, Nihil veritas erubescit nisi solummodo abscondi“ . *
* „Die Wahrheit errötet nur, wenn sie unterdrückt wird.'
Tertullian, Adversus Valentinianos III, 2 (Corpus Christianorum, Series Latina II, 2, S. 755).
Unser Ausgangspunkt war der Wunsch, aufgrund aller verfügbaren Quellen zu ermitteln, wie und durch wen es im Dezember 1936 zu , der berüchtigten Entziehung"
An ironisch-dialektischem Einschlag, ja an Beispielen tragischer Ironie fehlt es auch sonst im Verlauf der Begebenheiten nicht, die wir darzustellen hatten. Die literarhistorische Forschung hat bei dem Thema „Thomas Mann und sein Publikum" „hie und da tragikomische Züge" konstatiert
In den Zusammenhang dieser Kampagne gehört der Entzug von Thomas Manns Bonner Dr. phil. h. c. Er bildete nicht ein isoliert dastehendes Ereignis, nicht eine selbständig geplante Handlung, sondern die faktisch automatische Konsequenz der über den Dichter verhängten Ausbürgerung. So bestimmten es die von den nationalsozialistischen Machthabern auf Drängen ihrer Studentenfunktionäre schon 1933 erlassenen generellen Vorschriften. Bei der Universität Bonn und ihrer Philosophischen Fakultät hat die Aversion rechts-bürgerlicher Kreise und nationalsozialistischer Aktivisten gegen Thomas Mann deutliche Spuren in den Akten hinterlassen. Gleichwohl steht diese Gesinnung einzelner Professoren in keinerlei nachweisbarem Kausalzusammenhang mit dem Entzug seiner Ehren-doktorwürde. Als sich 1934 ein direkter Anlaß zu einem derartigen Schritt bot, wurde ei ausdrücklich nicht wahrgenommen. Der auf Aberkennung zielende Vorstoß, den im folgenden Jahr einer der wenigen überzeugten und kämpferisch aktiven Nationalsozialisten im Lehrkörper der Hochschule, der Chemiker Professor v. Antropoff, aufgrund von Presse-nachrichten über kommunistenfreundliche Äußerungen Thomas Manns spontan und auf eigene Faust, allerdings unter Ausnutzung der ihm als Stellvertreter des Dekans bei den damals herrschenden Verhältnissen offenstehenden Möglichkeiten, unternahm, scheiterte an den Bedenken des Auswärtigen Amtes und des Reichspropagandaministeriums.
Die Frage einer Schuld der Fakultät in diesem Zusammenhang erledigt sich nicht bloß dadurch, daß v. Antropoffs Schritt nachweislich ohne ihre Beteiligung oder Kenntnis unternommen worden ist. Sie geht überhaupt von einer irrigen Vorstellung aus. Das gilt auch im Hinblick auf das Schreiben des Dekans Obenauer vom 19. Dezember 1936, das Thomas Mann dann tatsächlich den Verlust seines Bonner akademischen Ehrengrades eröffnete. In der nationalsozialistischen Ära haben nämlich an den deutschen Hochschulen Fakultäten als Beschlußkörperschaften nicht bestanden, wie es vor 1933 selbstverständlich seit 1945 wieder der Fall war. Seit dem Erlaß des Kultusministers Rust „zur Vereinfathung der Hochschulverwaltung" vom 18. Oktober 1933, besonders aber nach schäreren Richtlinien vom 1. April 1935, die die zunächst noch verbliebenen spärlichen Reste früherer Beratungs-und Entscheidungskompeenz völlig beseitigten, konnte davon keine lede mehr sein. Einzig und allein der Dekan >esaß von da an die Befugnis, Entscheidungen u treffen, selbst in rein wissenschaftlichen Fachfragen wie der Bewertung von Dissertationen. Er konnte zu diesen Beschlüssen nach Gutdünken die Ansicht der Fakultät einholen oder dies auch unterlassen. In keinem Fall war er an sie gebunden. Seine nach nationalsozialistischem „Führerprinzip“ zustande gekommenen Entscheidungen wurden freilich weiterhin als „Fakultätsbeschlüsse" bezeichnet. Bei Auswahl und Bestellung des Dekans hatten die Fakultäten nicht einmal mehr ein Mitspracherecht. Selbstverständlich gilt auch für diese Verhältnisse, daß Verfassungsvorschrift und Verfassungswirklichkeit sich nicht immer deckten und daß der Umfang, in dem dies jeweils doch geschah, mannigfache Abstufungen aufwies. Trugschlüssen kann nur entgehen, wer genau prüft, wie es sich im einzelnen Fall verhalten hat. Aus den Akten ergibt sich, daß der im November 1936 aus rein politischen, allein in seiner SS-und SD-Zugehörigkeit liegenden Gründen zum Dekan ernannte Professor Obenauer das „Führerprinzip" in perfekter Weise praktiziert hat. Das war auch, ja insbesondere bei der kurz nach dem Amtsantritt des neuen Dekans vollzogenen Aberkennung von Thomas Manns Dr. phil. h. c.der Fall. Dieser Akt kann nicht zutreffender charakterisiert werden als mit den Worten des jüngsten Kommentars zu dem Antwortschreiben des Dichters: „Unter dem Druck der faschistischen Machthaber in Deutschland wurde Thomas Mann die Ehren-doktorwürde durch den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, Professor Dr. Karl Justus Obenauer am 19. 12. 1936 aberkannt", und bereits der Autor eines 1945 in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Buches, das Thomas Mann in der Zeit zwischen 1933 und dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft behandelt, hatte richtig geurteilt, daß diese „klägliche Geste. . . in Gefolgschaft der staatlichen Ausbürgerung" des Dichters „stand“ Sa). Weder ist vor diesem Akt die Fakultät befragt oder von Obenauers Absicht unterrichtet noch nachher über das Ereignis informiert worden, auch nicht über das vom Dekan als streng geheim-zuhaltendes Dokument betrachtete Antwort-schreiben des Dichters vom Neujahrstag 1937. Eine Besprechung Obenauers über die Aberkennung vor dem verhängnisvollen Schritt mit mindestens einem, von ihm als vertrauenswürdig betrachteten Mitglied der Fakultät kann nicht ausgeschlossen werden. Dieser Professor, der als repräsentativer Anhänger des Nationalsozialismus und Panegyriker Hitlers hervorgetretene, als Rektor allerdings für die Machthaber enttäuschende und deshalb 1935 dieses Amtes enthobene Germanist Hans Naumann, will Obenauer abgeraten haben. Nachweislich hat er sich im März 1937 gegenüber einem ausländischen Presseorgan kritisch distanzierend über den Fall geäußert.
Der Entzug von Thomas Manns Ehrendoktor-würde war nicht rechtswirksam, weil schon die den Akt ausschließlich begründende Ausbürgerung des Dichters dies nicht gewesen ist. Thomas Mann hatte mit seiner am 19. November 1936 vollzogenen Naturalisierung in der Tschechoslowakei die deutsche Staatsangehörigkeit verloren und war so dem Erlaß, der sie ihm nehmen sollte, um vierzehn Tage zuvorgekommen. Universität und Fakultät haben davon niemals etwas erfahren. Die Berliner Ministerien kannten Anfang 1937 die Tatsachen; sie schwiegen jedoch — anders als in* einem entsprechenden Fall —, weil sie die für das nationalsozialistische Regime wegen des weltweiten Widerhalls von Thomas Manns Antwort an den Bonner Dekan übel ausgelaufene Sache nicht von neuem aufrühren wollten. Was Obenauer betrifft, so war er 1935 durch das Ministerium auf den infolge der politischen Umwälzung mehr als zwei Jahre hindurch vakant gebliebenen Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Bonn berufen worden. Dies geschah unter Nicht-achtung verschiedener anderslautender Vorschläge der Fakultät und gegen deren ausdrücklichen Willen, den sie in einer unter den obwaltenden Umständen geradezu erstaunlichen Weise mehrfach bekundet hatte. Das Ministerium wollte in der von den Nationalsozialisten verschiedentlich als ein für sie schwieriges Terrain bezeichneten Bonner Universität auf ein Ordinariat der Philosophischen Fakultät mit weitreichender Ausstrahlungskraft einen politisch und weltanschaulich absolut zuverlässig wirkenden Vertrauensmann bringen. Ausschlaggebend bei Obenauers Berufung war der Einfluß der SS und vor allem des SD, dem er angehörte. Diese Machtorganisationen wollten damit eine Position an der Bonner Hochschule gewinnen.
Das dritte Kapitel aus der Geschichte der Beziehungen zwischen Thomas Mann und der Bonner Universität bietet der historischen Kritik und Darstellung weit geringere Probleme als die beiden ersten. Es umfaßt das Jahrzehnt vom Ende der nationalsozialistischen Herrschaft bis zum Tode des Dichters. Die entscheidenden Vorgänge sind seit fast 25 Jahren öffentlich bekannt. Aus bisher unbekannten Quellen hat sich ergeben, daß nach Abschluß der Kampfhandlungen im Mai 1945 keine andere Sorge die Universität Bonn so frühzeitig und so dringend beschäftigt hat wie die Bereinigung des durch Obenauers Vorgehen geschaffenen „Falles Thomas Mann". Nachdem sich der provisorische Verwaltungsrat der Hochschule Anfang Juni 1945 bei seiner ersten Sitzung mit der Sache befaßt hatte, konnte die in den letzten Julitagen rekonstituierte Philosophische Fakultät den entscheidenden — übrigens von dritter Seite nicht beeinflußten — Beschluß am 27. August 1945 fassen. Die weiteren Beziehungen zwischen Thomas Mann und der Fakultät verliefen korrekt und gewannen zunehmend an Wärme. 1955 nahm Thomas Mann eine Einladung der Universität zu einem Vortrag an, dessen Thema er bereits mitgeteilt hatte, als der Tod ihn traf.
Als 1965 unsere auf den Entzug der Ehren-doktorwürde bezüglichen Forschungsergebnisse erstmals im Zusammenhang öffentlich mitgeteilt worden sind, hat Richard Alewyn geurteilt, für die Universität Bonn liefe der „Fall Thomas Mann" auf einen Freispruch wegen erwiesener Unschuld hinaus. Nachdem sogar die früher durch die postume Kritik vermißte öffentliche Distanzierung von dem gegen Thomas Mann geführten Streich des Dekans durch wenigstens einen Bonner Professor nachzuweisen ist — mag die historische Ironie auch wollen, daß dies kein anderer als der Festredner bei der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 war —, wird man sich Alewyns Ansicht schwerlich verschließen mögen. In den Akten der nationalsozialistischen Studentenorganisation findet sich geraume Zeit nach der Machtübernahme durch die NSDAP die bündige Klage: „unsere Hochschulen in Bonn und Köln besitzen noch keineswegs eine nationalsozialistisch ausgerichtete Dozentenschaft, von ganz geringen Ausnahmen abgesehen. Die Schwierigkeiten, welcher [sic! ] einer Überwindung dieses Zustandes gegenüberstehen", werden beim Adressaten dieses Berichts als wohlbekannt vorausgesetzt; „sie sind bedingt durch den Mangel an nationalsozialistischen Lehrkräften, Wissenschaftlern usw."
Zunächst ist am „Fall Thomas Mann" — und zwar im ganzen Umfang des Verlaufs seiner Behandlung durch die verschiedenen damit zwischen 1933 und 1937 befaßten Stellen — das Funktionieren eines aus vielen Elementen persönlicher, legislativer und organisatorischer Art bestehenden, durch verfassungsmäßige öffentliche Organe nicht mehr kontrollierten Staats-und Verwaltungsapparats zu beobachten, dessen Mechanik anscheinend gar nicht oder nur wenig von den ihm dienstbaren Individuen abhängig ist. Den einzelnen Elementen dieser Maschinerie kommen — wie in jedem modernen Staatswesen — jeweils nur begrenzte Funktionen zu; daher ist ihnen kaum je Gesamtverantwortung bewußt. Ihr Ineinandergreifen und Zusammenarbeiten, die über Ressortgrenzen hinweg wirkende Automatik der Apparatur, erzeugen die von den übergeordneten, jeder Kontrolle entzogenen Steuerungsmächten des Ganzen gewünschten Effekte, sofern nur der Apparat die dafür zweckmäßigste Konstruktion erhalten hat. Diese kann — wie im Falle des totalen Umsturzes im Bereich der Universitätsund Fakultätsverfassung unter einem so harmlosen Etikett wie „Vereinfachung der Hochschulverwaltung" — relativ unschwer erzielt werden. Die Mechanik ist, wie gerade unser Beispiel lehrt, offenbar selbst heute und sogar für kritisch veranlagte Köpfe im allgemeinen nicht leicht durchschaubar. Zu der politisch gewünschten Umfunktionierung waren 1933— 1935 nur wenige Manipulationen vorzunehmen; die äußeren Formen samt dem überkommenen, nun sinnentleerten Vokabular konnten beibehalten werden. Andererseits kann auch in einer solchen Apparatur — und dies ist als genau so wichtig zu beachten — immer noch Spielraum für die Rolle bleiben, die einzelnen Menschen und ihren jeweiligen Entscheidungen in dem täglich zur geschichtlichen Vergangenheit erstarrenden Leben zukommt. Diese Tatsache hat der nationalsozialistische Staat sogar besonders klar hervortreten lassen, da von der Spitze bis in die untersten Bereiche der Verwaltung gemäß dem »Führerprinzip“ demokratische und genossenschaftliche Mehrheitsbeschlüsse durch die Entscheidungskompetenz einzelner Amtsträger ersetzt waren. Hierin lagen auch gewisse Chancen, um die von der Obrigkeit verfolgten Absichten mildern oder sogar ins Gegenteil verkehren zu können. Ob und wie derartige Möglichkeiten wahrgenommen wurden, hing von vielen Umständen ab, jedenfalls letztlich in höchst nuancierter Weise von individuellen und momentanen Entschlüssen bestimmter Personen.
Für diesen Sachverhalt bietet die Geschichte der Ausbürgerung Thomas Manns und des Entzugs seiner Ehrendoktorwürde verschiedene Beispiele. So ist der vorgeschriebene und mehrfach eingeschärfte Entzug akademischer Grade infolge Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit bei den durch dasselbe Dekret wie Thomas Mann Betroffenen aufgrund einer in derartigen Verfahren vorgesehenen Rundverfügung des Reichskultusministeriums erst im Frühjahr 1937 ausgesprochen worden. Es geschah speziell im Bereich der Bonner Philosophischen Fakultät durch den Beschluß Obenauers über Siegfried Thalheimer vom 11. März 1937. Wenn Thomas Mann unabhängig hiervon schon Mitte Dezember 1936 sein Dr. phil. h. c. entzogen worden ist, so muß dieser Vorwegnahme der persönliche Entschluß eines einzelnen zugrunde liegen, wer immer dies gewesen sein mag. Denn nicht bloß möglich, sondern normal, nämlich im Einklang mit dem sonst stets beobachteten Geschäftsgang, würde es sein, daß auch die Maßnahme gegen den Dichter erst durch die erwähnte Rundverfügung vom März 1937 ausgelöst worden wäre. Im Licht mancher inzwischen zu Tage getretenen Vorgänge aus der inneren Geschichte des nationalsozialistischen Reiches wäre es sogar denkbar, daß ein mit dem Vorgehen der Machthaber nicht einverstandener und als Verwaltungsroutinier zu einem derart aus Kühnheit und List gepaarten Verhalten befähigter Amtsträger die Entscheidung geschickt verzögert, wenn nicht gar zu verhindern gesucht hätte. Aktivitäten solcher Art in den Berliner Ministerien sind bei dem Ausbürgerungsverfahren gegn Thomas Mann nachzuweisen. Der Dekan Obenauer war aus vielen, in seinem Wesen, Werdegang und damaligen politisch-weltanschaulichen Standort liegenden Gründen zu derlei Taten gewiß nicht der Mann. Andererseits können die nach 1945 von ihm und dem ehemaligen Rektor, Professor Schmidt, gelieferten Erklärungen in dem springenden Punkt nicht überzeugend dartun, daß die Initiative für die Ingangsetzung des akademischen Verfahrens gegen den Dichter im Dezember 1936 bei den Berliner Zentralstellen gelegen habe. Vielmehr spricht alles dafür, daß sie in Bonn zu suchen und daß Obenauer bei ihr die Hauptfigur gewesen ist, wenn vielleicht auch ein erster Anstoß dazu in einem Hinweis vermutet werden darf, den der Universitätskurator Bachem geliefert haben mag. Obenauers individuelle, in gewissem Umfang von dem damaligen Rektor geteilte moralische und politische Verantwor7 tung für den mit seiner Unterschrift vollzogenen Akt der akademischen „Exkommunikation" des großen deutschen Dichters liegt damit fest — so unbezweifelbar auch der Dekan dabei im Rahmen der zu jener Zeit geltenden Gesetze und Vorschriften als einfaches Exekutivorgan gehandelt hat und so gewiß dies nach Fühlungnahme mit dem zuständigen Ministerium geschehen ist, das die bestehende Vorschrift natürlich nur bestätigen konnte. Es war diese moralische und politische Verantwortung Obenauers für den Entzug von Thomas Manns Ehrendoktorwürde, welche die Bonner Philosophische Fakultät 1957 bewog, den formell durch das Entnazisierungsverfahren Entlasteten trotz seines durch Verwaltungsgerichtsurteil gesicherten und vom Kultusminister des Landes unterstützten Anspruchs nicht wieder als Glied ihrer Korporation zuzulassen.
Das Problem von Schuld und Verantwortung Ob angesichts der formaljuristischen und faktischen Sachlage, die eine Schuld der Fakultät an dem Geschehen mit Sicherheit ausschließt, nicht doch auch ihr ein Teil Verantwortung zuzumessen ist, muß losgelöst von dem einzelnen Ereignis beurteilt werden, das bislang dafür herhalten mußte, um diese Fakultät speziell wegen dieses Aktes zu verurteilen. Das legt sich schon dadurch nahe, daß das Vorkommnis gar nicht so einzigartig in der deutschen Hochschulgeschichte während der nationalsozialistischen Ära dasteht, wie oft angenommen worden ist. War schon der Entzug von Thomas Manns Ehrendoktorwürde wie ihre Verleihung in einen umfassenderen Zusammenhang zu stellen, um adäquat beurteilt werden zu können, so gilt genau das gleiche vom Verhalten der Bonner Philosophischen Fakultät nach der nationalsozialistischen Machtübernahme. Die Stunde ihrer Bewährung hatte nicht erst geschlagen, als es darum ging, Thomas Mann den ihm einst zuerkannten Ehrengrad zu nehmen. Will man überhaupt einen solchen Entscheidungsmoment zeitlich festlegen, so kommt dafür ein Tag in Frage, der mehr als drei Jahre vor dem Schreiben Obenauers an den Dichter liegt. Für den rückschauenden Blick, der — wie das spätere Urteil — häufig schärfer zu sein pflegt als die Einsicht der beteiligten Zeitgenossen im Moment derartig folgenschwerer Entscheidungen, ist dieser „dies ater" der Fakultät schon der 8. November 1933
Wir sind uns bewußt, mit diesem Urteil zahlreiche Fragen unbeantwortet zu lassen oder sogar neu aufzuwerfen. Sie sind hier nicht weiter zu erörtern. Ihre Lösung ist dringlich und sollte von der zeitgeschichtlichen Forschung über die deutschen Universitäten in Angriff genommen werden. Dazu gehört z. B. das schwierige Problem, ob in der Lage, der sich die Hochschulen zu Beginn des Wintersemesters 1933/34 gegenübersahen, eher Widerstand oder taktische Anpassung geboten erscheinen mochte, und ob die von den Erfahrungen der Zukunft noch nicht gewitzten Betroffenen damals überhaupt derjenigen Entscheidung fähig sein konnten, die heute als angemessen betrachtet wird. Solche Fragen tauchen bekanntlich nicht nur in diesem Zusammenhang auf, sondern bei zahlreichen Ereigniskomplexen aus der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland oder anderer Herrschaftssysteme, natürlich besonders solchen totalitärer Art. Sie führen schließlich auf Grundprobleme des menschlichen Verhaltens und auf Zentralfragen der Geschichtswissenschaft als einer Disziplin, die im Spannungsfeld zwischen Erkennen und Verstehen auf der einen Seite, Werten und Richten auf der anderen Seite liegt. In der Novelle „Mario und der Zauberer", die Thomas Mann gerade vollendet hatte, als er im November 1929 die Feststunde in der Bonner Universität erlebte, finden sich die folgenden Sätze: w... Wahrscheinlich kann man von Nichtwollen seelisch nicht leben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als daß nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten m* üßte
Wider Erwarten boten insgesamt nicht die Fakultätsakten für unser Vorhaben den größten Gewinn an neuer Faktenkenntnis, überhaupt erwies sich ja der Entzug von Thomas Manns Bonner Ehrendoktorwürde nicht als Ereignis autonomen Ranges, sondern als Nachgeburt der Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit des Dichters. Indem auch in diesem Falle der Lebenszusammenhang eines Einzelgeschehens berücksichtigt wurde, konnten für dessen Interpretation Tatsachen ermittelt werden, die nicht einfach den Akten zu entnehmen sind, welche allein Thomas Mann betreffen. Um hier ebenfalls das allgemeinste Resultat zunächst vorwegzunehmen: kein Ausbürgerungsverfahren in der gesamten Geschichte des Dritten Reichs hat die Behörden so ausführlich beschäftigt und so viele Wechselfälle erlebt, wie das von Thomas Mann. Auch darin spiegelte sich dialektisch-ironisch der unvergleichliche Rang, den der Dichter als Repräsentant deutschen Geisteslebens in der Welt einnahm. Hitler selbst mußte schließlich die Entscheidung treffen. Verschiedene Vermutungen über den Anlaß des Verfahrens und die hinter ihm steckenden treibenden Kräfte erwiesen sich als irrig. Thomas Mann hatte selbst richtig geurteilt, daß sein mit denkbar schärfster Kritik an den heimischen Machthabern verbundenes Bekenntnis zu den deutschen Emigranten in dem Offenen Brief an Eduard Korrodi vom 2. Februar 1936 die Ausbürgerung des Verfassers unweigerlich nach sich ziehen mußte. Sie drohte ihm freilich schon seit Jahren. Nicht Goebbels war ihr Urheber, wie gern vermutet wurde. Sein Ministerium hat ihr vielmehr lange widerraten und sich deswegen zusammen mit dem Reichsministerium des Innern und dem bis zuletzt bremsenden Auswärtigen Amt sogar das von Heydrich deutlich zum Ausdruck gebrachte Mißfallen der Geheimen Staatspolizei zugezogen. Diese selbst war es, die das Verfahren gegen den Dichter mit unbeirrter Zielstrebigkeit betrieb. Die durch das Gespann Himmler/Heydrich beherrschte Bayerische Politische Polizei hatte den Stein ins Rollen gebracht, gleich nachdem das Reichsgesetz vom 14. Juli 1933 über die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit und den Widerruf von Einbürgerungen hierzu die Möglichkeit geliefert hatte. Der Inhalt der Akten und die sonst gewonnenen Erkenntnisse illustrieren den Anteil, den die SS an dem Vorgehen gegen Thomas Mann gehabt hat, näher, einsetzend mit der überraschenden Tatsache, daß die „Münchner Neuesten Nachrichten" soeben Himmler hörig geworden waren, als sie Mitte April 1933 den „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ veröffentlichten, der Thomas Mann für die Einlieferung in das Konzentrationslager Dachau qualifizierte und so dem entsprechenden „Schutzhaft" befehl präludierte. Die Bayerische Politische Polizei, die Thomas Mann nicht aus den Augen ließ, war und blieb seit der gleichen Zeit unter staatlicher Firma faktisch ein SS-Instrument. Als Himmler und Heydrich unter Mitnahme einer großen Zahl ihrer Münchner Helfer ihr Tätigkeitsfeld nach Berlin verlegen konnten, wurde auch die ihnen jetzt unterstellte Preußische Geheime Staatspolizei zu einer SS-Domäne, in deren Aufgabenbereich fortan die Verfolgung Thomas Manns lag. Die beiden Bonner Professoren, die im Zusammenhang mit dem Entzug der Ehrendoktorwürde des Dichters aktiv geworden sind — v. Antropoff, der ihn 1935 vergeblich anregte, und Obenauer, der ihn anderthalb Jahre später vollzog — gehörten ebenfalls dem schwarzen Orden an und fühlten sich ihm besonders verpflichtet. Wir haben keinen Beweis dafür finden können und dürfen es auch für unwahrscheinlich halten, daß sie etwa auf Weisung ihrer SS-und SD-Vorgesetzten gehandelt haben. Aber es ist natürlich auch kein Zufall, daß gerade sie wie viele andere, im Verlauf der zu schildernden Begebenheiten auftretende Personen — die Heydrich, Beck, Schreie-der, Mattiat, Krieck, Spengler, Rößner und schließlich auch der im Spätjahr 1936 von Himmler persönlich in die SS aufgenommene Legationsrat Schumburg, der jahrelang im Auswärtigen Amt die Angelegenheit Thomas Mann bearbeitet hatte, ferner zwei der drei Professoren, die als Gutachter bei der Berufung Obenauers nach Bonn durch das Ministerium herangezogen worden waren — die Uniform mit dem Totenkopfabzeichen und den SS-Runen trugen oder das Vertrauen des SD genossen. Die zu ihrer Zeit von der Öffentlichkeit wenig bemerkte Gewichtsver-Schiebung zugunsten der SS im Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches, Himmlers still, aber erstaunlich zügig vorgenommene interne Machtübernahme, verrät sich in diesen Einzelheiten. In die gleiche Richtung weisen Erkenntnisse, die der Fall Thomas Mann über die Entwicklung des Verfahrens zur Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vermittelt. Bemühten sich die Beamten des Reichsinnenministeriums und anderer Ressorts anfangs nicht ohne gewissen Erfolg darum, gegen nationalsozialistische Wünsche den Kreis der von Ausbürgerung unmittelbar Betroffenen sowie die Erstreckung auf Dritte in Grenzen zu halten, und konnte es zunächst im mündlichen oder schriftlichen Meinungsaustausch der beteiligten Ministerien gelingen, Rücksichtnahme auf Bedenken zu erreichen, so fungiert schließlich nicht mehr die Polizeibehörde als Exekutivorgan des Innenministeriums, sondern dieses als ausführende Instanz für die von Himmler, Heydrich und ihren Gehilfen in der Gestapo verfolgten Absichten. Schon im Spätjahr 1933, als die Angelegenheit nur erst Münchner Amtsstellen beschäftigte, deutet die Behandlung der Eingabe von Thomas Manns Rechtsanwalt durch den Bayerischen Kultusminister an, wohin das Schiff steuerte.
Schemm verschleppte die Sache, bis die Politische Polizei ihr Ersuchen um Ausbürgerung des Dichters im Geschäftsgang der Regierung auf gutem Wege wissen durfte. Die totale Wirkungslosigkeit, die Fricks günstigem Erlaß vom 28. Mai 1935 in Sachen Thomas Mann trotz seines klaren Inhalts bei der Bayerischen Politischen Polizei beschieden war, verrät, bis zu welchem Grade die Selbst-herrlichkeit des SS-beherrschten Polizeiapparats damals gediehen war — mochten hier auch örtliche Besonderheiten mit im Spiel sein, die selbst damals gegenüber einer Berliner Zentralstelle hinhaltenden Widerstand nahelegen konnten. Im Gegensatz zu der bis Mitte 1935 im Reichsinnenministerium noch deutlich spürbaren mäßigenden Tendenz dokumentieren dann ein Jahr später die auf schnellste Erfüllung von Heydrichs Verlangen nach Ausbürgerung Thomas Manns drängenden, durch dieselben Beamten wie früher bearbeiteten Schreiben des gleichen Hauses den inzwischen vollzogenen Wandel deutlich genug. Er wird im September 1936 kraß sichtbar, wenn auf einem Kopfbogen des Reichsinnenministeriums ungeniert ein Geschäftszeichen der Geheimen Staatspolizei erscheint, unter dem Heydrich die — schon einmal in München 1933 vorbereiteten — vermögensrechtlichen Konsequenzen von Thomas Manns nur erst beantragter, noch gar nicht beschlossener Ausbürgerung so gut wie vorwegnahm. Einige Zeit später hatte die von der Geheimen Staatspolizei durch die zuständigen Reichsressorts den Hochschulen übermittelte Nachricht, der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei habe ein Ausbürgerungsverfahren eingeleitet, schon zur Folge, daß den Betroffenen durch „Fakultäts" beschlüsse reihenweise ihre akademischen Grade entzogen wurden. Mit alledem soll nicht bestritten werden, daß „die SS ... alles andere als eine einheitliche und straff geführte, . monolithische'Organisation, sondern ein durch zahlreiche Parteiungen gespaltenes . .. Gebilde darstellte"
Es fällt heute nicht schwer, einen Hauptgrund für das an Balzacs „Peau de Chagrin" erinnernde Dahinschwinden der von den Beamten des Reichsinnenministeriums verwalteten Macht im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts zu erkennen. Wenn sie in den ersten zwei, drei Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft noch versuchten, die seit dem einschlägigen Gesetz vom 14. Juli 1933 der Exekutive gebotenen Möglichkeit nicht ausufern zu lassen, so kurierten sie an Symptomen eines Übels, dessen absolut verderblicher Kern dadurch keineswegs berührt wurde. Er besteht darin, daß das Gesetz und die dazu erlassenen Richtlinien den Entzug der Staatsangehörigkeit einem Verwaltungsverfahren zuwiesen, das sich im geheimen abspielte und Kabinettsjustiz von reinstem Wasser darstellt. Thomas Manns Rechtsanwalt hatte nur durch besondere Umstände in München davon erfahren und damit ausnahmsweise die Möglichkeiten erhalten, einzugreifen, um den Versuch zu machen, das Verfahren zugunsten des Inkulpanten zu beeinflussen. Einen Rechtsanspruch darauf besaß er nicht. Die Ausbürgerung wurde als schwere entehrende Strafe verhängt — so lautete die amtliche Interpretation. Aber die Betroffenen wurden bei dem Verfahren nicht gehört. Sie hatten weder Gelegenheit, sich zu verteidigen, noch die Möglichkeit, nach ergangenem Urteil eine Revisionsinstanz anzurufen. Indem die meist im anspruchsvollen Dienst der inneren Verwaltung bewährten, z. T. auch nachweislich nicht zu Hitlers Anhängern zählenden Beamten des Reichsinnenministeriums diese jeder Rechtsstaatlichkeit hohnsprechende Prozedur behutsam zu handhaben, jedoch nicht prinzipiell zu bestreiten willens waren, erfolgte ein Deichbruch, der dem späteren Polizei-und Terrorregime Himmler/Heydrich freie Bahn bereitete. Er war möglich, weil offenbar entgegen dem Sprichwort „C’est le premier pas qui cote" der erste Schritt im Sommer 1933 aus mancherlei Gründen unverfänglich erschien. Künftige Forschung wird zu klären haben, ob nicht sogar die Referenten und Abteilungsleiter, die sich zunächst bemühten, nur in Ausnahmefällen das Gesetz anzuwenden, aufgrund dessen erst einige, später aber Hunderte, ja viele, viele Tausende von Deutschen der Staatsangehörigkeit beraubt worden sind, die betreffenden Bestimmungen selbst im Frühjahr und Sommer 1933 auf höhere Weisung formuliert haben. Die Frage nach der Möglichkeit und Zweckmäßigkeit prinzipiellen Widerstandes, die sich bereits im Zusammenhang mit dem Verhalten der Universitäten und Fakultäten stellte, erhebt sich hier aufs Neue. Aus dem Bericht eines unmittelbar Beteiligten entnehmen wir, wie die sogenannten Nürnberger Gesetze, für die die gleiche Abteilung des Reichsinnenministeriums federführend war, die auch die Ausbürgerungsangelegenheiten bearbeitete, durch düsteres Zusammenwirken von Rassefanatismus der NSDAP und gesetzestechnischem Sachverstand der Beamten unter heftiger Pression auf dem Reichsparteitag 1935 zustande gekommen sind, danach aber stellenweise im Vollzug zu mildern versucht wurden
So hat unsere Arbeit einige Beobachtungen zu den zeitgeschichtlichen Fragenkreisen „Partei und Staat im Dritten Reich", „Beamtentum im nationalsozialistischen Staat" und „Aufstieg des SS-Staates“ beisteuern können, die die Forschung in den letzten Jahren lebhaft beschäftigt haben. Der Ausbau der SS-Macht zu einem im Wirtskörper des bestehenden Staates sich entwickelnden und diesen immer mehr beherrschenden Organismus ist an zahlreichen Stellen zu beobachten; gerade die relative Enge unseres Untersuchungsfeldes verleiht den hierzu ermittelten Tatsachen besondere Beweiskraft. Wir stoßen auf die entsprechenden Fakten nicht allein bei der inneren Verwaltung — zunächst in Bayern, dann bei den Berliner Reichsbehörden — sondern ebenso schon bemerkenswert früh bei dem führenden Blatt Münchens, später im Reichskultusministerium und bei personalpolitischen Entscheidungen im Hochschulbereich bis hinunter zur Besetzung einer Assistentenstelle des Bonner Germanistischen Seminars mit einem hauptamtlichen SD-Mitarbeiter. SS-und SD-Einfluß läßt sich sogar bei der sorgfältig gesteuerten publizistischen Behandlung aufdecken, die Thomas Manns Antwort an den Bonner Dekan in Deutschland erfuhr. Beim Auswärtigen Amt traten, soweit unsere Beobachtungen reichen, d. h. in den mit Thomas Manns Ausbürgerung befaßten Referaten und in höheren Rängen des Hauses bis zur Jahreswende 1936/37, Expansion und Einfluß der SS noch nicht in Erscheinung — von Schumburg abgesehen, der später als eine „rara avis“ von SS-Treue unter den Diplomaten gerühmt wurde, die Linie des Hauses im Falle Thomas Mann jedoch, soweit die Akten dies erkennen lassen, loyal eingehalten hat. Freilich war er gerade in den Oktobertagen 1936, die die Entscheidung innerhalb des Amts auf dramatische Weise heranreifen sahen, an den Geschäften nicht beteiligt; gleich danach zeigte er sich als frisch eingekleideter SS-Offizier in der Rolle des wachsamen Judengegners. Die Wilhelmstraße erscheint in dem uns entgegentretenden Bild vorwiegend in der Rolle einer Schutzmacht für Thomas Mann, wenn auch nicht unbedingt durch alle auftretenden Angehörigen des Auswärtigen Dienstes verB körpert. Die Quellenlage ist hier günstiger als bei fast allen anderen Behörden und Institutionen, deren Akten benutzt werden konnten, so daß wir — im Unterschied besonders zu den übrigen Reichsministerien — beim Auswärtigen Amt auch den Niederschlag amtsintemen Denkens und den Werdegang der Entscheidungen kennen. Doch bleibt selbst hier fraglich, ob erfahrungsgesättigter und pflicht-mäßig geübter außenpolitischer Pragmatismus oder tiefergehende „kulturmoralische" Bedenken bei den verschiedenen Beamten jeweils maßgebend gewesen sind, die immer wieder hemmend den Gang des Verfahrens gegen Thomas Mann beeinflußt haben. Man ist versucht, für Leser, die die Wirklichkeit des Lebens in einem totalitären Staats-und Gesellschaftssystem nicht aus persönlicher Erfahrung kennen, hinzuzufügen, daß Auskunft hierüber in amtlichen Akten natürlich auch gar nicht zu erwarten ist. Ebenfalls läßt sich der persönliche Anteil einzelner Angehöriger des Auswärtigen Amtes am Gang der Ereignisse trotz der vorzüglichen Überlieferung nicht immer mit aller wünschenswerten Deutlichkeit feststellen. So bleibt vor allem offen, ob das Verhalten des Vortragenden Legationsrates v. Kotze, der den Reichsaußenminister v. Neurath in den letzten Oktobertagen 1936 bewog, seine gerade getroffene Entscheidung aufzuheben, um zu fordern, Hitler selbst solle über den Antrag auf Ausbürgerung Thomas Manns befinden, dem eigenen Entschluß v. Kotzes entsprach oder ob es von dritter Seite inspiriert worden ist. Die zweite Möglichkeit ist deshalb in Betracht zu ziehen, weil v. Kotze als Persönlicher Referent des Ministers zu einer derartigen Intervention in erster Linie als Vermittler geeignet und die auf seinen Vortrag hin getroffene Entscheidung schon vorher in dem zuständigen Referat des Auswärtigen Amtes vorgeschlagen worden war. Es muß uns genügen, festzustellen, daß v. Kotze jedenfalls einen ungewöhnlichen Schritt unternommen und ein nicht alltägliches Ergebnis erzielt hat, als der Minister seine erste Entscheidung umstieß, und daß dieser beherzte Vorstoß eines Beamten nur um Haaresbreite das angesteuerte Ziel verfehlte. Die durch v. Neuraths zweite Entscheidung gewonnene Zeitspanne wäre ausreichend gewesen, um der Welt das Schauspiel und Deutschland die Schande zu ersparen, daß Thomas Manns Zugehörigkeit zum Deutschtum durch regierungsamtliches Dekret verneint wurde. Denn die Annahme der tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit durch den Dichter, deren Projektierung das Auswärtige Amt gerüchteweise erfahren hatte und die es offenbar zu seiner verzweifelten Hinhaltetaktik bewog, wurde ja in eben jenen Novembertagen perfekt, während derer die Sache Thomas Mann darauf wartete, Hitler zur Entscheidung vorgelegt zu werden. Es gehört zu den schon mehrfach erwähnten Zügen historischer Ironie — diesmal von ausgesprochen tragischem Charakter — daß die Scheu des Dichters, seinen Staatsangehörigkeitswechsel sofort bekanntzugeben, Hoffnungen zunichte machte, die sich im Auswärtigen Amt an jene unverbürgten Nachrichten knüpften. „Wenn einer so beschaffen ist, geht Haut und Fleisch mit bei der Loslösung von dem unbewohnbar gewordenen Lande", so lautete schon 1933 das Urteil Bruno Franks über den nach Deutschland nicht zurückgekehrten Thomas Mann
Hierdurch kamen denn auch wirklich Tatsachen zutage, die vieles klarer erkennen lassen; Umstände, die ein besseres Verständnis der Ereignisse und ihres Zusammenhangs ermöglichen, wurden aufgehellt. Anderes blieb nur in Umrissen erkennbar, manches dunkel und unerklärlich. „Individuum est ineffabile".
Das „Phänomen menschlicher Ambivalenz"
Die minutiöse Analyse der Begebenheiten und der an ihnen beteiligten Personen laßt vor allem eines erkennen: die Vielschichtigkeit nicht bloß der Gesamtheit handelnder Individuen, sondern jedes einzelnen von ihnen, eine kaum vorstellbare, zuweilen proteushafte und im Geschichtsbild einer ganzen Epoche natürlich gar nicht immer so differenziert darstellungsfähige Mannigfaltigkeit menschlichen Wesens. Eine der wichtigsten Figuren aus dem ersten Abschnitt der Beziehungen zwischen Thomas Mann und der Universität Bonn, Ernst Bertram, hat auf sich das Dichter-wort angewandt, er sei kein ausgeklügelt Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch. Das äußerte sich schon früh darin, daß es ihm möglich war, mit den Antipoden Stefan George und Thomas Mann gleichzeitig nah verbunden zu sein. Hatte er in seinen Münchner Jahren dem einen von ihnen aus dem damals entstehenden Nietzsche-Buch ein Kapitel zur Kenntnis gebracht, so las er es am nächsten Abend vor den kritischen Ohren des anderen. Später vermochte Bertram dann seine ungebrochen freundschaftlichen Gefühle für den geschmähten und verfolgten „Zauberberg" -Dichter mit hoffender Zuversicht auf die inbrünstig geglaubte Heilswirkung des Nationalsozialismus und seines „Führers" zu verbinden. Er versuchte — so hat man gesagt — „aus seinem völkischen Wahn und der Verehrung für den Dichter eine Art von Kentaur zu bilden"
Wie viele Persönlichkeiten, deren Tun oder Lassen samt ihrer Stärke oder Schwäche, ihren Gedanken und Handlungen an uns vorübergezogen sind, hätten das gleiche wie Bertram'nicht auch von sich sagen können! Sie erscheinen alle nicht als starre Schnitzfiguren eines Puppenspiels; auch verhalten sie sich nicht wie die ein für alle Mal festgelegten Charaktertypen, die in alten Komödien auftreten. Manche von ihnen zeigen nicht bloß wechselnde Aspekte in zeitlich aufeinander-folgenden Phasen, sondern sprechen in ein und derselben Lebenslage verschiedene Sprachen. Die nationalsozialistische Gewaltherr, schäft hat das Phänomen menschlicher Am. bivalenz deutlicher als andere, liberale Zeitspannen hervortreten lassen. Es geschah auf zwei Arten: viele meinten damals, Unvereinbares mindestens in ihrer eigenen Person verschmelzen zu können — aus Ehrgeiz, Torheit, Irrtum, Feigheit, Opportunismus; andere fanden sich genötigt, eine doppelbödige Existenz zu führen — sei es einfach, um sich zu schützen, sei es, um, so verlarvt, dem Regime entgegenzuwirken. Man kennt heute die erstaunlichsten Beispiele für jede dieser Möglichkeiten. Ihre Erkenntnis im einzelnen Fall pflegt mit einem Verblüffungseffekt verbunden zu sein, wenn die Extreme der verschiedenen Haltungen weit auseinanderklaffen. Ist es nicht schon verwunderlich, daß der in vergleichsweise milderer Zeit lebende Berthold Litzmann Überzeugungen, die zum festen Bestand der nationalsozialistischen „Weltanschauung" wurden, predigen konnte, sich aber der einsetzenden Hitlerbewegung gegenüber ablehnend verhalten hat, die doch so viele seiner Art in ihren Bann zu schlagen wußte? Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel facettenreicher Inkonsequenz stellt in dem von uns erforschten Bereich neben Bertram sein Fachgenosse Hans Naumann dar. Er hat sie wie jener doppelt büßen müssen: zunächst während des Dritten Reiches, dann nach dessen Sturz. Merkwürdige Zwiegesichtigkeit weist das Verhalten des Reichspropagandaministeriums gegenüber Thomas Mann auf. Anscheinend bietet dafür nicht bloß der kalte politische Kalkül seines Herrn und Meisters eine Erklärung, sondern auch die keineswegs eindeutige Persönlichkeit des für Literaturangelegenheiten zuständigen Abteilungsleiters Wismann. Ebenso gab die Person Obenauers denen, die ihn näher kannten und während seiner Bonner Professoren-und Dekansjahre Tür an Tür mit ihm wohnten, psychologische Rätsel auf. Bei totaler Anonymität im „Briefwechsel" wurde der Dekan zwar weltbekannt, doch blieb seine Gestalt dabei ohne jeden individuellen Zug. So konnte er als Objekt freier Vermutungen mit den Merkmalen eines als typisch angesehenen SS-Mannes ausgestattet und gelegentlich geradenwegs zur Symbolfigur werden. Gewiß war Obenauer weit entfernt davon, ein Widerstandskämpfer zu sein. Vielmehr wirkte er als williger Vollstrecker dessen, was die nationalsozialistische Weltanschauung und Staats-führung ihm zu fordern schienen, und er hat in einer für den Ordensgedanken der SS höchst bezeichnenden Weise bekannt, froh und stolz im Dienst ihres Reichsführers Pflichten zu erfüllen — nicht etwa des Führers Adolf Hitler oder Deutschlands. Aber seine kritisch veranlagten, dem Nationalsozialismus mit Sicherheit völlig fernstehenden Hausgenossen und Nachbarn wußten ihn mit ihrem Bild von der SS nicht zur Deckung zu bringen. Man mag einwenden, daß diese Vorstellung dann nicht gestimmt habe. Doch sie war ja aufgrund unzähliger Erfahrungen und Informationen entstanden, die — wie sich inzwischen erwiesen hat — auch zutrafen. Ein idealtypisches Bild verträgt aber offensichtlich im Einzelfall Korrekturen und Ergänzungen. Der Blick auf das eigentliche Problem, die Lösung der Hauptfrage, würde tatsächlich versperrt bleiben, wenn man dies nicht anerkennen wollte — hier wie auch in anderen Fällen — und wenn man nicht einsehen würde, daß in der individuellen Vielfalt, in der atypischen Mannigfaltigkeit der Menschen und jedes einzelnen von ihnen die schwierigste, die entscheidende Klärungsaufgabe einer historischen Forschung liegt, die menschliches Handeln und nicht nur Zustände zum Gegenstand hat. Die Gefahr der „terrible simplification“ lauert nirgends gefährlicher als da, wo die legitime Frage zu beantworten ist, wer Verantwortung und Schuld für Begebenheiten trägt, die wir mit vollem Recht als bedrückende Last empfinden. Aber die erwähnte Forderung gilt nicht nur im Hinblick auf die Klärung historischer Schuld; sie muß für alle Zeiten und Zonen des geschichtlichen Verlaufs, für jede historisch auf irgend eine Weise wirksam gewordene Person erfüllt werden. Sie gilt auch für Thomas Mann. Wie Andre Gide hätte er gleichfalls von sich sagen können: „Ma valeur est dans ma complication", und so ist sein Bild tatsächlich von „Ironien, die da zwischen Wesen und Wirkung spielen'
Stefan Zweig rühmte Thomas Mann in einem besonders kritischen Moment des Spätjahrs 1933 als einen „Menschen höchster Redlichkeit", Joseph Roth kennzeichnete ihn bei aller Kritik gleichzeitig als „absolut rechtschaffen", und erst kürzlich bezeugte ein von hoher Warte aus urteilender Kritiker anläßlich des letzten großen Werkes aus der Feder Thomas Manns ihm „souveräne Wahrhaftigkeit"
Die Literaturwissenschaft hat den „Rollencharakter“ hervorgehoben, den Thomas Manns Äußerungen besitzen, und sie hat „Perspektivenwechsel" als die Ursache für schwer miteinander zu vereinbarende. Ansichten des Dichter bezeichnet
Wir sind dazu um so mehr verpflichtet, als die Forschung bisher jene anscheinend als verwirrend, wenn nicht gar peinlich betrachteten Selbstaussagen des späten Thomas Mann unerörtert gelassen hat.
Das Problem Künstler — Bürger, das dem . Buddenbrooks'-Dichter vom 19. Jahrhundert überkommen war, spitzte sich zu seinen Lebzeiten in veränderter Richtung auf die Frage nach der gesellschaftsmoralischen Verantwortlichkeit des Künstlers zu. Davon ist nach früheren Ansätzen seit den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ bei Thomas Mann immer wieder ausführlich die Rede, zuletzt in dem Vortrag „Der Künstler und die Gesellschaft" aus dem Spätsommer 1952
Wie verzweifelt die Situation für den Künstler sein kann, den die Disposition zu innerer Vielfalt kennzeichnet, verbunden mit höchster geistiger und seelischer Empfindlichkeit sowie dem Drang, sich im Wort ganz ohne moralische Absicht auszudrücken, hatte Thomas Mann immer wieder schmerzlich genug erfahren. Auch für ihn lagen „Leiden und Größe" in seinem Wesen beschlossen, dem Wesen eines Künstlers, der freien Spielraum beansprucht: „Schicksal ist ja auch nur Auswirkung des Charakters"
Solcherart enttäuschte Hoffnungen wiederholten sich. Ein bewußt und aktiv politischer Autor wie Johannes R. Becher, der Thomas Mann auf einer Rundreise zu verschiedenen Gruppen der linken Emigration im Herbst 1934 aufsuchte, um herauszufinden, ob er „bei einem Klärungsprozeß" zu beeinflussen sei, mußte berichten: „... er gab offen zu, daß er vollkommen desorientiert und unsicher sei, daß er das, was in Deutschland vorgehe, überhaupt nicht mehr richtig verstehe: das alles sei vollendeter Wahnsinn usw.". Eine Mobilisierung im Sinn der politisch linksstehenden Gruppen, für die dieser Bericht verfaßt wurde, hielt Becher nur mit beträchtlichem Vorbehalt und „zu einem gewissen Teil" für möglich; er hatte anscheinend den Eindruck, daß dabei auf Seiten seines Gesprächspartners ganz subjektive Momente und weniger politische Gesichtspunkte von Gewicht wären
Was sich in der Gedankenwelt Thomas Manns während der zweiten Lebenshälfte mit dem Begriff Demokratie verband, erhellt aus seinem Versuch, Goethe trotz dessen zugegebener notorischer Aversion gegen Pressefreiheit, Mitreden der Masse, Demokratie und Konstitution für „das demokratische Europa" in Anspruch zu nehmen
genannt wird, so „wie man sagen kann, daß die Demokratie der politische Ausdruck des Christentums ist" — „Goethes Ausspruch . Alles Leiden hat etwas Göttliches'", zu dem der Autor bemerkt, „nichts" könne „christlicher, nichts aber auch im höchsten Sinne demokratischer sein“, weil „die Neigung zum Niedrigen, die Erhebung des Leidens ...dem Christentum eingeboren" sei — die der „Humanität" dienende, eine „sittigend-antibarbarische Tendenz" verkörpernde „Sendung des Christentums innerhalb der völkisch-germanischen Welt" — das Ergebnis von Luthers Auftreten, das als „religiöse Demokratie"
charakterisiert wird — schließlich Goethes Verse „Edel sei der Mensch, Hilfreich und gut ...", in denen Thomas Mann „den höchsten Ausdruck aller Demokratie" sieht. Am Schluß des Aufsatzes sagt er, halte man es so mit Goethe — dem Dichter, dem es nicht ziemte, „in Opposition zu sein", sondern der, so heißt es an anderer Stelle, „Anspruch auf Menschheitsrepräsentanz" besaß
Das geheime Selbstporträt, das demnach auch Thomas Manns Aufsatz über „Goethe und die Demokratie" enthält, wird abgerundet durch den Hinweis, Goethe habe „unerschöpflichen Reichtum an Widersprüchen" aufgewiesen die aber — wie „auch" dasjenige, „was in seiner politischen Weltanschauung unstimmig gegeneinander zu stehen scheint" — „für den tieferen Blick sich in" einer „unfehlbaren Menschlichkeit" auflösten. Gleichwohl hätten die Zeitgenossen ihm Nihilismus angelastet — wir dürfen hinzufügen: wie es auch Thomas Mann geschah, der sich diesen Vorwurf „über alles Maß zu Herzen nehmen konnte"
Als Gehalt seines Humanitätsbegriffs hat Thomas Mann mehrfach die Idee des Gleichgewichts, ja der Verschmelzung zwischen den im Menschen angelegten Kräften der Natur und des Geistes, als den Bund von Vernunft und Blut bezeichnet. Für die damit erzielte Harmonie nahm er längere Zeit den aus chiliastisch-mystischen Hoffnungsträumen stammenden Ausdruck „Drittes Reich" in Anspruch, selbst dann noch — und das charakterisiert Thomas Manns Fremdheit gegenüber der Politik —, als er zum nationalsozialistischen Propaganda-Schlagwort geworden war. Die Rücksicht auf diese Humanitätsidee — so schrieb der Dichter 1935 dem amerikanischen Mahner zu entschiedenem Entschluß — habe jeweils seine „taktische Partei-und Stellungnahme zu den Problemen der Zeit bestimmt“
1932 hatte Thomas Mann Goethes Alterswort angeführt: „Es war nie meine Art gegen Institute zu eifern ..." und es damit erläutert, der von ihm als „Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“ Vorgestellte sei „ein Kämpfer im Sittlichen, im Geistigen", aber „nicht im Staatlichen und Bürgerlichen“ gewesen
Sein „politisches" Wunschbild schien dem Dichter jeweils unter beliebigen Formen der staatlichen Ordnung realisierbar zu sein — nur nicht im Zeichen des Hakenkreuzes. So kommt es, daß sich „je nach Auswahl der Zitate .. . Thomas Mann als Aristokrat oder Sozialist hinstellen" ließ
Stellung bezog, war das überwiegen der einen, der naturhaften, unzivilisierten Seite des Menschen, „des Rohen, bildungslos Fanatischen", das verschiedene Erscheinungsformen und Wirkungen der Unmenschlichkeit nach sich zog. „Wäre ich auf der Stufe der . Betrachtungen eines Unpolitischen', die schließlich kein anti-humanes Buch waren, stehen-geblieben, so hätte ich mit derselben Wut und mit derselben Berechtigung gegen diesen Greuel Stellung genommen, wie ich es als . Demokrat'— sit venia verbo — heute tue“
Die erwähnten Selbstzeugnisse aus den letzten Lebensjahren, in denen Thomas Mann sein Bekenntnis zur Demokratie revoziert hat, richten eine unüberbrückbare Schranke zwischen seiner Existenz als Künstler und der Sphäre der Politik auf. Hieran ändert auch die ihm bewußte und von ihm ausgesprochene Tatsache nichts, daß „in jeder geistigen Haltung das Politische ... latent"
Der Schlüssel zu dem befremdlich wirkenden, zwischen Sein und Schein irisierenden „politischen" Verhalten Thomas Manns, den fundamentalen Mißverständnissen und quälenden Mißhelligkeiten, denen er deswegen ausgesetzt war, liegt in einem Satz aus der Gedenkrede, die er im Spätjahr 1918 auf den Grafen Eduard Keyserling gehalten hat, im Augenblick des Erscheinens der „Betrachtungen eines Unpolitischen". Es heißt dort, der verstorbene Dichter habe niemals „. geschriftstellert', .. irgend etwas wie Urteil, Meinung und . Stellungnahme'" sei von ihm nicht bekannt. Kunst habe eben in Keyserlings besonderer Lage Freiheit bedeutet. „Der Redende" — so fährt Thomas Mann fort mit einer Wendung, die blitzartig sein Innerstes erhellt — „Der Redende, Meinende aber ist nicht frei, nur der Bildende ist es"
Ein Höchstmaß an politischer Wirkung mußte das Eintreten Thomas Manns für menschliche, für moralische Werte gewinnen, als der Humanität in Deutschland eine Gegenwelt erstand, die dem Künstler geradezu einen „Zwang zur Politik" auferlegte, während sie zugleich im Machtkampf der Staaten eine wichtige Rolle mit verhängnisvollen Konsequenzen für den Frieden der Welt spielte. So war es nur folgerichtig, daß die Nationalsozialisten einem Anwalt der Menschlichkeit, der sich ihnen während ihres politischen Aufstiegs immer wieder entgegengestellt hatte, seine deutsche Staatsangehörigkeit aberkennen wollten. Der Verlauf des Verfahrens, Thomas Manns Reaktion darauf und seine spätere Entwicklung demonstrieren — man ist versucht zu sagen: wie ein zu diesem Zweck veranstaltetes Experiment — die dargelegte Wechselbeziehung mit aller wünschenswerten Deutlichkeit. Die verschiedenen Anträge auf Ausbürgerung des Dichters bleiben so lange ohne Erfolg, wie dieser den seit seinem Verzicht auf Rückkehr in die Heimat zunächst bekundeten Wunsch, „als Privatmann lebend" seine „persönlichen Aufgaben zu Ende führen zu können"
Es war dann abermals folgerichtig, daß Thomas Mann, nachdem Hitlers Untergang, „die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit"
Hierzu trugen auch enttäuschende Erfahrungen bei, die ihn schließlich veranlaßten, auf europäischem Boden, in der Schweiz Ruhe zu suchen. Das in Resignation endende „Bekenntnis zur westlichen Welt" aus dem Dezember 1952 enthält — abgesehen von der unumgänglichen Loyalitätsbekundung, die der Dichter als amerikanischer Bürger abgab, und einem Hinweis auf seinen persönlichen Beitrag „zum großen kulturellen Erbe des Westens: ein wenig mehr Freude, Erkenntnis und höhere Heiterkeit" — „politisch" nur ein ma-geres Votum in denkbar relativierender Form zugunsten „unserer traurig zugerichteten und sehr gefährdeten Demokratie"
Damit ist kein Raum für besserwisserische (der gar anklägerische Kritik gelassen. In tiesem autobiographischen Bekenntnis ist auch die metapolitische Größe bezeichnet, die -soweit es sich um Thomas Mann handelt -als Konstante dem „beunruhigenden Eindruck“
wechselnder Aspekte eines Künstlers ugeordnet werden muß, welche der in den Bereich des Politischen hineinwirkende Dich-
er 1919, 1929, 1936, 1945 aufweist, den vier Stichjahren, die die Beziehung zwischen ihm md der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Uni-
rersität zu Bonn im Guten wie im Bösen kullinieren sahen.
* Unsere letzten Erwägungen sollen dieser Universität gelten. Die Professoren, die heute an hr wirken, sind wegen des Falles Thomas Mann angegriffen worden. Ein einfallsreicher Kopf hat daraufhin gesagt, sie befänden sich in der Lage der Mannschaft eines Schiffs, auf dem vor Jahrzehnten ein Mord verübt worden sei, das inzwischen aber längst unter neuer Führung und Flagge mit anderer Besatzung fahre. Der Vergleich enthält viel Wahrheit, doch trifft er nicht ganz ins Schwarze. Eine Universität versteht sich durch den Wechsel der Jahre und Menschen hindurch als stets identische Korporation. Sie pflegt voll Stolz auf bedeutende Gelehrte, die ihr angehört haben, und auf deren zeitüberdauernde geistige Leistung zurückzublicken. Wenn die sich immer erneuernde „Mannschaft", die im Lauf der Jahrzehnte an der Universität Bonn Dienst tut, der großen und berühmten Vorgänger von Niebuhr und Schlegel über August Kekule und Heinrich Hertz bis zu Karl Barth und Ernst Robert Curtius gern gedenkt, so darf sie es schon um ihrer Glaubwürdigkeit willen nicht dabei belassen, die „magnalia universitatis" zu preisen. Sie hat sich auch der dunklen Seiten ihrer Geschichte, schlimmer Versäumnisse und beschämender Taten zu erinnern, die mit dem Namen der Universität oder ihrer Fakultäten und einzelner Professoren für immer verknüpft sind. Sie soll ihre Gewissenserforschung „über das entsetzliche, herz-und hirnlose Versagen der deutschen Intelligenz bei der Probe, auf die sie 1933 gestellt wurde“