L Die Politik der „friedlichen Koexistenz" im Lichte der sowjetischen Innenpolitik
hat die Aufgabe des „Kremlologen" — Man ämlich das Verfolgen der „Machtkonstellatonen und Richtungskämpfe im Kreml“ — echt treffend mit der des Beobachters der abolutistischen Höfe von ehemals verglichen
Je mehr man sich der Spitze der sowjetischen politischen Pyramide nähert, desto fließender werden (wenigstens in der Praxis) die Kompetenzen, so daß man mit einer gewissen Berechtigung einfach vom „Kreml" spricht. Persönliche, quasi-feudal anmutende Machtverhältnisse beginnen, eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen. Gerade die Zeiten „kollektiver Führung“ begünstigen schwankende Bündnisse, wenn sie andererseits auch die Führer zwingen, sich schließlich zu einem Konsensus durchzuringen.
Augenblicklich stehen die Politik der Entspannung, ihre innenpolitischen Voraussetzungen und ihre mutmaßlichen Rückwirkungen auf das System natürlich im Mittelpunkt der laufenden Debatten in der sowjetischen Führung
Insofern bieten die Reden der Mitglieder des Politbüros anläßlich der Verleihung von „Orden der Völkerfreundschaft“ in ihrer relativ ungekürzten Form in der Provinzpresse einen gewissen, nicht gerade häufigen gleichzeitigen Einblick in die Ansichten der sowjetischen Führer. Hier sollen nicht die zahlreichen Reden resümiert werden, die um die Jahreswende 1973/74 geradezu kampagnen-ähnlichen Charakter annahmen. Sie waren ganz offenkundig nach einheitlichem Muster abgefaßt und überschnitten sich daher prima facie weitgehend. Ziel dieses Essays ist es vielmehr, zu versuchen, die Besonderheiten in den individuellen Auffassungen über die Entspannungspolitik herauszuarbeiten im Hinblick auf die dahinterstehenden Interessen und Motivationen. Im Politbüro sitzen die Leiter der mächtigsten und wichtigsten Apparate — eine Tendenz, die sich bei der Auswahl seiner Mitglieder in der letzten Zeit noch verstärkt hat (und dieses Gremium institutionell zukünftig noch mehr festigen könnte).
Besondere Nuancen enthielten die kürzlich gehaltenen Reden in der Tat vor allem im Bereiche der außenpolitischen Stellungnahmen. Worum es letztlich bei diesen Fragen geht, ist nicht weniger als eine Auseinandersetzung zwischen den Kräften der Neuerung und denen der Beharrung im sowjetischen System. Akademiemitglied N. Inozemcev, der prominente Leiter des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, hat das vorsichtig angedeutet, als er kürzlich im Kommunist schrieb, es könne nur schaden, „alte Formeln zu wiederholen, wo sie sich längst überlebt haben“, und nicht fähig oder nicht willens zu sein, „neue Probleme neu anzupakken"
2. Die Verfechter der Dötente
Abbildung 2
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Roj Medvedev hat mit Recht bemerkt, es seien in erster Linie die Außenpolitiker und Wirtschaftsführer, die das größte Interesse an der Entspannung hätten und auch am besten auf ihre Folgen vorbereitet seien, also Vertreter des Staatsapparates. a) Die Außenpolitiker Der entscheidende Faktor hinter der Politik der „friedlichen Koexistenz" ist das imperative Gebot der Verhinderung eines Nuklear-krieges
Setzungen, unabhängig von der jeweiligenpo litischen „Konjunktur"
Im September d. J. äußerte er sich vor den UN wieder im gleichen Sinne
Dieses Grundproblem veranlaßte aud Breznev, der sich wiederholt über „zahnlosen Pazifismus" mokiert hat, die Fähigkeit eines heutigen Staatsmannes an seiner Einstellung zur Friedensproblematik zu messen
qrundlegende interne Reformen oder begrenze . Öffnung nach Westen" in der Hoffnung auf den Einstrom von technischem „know *iow und zusätzlichen Ressourcen. Nur so scheint die Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik lösbar, nämlich (in Brenevs Worten):
. eine scharfe Wendung in Richtung auf die Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft auf der Grundlage der Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes“
zember-Plenum 1973 zugegeben wurde, daß es Wirtschaftsprobleme gibt, „die man mit Recht Wachstumsprobleme nennt"
Es ist nicht verwunderlich, wenn Ministerpräsident Kosygin 1965 durchblicken ließ, daß er im Grunde die „sehr großen Ausgaben" für die Verteidigung gern anderen Wirtschaftszweigen zugeführt sähe
Angesichts des fühlbar werdenden Mangels an Arbeitskräften sind zur Schaffung der neuen Arbeits, Psychologie', zu der Breznev aufgerufen hat, nicht zuletzt auch „materielle Anreize” nötig, d. h., man muß dem lange vernachlässigten Verbraucher bzw. „den Bedürfnissen der Gesellschaft" (Kosygin) entgegenkommen. Das aber erfordert, wie Kosygin im November 1973 in Minsk erklärte, „gewaltige Ressourcen"
Es ist also nur natürlich, wenn sich die Vertreter des Staatsapparates, die für die Erfüllung der hochgesteckten Planziele verantwortlich sind, für die Entspannung interessieren müssen als Voraussetzung für die Konzentration auf den inneren Aufbau, wenn nicht gar als Quelle für neue Ressourcen. Gewisse Kreise erhoffen vielleicht sogar, daß die neue Außenpolitik auch einen liberalisierenden Einfluß nach innen haben könnte. Zudem dürften die Wirtschaftsführer das Abzweigen von ohnehin knappen Mitteln zur Unterstützung „nationaler Befreiungsbewegungen", die sich allzuoft schließlich als von dubiosem politischen Wert erweisen, auch nicht gerne sehen, und die Sowjetunion hat bei ihrer Auslandshilfe unter Chruevs Nachfolgern in der Tat eine Wendung zu ganz pragmatischen „cost-benefit“ -Erwägungen vollzogen, so wenn z. B. kürzlich Cuba die wirtschaftliche Wiederannäherung an die USA nahegelegt wurde.
Kosygin rief im November 1973 zu internationaler Kooperation auf und erklärte, die Bemühung um den Frieden sei die Hauptaufgabe der Politik
Der ehemalige ZK-Sekretär, der sich seinerzeit der kommunistischen Weltbewegung zu widmen hatte
Die traditionelle „Achillesferse“ der sowjetischen Wirtschaft ist bekanntlich die Landwirtschaft. Der im Februar 1973 vom Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten zum bloßen Landwirtschaftsminister degradierte Dmitrij S. Poljanskij benutzte die Gelegenheit der Ordensverleihung an Tadzikistan, um wieder einmal ein couragiertes Plädoyer für erhöhte Investitionen in seinem Bereich abzulegen. Poljanskij, ein noch relativ Jugendliches'Politbüromitglied (er wurde am Tag der Oktoberrevolution geboren, ist also 57), hatte schon früher einen gewissen Hang zur Unabhängigkeit demonstriert und erklärte im letzten Dezember rundheraus, die Landwirtschaft sei „genauso wichtig“ wie jeder andere Zweig
Poljanskij, hart, kompetent und kultiviert, erscheint nach seinen politischen Rückschlägen von 1972-73 kaum noch als jener „Führer für die schweren 70er Jahre"
Weniger eindeutig dahingegen ist die Einstellung des Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten, Kirill T. Mazurov. Der neben Kosygin für die Industrie zuständige ehemalige veißrussische Partisanenführer gelangte 1965 ganz offensichtlich als Vertrauensmann der Partei mit breiten Befugnissen in den Regie-
rungsapparat
Im Grunde wiederholte Mazurov, was er bereits anläßlich der Feier der Oktoberrevolution 1968 gesagt hatte
Wenn es überwiegend Interessen des Staatsapparates sind, die für die Politik der Entspannung sprechen, so ist aber zu bedenken, daß diese Interessen schwerlich das Übergewicht bei der Entscheidungsfindung haben. Wenn auch seit dem April-Plenum von 1973
im Politbüro das Gleichgewicht zwischen Partei-und Staatsapparat wiederhergestellt worden ist, so ist doch die Sonderstellung der Vertreter der drei hinzugekom-menen Ressorts — Außenpolitik, KGB und Verteidigung — zu bedenken, die direkt dem Politbüro unterstehen und nicht etwa dem Ministerpräsidenten, wenn auch theoretisch laut Verfassung der Ministerrat eigentlich die Außenpolitik festlegen sollte
3. Der Sicherheitsapparat. Andropov ein „Falke" ?
Mit gemischten Gefühlen müßte der Sicherheitsapparat die Entspannungspolitik betrachten. Der größere Kontakt mit den auf die Wohlfahrt des Individuums ausgerichteten Konsumgesellschaften des Westens könnte eine „revolution of rising expectations" fördern und ideologisch zersetzend wirken, und es ist daher nur natürlich, wenn hohe Geheimpolizisten nachdrücklich nach „Wachsamkeit“ gerufen haben
Im letzten Dezember legte Andropov in Estland interessanterweise das wohl nachhaltigste Bekenntnis zur Entspannungspolitik ab als »den einzig richtigen, einzig wahren Kurs"
Andropov ist sich natürlich auch der Risiken wachsender Westkontakte bewußt, scheint sie aber nicht zu dramatisieren, wie schon seine Rede vom Dezember 1967 anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Sicherheitsorgane andeutete. Größeres Gewicht scheint er wachsendem Wohlstand als Sicherheitsfaktor beizumessen, der, wie er damals erklärte, „anti-sowjetischen Handlungen“ den Boden nähme
Andropov, Katusevs Vorgänger im Apparat des ZK, ist einer der besten Kenner der „Bruderparteien" und Chinas, so daß dieser ehemalige Mitarbeiter Suslovs in seinen Ansichten freier von dem Provinzialismus sein dürfte, der die innenpolitischen Administratoren auszeichnet, und es verstehen müßte, die neue Außenpolitik nach globalen Maßstäben zu bewerten.
4. Die Gegner der Entspannung
a) Die Militärs Es sind in erster Linie militärische Kreise besonders aus den Reihen der traditionalistisa eingestellten Landstreitkräfte und nicht zuletzt natürlich auch der Politischen Hauptverwaltung, die die Entspannungspolitik mit der größten Besorgnis sehen. Weniger dahingegen tun das wahrscheinlich die primär technokratisch orientierten Vertreter der modernen Waffengattungen, wie der strategischen Raketenstreitkräfte. Allgemein jedoch dürfte die Kontrolle durch die Partei sowie die „combined arms tradition" die Rivalitäten zwischen den einzelnen Waffengattungen in der Sowjetunion auf einem niedrigeren Niveau halten als das anderswo der Fall ist
Die Gegnerschaft gegen die Entspannung mag z. T. mit dem Umstand zu erklären sein, daß die oberste Militärführung immer noch entscheidend von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägt ist, auf den man sich oft und gern beruft. Derartige Erwägungen mögen dahinter stehen, wenn Greko die Ordensverleihung an die Tatarische ASSR benutzte, um Anfang 1974 in Kazan'vor . bewußter oder unbewußter" Unterschätzung der vom Imperialismus ausgehenden Gefahr zn warnen
Episev verwies dabei ausdrücklich auf die „geschichtliche Erfahrung".
Doch der Zweite Weltkrieg liegt inzwischen drei Jahrzehnte zurück, und im nukleare» Zeitalter dürfte die echte Gefahr eines „imperialistischen" Angriffes selbst aus sowjet Kher Sicht wohl sehr reduziert erscheinen, nmal man nicht davon sprechen würde, renn sie wirklich drohte
tlbarer Realität sind die Gefahren, die sich aus der Entspannungspolitik für die Ressort-
nteressen der Militärs, und zwar in erster Linie der großen konventionellen Streitkräfte, irgeben müssen, wie die Erfahrungen unter Chruev bewiesen haben. Epiev brachte derartige Ressortbefürchtungen aus seiner besonderen Warte klar zum Ausdruck, wenn er schrieb: „Man muß unbedingt in Erwägung iiehen, daß unter den Bedingungen der internationalen Entspannung sich dieser und jener fragen mag: lohnt es sich, Fragen solche Aufmerksamkeit zuzuwenden, die mit der Vorbereitung der Bevölkerung auf die bewaffnete Verteidigung des Vaterlandes verknüpft sind?'
Aus militärischer Sicht spricht gegen die Entspannung, daß sie sich negativ auf die Moral der Truppen auswirken könnte. Die Jugend — heute eine Jugend, die nicht nur aus ungebildeten, gehorsamen Jungen vom Lande besteht, sondern die Fragen stellt — ist nicht frei von pazifistischen Neigungen, so daß Episev kürzlich wieder feststellen mußte, es gäbe immer noch „einzelne Werke", in denen der Krieg, darunter der Große Vaterländische, , der Massenheroismus der sowjetischen Menschen, einseitig beleuchtet werde, ... wo zeitweilig pazifistische Töne angeschlagen werden“
Noch viel mehr aber geht es um das traditionelle Problem der Aufteilung der Ressourcen und, damit verknüpft, um eine mögliche Reduzierung der konventionellen Streitkräfte. Letzteres wird gelegentlich auch in der zivilen Presse angedeutet, so etwa anläßlich der MBFR-Verhandlungen
Wenn man gern auf die besondere Last der Rüstung für die kapitalistischen Länder verweist, so kann das auch eine „äsopische" Spitze gegen die Verhältnisse im eigenen Lande enthalten. Für die Offiziere ohne Ingenieurausbildung ist das eine ominöse Perspektive. Wie die Erfahrungen unter Chruev gezeigt haben, bringt die Rückkehr ins zivile Leben oft erhebliche soziale Schwierigkeiten für sie mit sich, da sie nur selten gleichwertige Stellen finden. Bei einem Erfolg der Entspannungspolitik könnte letztlich die jetzige Position des Militärs, besonders der konventionellen Streitkräfte, auf dem Spiel stehen.
Da die sowjetischen Militärs nicht direkt erklären können, die ihnen zugeteilten Ressourcen seien nicht ausreichend, ist es ein bereits klassisches Argument geworden, unter diesen Umständen auf eine — zu dem jeweiligen Moment angeblich gerade wieder einmal wachsende — „Aggressivität des Imperialismus" zu verweisen
Auf jeden Fall taucht der Ruf nach mehr „Wachsamkeit" und „Bereitschaft" oft zu Zeitpunkten auf, die primär auf innenpolitische Motivationen verweisen. So erklärte Grecko 1967 (gerade als er die Dienstzeit verkürzen ließ, der Verteidigungsetat aber den bis dahin höchsten Stand in Friedenszeiten erreichte), die Gefahr eines neuen Weltkrieges sei besonders akut. Anläßlich der V. Allunionskonferenz der Parteisekretäre der Armee vom März 1973 warnte er wieder, die Imperialisten warteten nur auf eine Gelegenheit, ihre aggressiven Pläne wiederaufzunehmen. Bei der Ordensverleihung an die Tatarische ASSR im letzten Januar sprach er in demselben Geiste. Einen Monat später mußte er dann aber laut Pravda wenigstens konzedieren, daß es „reale Voraussetzungen" gäbe, einen neuen Weltkrieg zu verhindern
Da die auf dem April-Plenum 1973 noch einmal als offizielle Politik bestätigte „friedliche Koexistenz" nicht mehr als solche in Frage gestellt werden kann — zumal es in der Sowjetunion im Bereiche der Außenpolitik noch weniger als in dem der Innenpolitik zulässig ist, verschiedene Ansichten zu äußern
Daraus zogen gewisse Kreise, u. a.der Verteidigungsminister, einen Schritt weitergehend, folgenden Schluß: „Je höher die Kampfbereitschaft der sowjetischen Streitkräfte, je mächtiger ihre Rüstung, je besser ihre Schulung, desto ruhiger (spokojnee) wird es auf der Welt sein",
Das ist offenbar die Idee der pax sovietica. In der Tat scheint Grecko zu hegemonialen Vorstellungen zu neigen. Bereits im Mai 1963 erklärte er, damals noch Stellvertretender Verteidigungsminister: solange die Abrüstung nicht verwirklicht sei, müßten „die Streitkräfte der sozialistischen Gemeinschaft denen des Imperialismus immer überlegen sein"
Doch hat diese Argumentation in der zivilen Presse ein verhältnismäßig geringes Echo gefunden, die zwar (schon seit langem) von einem Wandel im internationalen Gleichgewicht der Kräfte spricht, dabei aber auf politische, wirtschaftliche und ideologische Faktoren verweist
Ohnehin ist, wie das Beispiel der USA gezeigt hat, der politische Wert strategischer Überlegenheit in der Welt von heute zweifelhaft geworden. So ist es bezeichnend, wenn ein wichtiger Artikel in Krasnaja zvezda, dem Organ des Verteidigungsministeriums, am 19. Mai 1973 darauf verwies, die beste Sicherheit böte eine allseitig entwickelte Wirtschaft. Dagegen scheint der Ministerpräsident der RSFSR, Solomencev, der der Rüstungsindustrie nahesteht, umgekehrt zu finden, die „Erfolge bei der Stärkung der außenpolitischen Position der Sowjetunion“ seien auch die Voraussetzung für die innenpolitischen „Errungenschaften“ gewesen
Diese Debatte über den politischen Wert militärischer Hegemonie mag Suslov veranlaßt haben, sich in seiner bemerkenswerten Rede in Vilna im letzten November diskret aber unmißverständlich von der militärischen Position, daß mehr Rüstung bessere Aussichten für den Frieden bedeute, zu distanzieren. Betont fand er den Grund für die angebliche Veränderung des Gleichgewichts der Kräfte in der dank des Friedensprogramms erhöhten politischen Autorität der Sowjetunion
Seit Greko Verteidigungsminister geworden ist und seine Reformen und das Rüstungsprogramm durchgeführt hat, hat das Gewicht der Militärs in der sowjetischen Gesellschaft deutlich zugenommen
Die Ernennung Greckos statt des vielleicht in Erwägung gezogenen Zivilisten und Rüstungsexperten Ustinov zum Verteidigungsminister 1967 — nach einem Treffen der Spitzenführer von Partei und Militär
Einstweilen gibt es zwar keinerlei Anzeichen, daß die Militärs der Partei die Führung streitig machen wollen
Es ist denkbar, daß die Militärs auch in Zukunft noch an politischem Gewicht gewinnen in einem System, das seine Weltmachtrolle so betont auf den militärischen Faktor gründet.
b) Der Parteiapparat
Der Parteiapparat, die Klammer, die das System in seiner bisherigen Form zusammenhält, ist eine weitere Hochburg der Kräfte der Beharrung, so sehr die Partei — und in erster Linie ihre Führung — in ihrer Rolle als allgemeiner Vermittler und Ausgleicher
Die Partei, so hat Suslov ausdrücklich erklärt, „will sich nicht ändern"
Bei der Konzentration auf die interne wirtschaftliche Entwicklung — ein Hauptmotiv der Entspannungspolitik — würde die Partei wahrscheinlich an Boden verlieren zugunsten des Staatsapparates. Breznev hatte also allen Grund, auf dem Dezember-Plenum 1973 bei seiner Forderung nach einer Verbesserung der wirtschaftlichen Leitung von vornherein doch eine „eng wirtschaftliche und noch mehr eine technokratische" Orientierung abzulehnen und „Parteistil“ zu fordern
Außenpolitisch hat die Partei, bei aller Entwicklung zur pragmatischen Realpolitik, sich immer noch nicht mit letzter Konsequenz von ihrer Rolle als Zentrum der Weltrevolution zu trennen vermocht, zumal es die Führung im „antiimperialistischen" Kampf ist, die auch die Führungsrolle der Sowjetunion im sozialistischen Lager legitimiert. Will sie aber ihre Diplomatie maximal effizient gestalten und der Entspannung echte und dauerhafte Grundlagen verleihen, müßte die Sowjetunion auch den letzten Schritt auf dem Wege von der Revolution zum Mitglied des internationalen Staatensystems
Es dürfte symptomatisch sein, wenn beispielsveise im letzten Sommer ein Dozent an der Moskauer Universität die Verträge mit den USA als „bloßes Papier“ abtun konnte — nachdem sie Breznev wiederholt als den An-lang einer „neuen historischen Epoche" gedeutet hatte. Hinter den Zwischenfällen auf ter Moskauer Universiade und der überraschend kurzfristig einsetzenden, praktisch aber wenig effizienten Kampagne gegen Solze-nicyn und Sacharov — die dem neuen internationalen Image der Sowjetunion nicht gerade dienlich sein konnten — vermutet man ebenfalls das Moskauer Stadtkomitee. Der ideologische Sekretär der Organisation, der noch junge Jagodkin, zitierte in einem Seminar des Historischen Instituts der Akademie der Wissenschaften eben vor Breznevs Besuch in den USA ohne nähere Quellenangabe aus einem Brief von Marx den bezeichnenden Satz, „daß du in der Politik einen Pakt mit dem Teufel selber abschließen kannst, wenn du sicher bist, den Teufel hereinlegen zu können“
Wenn Jagodkin besonders vor „opportunistischen Illusionen" als der „gefährlicheren“ Tendenz gewarnt hat, so distanzierte er sich zunächst wenigstens scheinbar auch von . dogmatischem Negativismus"
Breznev hatte also allen Grund, wiederholt zu betonen, der Schritt zur Entspannung sei kein leichter gewesen, er erfordere Mut und politische Weitsicht
Im letzten August mußte sich Breznev gegenüber eben diesen internen Opponenten verteidigen, als er darauf verwies, das Prinzip „alles oder nichts" tauge in der internationalen Politik nicht. Auf diese Weise könnte man nicht einmal die erreichbaren Fortschritte ausnützen. „Soll man auf himmlisches Manna warten?"
5. Die Breznevsche „Synthese"
Brenev ist keineswegs der Friedensapostel, der seine Laufbahn auf Gedeih und Verderb mit einem pazifistischen Programm verknüpfen wollte. Ein Produkt der Stalinschen Schule, neigt er dazu, mehr in den „Monopolen“ und im „militärisch-industriellen Komplex“ des Westens seine Hauptgegner zu sehen als in China
Doch die Versuche, die Beziehungen zu China zu normalisieren, haben „keine besonderen Fortschritte" gemacht, wie er in Alma Ata im letzten August erklären mußte
Denn Breznevs außenpolitische Konzeption ist von geradezu gezielter Vieldeutigkeit und scheint allen alles zu versprechen: Detente mit den USA und technische Kooperation mit den „kapitalistischen" Ländern, aber Förderung der revolutionären Prozesse in der Welt und „ideologischer Krieg"; Konzentration auf den inneren Aufbau und Anerkennung und Wahrung des Status quo im sowjetischen Herrschaftsbereich, aber freie Hand für die Sowjetunion, ihre Einflußsphären (im Mittelmeerraum und Indischen Ozean) auszudehnen und sich offenkundig hegemonialen Bestrebungen hinzugeben; gegenseitiger Respekt für die „Souveränität, Gesetze und Traditionen“
Die sowjetische Außenpolitik unter Breznev kann natürlich nicht die Interessen der Hauptmachtapparate im eigenen Lande ignorieren, jedenfalls nicht allzu viele gleichzeitig verletzen, wie das Chruev nach dem kubanischen Raketenfiasko und der anschließenden Wendung in seiner Politik tat. Breznev, ein offenbar brillanter Machtpolitiker, dürfte das besser als jeder andere wissen. „Seine“ Außenpolitik spiegelt die immer noch nicht überwundere Realität der „kollektiven Führung" wider mit den sie stützenden „Interessengruppen". Hinzu kommt, daß sich diese Spitzenführer selber in ihrer Mehrheit aus innenpolitischen Administratoren rekrutieren, was nicht die beste Vorbereitung für staatsmännischen Weitblick in Fragen der Außenpolitik ist. In der Tat dürfte das Führungskollektiv um so mißtrauischer sein, als der Generalsekretär in der Außenpolitik ganz offenkundig den Bereich gefunden hat, mittels dessen er am ehesten aus den Beschränkungen durch dieses „Kollektiv" ausbrechen kann.
Im letzten Frühjahr versetzte die Nachricht das Pentagon in Unruhe, Breznev habe vor Führern des Warschauer Paktes die Entspannung als eine Taktik gedeutet, um in ca. einem Dutzend Jahren die militärische Hegemonie zu erlangen
Die innenpolitische Logik brachte Breznev wieder einmal mit aller Klarheit beim Besuche des japanischen Regierungschefs Tanaka im letzten Oktober zum Ausdruck, als er darauf verwies, welche „enormen Aufgaben'sich die Sowjetunion für die nächsten Jahre gestellt habe, um den Lebensstandard und die Kultur ihres Volkes zu heben: „Das ist eine weitere Bestätigung, daß unsere Außenpolitik den Frieden nur begünstigen kann"
In der Tat scheint die Außenpolitik Breznevs im letzten Jahr so etwas wie eine Eigendynamik entwickelt zu haben, die den Parteichef gezwungen hat, klarer Stellung zu beziehen. So war es Breznev, der Antipazifist, der in den USA zu Geduld aufrief, um die Besonderheiten der Gegenseite zu verstehen
6. Schlußbetrachtung
Die Debatte über die „Entspannung" zeigt, daß die Einteilung der Führung in gewissermaßen institutionell bedingte „Tauben" und . Falken" noch problematischer geworden ist.
Auf den Gipfel der Macht führen Sachtragen, Machterwägungen und persönliche Bindungen und Motivationen zu einer betonten Vielschichtigkeit der Urteilsbezüge. Rein „institutioneile" Interessen findet man eher auf der nächst tieferen Stufe der Macht, bei den Mar-
schällen usw.
Dieser Umstand erklärt einige prima facie vielleicht überraschende Stellungnahmen: in Hinblick auf chinesische „Großmachtbestrebungen"
Es sind interne Sachzwänge, die viele der grundlegenden Motivationen hinter der Entspannungspolitik bestimmen und nicht zuletzt den bewußt vieldeutigen Gehalt dieses Begriffes „Entspannung" selbst. Obwohl es natürlich nicht allein die sowjetische Innenpolitik ist, die über die Geschicke dieser „neuen“ Außenpolitik entscheiden wird, so ist es doch die Innenpolitik, die jene Grenzen festlegt, über die ein sowjetischer Führer nicht hin-ausgehen kann: das Schicksal von Chruev und Malenkov bleibt eine Warnung an alle Führer, die das Steuer dieses großen Staats-schiffes mit all der ihm innewohnenden Trägheit allzu schnell herumwerfen wollen.
Was Breznev versucht hat, ist eine eigenartige „policy mix" von einer Außenpolitik der Neuerung und einer Innenpolitik der Beharrung, um das hergebrachte System durch Anpassung zu bewahren — wenn man will, eine echt konservative Lösung. Die Frage bleibt, wie lange diese heterogenen Elemente der Breznevschen politischen „Synthese“ eine Einheit bilden können, bis ein grundlegender Neuanfang nötig wird. Es könnte sein, daß letztlich die Sowjetunion heute vor fundamentalen Entscheidungen steht, die in ihrer Tragweite denen der zwanziger Jahre nicht nachstehen dürften.