Nachdem sich angesichts der zur Zeit in der Bundesrepublik zu beobachtenden „Reorganisation und Reideologisierung des Konservatismus" (Bruno Friedrich) Armin Mohlers Diktum, „mit dem unaufhaltsam scheinenden Abrutschen der Welt nach links" sei es vorbei, mehr denn je zu bewahrheiten scheint, hat die Diskussion über den Konservatismus neuen Auftrieb erhalten. Daß im Umkreis dieser Auseinandersetzung Helga Grebings Arbeit eine zentrale Rolle spielt, dürfte kein Zufall sein. Hatte Martin Greiffenhagen auf das „Dilemma des Konservatismus" hingewiesen, das darin bestehe, daß dieser den Kampf gegen den Rationalismus nur mit dessen Mitteln führen könne, so untersuchte Grebing die unmittelbar politische Dimension des Konservatismus: sie begreift ihn „als die dem historischen Prozeß der Demokratisierung immanente Gegenbewegung", die sich „zur Erhaltung ökonomischer, sozialer und politischer Macht-und Herrschaftspositionen oder zur Rückeroberung bereits verlorener" notwendig „gegen die Dynamik des Prozesses der Emanzipation bisher Unterprivilegierter zur Selbstbestimmung und Selbstherrschaft" richten muß.
Die Kontroverse, die diese Fassung des Begriffs Konservatismus auslöste, hat unterdessen durch Hans Günter Hockerts Aufsatz auf der einen sowie Lutz Wincklers und Graf Westarps Beiträge auf der anderen Seite einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Wird von der einen „Richtung" grundsätzlich in Frage gestellt, daß der Konservatismus notwendig durch eine gegen die Erweiterung von politischen und sozialen Partizipationschancen gerichtete Tendenz charakterisiert sein muß, so wird von der anderen die von Grebing aufgezeigte politische Relevanz des Konservatismus, insbesondere seiner technokratischen Variante, bezweifelt. Im folgenden sollen nun beide Positionen, wie sie sich im Rahmen dieser Kontroverse abzeichnen, in ihren Grundzügen skizziert und gleichzeitig überprüft werden, ob sie ihrem eigenen Anspruch genügen, tragfähige Alternativen zu Grebings Konservatismusverständnis entwik-kelt zu haben.
I.
Schon Christian Graf von Krockow stellte angesichts der negativen Bilanz des deutschen Konservatismus die Frage, „ob Konservatismus als Bewahrung allein im Sinne der Verhinderung von politisch-gesellschaftlichen Veränderungen definiert werden muß: ob es nicht einen Konservatismus, zum mindesten konservative Momente geben kann, deren Funktion gerade darin liegt, produktive Veränderungen dadurch zu ermöglichen, daß diese gegen die Gefahren der Willkür und damit gegen einen Despotismus abgesichert werden, der als Konsequenz der Willkür in der Abfolge von Angst, Panik, Aggression, Erstarrung stets auf der Lauer liegt" v. Krockow geht in seiner Argumentation aus von der im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft erfolgten Entwicklung der Produktivkräfte, die zugleich mit der Erweiterung des menschlichen Handlungsspielraums eine permanente Fundamen4) talpolitisierung und damit verbunden ein Konfliktpotential freigesetzt habe, das spätestens mit der Französischen Revolution „ins Licht des allgemeinen Bewußtseins" gehoben worden sei. Angesichts dieser historisch wirksam gewordenen Dynamik, die notwendig dann ins Totalitäre umschlage, wenn sie im Namen letzter Werte vorangetrieben werde, optiert von Krockow in Anlehnung vor allem an Burke, Tocqueville und den Federalists für die „institutioneile Stabilisierung der politischen Konfliktaugtragung im Sinne ihrer Verfahrensregelung. Denn das grundlegende Problem im Zeitalter progressiver Fundamentalpolitisierungen, der stets erweiterten Machbarkeit, Veränderbarkeit alles Bestehenden liegt ... darin, daß, je mehr verändert werden kann, desto mehr auch umstritten und umkämpft wird, desto mehr eben in die Zone des Konflikts gerät."
Freilich ist diese Fassung des Konservatismus, den v. Krockow für notwendig hält, um das ständig drohende Abgleiten der gesellschaftlichen Dynamik in den Totalitarismus abwenden zu können, nicht unproblematisch. Abgesehen von seiner insbesondere an den angelsächsischen Verhältnissen orientierten Normativität, der gegenüber die deutsche Geschichte schlicht als „Fehlentwicklung" interpretiert werden muß, reflektiert dieser Konservatismusbegriff weder die krisenhaften Momente des heutigen Regierungssystems in den USA und England, noch kann er die spezifische Differenz zum deutschen Konservatismus, nämlich das überschreiten partikularer Interessen, durchhalten. Denn „die prinzipielle Offenheit und Unabschließbarkeit" des „Zukunftshorizonts" den dieser Liberalkonservatismus verbürgen soll, täuscht nicht darüber hinweg, daß er Veränderungen reduziert auf einen Wandel im Rahmen der von den herrschenden Eliten kontrollierten Institutionen und in prinzipieller Übereinstimmung mit deren priviligiertem Status innerhalb der Gesellschaft. Wenn dergestalt der Versuch v. Krockows wenig überzeugend erscheint, einen Begriff des Konservatismus anzubieten, der sich positiv von dem historisch diskreditierten, weil seine Privilegien erfolgreich verteidigenden Konservatismus abhebt, so hat neuerdings Iring Fetscher versucht, diese Schwäche zu vermeiden. Im Gegensatz zu v. Krockow optiert er für einen Konservatismus, der sich keineswegs auf den bloßen Respekt vor demokratischen Institutionen erschöpfen, son-dem zusammenfassen soll, was Helga Gre-
bing noch als zwei disparate Elemente aufdeckte: Demokratie und Konservatismus. Wie aber ist dieser „demokratische Konservatismus" denk-und praxismöglich? Fetscher zufolge ist Konservatismus nur dann im Sinne einer Behauptung gesellschaftlicher Privilegien gegen Demokratisierung gerichtet, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Einerseits muß vorausgesetzt werden, daß durch die industriell-kapitalistische bzw. industriell-bürokatisch-sozialistische Entwicklung ausschließlich Interessen von privilegierten Minderheiten bedroht würden, „oder wenn die Bedrohung dieser Minderheits-Interessen das einzige wäre, was konservativen Theorien am Herzen läge" Die zweite Bedingung bestehe darin, daß im Zuge der Entfaltung der Produktivkräfte „nicht auch oder sogar vorwiegend Verhältnisse, Haltungen, Werte'in Gefahr stünden, von deren Existenz die . Qualität des Lebens'der Gesamtbevölkerung in hohem Maße abhängig ist" In diesem Sinne könne durchaus von einem demokratischen Konservatismus die Rede sein.
Probleme, die diesen Bedingungen entsprechen, versucht Fetscher einerseits auf dem Gebiete der Umweltverschmutzung und -Zerstörung und andererseits auf dem der moralischen Werte und Haltungen aufzuzeigen. Angesichts der „Zersiedelung der Landschaft und (der) Zerstörung von Erholungsgebieten durch Straßenbau, Flugzeugbau, Fabrikbau usw." sowie der Unbewohnbarkeit der Städte, die sich längst zu einem für alle lebensbedrohenden Phänomen ausgeweitet hätten, könnte heute sowohl in kapitalistischen als auch in sozialistischen Staaten kein verantwortungsvoller Politiker sich auf diesem Gebiet einer konservativen Betrachtungsweise verschließen: jede ernsthafte Berechnung des technisch Möglichen führe zur Erkenntnis einer absoluten Schranke. „Dann wird . Bewahren'endgültig den Vorrang gegenüber Wachstum und Fortschritt bekommen müssen — der neue Fortschritt wird darin bestehen, ihn nicht mehr zu verabsolutieren."
Auf dem Gebiet der moralischen Haltungen und Werte, „wo das Unheil nicht so offen zutage liegt" sieht Fetscher dagegen keine Anzeichen dafür, „daß auch die . progressiven'Sozialisten umzudenken beginnen" Gleichwohl sei es bedeutsam, daß es in den — sozialistischen Staaten zu einer Wiederbelebung moralischer Prinzipien gekommen sei, die „aus der Tradition vorsozialistischer Gesellschaften stammen" Habe dieser Vorgang auch eindeutig herrschaftsstabilisierende Funktion, so ist es nach Fetscher dennoch eine legitime Aufgabe, „die Notwendigkeit (ja Unentbehrlichkeit) moralischer Regeln, Haltungen und Gewohnheiten immer wieder ins Bewußtsein zu rufen und der eindimensionalen Auffassung, es gäbe nichts als Interessen (die nur mehr oder minder bewußt seien), praktisch zu widersprechen" Weil Tugenden wie „der freiwillige Einsatz von persönlicher Leistung, die individuelle Hingabe, Zuneigung, Güte, Freundschaft, Treue, Hilfsbereitschaft ... vom Standpunkt des homo oeconomicus wie des konkurrierenden Prestige-konsumenten oder des politisch sein kollektives Interesse organisierenden Proletariers . .. keine Verwendung zu haben scheinen, werden sie weder in der . progressiven Erziehung'noch in . progressiven Bildern von der Gesellschaft' auch nur erwähnt"
Sehen wir einmal davon ab, daß Fetscher uns den Beweis der Nichtinteressenhaftigkeit jenes Tugendkataloges schuldig bleibt, so muß generell festgestellt werden, daß sein Versuch, die Definition des Konservatismus als einer dem Prozeß der Demokratisierung immanenten Gegenbewegung durch den Begriff des „demokratischen Konservatismus" zu ergänzen, wenig überzeugend ist. Einzuwenden ist gegen ihn vor allem, daß er ihn auf einen unreflektierten Begriff von „Fortschritt" bezieht. Wenn er nämlich schreibt, das „Bewahren" müsse angesichts der Gefährdung der natürlichen Umwelt „den Vorrang gegenüber Wachstum und Fortschritt bekommen" ja, der neue Fortschritt bestehe, auf eine Formel gebracht, darin, ihn „nicht mehr zu verabsolutieren" dann setzt er Fortschritt und industrielles Wachstum gleich. Gleichzeitig übernimmt er damit aber unkritisch den Fortschrittsbegriff der technokratischen Variante des Konservatismus, während es sich doch heute unter den Bedingungen hochindustrialisierter Gesellschaften eindeutig um zwei verschiedene Phänomene handelt. Richtig müßte es denn auch heißen, daß das wirtschaftliche Wachstum nicht zu verabsolutieren ist: Fortschritt im Sinne emanzipatorischen Denkens würde dann darin bestehen, die weitere Entwicklung der Produktivkräfte im Interesse der Qualität des Lebens zu kon-trollieren. Das aber ist eine Forderung, die bekanntlich von der Linken innerhalb der SPD schon seit langem erhoben wurde; wenn Fetscher dieses Postulat dennoch als „konservativ" bezeichnet, weitet er diesen Begriff dermaßen aus, daß er analytisch wertlos wird. Im übrigen bleibt Fetschers Identifizierung von Konservatismus und Demokratie deswegen willkürlich, weil das, worauf es ihm zufolge einer „wirklich konservativen Haltung" ankommen muß, nämlich das , „Recht, man selbst zu bleiben'" nicht nur in Spannung zu dem , „Recht, ein anderer zu werden’ " steht, sondern geradezu deren Voraussetzung ist. Es ist der statische Identitätsbegriff, der den Konservatismus charakterisiert und ihn zwingt, sich gegen eine Ausweitung sozialer und politischer Partizipationschancen zu sperren.
Dezidiertere Konservative haben dies indessen begriffen. So setzt Hans Günter Hockerts'Kritik an Grebings Konservatismus-Buch konsequent an deren Demokratiebegriff an. Zwar betone Grebing, sie könne die „. absolute Gewißheit'" Kritischer Theorie „, im Hinblick auf Weg und Ziel der Geschichte'" sowie — „. zumindest gegenwärtig'" — deren Anspruch auf einen Totalentwurf „. zur Erklärung alles Wirklichen"'nicht teilen Gleichwohl habe sie diese in ihrem Vorwort formulierte Einschränkung in der Untersuchung selber durchgehend preisgegeben. Realiter fasse sie nämlich „. Demokratie'als eine fortschreitende weltgeschichtliche Bewegung, die — vorangetrieben von der Entfaltung der Produktivkräfte und in . Chiffren’ erkennbar" —, sich auf die Verwirklichung des „Reichs der Mündigkeit" zubewege. Gehe Grebing auch an einer Stelle von der Konzeption eines entwicklungsgesetzlichen Demokratisierungsprozesses ab, um diesen im Sinne einer „regulativen Idee" zu begreifen, so hebe sie diese Modifikation sofort wieder auf durch den Zusatz, „daß Demokratisierung als . regulative Idee'nur dort am Platze sei, , wo die Mündigkeit des Menschen erst noch vorweggenommen werden muß': daß die Realität die Idee’ einholen werde, ist mithin außer Frage gestellt"
Diese „Kritik" sagt freilich mehr über den Standort des Kritikers als über die kritisierte Arbeit aus. Deren wesentlichste These besteht doch gerade darin, daß die Annäherung an die Idee einer möglichst breit gestreuten Partizipation historisch feststehe, und, wie nicht zuletzt der Faschismus zeigte, durch materielle gesellschaftliche Interessen und deren politische Organisation vermittelt, nicht nur gebremst, sondern im Sinne einer Regression hinter den bereits erreichten Stand gesellschaftlicher Mündigkeit zurückfallen kann.
Niemand vermag zu bestreiten, daß die Demokratisierung nur als langwieriger historischer Prozeß begriffen werden kann, der, durch Rückschläge und Verzögerungen vielfach gebrochen, keineswegs linear voranschreitet. Seine „Notwendigkeit" ist keine naturgesetzlich stringente, wohl aber hat sie, seit das Bürgertum sich in seiner emanzipatorischen Phase von der Bevormundung des absoluten Staates einerseits und den Restriktionen feudaler Privilegien andererseits befreite, den Charakter eines regulativen Prinzips, das offenbar auch heute noch eine gesellschaftliche Realität darstellt, die sich aber nicht in ein System strikter empirischer Kontrollierbarkeit pressen läßt. Eben dies jedoch unterstellt Hockerts, wenn er an Grebings Demokratie-Begriff kritisiert, er münde ein in das Postulat herrschaftsfreier Gesellschaft als Ziel der Geschichte, obgleich eben dieser Begriff antizipierter Gesellschaft spekulativ bleibe. Dergestalt auf einer normativen Ebene angesiedelt, sei der Demokratiebegriff, mit dem Grebing den Konservatismus messe, gegenüber jeder Falsifikationsmöglichkeit durch Erfahrungskontrolle immunisiert und zugleich von der „erst im Konkreten (sich) zeigende(n) Antinomie-und Problemlast der Regelung gesellschaftlichen Zusammenlebens" suspendiert. Erreicht werde die scheinbare Unbezwinglichkeit dieser Demokratiekonzeption freilich durch ein illegitimes methodologisches Vorgehen, nämlich „den Abbruch des rationalen Begründungsverfahrens an bestimmten Punkten durch Rekurs auf Glaubens-sätze" Wie Grebing nämlich einerseits „Zukunftsgesetzlichkeit" auf „schmälster empirischer Basis" extrapoliere, antizipiere sie an-
dererseits „ein normatives Ziel", das sich „unter der Hand in eine Sachaussage" verwandle: „das Reich der Mündigkeit ist . praxis-möglich', und wer daran zweifelt, ist . tendenziell'oder . manifest'antidemokratisch"
Wenn Hockerts dies auch nicht weiter ausführt, so lehnt er doch — mit vielen anderen konservativen Kritikern Grebings — das radikaldemokratische Prinzip der Identität von Herrschern und Beherrschten mit dem (impliziten) Hinweis auf Totalitarismus-Verdacht ab. Die mit diesem Modell intendierte Abschaffung von Herrschaft, so können wir sein Argument zu Ende führen, ufert realiter einerseits in soziale Nivellierung und totale Politisierung der einzelnen aus und andererseits begünstigt es genau das, was es auszuschalten sucht: die Entstehung neuer unkontrollierbarer Herrschaftseliten. Es ist nun ein leichtes, dieses Demokratie-Verständnis auf der Ebene eines dem Status quo verpflichteten Denkens als „Utopismus" zu diffamieren. Nur trifft dieses Argument die hier zur Diskussion stehende Position nicht. Was sie intendiert, ist nicht „die utopisch-totale Negation von Herrschaft", sondern deren Zurückführung „auf ihren jeweiligen funktional-rationalen Kern" mit dem Ziel, „steigende Grade tendenziell herrschaftsfreier Kommunikation" zu verwirklichen.
Aber Hockerts zufolge ist nicht nur der Maßstab, mit dem Grebing den Konservatismus mißt, inadäquat, weil er „seinerseits nicht genügend an der Realität gemessen und meßbar" ist. Dies treffe erst recht für ihren Konservatismus-Begriff zu. Indem sie nämlich konservatives und antidemokratisches Denken als Einheit fasse, hypostasiere sie den deutschen Konservatismus, der in der Tat antidemokratisch gewesen sei, zum Konservatismus schlechthin. Ähnlich wie Greiffenhagen sichere sie diesen Schluß dadurch ab, daß sie „in ihrem historischen Rückblick . . . Mischrealitäten weitgehend und im zeitgenössischen Konservatismus ... ganz" ausklammere, „ebenso wie sie konservative Postulate, die durchaus nicht antidemokratisch auszulegen sind, als Ablenkungsmanöver’ (S. 218) und , Opportunitätsdenken'(S. 425) abwertet" Im Sinne dieser „Absicherungsstrategie" sehe sie sich im übrigen gezwungen, ihre eigene dialektische Analyse des Konservatismus auf halbem Wege zu sistieren und sie durch einen manichäischen Dualismus zu ersetzen: „Gut und Böse, Licht und Dunkel liegel miteinander im Kampf."
Demgegenüber ist nun aber festzustellen, daß die analytische Stärke des Grebingschen Konservatismuskonzepts gerade darin besteht, daß es, unausgewiesene Dualismen vermeidend, unter Beibehaltung durchgehend identischer Momente des Konservatismus eine nuancierte, weil eine auf den jeweiligen gesellschaftlich-historischen Kontext bezogene, begriffliche Fassung ihrer einzelnen Varianten gerade erst ermöglicht In der Perspektive dieses Begriffs wird Konservatismus keineswegs schlicht als antidemokratisches Denken und Handeln denunziert: Ob dies nämlich zutrifft oder nicht, hängt von historisch kontingenten Umständen ab, denen der Emanzipationsprozeß — auf den der Konservatismus reagiert — unterworfen ist. So kann Grebing durchaus Varianten als konservativ bezeichnen, die sich dem erreichten Stand der Demokratisierung anpassen, um dann freilich nur deren weitere Progression zu bremsen oder gar zu unterbinden. Mit einem Wort: Der Konservatismus als eine dem Demokratisierungsprozeß immanente Gegenbewegung ist nicht notwendig antidemokratisch im Sinne des Abbaus von Demokratie, wohl aber ist er notwendig gegen ihre Ausweitung gerichtet.
Wenn Hockerts so diesen Konservatismus-Begriff aufgrund seiner angeblich normativ-spekulativen Fundierung verwirft, wird umgekehrt gefragt werden müssen, inwieweit sein eigenes Konservatismusverständnis, das er als Alternative zu dem Postulat der Fundamental-demokratisierung anbietet, empirisch abgesichert ist. In Anlehnung an Kaltenbrunner optiert er für einen Konservatismus, dessen charakteristisches Merkmal darin bestehe, daß er sich nicht der Dichotomie „fortschrittlichkonservativ" subsumieren lassen. Worin besteht aber nun das Spezifische dieses „neuen, aufgeklärten" Konservatismus? Zunächst ist wichtig, daß Kaltenbrunner ihn nicht nur gegen „alle jene Interpretationen, die das konservative Phänomen als monarchisch-aristokratisch-klerikale Reaktion auf die Französische Revolution zu charakterisieren versuchen" abgrenzt, sondern auch gegen eine Definition, wonach der Konservatismus „als Metaphysik, als zeitlos gültiges System universaler Werte" verstanden wird.
Die eine Fassung des Konservatismus kritisiert er, weil einerseits konservatives Denken bereits vor den revolutionären Ereignissen in Frankreich feststellbar ist und andererseits dessen statische Zuordnung zu einer bestimmten historischen Epoche bzw. einer bestimmten sozialen Basis, nämlich vor allem der des grundbesitzenden Adels, des Klerus und der Bauernschaft, mehr denunziatorischen als analytischen Wert habe. In dem Maße nämlich, wie der Konservatismus als eine Rechtferti-gungs-oder gar Restaurationsideologie vor-bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen festgeschrieben werde, sei es sachlich unmöglich, zwischen Reaktion, Restauration und Konservatismus zu unterscheiden. Abgesehen von seinen erkenntnishemmenden Implikaten ziele ein solcher Begriff letztlich darauf ab, den Konservatismus a priori als irrational zu disqualifizieren, zumal er nach dieser Definition „gleichbedeutend ist mit Sehnsucht nach feudalen Zuständen, mit dem Willen zur Bewahrung oder gar Restauration geschichtlich erledigter Herrschaftsordnungen"
Die andere Version des Konservatismus, die diesen zu einem Konglomerat überzeitlicher Werte und Normen stilisiere, leide dagegen „an dem Manko, Konservatismus so allgemein zu fassen, daß er mit Überlieferung, Religion, Ethik, Kultur und guter Politik identisch wird" Dies habe zur Folge, daß nicht nur „viele der angeblich erzkonservativen Werte und Prinzipien zu großen Teilen auch von liberalen, sozialistischen und faschistischen Parteien akzeptiert werden könnten und in der Tat akzeptiert worden sind" Bedenklich sei auch, daß das metaphysische Konservatismus-Verständnis leicht zu einem manichäischen Weltbild führe: „Wer nicht konservativ im Sinne dieser Auffassung ist, gehört dann zur massa damnata und wird als Feind des Menschengeschlechts, als Agent einer diabolischen Weltverschwörung verketzert."
Welche Alternative zu den kritisierten Interpretationsansätzen hat Kaltenbrunner nun aber seinerseits anzubieten? Auf der ersten Ebene seines Versuches, einen Konservatismusbegriff zu entwickeln, der sowohl die Schwächen der von ihm abgelehnten Varianten, nämlich die „leere Breite der einen" und die „historische Enge der andern" vermeiden als auch gleichzeitig gewisse Elemente beider aufnehmen soll, geht Kaltenbrunner von zwei Beobachtungen aus, die ihm für das Wesen des konservativen Phänomens charakteristisch erscheinen. Einerseits stellt Kaltenbrunner ab auf jene vorpolitische, zumindest nicht unbedingt politikbezogene Dimension des Konservatismus die am besten mit dem Begriff „Ordnung" im weitesten Sinn umschrieben wird: „Wie diese Ordnung im einzelnen gestaltet ist oder verwirklicht werden soll, darüber mögen Meinungsverschiedenheiten legitim sein, wenn nur akzeptiert wird, daß der mit seinesgleichen lebende Mensch intakte Ordnungen nicht entbehren kann." Andererseits seien jedoch die konkreten Inhalte, auf die konservatives Bewahren gerichtet sei, „verschieden je nach der geschichtlichen Lage und den nationalen Bedingungen" Ohne einem bestimmten sozialen System zugeordnet zu sein, müsse der Konservatismus in dieser Perspektive jeweils in bestimmten historischen Situationen mit jener Richtung identifiziert werden, „die für die gerade etablierten sozialen Verhältnisse optiert. Es wäre die Philosophie jener, die etwas haben und seinen Verlust fürchten."
Ausgehend von diesen beiden Elementen, die nach Kaltenbrunner das konservative Phänomen konstituieren, unterscheidet er zwischen der apologetischen und der transzendentalsoziologischen Struktur eines jeden historischen Konservatismus. Beziehe sich der erstere auf den „situationsbedingten, positionalfunktionalen Charakter des konservativen Engagements", so verweise „die zweite dagegen auf die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung und nichtkatastrophischen Wandels überhaupt" Während apologetische konservative Aussagen historisch kontingente Sozial-ordnungen „als , die'Ordnung überhaupt, als Ausdruck gott-und naturgewollter Gesetze, als ewig und unwandelbar zu verklären" suchten liefen transzendentalsoziologische Sätze auf eine kritische Theorie des Konservatismus hinaus, die zu unterscheiden sei von Ideologien und Bewegungen wie Liberalismus, Sozialismus oder Kommunismus Zwar wirke der Konservatismus aufgrund seiner sozialapologetischen Implikationen als retardierendes Moment in der Geschichte; gleichwohl gehe er aber in dieser Funktion nicht auf. Vielmehr gehöre er „in seiner transzendentalsoziologischen Struktur einer Dimension an, die alle gruppen-und klassenmäßigen Ideologien überwölbt: er läßt sich dann definieren als die Einsicht in die Bedingungen intakter Institutionen und nichtkatastrophischen sozialen Wandels, wobei die Materie dessen, was jeweils institutionalisiert und umgewandelt wird, von der konkreten historischen Situation abhängig ist"
Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß bei Kaltenbrunner zwar der Konservatismus als eine auf den neuzeitlichen Emanzipationsprozeß inhaltlich bezogene variable Korrektur anzusehen ist. Zugleich erfolgt diese aber innerhalb eines transzendental-soziologischen Rahmens, der „auf eine elementare Anthropologie (verweist). Man kann nicht vom Konservatismus sprechen, ohne vom Menschen zu sprechen, ohne darüber zu befinden, was zum Wesen des Menschen gehört." Im Umkreis dieser anthropologisch fundierten Rahmenbedingungen erscheint der historisch variable Charakter des Konservatismus, an dem Kaltenbrunner festhalten will, merkwürdig abstrakt: er fungiert lediglich als kontingente, d. h. situationsbedingte inhaltliche Ausprägung einer vorgegebenen Form, auf deren Struktur er keinen Einfluß hat. Die Schwäche dieses Deutungsversuches des Konservatismus liegt auf der Hand: entgegen seinem eigenen Anspruch mündet er ein in eine Tautologie, weil er letztlich über den Konservatismus nur aussagen kann, was aufgrund seiner anthropologischen Prämissen vor aller Erfahrung, d. h. unabhängig von seinem histo-risch-gesellschaftlichen Kontext bereits bekannt war.
Deutlich wird dies, wenn man die Frage auf-wirft, was denn an dieser Konservatismusvariante als „neu" und „aufgeklärt" gelten kann. Daß sie „neu" ist, wird kaum behauptet werden können, basiert sie doch auf anthropologischen Voraussetzungen, die bereits Hob-bes dingfest gemacht hatte: die „kreatürliche Schwäche des genus humanum", die „Konstanten der menschlichen Natur" und die „elementaren Bedingungen gesellschaftlicher Stabilität" Es sind dies Befunde, die Hobbes bekanntlich aus dem sozialen Verhalten besitz-bürgerlicher Individuen im Rahmen der sich durchsetzenden kapitalistischen Marktgesellschaft im England des 17. Jahrhunderts ableitete und die er — worauf bereits Rousseau kritisch hinwies — fälschlicherweise für Konstanten menschlichen Verhaltens schlechthin hielt. Was aber soll „aufgeklärt" an Kaltenbrunners Konservatismus-Begriff sein? Offenbar dessen bewußte Bindung an einen „con-sensus omnium", der, wie Hockerts resümiert, die „Angewiesenheit des Menschen auf die haltende Macht von Dauer und Tradition (die bewahrten Fortschritt darstelle), von intakter (wenngleich nicht statischer) Ordnung und Autorität" in Rechnung stellend, sich von allen partikularen gesellschaftlichen Interessen emanzipiert und sich so „auf einer anderen Ebene als konkurrierende politische Programme" angesiedelt weiß, „denn er ist nicht auf ein bestimmtes soziales Modell festgelegt und kann von unterschiedlichen Richtungen rezipiert werden. Er ist aber auch nicht der Beliebigkeit preisgegeben, insofern Fortschritts-bewahrung, nichtkatastrophischer Wandel und anthropologische Konstanten auf Grenzen verweisen."
Auch wenn man sich rasch auf Formeln wie „nichtkatastrophischer Wandel", „Fortschrittsbewahrung" etc. einigen könnte, bleibt doch die Frage, wie jener transzendentalsoziologische Gehalt des Konservatismus, auf den sie verweisen, durch seine Verklammerung mit dessen sozialapologetischen Implikationen hindurch gesamtgesellschaftlich verwirklicht werden soll, für Kaltenbrunners Ansatz folgenlos. Dem entspricht, daß er diesen Problemkreis ausblendet, indem er die dem Totalitarismus (Faschismus und Stalinismus) immanente Radikalität und Dynamik zum eigentlichen Gegenpol des Konservatismus erhebt und komplementär dazu angesichts „der unerbittlichen Nivellierung im Schatten des möglichen kollektiven Untergangs" jeden Menschen zum Konservativen erklärt, der nicht Selbstmord begehen will. Aber gerade in dieser dramatischen Perspektive, die an die Prämisse des Hobbesschen „Leviathan" erinnert, läuft sein Modell am Ende doch Gefahr, „jedes Herrschaftssystem allein um seines Stabilisierungseffektes willen gut(zu) heißen" Selbst wenn Kaltenbrunner dies nicht beabsichtigt haben sollte, folgt aus seiner anthropologischen Vorentscheidung die Forderung nach Stabilität eines gesellschaftlichen Systems als eine über-zeitliche Norm 60a), der gegenüber die Frage der historischen Funktion von Dauer und Ordnung bzw. Tradition und Autorität angesichts erst noch zu verwirklichender Partizipationschanchen zu verstummen hat.
Daß infolge des Scheiterns vieler Reformprojekte diese resignative Einstellung eine gewisse Plausibilität besitzt, kann kaum bestritten werden. Die Erfahrung der letzten Jahre machte deutlich, daß die Demokratisierung gesellschaftlicher Teilbereiche keineswegs nur eine Sache des guten Willens oder des aufgeklärten Bewußtseins, sondern vor allem auch ein Problem der technisch-organisatorischen Umsetzung auf den verschiedensten institutioneilen Ebenen unter Bedingungen ist, die ihrerseits nicht unwesentlich bestimmt werden von der Form der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit. Daß die Neue Linke diese Schwierigkeiten unterschätzt hat, muß nicht eigens betont werden. Etwas ganz anderes freilich ist es, die Grenzen einer weitergehenden Demokratisierung primär anthropologisch, als mit dem „Wesen des Menschen" unvereinbar zu Wort begründen. Hier trifft noch immer das Kants zu, der 1793 schrieb: „Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigentümers sind zur Freiheit noch nicht reif . .. Nach einer solchen Voraussetzung wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen man frei sein muß)." Zwar könne unter bestimmten Umständen die Erlaubnis zur freien Betätigung aufgeschoben werden. „Aber es zum Grundsätze machen, daß denen", die den Mächtigen „einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und man berechtigt sei, sie jederzeit davon zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien der Gottheit selbst, der den Menschen zur Freiheit schuf. Bequemer ist es freilich, im Staat, Hause und Kirche zu herrschen, wenn man einen solchen Grundsatz durchzusetzen vermag. Aber auch gerechter?"
II.
Versucht die hier diskutierte Variante des Neokonservatismus einen von Partikularinteressen gereinigten Begriff konservativen Bewahrens zu entwickeln und sich gleichzeitig von der Bestimmung des Konservatismus als einer der Fundamentaldemokratisierung immanenten Gegenbewegung zu distanzieren, so setzt von orthodox-marxistischer Seite die Kritik nicht an dieser Konservatismuskonzeption als solcher an, sondern an deren politökonomischen Implikationen. Genauer gesagt: Kritisiert wird auch hier der Demokratiebegriff Grebings, aber nicht, weil er zu weit, sondern zu eng gefaßt sei. So konzediert Lutz Winckler zwar, Grebing biete „Ansätze zu einer soziologischen Interpretation" konservativer Theorieansätze nach 1945 und verfahre dabei „prinzipiell ideologiekritisch" Gleichwohl erhebt er Einwände „im Hinblick auf die methodologischen Voraussetzungen und die gesellschaftstheoretischen Implikate einer ideologiekritischen Darstellung, die ihr Material so gut wie auschließlich aus dem Bereich der bürgerlichen staats-, verwaltungsund verfassungsrechtlichen Theorie entnimmt, ohne, wie es scheint, deren Stellenwert im Kontext einer kritischen Sozialtheorie ausreichend reflektiert zu haben" So würden „Gegensätze von Gesellschaft und Staat, Freiheit und Autorität, deren Ursprung auch für Helga Grebing auf den Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital zurückgeht, . . . explizit jedenfalls nicht als Resultat der kapitalistischen Produktion, sondern als Probleme der angeblich verselbständigten Sphäre der Zirkulation und Distribution behandelt" Durch dieses Vorgehen reduziere sich für sie Demokratisierung — als deren Gegenbewegung der Konservatismus auf den Plan trete — „zum Problem der Verteilung des Sozialprodukts, nicht der gesellschaftlichen Organisation der Produktion selbst"
Wincklers Kritik läßt sich also dahingehend zusammenfassen, daß Konservatismus von Grebing als Gegenbewegung zu einem Emanzipationsprozeß dargestellt wird, der im Grunde keiner ist, weil die objektive Funktion dessen, was sie unter „Fundamentaldemokratisierung" begreife, darin bestehe, von den wirklichen Machtverhältnissen abzulenken. Gleichzeitig verbaue sie sich dadurch die Möglichkeit, die Transformation des liberalen Staates in den Wohlfahrtsund Sozialstaat und die damit verbundene „Verlagerung des Klassenkampfs in die Konsumsphäre bzw.seine Auflösung in Gruppenkonflikte" als Ideologie zu durchschauen. Anstatt jenen Übergang „im Zusammenhang mit den Problemen staatsmonopolistischer Regulierung der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion" zu diskutieren, nehme sie die Ideologie des Sozialstaates für dessen Wirklichkeit selber: sie interpretiere ihn „als Folge einer . Fundamentaldemokratisierung'auf der staatlichen Ebene der Steuerung und Verteilung des Sozialprodukts" Der so verstandene „Verteilerstaat" habe denn auch bei Grebing die Funktion, „Gleichheit in . Formen der plu-ralistischen Machtverteilung’ und der , sozialen Gewaltenteilung'durchzusetzen
Der Ausblendung der staatsmonopolistischen Agentencharakters des bürgerlichen Sozialstaates entspreche im übrigen die Auflösung des Kapitalismusbegriffs mit Hilfe einer „technisch-pluralistischen Terminologie" einerseits und die „Abstraktheit der demokratischen Perspektive" andererseits. Sowohl die „Illusionen der Freizeitdemokratie" und die „ , demokratisierende(n) Effekte, die die Entwicklung der Produktivkräfte hervorruft’ " als auch der „ . permanente Progreß sozialer Demokratisierung'" die massenhafte Spontanietät und die gruppenpluralistische Selbstbestimmung seien nichts als Floskeln, die der herrschenden Klasse durchaus ins Konzept paßten. „Grebings Arbeit läßt", so resümiert Winckler seine Kritik, „sicher ungewollt, den Eindruck entstehen, als stünden lediglich die Zirkulationsagenten und die deutschen Staatsrechtler als deren Ideologen und nicht das Kapital zwischen den arbeitenden Massen und den Produkten ihrer Arbeit"
Der Haupteinwurf, den Winckler und Graf Westarp gegen Grebing erheben, besteht mithin darin, daß sie ihre Konservatismuskonzeption in der Auseinandersetzung mit der Realität des Sozialstaates entwickelt habe, die sie grundsätzlich bejaht, weil sie ihn als Phase eines langfristigen Emanzipationsprozesses begreift, hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann. Sicherlich ist beiden Kritikern darin zuzustimmen, daß die politische Demokratie unter den Bedingungen des organisierten Kapitalismus nur eine sozialstaatlich verfaßte sein kann, d. h. genau wie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts im 19. Jahrhundert impliziert der im Sozialstaat heute institutionalisierte Anspruch auf das „Soziale" nicht schon per se eine systemsprengende Qualität. Dennoch wäre zu fragen, ob die Subsumtion des Sozialstaates unter einen ahistorisch verkürzten Begriff des Kapitalismus nicht womöglich Phänomene ausblendet, die kategorial erst noch zu fassen sind. Diese hypothetische Annahme drängt sich auf, gerade weil — wie Winckler und Graf Westarp betonen — die Kategorie der „Industriegesellschaft" der kapitalistischen Länder nicht als Abstraktum zu begreifen ist, sondern als Korrelat und Medium kapitalistischen Verwertungsstrebens, das selber den Zwang erzeugt, unter dem es steht: nämlich sich ständig auf erweiterter Basis reproduzieren zu müssen.
Dies geschieht freilich — und hiervon abstrahieren beide Kritiker — unter Bedingungen, die der jeweiligen historischen Situation entsprechen. Die damit gegebenen, von der „Logik" des Kapitalverwertungsinteresses nicht durchgehend determinierten gesellschaftlichen Bereiche, zu denen auch der Sozialstaat zu zählen wäre, müßten — nachdem ihre systemstabilisierende Dimension, wie es scheint, erschöpfend diskutiert worden ist — erst noch unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für eine weitergehende Transformation analysiert werden.
Unter dieser Voraussetzung wäre es im übrigen auch erst möglich, eine wichtige Prämisse marxistischer Methodologie einzulösen. Denn ein gesellschaftliches System im Lichte seiner Veränderung zu interpretieren heißt immer zugleich auch, die systemüberschreitende Dialektik, an die Emanzipationsstrategien anknüpfen können, in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang aufzuzeigen: eben diese Perspektive verbauen sich Winckler und Graf Westarp dadurch, daß sie im Rahmen ihrer Ökonomistischen Agententheorie die dialektische Qualität der bürgerlichen Gesellschaft auch unter den Bedingungen des organisierten Kapitalismus nicht einmal annähernd in den Blick bekommen. Sicherlich wird davon auszugehen sein, daß , in einer Gesellschaft, in der Kapitalverwertungsinteressen die Priorität haben, Demokratisierungsmöglichkeiten spätestens dort auf Grenzen stoßen, wo sie die systemnotwendigen Gewinnerwartungen der Inhaber der Produktionsmittel in Frage stellen.
Ein ganz anderes Problem besteht m. E. aber darin, ob das antagonistische Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital gleichsam alle demokratisierenden Potenzen absorbiert, wie Winckler und Graf Westarp unterstellen. Auch wenn es heute, zumal unter den Bedingungen des organisierten Kapitalismus, zum Problem geworden ist, ob sich die von Marx aufgrund der widersprüchlichen Reproduktionsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft vertretene These, wonach diese ihre eigene Transzendierung per se aus sich heraustreibt, halten läßt, ist die von den beiden Kritikern aufgezeigte Perspektive problematisch. Träfe sie zu, so müßten sie einerseits dem Kapitalismus eine Integrationsund Manipulationsmächtigkeit unterstellen, die er, wie die krisenhaften Symptome der kapitalistischen Systeme allenthalben zeigen, nicht besitzt, und andererseits wären sie gezwungen, die in der bürgerlichen Gesellschaft nachweisbare Dialektik von Emanzipation und Unterdrückung einseitig zugunsten der letzteren aufzulösen. Daß es „auch in der Verdinglichung Nuancen" gibt und sich im Umfeld des antagonistischen Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital Tendenzen abzeichnen, die sich langfristig zu Transformationsprozessen verdichten können, scheint im übrigen die Relevanz der fortgeschrittensten Variante konservativer Ideologie, nämlich der technokratische Konservatismus, zu zeigen Wenn dieser seine Funktion darin sieht, an der Spitze des (technologischen) Fortschritts zu marschieren — wie Franz Joseph Strauß es einmal formulierte — dann richtet sich offensichtlich seine Strategie gegen den aus der Entwicklung der Produktivkräfte resultierenden Demokratisierungseffekt mit dem Ziel, diesen nicht nur im Sinne der Beibehaltung der gesellschaftlichen Machtstrukturen zu kontrollieren, sondern die „Gegenrevolution bis zu den Grenzen der Überholung der -Revolu tion" voranzutreiben. Dies vorausgesetzt, ist denn auch die These plausibel, daß der technokratische Konservatismus angesichts einer drohenden sozialistischen Alternative als „Versuch einer Faschismusvermeidungsstrategie" bezeichnet werden kann, der die bürgerliche Gesellschaft in ein „post-histoire" (Gehlen) Konse überführen und die offene -quenz des Faschismus vermeiden will. Unter dieser Bedingung ist es in der Tat so, wie Graf Westarp schreibt, Konservative, „einerseits die den Begriff der Demokratie an die Vorgegebenheit der kapitalistischen Klassen-gesellschaft binden wollen, und andererseits soziale Demokraten (Sozialdemokraten?) die eigentlich entscheidenden gesellschaftlichen Gegenspieler in der Arena des Sozialstaates sind"
Aber genau diese Konsequenz bestreitet Graf Westarp entschieden, weil seiner Meinung nach die Voraussetzungen jener Konfliktfront nicht gegeben sind. Auch wenn es zutreffe, daß auf der Grundlage kapitalistischer industrieller Verhältnisse — nicht zuletzt hervorgerufen durch den Druck der Gewerkschaften — „die politische Demokratie adäquaterweise eine sozialstaatlich organisierte ist" bleibe letztlich diese „sozialstaatlich umgesetzte Kompromißbereitschaft des Kapitals ... an die Furcht vor einer Orientierung des Proletariats an sozialistischen Zielen und an der Politik der seit 1917 bzw. 1945 zum Sozialismus strebenden Staaten gebunden" Allerdings gebe es eine absolute Grenze für mögliche Konzessionen des Kapitals, die gewissermaßen jenseits des „institutionalisierten Anspruchs auf den öffentlichen Sozialapparat" lokalisiert sei und deren Überschreitung im Sinne einer Partizipation aller erst „Fundamentaldemokratisierung" genannt werden dürfe: die gesellschaftliche Organisation der Abeit, d. h. die Eigentumsverhältnisse, „die ihrerseits erst den . Sozialapparat'tragen"
Da dergestalt das Zentrum des kapitalistischen Systems undemokratisiert bleibe, müsse strukturell der vom Proletariat erkämpfte Sozialstaat solange gefährdet erscheinen, wie „die politische Macht nicht in Händen der Arbeiterklasse liegt und nicht vermittels der sozialistischen Staatsmacht der Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, derjenige zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung der Resultate des Wirtschaftsprozesses, aufgehoben ist. Die Reaktion des Kapitals auf diesen proletarischen Kampf kann in bestimmten Krisenperioden bis zur ultima ratio des Faschismus gehen." Wenn heute die klügeren Vertreter des bürgerlichen Neokonservatismus ihre technokratischen Postulate angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution auf eine soziale Stabilisierung unter Vermeidung des Faschismus richteten, gehe dies keineswegs auf das immanente Verwertungsinteresse des Kapitals zurück. Vielmehr setze dieses fortwährend neues Destruktionspotential frei, das sich jederzeit aktualisieren könne, sobald die Arbeiterklasse diese Tendenzen nicht im internationalen Maßstab bekämpfe.
Graf Westarp geht also von der Hypothese aus, daß sich der Faschismus aufgrund der Irrationalität kapitalistischer Verwertungsinteressen unter bestimmten angebbaren Bedingungen gleichsam zwangsläufig durchsetzt. Dies unterstellt, wären allerdings die Vertreter des technokratischen Konservatismus obsolet: '„ungeachtet einer vielleicht subjektiv ehrlichen Faschismusvermeidungsstrategie (vermag) ihr Versuch, nur die technisch-zivilisatorischen Ergebnisse des menschlichen Aufklärungsprozesses zu nutzen, seine politisch-emanzipatorischen Konsequenzen für alle jedoch abzubiegen, ständig neue Katastrophen heraufzubeschwören" Die so konstatierte Zwangsläufigkeit, angesichts derer der Konservatismus insgesamt zu einer bedeutungslosen Größe würde, ist jedoch eine Annahme, die sich nicht auf eine theoretisch fundierte Analyse berufen kann. Sie beruht vielmehr auf einem Denken in Analogien, welches die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft in normativer Absicht auf ein Konglomerat von Beispielen reduziert, um daraus Handlungsanweisungen für die Bekämpfung eines antizipierten Faschismus abzuleiten. Auch wenn unbestritten ist, daß der Faschismus als das Produkt der bürgerlichen Gesellschaft unter dem Zeichen antritt, diese gegenüber einer wirklichen oder nur suggerierten sozialistischen Alternative zu behaupten, verkennt dieser Ansatz jedoch die Dynamik, die sich, ist der Faschismus im Besitz der Macht, auch gegen die herrschende Klasse richten kann.
Eben von diesem tendenziell unkalkulierbaren Risiko gehen aber offenbar die Vertreter des technokratischen Konservatismus aus: Ihre Strategie zielt denn auch konsequent darauf ab, den Faschismus genau so zu vermeiden wie eine mögliche Sozialisierung. Da sie im Begriff sind, den technologischen Fortschritt für ihre Zwecke zu nutzen, müssen sie als die relevantesten Hüter des Status quo angesehen werden.