz Gestalt gewonnen hat
Für politische Gestaltungsaufgaben dagegen ist nur der Gesetzgeber und in gewissem Umfang auch die Exekutive, die ihrerseits weisungsgebunden und der parlamentarischen Kontrolle unterworfen ist, durch die Veranstaltung periodisch wiederkehrender Wahlen legitimiert. Er braucht seine Entscheidungen — soweit sie sich im Rahmen der Verfassung bewegen — nur politisch, nicht rechtlich zu verantworten und ist daher in seinem politischen Gestaltungswillen frei.
Diese umfassende Legitimation durch das Volk fehlt dem Richter. Zutreffend hat Flume
Legitimationszuwachs durch , Demokrathisrung'und „Politisierung“?
Nur unzureichend durchdacht ist der Vorschlag, man könne die demokratische Legitimation des Richters durch neue Formen seiner Bestellung und Beförderung erhöhen (Richterwahlausschüsse, Engagement der politischen Parteien usw.). Die These von dem mit „Demokratisierung“ und „Politisierung’ verbundenen Legitimationszuwachs verkennt, daß Quelle der demokratischen Legitimation nicht eine einmalige Wahl — nach welchem Verfahren auch immer — ist, sondern die mit periodisch wiederkehrenden Wahlen verbundene Gefahr der Abwahl. Demokratie lebt, so hat Herzog
Freilich ist angesichts mancher Forderungen der Reformer nicht mehr sicher, ob der noch bestehende Konsens über die für den Rechtsstaat unverzichtbare Unabhängigkeit des Richters von Dauer sein wird. Man fragt sich, wie dieses Richterbild in eine politische Konzeption paßt, nach der es . nicht mehr um Recht im bisherigen Sinne und Ausmaße geben“ werde, „weil die Gesellschaft eben nicht rechtlich, sondern politisch verfaßt" sein müsse
Nicht einen Zuwachs an Legitimation, sondern Vertrauenseinbußen und Autoritätsverlust bringt das von manchen
Der politische Richter enträt demokratischer Legitimation zur Sozialgestaltung nicht nur wegen seiner Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit, sondern auch, weil das Verfahren des von der Bindung an das Gesetz befreiten Richters eine Rückkoppelung an demokratische Entscheidungen ausschließt. Die — zufällige — Besetzung der Spruchkörper, die Grundsätze der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit, die mangelnde Vorhersehbarkeit politischer Entscheidungen, die unschwer zu prognostizierende Zersplitterung der Rechtsprechung wegen unterschiedlicher Ansichten in rechtspolitischen Fragen und die dadurch entstehende Rechtsunsicherheit — die Unterschiede zur Legitimation des Parlaments sind nicht zu übersehen.
Brot lür Lobby Zudem muß zwangsläufig das (berechtigte) Interesse des Aktivbürgers an der politischen Gestaltungsaufgabe der Justiz den Richter denselben Pressionen aussetzen wie den Gesetzgeber schon heute
III. Zur Methodendiskussion — politisches Engagement als außergesetzliche Rechtsquelle?
Di« rechtsstaatliche Bindung des Richters an Gesetz und Recht und die fehlende demokratische Legitimation zu aktiver Sozialgestal-tung schließen also stets eine Korrektur
Unterschied zwischen Rechtsetzung und Rechtsfindung
Rechtsetzung, also Schaffung verbindlicher Normen, setzt im Unterschied zur Beurteilung eines Einzelfalls eine politische Konzeption voraus, die über das zur Entscheidung des Gerichts gestellte Problem hinaus eine Parteinahme im Kampf der Interessen erfordert. Zwar kann auch die Rechtsfortbildung als methodisch besonders problematischer Sonderfall der Rechtsfindung nicht darauf verzichten, die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende (politische) Interessenbewertung zu erforschen und damit die politische Wirklichkeit in die Betrachtung einzubeziehen. Dennoch bleibt zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung ein wesentlicher Unterschied, den Friedrich Klein
Indessen zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß aus der genannten Entscheidung für die hier abgelehnte Auffassung keine Argumentfe hergeleitet werden können. Das Urteil führt u. a. aus: »Vor allem ist die Ansicht irrig, es stünde in aller Regel eindeutig und klar fest, welche Entscheidung richtig ist, und daß nur eine richtig sein könne ... Welche Entscheidüng richtig ist — und das ist ausschlaggebend — steht im konkreten Fall für die streitenden Parteien verbindlich erst durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, aber sonst niemals fest, mag auch die Entscheidung der Kritik falsch erscheinen."
Politisches Engagement und juristische Methodenlehre
Die relative Unschärfe der juristischen Methodenlehre und die Unmöglichkeit, eine verbindliche Rangfolge der verschiedenen Auslegungsmethoden festzusetzen, veranlaßt die Justizkritiker zu der Behauptung, es fehle an wissenschaftlichen Kriterien für die richterliche Rechtsfindung. Diese fehlenden Maßstäbe sollen durch Heranziehung der unten zu erörternden sozialwissenschaftlichen Methoden und durch politisches Engagement und politisches Bewußtsein des Richters gewonnen werden.
Richtig ist, daß die Fülle der Gesichtspunkte, die der Rechtsanwender zu beachten hat, Intersubjektivität des Ergebnisses nicht in der Weise garantiert, daß Zweifel nicht mehr möglich sind. Der hermeneutische Prozeß erfolgt nicht nach der Art einer Rechenaufgabe ’
Der Streit geht freilich In Wahrheit nicht darum, ob die juristischen Methoden Ihre Aufgaben nach dem herkömmlichen Verständnis von der Funktion der rechtsprechenden Gewalt im Rechtsstaat zu erfüllen vermögen, sondern um die Frage, ob sie sich als Instrument politischer Sozialgestaltung eignen. Politische Entscheidungen im Sinne einer Veränderung des geltenden Rechts lassen sich allerdings nicht mit juristischen Ableitungen begründen, sie bedürfen politischen Entscheidungswillens und damit auch politischen Engagements. Insofern besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der Inpflichtnahme der Rechtsprechung zum Zweck der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und in der vermeintlichen Unvollkommenheit juristisch-exegetischer Verfahren. Es ist somit nur folgerichtig, wenn die Protagonisten des „politischen Richters“ die überkommenen juristischen Methoden als für ihre Zwecke ungeeignet ansehen. So läßt sich aus dem Begriff des Sozialstaats oder aus der Sozialbindung des Eigentums juristisch nicht herleiten, wie etwa das Bodenrecht oder die Eigentumsordnung im einzelnen gestaltet werden sollen
Das politische Engagement ist aber nicht nur ein sachfremder Gesichtspunkt im Bereich der Methodenlehre, es vergrößert darüber hinaus — wie oben bereits gezeigt wurde — die Gefahr, daß der Richter bestimmten politischen Präferenzen folgt. Der Einfluß des „Vorverständnisses“ auf die Entscheidung läßt sich um so schwerer kalkulieren, je „engagierter" der Richter ist, und im Unterschied zur immerhin möglichen Bekämpfung privater Vorlieben kann vom politischen Richter wohl nicht mit Aussicht auf Erfolg erwartet werden, daß er seine eigene politische Überzeugung für falsch hält und nicht in die Entscheidung einfließen läßt. Dies hat besonders bei Kollegial-gerichten groteske Konsequenzen: Wenn nicht juristische Methoden die Entscheidung stützen, so kann man abweichende Ansichten auch nicht mehr als „rechtsirrig" bezeichnen, vielmehr würde man dissentierenden Richtern „falsches politisches Bewußtsein'“ vorhalten müssen. Die Implikationen für die Atmosphäre in dr Justiz sind überdeutlich. Aber darüber hinaus: Wäre es eigentlich vernünf-* tig, Leute mit „falschem politischem Bewußt, sein* einzustellen oder gar zu befördern! Müßte man nicht folgerichtig das „richtige 1 politische Bewußtsein in den Dienstleistungs-Zeugnissen besonders hervorheben?
Daß politisches Engagement Distanz und Sachlichkeit des Richters beeinträchtigen kann, hat erst jüngst einer der bekanntesten Justizkritiker
Hier hat das Engagement die Urteilsfähigkeit getrübt. Die deutschen Oberlandesgerichte haben keineswegs die Ansicht vertreten, Strafgefangene genössen nicht den Schutz der Grundrechte. Im Gegenteil konnte Hessel schon in der 3. Auflage seines Lehrbuches feststellen, es bestehe Einigkeit darüber, daß die Sonderstatusverhältnisse (dazu gehört auch das Strafgefangenenverhältnis) nicht „von der Geltung der Grundrechte schlechthin eximiert“ seien. Umstritten war allein die Frage, ob die natürlich notwendige Einschränkung der Grundrechte der Strafgefangenen eines formellen Gesetzes bedurfte oder ob die Exekutive über die Figur des „besonderen Gewaltverhältnisses“ eine — durch die Verfassung und den Anstaltszweck begrenzte — Regelungsbefugnis besaß
Das Urteil ist damit zugleich eine Entscheidung gegen die Vorstellung von der politischen Funktion der Rechtsprechung; denn die Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts bedeutet eine stärkere Bindung der Verwaltung an das Gesetz und damit eine geringere
Verfassungskonforme Auslegung
Ein weiteres methodisches Prinzip, das als Einbruchstelle für richterliche politische Gestaltung in Betracht kommt, ist die sog. verfassungskonforme Auslegung
Wertungsmaßstäbe durch die Sozialwissenschaften?
Eines der Hauptanliegen der politisierten Justiz ist die Einbeziehung der Sozialwissenschaften in den richterlichen Meinungsbildungsprozeß. Nach Wassermann soll durch Heranziehung politischer Gesichtspunkte, die die Entscheidung tragen, die Rationalität der Begründung erhöht werden. Die politische Methodik habe einen Rationalitätsvorsprung vor der juristischen
Hier werden zwei Gesichtspunkte unzulässig miteinander vermengt:
Zutreffend ist, daß die Vorstellung, Rechtsprechung sei allein mechanische Subsumtion des dem Richter unterbreiteten Sachverhalts unter eine Rechtsnorm, der Vergangenheit angehört. Bereits die klassische Interessenjurisprudenz hat erkannt, daß das Gesetz den Richter häufig im Stich läßt
Freilich ist damit weder die Ermächtigung zu einer Eigenwertung des Richters nach seinen politischen Präferenzen verbunden, noch ergeben sich aus der Tatsachenermittlung Sollenssätze. Vielmehr sind die Werturteile dem Gesetz und den in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Vorstellungen zu entnehmen: „Die Übertragung des Werturteils vollzieht sich durch eine Vergleichung des entscheidungsbedürftigen Interessenkonfliktes mit dem autoritativ entschiedenen. Deshalb hat der Richter nicht die konkreten Interessen in der Gesamtheit des wirklichen Bestandes zu erfassen, sondern diejenigen Merkmale herauszuheben, welche in der Rechtsordnung gewertet sind.“
Die Aufhellung der hinter der Entscheidung stehenden Interessenbewertung und die Darlegung der maßgeblichen Gesichtspunkte in den Entscheidungsgründen ermöglichen mehr Transparenz, erhöhen die Vorhersehbarkeit von Entwicklungstendenzen in der Rechtsprechung und führen damit zu Rationalität und Rechtssicherheit. Darüber hinaus vermeiden sie die Rechtfertigung einer Entscheidung durch „Scheinbegründungen“. Insoweit bewegt Wassermann sich also auf gesichertem theoretischen Boden.
Hiervon ist jedoch scharf die Heranziehung sozialwissenschaftlicher Methoden zur Gewinnung von Wertmaßstäben zu unterscheiden. Die Sozialwissenschaften können als empirische Wissenschaften nur Methoden zur Gewinnung vertiefter Einsichten in die soziale Wirklichkeit, nicht aber rechtliche Sollenssätze entwickeln, nach denen die Wirklichkeit zu gestalten ist
gramme zu entwerfen, wie Wieacker
IV. Ausbildungsreform
Neben der sozialgestaltenden Funktion des rechtsetzenden politischen Richters, die sich — wie ich deutlich gemacht zu haben hoffe — nicht auf eine hinreichende Legitimationsbasis stützen kann, gelten die Bemühungen um die Politisierung der Justiz vornehmlich der Reform der Juristenausbildung. Besondere Aufmerksamkeit hat dabei die Experimentierklausel des § 5 b Deutsches Richtergesetz zur 10jährigen Erprobung einer einstufigen Juristenausbildung gefunden, die eine Abkehr von der traditionellen Zweistufigkeit (erst Hochschulstudium, danach Einführung in die Praxis im Rahmen des sog. Vorbereitungsdienstes) erlaubt.
In jenen Bundesländern (im einzelnen: Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen), in denen sich die von Wassermann maßgeblich mitbegründeten Vorstellungen vom „politischen Richter" der — freilich nicht immer vorbehaltlosen — Unterstützung durch die Regierungsparteien erfreuen, werden die Einstufenmodelle als besonders geeignete Instrumente zu einer „grundlegenden Umorientierung der Juristenausbildung" (Wassermann) angesehen. Die Experimentierklausel wird nicht nur als Aufforderung zur Erprobung neuer Ausbildungsformen verstanden, sondern als Einfallstor einer inhaltlichen Ausbildungsreform, die mit der Formel „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“
Nun ist die Ergänzung des juristischen Studiums durch Einbeziehung speziell de: Rechtstatsachenforschung, aber darüber hinaus auch der Grundzüge der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften im Grundsatz keine Streitfrage mehr. Insbesondere besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß bestimmte Rechtsgebiete wissenschaftlich nur dann er schlossen werden können, wenn Grundkennt nisse über die tatsächlichen Strukturen der Regelungsgegenstände vorhanden sind. So werden z. B. wirtschafts-und steuerrechtliche Probleme ohne wissenschaftlich geschultes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge ebensowenig sinnvoll erarbeitet werden können wie das Studium des Staatsrechts ohne die Problematisierung politischer Gegebenheiten unvollständig sein muß
Die auf den sozialgestaltenden Richter abge-
stellten Ausbildungsordnungen indessen sowohl in bezug auf das Ziel als auch die Methode sozialwissenschaftlicher Ausbildung von einem grundsätzlich anderen Ausgangspunkt aus. Ziele u. a.: Politisierung des juristischen Denkens (Wassermann), Schaffung eines neuen Bewußtseins, Nutzbarmachung „juristischer Professionalisierung"
Bevorzugtes Mittel ist das „integrierte sozialwissenschaftliche Eingangsstudium", das u. a.
den Jurastudenten gemeinsam mit Soziologen, Politologen usw. von Bindungen befreien soll, „die seinen tatsächlichen Interessen nicht entsprechen"
Unbeschadet der grundsätzlichen Bedenken
chern führen muß, überrascht es angesichts solcher Formulierungen und mancher Merkwürdigkeiten bei der Auswahl der Hochschullehrer in den genannten Bundesländern nicht, wenn zunehmend die Besorgnis geäußert wird, manche Befürworter einer sozialwissenschaftlich orientierten Juristenausbildung erstrebten eine neue unseres Rechtswesens" ’
Wenn die Feststellung zutrifft, daß der Ausbildung des Juristen eine „sehr viel größere Bedeutung"
Die auch von Wassermann befürwortete Identifikation des Richters mit dem Staat wird durch die sozialwissenschaftliche Ausbildung nach den bisherigen Erfahrungen kaum gefestigt werden können. Anscheinend besteht jedoch selbst innerhalb der Gruppe der etablierten „Reformer“ keine Einigkeit darüber, ob Systemüberwindung oder Identifikation angestrebt werden soll, was um so merkwürdiger anmutet, als die verschiedenen Modelle des sozialwissenschaftlichen Grundstudiums weitgehend übereinstimmende Züge tragen. Mit rechtsstaatlichem Denken ist die Funktion schwerlich vereinbar, die den Sozialwissenschaften im Rahmen der Juristen-ausbildung nach Rasehorn
Daß sich diese Speerspitze gegen den demokratisch-legitimierten Gesetzgeber richtet, ist unübersehbar. Mit Recht warnen deshalb nicht etwa nur „konservative“, sondern zunehmend auch „progressive“ Wissenschaftler vor einer Überbetonung der sozialwissenschaftlichen Fächer in der Juristenausbildung. Zunächst ist es schon nicht sachgerecht, die Sozialwissenschaften vor das eigentliche Fachstudium „vorzuschalten". Regelmäßig bringen die Studenten von der Schule her einige politologische und soziologische Grundkenntnisse mit, ein Umstand, auf den Thilo Ramm
Vor allem aber sind die Methoden der Sozial. Wissenschaften und der Rechtswissenschatt notwendig verschieden. Der Sozialwissenschaftler kann angesichts eines empirischen Befundes fragen: Wie würde ich diesen Konflikt entscheiden? Dagegen kann und darf der an das Gesetz gebundene Richter nur fragen Wie hat der Gesetzgeber entschieden? War um hat er so entschieden? Welches waren die tragenden Gesichtspunkte seiner Entscheidung?
Diese Feststellung bietet freilich noch keinen Ausweg aus dem Dilemma, daß weite Kreise der Bevölkerung der Justiz fremd gegenüberstehen. So trifft es zu, daß insbesondere die unteren Bevölkerungsschichten die rechtsprechende Gewalt regelmäßig nur als „Beklagte"
oder „Angeklagte" erleben und ihr deshalb reserviert gegenüberstehen. Die Möglichkeiten, die das Armenrecht bietet, reichen bei weitem nicht mehr aus, um effektiven Rechtsschutz zu leisten. Der Justizgewährungspflicht des Staates wird nicht genügt, wenn für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung das Risiko eines Zivilprozesses zur unübersteigbaren Barriere wird.
Die damit angedeutete Problematik läßt sich jedoch nicht durch eine Verschiebung der Gewaltenbalancierung in Richtung auf einen Justizstaat und schon gar nicht durch die Anerkennung einer Kompensationsfunktion des Richters zugunsten Unterprivilegierter lösen. Sinnvolle Reformen werden vielmehr erschwert, wenn der durchaus vorhandene Reformwille durch unüberlegtes Nachgeben gegenüber systemüberwindenden Bestrebungen mißbraucht wird. Die Gefahr, daß durch überzogene Forderungen der Begriff der Reform selbst in Mißkredit gerät, ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Es kommt jetzt alles darauf an, in der Richterschaft die Bereitschaft zur Äußerung rechtspolitischer Vorschläge zu fördern. Die reichen Erfahrungen, die die Richter in der Anwendung des Rechts gesammelt haben, müssen stärker als bisher in der Gesetzgebung Berücksichtigung finden. Zutreffend ist erst jüngst