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Die Mitte und rechts davon Bemerkungen zur Tendenzwende in der Bundesrepublik | APuZ 42/1974 | bpb.de

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APuZ 42/1974 Gibt es eine konservative Theorie? Die Mitte und rechts davon Bemerkungen zur Tendenzwende in der Bundesrepublik Konservatismus und Demokratie Zur neuesten Kontroverse über den Konservatismus

Die Mitte und rechts davon Bemerkungen zur Tendenzwende in der Bundesrepublik

Hermann Glaser

/ 63 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dieser Essay — und als solcher kann er manche Aspekte nur andeuten, nicht systematisch ausbreiten — versucht, die Tendenzwende in der Bundesrepublik, das heißt die Zuwendung zum Konservatismus bzw. das Erscheinungsbild des Neokonservatismus, aus kultur-und sozialpsychologischer Sicht zu deuten. Was sich an den Häufigkeitsmerkmalen veränderten Verhaltens ablesen läßt, signalisiert eine tiefgreifende Umstrukturierung kollektiver Mentalität. Die Neue Linke löste nicht ein, was sie einst versprach; ist dies die Folge verfehlter Strategie oder Folge der „Dialektik der Aufklärung", die das rückläufige Element in sich selbst trägt? Reformmüdigkeit macht sich breit; der Drang zur „Mitte", deren „Lokalisation" jedoch schwierig ist und die im Streit der Worte und Begriffe bislang Undefiniert blieb, verstärkt sich. Auch das gesellschaftliche Rollenspiel der Jugend ist anders geworden; was bis vor kurzem als elementarer Aufstand des Gewissens empfunden wurde, scheint dem modischen Wandel genauso zu unterliegen wie die warenästhetische Verpackung des Fortschritts-glaubens. Politische Bildung muß unter veränderten Umständen die Defizite demokratischer Identität sorgfältig analysieren und versuchen, neue Ziele, Inhalte und Methoden, im besonderen soziokultureller Art, zu reflektieren. Der „Wiederherstellung der Politik" sollte die Wiedergewinnung des Ästhetischen zur Seite treten, damit jene humane Totalität erreicht werden kann, die dem Zoon politikon das Behagen in der Kultur vermittelt.

I. Konservativismus im Kommen

„Der Bürger auf der Flucht nach rechts" — so formulierte kürzlich Bazon Brock in einem Spiegel-Essay; er versah jedoch diese Feststellung mit einem'Fragezeichen „Glaubt man den Zuschneidern politischer Karriere-uniformen, dann trägt man jetzt wieder rechts." Die Mäntelchen würden eilig gewendet. Meinungsführer ganzer Redaktionsbesatzungen, Theatermannschaften und Schulklassen, eben noch linke Schickeria, gäben sich den inneren Anstoß zum Richtungswechsel. Das neueste Prophetenwort hieße Rechtskartell. Die politisch-soziale Entwicklung der Bundesrepublik werde unaufhaltsam von Rechts nach rechts manipuliert. Doch ließen sich gute Begründungen für die Vermutung anführen, daß wir es nicht mit einer Rechtskehre in einen neuerlichen Faschismus zu tun hätten; der Konservativismus wachse überall an, in linken, rechten oder liberalen Parteien, in sozialistischen oder kapitalistischen Ländern. Denn er biete, „was gegenwärtig gefragt ist: eine Erklärung für den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft als Geschichte, die weder alles Vergangene einem abstrakt postulierten zukünftigen Ziel unterwirft, noch die Gegenwart als bloß heruntergekommene Variante des Ewigmenschlichen und vor Zeiten schon Geoffenbarten disqualifiziert".

Die erwähnte konservative Wende läßt sich bereits seit längerem an vielerlei Symptomen ablesen. Manche Honoratioren, noch gewöhnt an den Protest der Bärtigen, fanden zu ihrer Überraschung inzwischen heraus, daß dem äußeren Habitus keineswegs mehr Aufwieg-lertum, sondern Affirmation entspricht. Als kürzlich beim CSU-Parteitag in München die Politiker zaghaft auf die Straße gingen, konnte selbst Kultusminister Hans Maier eineinhalb Stunden inmitten von Schülern und Studenten in gelassener Atmosphäre parlieren. Bei festlichen Veranstaltungen werden wieder Lorbeerbäume und Streichquartette eingesetzt; Podiumsdiskussionen mit andächtig lauschendem Publikum erleben ein come-back.

Nach den Häufigkeitsmerkmalen zu schließen, pendelt sich der Zeitgeist auf die „vernünftige Mitte" hin ein, wobei selbstverständlich noch Residuen der Aggressivität (etwa in Frankfurt) bestehen. Vielfach ergeben sich paradoxe Situationen, die an eine Karikatur von Bose erinnern: unentwegt und festen Schritts marschiert der Leiter einer Weltanschauungstruppe bzw. -gruppe noch in „seine" Richtung; die Anhänger aber haben bereits kehrt gemacht und ziehen in der anderen Richtung davon. Vom „progressiven" Standpunkt aus gesehen (was dies ist, wird noch zu klären sein): Der Zeitgeist ist in Bewegung geraten und läuft nach rückwärts davon. Bürgerinitiativen, von konservativen Kreisen ehemals mit tiefem Mißtrauen betrachtet, werden von diesen jetzt gefördert; die Demokratisierungsbestrebungen an Hessens Schulen z. B. vor allem von der CDU unterstützt — erwartet man doch von Eltern und Schülern massiven Einspruch gegenüber der Regierungs-Reformpolitik. Der spektakuläre Aufstieg der Schülerunion ist bereits vielfach vermerkt und kommentiert worden.

Solchen und ähnlichen impressionistischen Beobachtungen entsprechen demoskopische Ergebnisse: das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelte doppelt soviel wohlmeinende wie ablehnende Urteile „über einen Menschen, von dem es heißt, er sei politisch konservativ eingestellt". In Zahlen: 19 Prozent der Befragten meinten, es spräche eher gegen jemanden, wenn von ihm gesagt werde, er sei konservativ eingestellt; 39 Prozent sind die Ansicht, das spräche eher für ihn. 42 Prozent reagierten auf die Frage mit der Feststellung, da seien sie unentschieden. Die Beschreibung „politisch konservativ" werten 34 Prozent der SPD-Anhänger und 49 Prozent der CDU/CSU-Anhänger positiv, bei den 16-bis 29jährigen sagten jeweils 25 Prozent, das spräche gegen den Betreffenden; bei den Älteren ist die Antwort zu 53 Prozent zugunsten des Konservativismus bestimmt

Brocks Annahme findet somit ihre Bestätigung: der konservative Trend ist allgemein; besonders überraschend bei der jugendlichen Gruppe, von der man bislang annahm, „konservativ" sei für sie eine völlig degoutante Vokabel; und bei der SPD, die allerdings in ihren Führungsgremien schon seit längerem sehr deutlich erkennen läßt, daß die Juso-Einflußnahme abgelockt ist. Der linke Flügel der SPD hat inzwischen entsprechend anpassungsbereit reagiert: In einem Papier des „Frankfurter Kreises", vorwiegend von Karsten Voigt formuliert, heißt es, daß das Wekken neuer Illusionen nur alte Fehler wiederhole; die Forderung könne sich nicht mehr in erster Linie auf die Durchsetzung von Reformen beziehen, sondern auf die öffentliche Diskussion über die Gründe, warum so viele Initiativen scheitern mußten. Auf Grund der restriktiven Rahmenbedingungen könnten zur Zeit keine Reformen mit dem Ziel einer Entwicklung zum Sozialismus hin realisiert werden

Das Phänomen der Tendenzwende sei nachfolgend unter einem kulturmorphologischen, kulturphilosophischen und kulturpsychologischen Aspekt betrachtet, wobei der Begriff „Kultur" umfassend die politischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkte implizieren soll-, es geht in diesem Beitrag vor allem um einen strukturellen Deutungsversuch, der sich — allein aus methodischen, nicht wertenden Gründen — von der rein politischen bzw. po-litologischen Argumentationsweise absetzt bzw. abhebt

Thematisiert handelt es sich — um den Gestaltwandel der Neuen Linken, um deren „Altern" um die Regression der Progression; den Rückzug der Avant-

garde, — um den konservativen Versuch, eine neue Theorie zu entwickeln, die — in Überwindung der faschistoiden Besetzung des Begriffs — der „demokratischen Philosophie"

integriert bzw. als deren eigentliche Essenz ausgegeben werden soll;

— um eine Bewußtseinsveränderung zur „Mitte" hin, die darauf zu prüfen sein wird, ob sie anthropologisch begründet ist, oder „Mode" (reine Durchgangsposition im Wechselspiel der Tagesaktualitäten)

darstellt.

II. Dialektik der Aufklärung

Bedeutete die Ära der Progressiven und Revolutionäre ein Vorankommen und Fortschreiten und setzt nun, im dialektischen Pendelschlag, das Rückwärts ein? Oder hat die Protestbewegung in einen Irrweg geführt, aus dem die konservative Neuorientierung herauszuführen vermag? Hat die Theorielastigkeit des „Zeitgeistes" mit seiner Feindlichkeit gegenüber der Erfahrung die neue Tendenz, den konservativen Stimmungsumschwung, provoziert? Hatten die Reformtendenzen das konservative Beharrungsvermögen lediglich modisch überlagert, oder schlagen tiefsitzende Angst und Sorge der schwindelerregenden utopischen Fahrt die Bremsen ein?

In der 1944 in New York erschienenen Studie „Dialektik der Aufklärung" von Max Hork-heimer/Theodor W. Adorno hatten diese die Selbstzerstörung der Aufklärung beschrieben: „Wir hegen keinen Zweifel — und darin liegt unsere petitio principii —, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion über dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter, und darum auch die Beziehung auf Wahrheit." Ich vermute, daß solche Sätze, seinerzeit in einer anderen gesellschaftlichen und politischen Situation geschrieben, für die gegenwärtige Entwicklung gleichermaßen zutreffen — da sie nämlich die Selbstzerstörung von Aufklärung prinzipiell beschreiben.

Der aufklärerische Impetus, der in der Protestbewegung kulminierte, hat mit den Konstrukten seines Denkens sich soweit in der irrealen Utopie verloren, daß der Weg zum „neuen Jerusalem" zunächst mangelnder Beachtung und dann der Mißachtung verfiel. Viel schlimmer noch: der Ideenhimmel wird als Alibi herangezogen, die Dreckarbeit der Reform nicht tun zu müssen, wodurch die Aufklärung insofern ihr eigenes Schicksal besiegelt, als sie — der Realisation dessen, was sie eigentlich will, entratend •— sich um jedes praktische Bewußtsein bringt. Der rückläufige Moment von Aufklärung besteht darin, daß sie, wenn sie die Reflexion ihrer Möglichkeiten mißachtet, „durchschlagend wirkungslos" bleibt und damit alle diejenige, die vom Stillstand aus auf den Fortschritt hoffen, statt zu dynamisieren, in Enttäuschung und Frustration „fest-macht". Da nun einmal, wie Horkhei-mer/Adorno feststellen, Wahrheit nicht bloß das vernünftige Bewußtsein, sondern ebenso-sehr dessen Gestalt in der Wirklichkeit bedeutet, sind dort, wo Vernunft nicht als „Gestalt" realisiert wird, Resignation und Reaktion die Folge. Man hält sich wieder und erneut an das, was vorhanden und zuhanden ist. Die enttäuschte Progression regrediert auf Mythologie, wobei diese Mythologie den Glanz von (freilich enttäuschter) Aufklärung annimmt.

Hartmut von Hentig hat kürzlich „über die Schwierigkeit, eine Gesellschaft aufzuklären, die sich für aufgeklärt hält", gesprochen und dabei folgende Regeln aufgestellt:

1. Nicht mehr an Aufklärung zu vermitteln suchen, als durch die Umstände bestätigt werden kann.

2. Immer soviel Erfahrungsund Handlungsmöglichkeiten schaffen oder öffnen, wie man aufklärt.

3. Die aufklärenden Lösungen selbst finden lassen.

4. Anschauung ist so wichtig wie diskursive Erklärung.

5. Bei alledem redlich und freundlich sein

Wenn man im Rückblick das Verhalten der „Protestaufklärer" sich ansieht, so wird man — und dies entspricht auch dem Tenor der Hentigschen Ausführungen — feststellen müssen, daß die Revolutionäre der letzten Jahre sich genau konträr verhielten:

Sie haben stets soviel Aufklärung zu geben versucht, als durch die Umstände nicht hat bestätigt werden können.

Sie haben kaum Erfahrungsund Handlungsmöglichkeiten für Aufklärung erschlossen.

Sie haben aufklärende Lösungen dogmatisch und ideologisch oktroyiert.

Sie haben fast ausschließlich abstrakt und ohne „Sinnlichkeit" ihre Aufklärung betrieben. Sie haben (bis zum Psychoterror) auf die Freundlichkeit des überzeugens verzichtet und mit extremer Humorlosigkeit die Überheblichkeit geistiger Esoterik praktiziert.

Es wäre gut gewesen, wenn aufklärerisches Bemühen berücksichtigt hätte, was Karl R. Popper zur Frage der Theorie feststellt, daß nämlich Unwiderlegbarkeit nicht ihre Stärke, sondern ihre Schwäche sei; daß die echte Überprüfung einer Theorie in dem Versuch bestände, sie zu widerlegen. Prüfbarkeit bedeute Widerlegbarkeit, Falsifizierbarkeit, und darin läge auch der Maßstab für den wissenschaftlichen Status einer Theorie. — Die aufklärerische Bewegung der letzten Jahre hat ausschließlich Verifikation, häufig sogar im Rahmen eines Freund-Feind-Schemas, betrieben; die Notwendigkeit selbstkritischer Reflexion (im Sinne der Bereitschaft zur Falsifizierung) weder akzeptiert noch internalisiert und damit ihr eigenes Schicksal besiegelt. Damit aber hat sie zugleich die Geister, auf die sie sich berief, desavouiert.

Unterstellt man, und spricht vieles dafür, es daß man dies tun kann, daß die neue Linke ursprünglich intensiv sich darum mühte, Aufklärung verstärkt bzw. wieder neu „herzustellen", also die von Helmut Plessner konstatierte „Verspätung der Nation" endgültig aufzuholen, so wäre das „Altern der neuen Linken" als Teil der Dialektik der Aufklärung in dieser bereits angelegt gewesen und nun zur Realität geworden. Man darf freilich den. Begriff der „Dialektik der Aufklärung" nicht zu sehr organistisch deuten, wie es die Metapher „Altern" nahelegen mag: als einen zwangs-haften Prozeß sozusagen biologischer Determiniertheit, den man nicht aufzuhalten vermag, sondern nur hinzunehmen hat. Dutschkes Aufruf von 1968: „Die subtilen und brutalen Methoden und Techniken der sozialen In-tegration ziehen bei uns nicht mehr .. . Genossen, Antiautoritäre, Menschen! Wir haben nicht mehr viel Zeit!" verkannte im Kerne, was die rationale Beziehung zur „Wahrheit" der Realität kennzeichnen sollte: nämlich daß Aufklärung eines langen Atems bedarf und nicht auf die Erfüllung ihrer idealistischen Hoffnungen vertrauen darf, sondern ihr Scheitern einzukalkulieren hat. Erst dieses „negative Kalkül" setzt Aufklärung in die Lage der Selbstreflexion, was sie vor dem Absturz in die Überheblichkeit bewahrt und den Tag-traum nicht zur Beute der Selbsttäuschung werden läßt.

Nicht zuletzt getrieben vom Wortfetischismus, der mit den Konstrukten der Begriffe bereits Realität bewältigt glaubte, ging der neuen Linken das tragische bzw. pessimistische Lebensgefühl verloren, ohne das Wahrheit als Weg, und nicht als Besitz, schwerlich sich verwirklichen läßt. So wie in den Antiautoritären (nach einem Wort Adornos) Autorität fortweste, so schlug Wahrheit mit ihrer Verabsolutierung in den Wahn von Wahrheit um — unter Mißachtung des dialektischen Wahrheitsbegriffs, der in seiner fortwährenden „Aufhebung" besteht. Gerade das, was man der affirmativen Kultur mit Recht als ihre ideologische Erstarrung anlastete und entsprechend kritisierte, nämlich die Selbstsicherheit und Selbstgewißheit, die Überzeugung von der Unveränderbarkeit der eigenen Überzeugung, führte dazu, daß die Theorie — die sich gar nicht mehr auf das Wagnis der Praxis einließ, sondern im Gegenteil den in praxi sich betätigenden Reformer als system-stabilisierend diffamierte — sich ihres eigenen Grundes, nämlich fortschrittlich zu sein, enthob. Die Aussage von Marx und Engels: „Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein wollen", ist auch von der neuen Linken nicht beachtet worden. Mit der Sicherheit der Vorstellung über sich selbst und das theoretisch entwik-kelte Gesellschaftsmodell ist sie einem Stereotypisierungsprozeß verfallen, bei dem Dynamik durch Festschreibung ersetzt wurde. Auch die Avantgarde zieht sich eben gerne zurück, wenn sie ihre Sensibilität für die Notwendigkeit, Terrain zu erkundschaften, verliert und sich im Besitz des Gebiets, das sie eigentlich aufgeben (= verlassen) sollte — nämlich des „gesicherten Gebiets" stringenter, wirklichkeitsabgeschirmter Theorie (Ideologie) — wohlfühlt.

Ein subtil denkender Konservativismus nimmt nun all die „Unsicherheiten" in Anspruch, die die Progression im Inhalt wie im Jargon, in der Mentalität wie in deren Ausformung vor der Affirmation und dem „Jargon der Dialektik" hätte schützen können. In einem Gedicht Anfang der sechziger Jahren hat Hans Ma-gnus Enzensberger die „antinomische Stärke" wirklicher Progression, einer „jungen" Linken sozusagen, welche die Bürde der Selbstreflexion zu tragen in der Lage ist und sich nicht von der „Weisheit" des Alters belehren lassen muß, in Verse gefaßt, die unter speziellem wie generellem Aspekt (auf die Person Enzenbergers selbst wie auf die sozialpsychologische Entwicklung der Linken bezogen) nur mit Nostalgie zitiert werden können: schwierige Arbeit für theodor w. adorno im namen der anderen geduldig im namen der anderen die nichts davon wissen geduldig im namen der anderen die nichts davon wissen wollen geduldig lesthalten den schmerz der negation eingedenk der ertrunkenen in den vorortzügen um fünf uhr früh geduldig ausfalten das schweißtuch der theorie angesichts der amokläufer in den kaufhallen um fünf uhr nachmittags geduldig jeden gedanken wenden der seine rückseite verbirgt aug in aug mit den totbetern zu jeder stunde des tages geduldig vorzeigen die verbarrikadierte Zukunft tür an tür mit dem abschirmdienst zu jeder stunde der nacht geduldig bloßstellen den rüstigen kollaps ungeduldig im namen der zufriedenen verzweifeln geduldig im namen der verzweifelten an der Verzweiflung zweifeln ungeduldig geduldig im namen der unbelehrbaren lehren Aufklärung, die den trivialen Utopismus genauso meidet wie einen vulgären Pragmatismus, wird dieses Oszillieren zwischen dem Tagtraum und der Wirklichkeit, dem Gewollten und dem Machbaren, akzeptieren müssen. Das Recht, man selbst zu bleiben, und das Recht und die Pflicht, ein anderer zu werden, läßt sich nicht als antagonistische Auseinandersetzung lösen, sondern als Kontinuität von Persönlichkeit: daß man ein Selbst bleibt, indem man ein anderer wird. Indem die neue Linke ihr zentrales Begriffssystem eindimensional handhabte, verlor sie die Beziehung zur Wahrheit, die sich eben als dialektisches Kontinuum vollzieht. Der späte Marcuse hat, wenn auch in vielem selbst für die Eindimen-sionalität der alternden Neuen Linken verantwortlich (da er die Vieldeutigkeit der Begriffe als Vielperspektivität von Wirklichkeit nicht immer eindeutig genug herausstellte), in „Konterrevolution und Revolte" die Antinomie linker Begrifflichkeit einigermaßen wiederhergestellt — etwa wenn er die Bedeutung der Ästhetik (häufig dem revolutionären Anspruch geopfert) aus der Verbannung ins progressive Bewußtsein zurückholte: „Kunst kann ihr radikales Potential nur als Kunst ausdrücken, in ihrer eigenen Sprache und Bilderwelt, die die Alltagssprache, die , prose du monde’, außer Kraft setzten. Die befreiende . Botschaft’ der Kunst transzendiert die gegenwärtig erreichbaren Ziele der Befreiung nicht weniger als die gegenwärtige Kritik der Gesellschaft. Die Kunst bleibt der Idee verpflichtet (Schopenhauer), dem Allgemeinen im Besonderen; und da die Spannung zwischen Idee und Realität, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen wahrscheinlich niemals aufhören wird, muß Kunst Entfremdung bleiben. .. Die Spannung zwischen Affirmation und Negation schließt jede Gleichsetzung der Kunst mit der revolutionären Praxis aus. Die Kunst kann nicht die Revolution darstellen; sie kann sie nur in einem anderen Medium signalisieren, in einer äthetischen Form, in der der politische Inhalt melapolitisch wird und von der inneren Notwendigkeit der Kunst bestimmt ist."

III. Zur Theorie des Neokonservativismus

Nach dem historischen wie anthropologischen Grundgesetz von Challenge and response hat das Erstarken der Linken, haben im besonderen die Provokationen der Protestbewegung den Konservativismus aktiviert und seinem etwas verwaschenen Profil klarere Züge gegeben. Natürlich hat die Linke nicht den Konservativismus hervorgerufen; doch wurden im Verlauf der allgemeinen Polarisierung der sechziger Jahre latente Kräfte hervorgelockt und zur Formierung gebracht. In der Revolutionsstrategie bestimmter Kreise spielte dies sogar eine kalkulierte Rolle: sollte doch der Spätkapitalismus empfindlich getroffen und zur militanten Reaktion gezwungen werden, damit er sein wahres Gesicht, seinen faschistischen Charakter entlarve und die Arbeiterschaft in Reaktion auf die Reaktion zum Aufstand brächte. Sieht man davon ab, daß solche revolutionäre Gedankenspielerei nur einen kleinen Kreis von (in die eigenen Theoreme verstiegenen) Extremisten wirklich ernsthaft bestimmte, so ist unverkennbar, daß — in dosierter Form — der Umgang mit Linken und Linksradikalen dem Konservativismus den „Witz" und die Schlauheit zurückgebracht hat, die ihn seine Schwerfälligkeit überwinden ließen. Man lernte die Methoden der Unterwanderung genauso kopieren wie die Vorteile von Geschäftsordnungsdebatten und fraktionierenden Absprachen. Fallstudien von SPD-Ortsvereinen können diese Feststellung leicht verifizieren: die alte Garde, häufig nun wieder die schweigende Mehrheit, läßt die Argumentationstiraden der Linken ohne Erregung an sich abgleiten (während man noch vor einiger Zeit verunsichert und verwirrt reagierte), und plaziert dann die Entscheidungen so, wie die Machtposition es erlaubt und als angebracht erscheinen läßt. Während vieles von dem, was man bislang als „Uneinsichtigkeit" den Jusos anlasten konnte, diesen wie Schuppen von den Augen fällt, und für sie Diskussion wieder zu dem wird, was sie früher war: nämlich Diskurs, in dessen Verlauf man durch Argumentation den anderen zu überzeugen versucht, anstatt verbale Einschüchterung bis zum Psychoterror auszuüben, „verfestigt" sich auf der anderen Seite (die zunächst verschreckt, dann verärgert reagierte) die Geschicklichkeit, durch Diskussion lediglich die bereits gefaßten oder vorgefaßten Meinungen und Entscheidungen an-und unterzubringen.

Kann man so von einer taktischen Verfeinerung des Konservativismus sprechen, so hat auch das Politisieren mit dem Holzhammer sich eine neue Legitimation zuerkannt (und zwar nicht nur in Bayern): Die Provokations-attitüden, die vom sensiblen Happening über die militante Verunsicherung bis ins kriminelle Rockertum absanken, verstärkten sowohl den Ruf nach Law-and-order als auch die Absicht, Gleiches mit Gleichem heimzuzahlen. Daß dabei das konservative „Volksvermögen" hinter dem linken „Untergrund" nicht zurückstehen werde, war von vornherein zu erwarten. DIE ZEIT sprach mit Recht davon, daß mit dem CSU-Parteitag vom Juli 1974 der „Ruf von München" des Franz Josef Strauß nicht ungehört verhallen werde; es kommen aggressive Tage. Wie derartige Gegenaufklärung z. B. in der kultusministeriellen Trivialliteratur aussieht, kann folgender Auszug aus einer offziellen Informationsschrift für Eltern illustrieren: „Manche Kinder kommen heute bereits als Zerstörer in die Schule. Von klein auf haben sie gelernt, ihre Wünsche mit Gewalt durchzusetzen. Viele Eltern haben vor lauter . Verständnis'für die Jugend versäumt, ihr Grenzen zu zeigen, ihr klarzumachen, daß Ordnung zum Leben gehört, gerade zu einem Leben in Freiheit. Ihr . Herzchen'durfte hemmungslos toben, die . Systemüberwindung'im Kinderzimmer proben. — Nicht wenige Kinder werden daheim zu Schulfeinden gemacht. Der selbstgerechte Vater erklärt unermüdlich alle Lehrer zu Trotteln, beschimpft die Schule samt dem Staat, der sie so und nicht anders einrichtet. Der gleiche Vater sollte sich dann aber nicht wundern, wenn er für seinen Sprößling haften soll, weil der dem Sündenbock Schule eins übergebraten hat. — Auch im Namen des . Fortschritts'schlagen Schüler auf die Schulen ein. Gelernt haben sie's von radikalen Studenten. Ihre Parolen wie . Zerschlagt die bürgerliche Gesellschaft!', . Macht kaputt, was euch kaputt macht!'nehmen manche Schüler nur allzu wörtlich — und langen dann mit den Toiletten an. Die Frage, ob die Gesellschaft besser wird, wenn man die Klos kaputtmacht, stellen sich unsere ach so . Kritischen’ nicht. — Man täusche sich nicht. Mit jeder Wandschmiererei, mit jedem Attentat auf ein Waschbecken oder eine Schulbank werden nicht nur Sachen beschädigt. Es geht um mehr. — , Lehrt sie ungehorsam sein!'sagte im Jahre 1945 eine Schriftstellerin auf die Frage, was man mit den Deutschen nach dem Krieg machen solle. Diese Lektion wurde gut gelernt. Wer heute wie die Schule Autorität beansprucht und ausübt, macht sich verdächtig. Gelten nicht die Worte Disziplin und Pflichterfüllung, Recht und Ordnung heute fast als unmoralisch? Sehen viele im demokratischen Staat nicht schon den Gegner? — Aber Freiheit meint nicht Unordnung; Willkür schafft kein Recht. Diese Lektion sollten wir lernen. Und unseren Kindern ins Gedächtnis rufen. Sonst gehen Dinge zu Bruch, die mit Geld nicht mehr zu reparieren sind."

Ich habe persönlich vor Jahren, zu einer Zeit, als Radikalität („an die Wurzeln gehend") sich auf gefährliche Weise mit Scheinradikalität zu vermischen begann, auf die Möglichkeit einer fatalen Eskalation hingewiesen, die den gerade von den Linken wieder eingeführten Diskurs gefährden würde, ehe er über-haupt richtig in Gang gekommen sei. Der nachfolgende Zitatbeleg soll verdeutlichen, daß seinerzeit manches voraussehbar war, was heute allenthalben manifest geworden ist: „Die Demonstrationsmethoden ritualisieren gewissermaßen pubertilen Trotz — und gerade deshalb sind sie erfolgreich. Der Erfolg wiederum bedeutet weitere Regression. Die Spirale dreht sich nach unten: aus den ehemals sublimen Formen der Demonstration wie teach-in, sit-in werden Faschingsscherze, bis man sich schließlich in Hörsälen und Rektoratszimmern vandalistisch und fäkalisch abreagiert. Der Protest verliert, je mehr er sich verstofflicht, den eigentlichen ironischen Effekt. Wenn das Happening nicht mehr das lächerlich macht, was lächerlich ist, sondern selbst in seiner Primitivität sich bloßstellt, werden Aufklärungsprozesse nicht in Gang gesetzt, sondern unüberwindbare emotionale Barrieren aufgerichtet. Das mit großem Ernst entwickelte Instrumentarium der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung verändert sich in den Händen der Scheinradikalen zum wirkungslosen Affekt. Statt durch Demonstration zur Reflexion und Massenaufklärung beizutragen, das Bewußtsein der Bevölkerung zu aktivieren, verschafft man sich lediglich Fixierungspunkte für eine unbewältigt gebliebene Aggressivität. Solche Ventilierungen mögen in einer repressiven Gesellschaft durchaus ihren sozialhygienischen Wert haben. Aufklärung werden sie nicht bewirken, sondern eher verhindern. Die große Chance der Demonstrationsfreiheit und der Demonstrationswirksamkeit ist in dem Augenblick vertan, in dem man diese Demonstration und Provokation nicht mehr als praktizierte Reflexion begreift, sondern sie in die Gewalt abgleiten läßt. Mit Recht hat Jürgen Habermas darauf hingewiesen, daß die Scheinradikalen eine Universitätsbesetzung oder die Verwüstung eines Instituts mit der faktischen Machtergreifung verwechseln: . Derjenige, der sich der aus der Protestpsychologie von Jugendlichen stammenden Technik nicht als Erwachsener, nämlich im Bewußtsein ihres virtuellen Charakters bedient, wer sie vielmehr wie das Kind selber ernst nimmt, verfällt damit einem Infantilismus.'Am Hofe der Scheinrevolutionäre siedeln sich Harlekins an, die gerade deshalb, weil sie die des -Attitüde Unverant wortlichen einnehmen, von der Bourgeoisie mit einer gewissen Haßliebe gehätschelt werden. Die Revolutionierung des Bewußtseins kann nämlich am sichersten verhindert werden, wenn sich der Elan im Spektakel verbraucht."

Im kulturphilosophischen Zusammenhang interessiert vor allem, ob es dem Neokonservativismus gelungen ist, ein klar konturiertes geistiges Profil zu entwickeln, und wenn ja, welche Einzelzüge dieses kennzeichnet. Im wesentlichen ist die neokonservative Theorie dem Publizisten Gerd-Klaus Kaltenbrunner zu danken, der, in Überwindung des Nachkriegskonservativismus etwa eines Armin Mohler, interessante Überlegungen entwickelte, denen Stringenz keineswegs abzusprechen ist, die man jedoch kritisch befragen muß — vor allem dahin gehend, ob sie sich als „Konservativismus" zusammenfassen bzw. etikettieren lassen. Hier gilt, was Kurt Sontheimer anläßlich einer Besprechung einer Arbeit von Kaltenbrunner feststellte: „Bedenklich wird seine Bemühung allerdings da, wo sie mit pauschalen Begriffen hantiert, wie Erbe, Staatsautorität, Ordnung, die sich auch für die antiliberalsten Unternehmungen mißbrauchen lassen. Bedenklich ist auch seine Attitüde des Einzelgängers, sein Flirten mit organischen Konstruktionen', durch welche die Bedingungen für ein bewahrenswertes Leben erst geschaffen werden sollen. Hier trifft er sich mit der hochmütigen Geisteshaltung der Vertreter einer . konservativen Revolution', jener unseligen Geistesbewegung der zwanziger Jahre, die letztlich doch nur den Mächten der Zerstörung der Freiheit gedient hat, weil sie nicht willens und entschlossen war, das liberale Erbe zu verteidigen. — Mir mißfallen bei dieser Rekonstruktion des Konservativismus auch die zu schönen Formeln wie: . Konservatismus ist keine Heilslehre und kein Weg zur Erlösung von allem Übel', oder: , Er ist der wandelnde Ausdruck dessen, was im Grunde unwandelbar bleibt.'Sie weisen keinen Weg zu den Problemen der Gegenwart, handle es sich um die Mitbestimmung oder die Vermögensverteilung oder die Beibehaltung der Tarifautonomie. Eine Theorie des Konservatismus, die über so allgemeine Aussagen nicht hinauskommt, besitzt nur geringen Erkenntniswert. Wissen wir nicht schon seit langem, daß der Fortschritt ambivalent ist?"

Die Auseinandersetzung mit dem Neokonservativismus sollte sich jedoch nicht zu lange des beim Vorwurf Etikettenschwindels aufhalten. Vielmehr nachfolgend Hand -sei an ei nes von Kaltenbrunner aufgestellten konservativen „Tugenden-Katalogs" zu den darin enthaltenen Philosophemen Stellung genommen und dabei auch e contrario die nicht-konservative Position umrissen Mit sechs Begriffen versucht Kaltenbrunner, einige konservative Prinzipien und die Aufgaben eines „schöpferischen, auf der Höhe der Zeit stehenden Konservatismus" zu umreißen. Es sind dies Erbe, Stabilität, Ordnung, Staatsautorität, Freiheit, Pessimismus.

Konservativ sei das Bewußtsein, wesentlich Erbe zu sein. Der Mensch gewinne seine Würde, seinen Reichtum und sich selbst, indem er teilhabe an einem die unmittelbare Gegenwart transzendierenden Zusammenhang. Dieser Zusammenhang sei gemeint, wenn in einem anspruchsvollen Sinne von Überlieferung und Tradition gesprochen werde. Wenn aber der Mensch wesentlich Erbe sei, dann komme es darauf an, Verhältnisse zu schaffen, die auch dem geringsten Zeitgenossen die Möglichkeit geben, sich nicht als enterbte und traditionslose Kreatur, sondern als Erbe und Treuhänder einer nicht mit dem Tage vergehenden Überlieferung zu erfahren. Kaltenbrunner zitiert, was T. S. Eliot vor etwa fünfzig Jahren gesagt hat (es wäre angemessener gewesen, gleich das originäre Goethe-Zitat zu verwenden): „Tradition kann nicht einfach geerbt werden; wer sie besitzen will, muß sie sich in harter Arbeit erwerben."

Sieht man von der Vokabel „Erbe" ab, die man in Zusammenhang mit gesellschaftlichem Denken besser einige Zeit aus dem Verkehr zöge, da sie ideologisch durch den Nationalsozialismus „besetzt" wurde, so läßt sich feststellen, daß ein auf „Erbe“ rekurrierendes konservatives Denken mit gleichem Recht progressiv genannt werden könnte — solange nämlich die „Traditionsstücke" nicht näher festgelegt werden. Ein Wort von Karl Marx besagt: „Es wird sich . .. zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich dann zeigen, daß es nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft geht, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit." Der Bezug auf die Gedanken der Vergangenheit (und man kann sagen, daß der deutsche Geist, soweit er nicht offiziell pervertiert und ideologisiert wurde, grundsätzlich progressiv gedacht hat!) wird freilich beim konservativen Handeln lediglich zitatologisch begleitend bzw. ablenkend vorgenommen, während es das Kennzeichen progressiver linker Strömungen seit eh und je gewesen ist, die Vollziehung der Gedanken als Vollziehung von Aktualität zu verstehen. Wenn Kant fordert, daß der Bürger zu räsonieren habe (was man heute als „rationalen Diskurs" bezeichnen würde), wenn Friedrich Schiller die Notwendigkeit des „ästhetischen Staates" betont, wenn Karl Marx den Menschen von seiner ökonomischen Versklavung zu befreien sucht, etc. etc., so sind dies alles Gedanken der Vergangenheit, die es nun sozialpolitisch zu verwirklichen gälte. Das Elend der neokonservativen Theorie wird bereits von diesem Punkt her manifest. Über-lieferung und Tradition werden „beliebig" gebraucht, d. h. ohne Auftrag für diese Gegenwart. Sie bleiben dem Bereich zugeordnet, den Herbert Marcuse (bereits 1937) als „affirmative Kultur" bezeichnete. Die Ideen der Vergangenheit werden nicht als fortschrittliche, über die erreichte Organisation des Daseins hinausweisende, zum Handeln verpflichtende Maximen verstanden, sondern als idealistische Vokabeln, die im Rahmen von Feier-stunden zu rezitieren sind. Auf die Not des isolierten Individuums antwortet die affirmative Kultur mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Es soll keineswegs geleugnet werden, daß neokonservatives Denken heute zur Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik sich bekennt und durchaus bereit ist, progressive Entscheidungen mit zu vollziehen. Nur handelt es sich dabei nicht um eine Folge des konservativen Tradtionsverständnisses, sondern um den Einfluß sozialistischen Denkens, das auch in die Poren des Konservatismus eingeflossen ist (und etwa beim linken Flügel der CDU zu einer durchaus reformbezogenen Sozialpolitik geführt hat).

Als zweiten Begriff stellt Gerd-Klaus Kaltenbrunner den Begriff der Stabilität heraus. Konservativ sein heiße, Stabilität zu verstehen als Verkörperung eines Wertes, mehr noch: als Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Werte zu verwirklichen. Weil das menschliche Veränderungspotential begrenzt sei, verstehe sich der Konservative als Hüter eines nicht weniger aktuellen Menschenrechts, des Rechts nämlich, „man selbst zu bleiben". Zur Humanität gehöre auch, daß dem Menschen nicht zugemutet werde, in jedem Augenblick sich wandeln, ständig von vorne beginnen und stets nur von der Zukunft leben zu müssen. Der Konservative stehe für das Recht auf Identität. Unsere Identität gewönnen wir aber nur durch die bejahte Zugehörigkeit zu konkreten sprachlichen, kulturellen und nationalen Traditionen, zu einem durch Stabilität ausgezeichneten vertrauten Milieu, das uns Heimat sei.

Es kann nicht geleugnet werden, daß es einen relevanten Stabilitätsbegriff dieser Art gibt und daß er erfolgreich wirksam gewesen ist: Es handelt sich um den Stabilitätsbegriff agrargesellschaftlichen Denkens, das mit Hilfe der Extrapolation Dasein bewältigt. Derart . reproduktiv'darf aber der Stabilitätsbegriff einer demokratischen Industriegesellschaft nicht sein. Die Industriegesellschaft ist einem derart raschen Wechsel unterworfen, daß „beharrende Stabilität" in Wirklichkeit in Unsicherheit, Frustration und entsprechende Aggressivität umschlägt. Hingegen ist das Experiment in einer dynamischen Industriegesellschaft der eigentlich stabilisierende Faktor, da es immer ein Stück Zukunft voraus aufzuklären sucht und somit den Menschen von der Angst befreit, nicht zu wissen, was das Morgen bringt.

Die Stabilität des „Keine Experimente!" bewirkt Unsicherheit; Verunsicherung dagegen ermöglicht Stabilität. Niemand wird deshalb bezweifeln, daß auch immer wieder Phasen der Notorietät notwendig sind, in denen das Experimentelle „verweilt"; sich für die Gesamtheit als verbindlich „auskristallisiert"; doch müssen solche Phasen bald wieder aleatorisch aufgelockert werden. Unter diesem Aspekt ist der Begriff „Heimat" bei Ernst Bloch zu verstehen, nicht statisch, sondern „bewegt": als realutopische Projektion dessen, was sein kann-, als Ziel für einen Weg, der den Menschen in Gang hält. Sprachliche, kulturelle und nationale Traditionen, die in der repro-duktiven Stabilität erstarren, verhindern genau das, was sie bewirken sollen, nämlich Identität. Indentität erweist sich als kommunikativer Prozeß, der . Heimat'fortschreitend realisiert und internalisiert. Politik als die gemeinsame bewegliche Regelung gemeinsamer Angelegenheiten (Hartmut von Hentig) bedarf der die Stabilität stets transzendierenden Tag-träume:

„Möchten die Tagträume noch voller werden, denn das bedeutet, daß sie sich genau um den nüchternen Blick bereichern;

nicht im Sinne der Verstockung, sondern des Hellwerdens. Nicht im Sinne des bloß betrachtenden Verstandes, der die Dinge nimmt, wie sie gerade sind und stehen, sondern des beteiligten, der sie nimmt, wie sie gehen, also auch besser gehen möchten. Möchten die Tagträume also wirklich voller, das ist heller und beliebiger, bekannter, begriffener und mit dem Lauf der Dinge vermittelter. Damit der Weizen, der reifen wird, befördert und abgeholt werden kann" (Ernst Bloch) Denken heißt überschreiten; ein Konservativismusbegriff, der unter Stabilität nicht auch die Variabilität von Stabilität begreift, bewahrt nicht das humane Potential, sondern baut es ab.

Gerd-Klaus Kaltenbrunner erwähnt als dritten Zentralbegriff Ordnung. Vererbte Überlieferung und Stabilität seien nur möglich, wo das Chaos nicht die Regel sei. Dem Konservativen sei eigentümlich der Sinn für Ordnung, die nach einem Wort von Burke „das Fundament aller guten Dinge ist". Deshalb wäre der Konservative davon überzeugt, daß auch eine demokratische Gesellschaft unaufhebbar auf Autorität und Gehorsam, Unterschiede der Kompetenz und der Macht, kurz: auf gewisse Formen von über-und Unterordnung angewiesen sei. Als Institutionalist stehe der Konservative für eine Tugend, die heute in beklagenswert niederen Ehren stehe: die Tugend der Loyalität.

Der demokratische Sozialismus bekennt sich gleichermaßen zur Ordnung. Entscheidend freilich ist die Trennschärfe der Begriffe: es ist also zu fragen, was „Ordnung" im konservativen Kontext, und was sie im sozialistischen Denksystem bedeutet. „Sinnvolle Ordnung" ist für den demokratischen Sozialismus eine Ordnung, welche die Gesamtheit der Gesellschaft an der Ordnung (dem „Ordnen") zu beteiligen sucht, während beim konservativen System — zumindest in praxi — „Loyalität" als Treue zu den bestehenden Herrschaftsformen verstanden wird. Die demokratische Gesellschaft bedarf der Autorität: es muß aber Autorität sein, die sich ständig nachweist, also Kompetenz (als befragbare und ständig zu befragende Autorität). Gehorsam, Unterschiede der Kompetenz und der Macht, Uberund Unterordnung sind insofern Sekundärtugenden, als sie auf die Sinnhaitigkeit von Ordnung erst bezogen werden müssen, Loyalität zur Sache ist nur dann eine gute Loyalität, wenn die Sache gut ist. Mit anderen Worten:

es kommt auf die Legitimation von Ordnung an, und diese ist in einem demokratischen Staatswesen nur als rationaler Diskurs vorzunehmen.

Der konservative Denkansatz orientiert sich weitgehend an einem Ordnungsbegriff, der sich nicht kritisch ausweist, sondern Law-

and-Order bewußt-los perpetuiert (letztes Beispiel dafür die Pervertierung der Law-and-Or-

der-Parole durch Watergate). Sicherlich kann man nicht im Institutionenverfall die Morgenröte des Reiches der Freiheit erblicken; er ist in der Tat das Vorspiel zur Reprimitivisierung, zu Chaos und schließlich zu Gewalt.

Vielmehr sind die sich selbst regenerierenden Institutionen das Leitziel eines dynamischen Ordnungsbegriffs, wie er den demokratischen Sozialismus kennzeichnet. Das vielfach desavouierte Wort von der Notwendigkeit system-übergreifender Reform entspricht durchaus dem Selbstverständnis einer dynamischen Industriegesellschaft:

nämlich sich selbst in einem ständigen Wandlungsprozeß zu „halten" und zu „erhalten": mit dem Tagtraum realutopischer Utopie als Movens — wobei selbstverständlich die Spielregeln und „die Grenzen der Beweglichkeit" festzulegen sind (wie das Grundgesetz es in Form der Grundrechte tut).

Gerd-Klaus Kaltenbrunner spricht viertens von der Notwendigkeit einer Stärkung der Staatsautorität. Der Staat müsse fähig sein, in einer pluralistischen Gesellschaft jene Disziplin sicherzustellen, ohne welche die bedrohlichen Mächte überhandnehmen, deren Gefahr der Konservative von Natur aus deutlicher spüre als der „nach Emanzipation lechzende Radikale". Auch hier wirkt das Sprachmuster verdächtig; der „nach Emanzipation lechzende Radikale" versetzt den Begriff der Emanzipation in die Nachbarschaft bösartiger Triebhaftigkeit; der Konservative dagegen wird zum Wesen, das naturhaft der Wahrheit (eben der Staatsautorität) nahestehe, hinauf-stilisiert. Wolfgang Lempert hat kürzlich in der „Neuen Sammlung" eine sehr umfassende Deutung des Begriffs „Emanzipation" gegeben Bereits der etymologische Rückblick lasse die allgemeinste Bedeutung des Emanzipationsbegriffs erkennen, die ihm bis heute erhalten geblieben sei: „Immer wenn von Emanzipation’ gesprochen wird, geht es um die Aufhebung menschlicher Fremdbestimmung. Bestehende einseitige soziale Abhängigkeitsverhältnisse, Benachteiligungen, Ungerechtigkeiten sollen abgebaut, nach Möglichkeit ganz beseitigt werden. . Emanzipation'meint also eine spezifische Veränderung gesellschaftlicher Beziehungen". Emanzipation bedeute negativ die Verringerung von Abhängigkeiten, unter denen Menschen leiden, positiv die Erweiterung unserer objektiven Chancen und subjektiven Fähigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung und, weil Bedürfnisse nur als artikulierte handlungsrelevant werden, zur Bedürfnisartikulation. Da nun einmal die politische Emanzipation auf die Herstellung eines angemessenen institutionellen Rahmens für die technische Auseinandersetzung mit der äußeren Natur gerichtet sei und auf den Abbau überflüssiger sozialer Repressionen, ziele die pädagogische Emanzipation auf deren individuelles Pendant, auf die notwendige Disziplinierung der Triebstruktur und auf die Ablösung unnötiger Verkrampfungen der Charaktere.

Er ist also ein neokonservativer „Trick", die Staatsautorität der Emanzipation gegenüber-zustellen. Vielmehr legitimiert sich die Autorität des Staates vor allem darin, daß dieser die Emanzipation fordert und fördert, ja darauf „angelegt" ist, die „kommunikative Erfahrung nachlassenden Leidens" zu ermöglichen. Es hieße die Verfassungsidee suspendieren, wollte man Staatsautorität anders als emanzipatorisch interpretieren. Wenn Emanzipation häufig von linker Seite reflexionslos als abreaktive Bindungslosigkeit propagiert wird, so ändert dies nichts an der definitorischen Klarheit dieses Begriffs. Grundrechte und Grund-pflichten bedingen einander; selbstverständlich. Nur muß die Staatsautorität dafür sorgen, daß die Grundrechte aus dem Reich der Ideen in die Wirklichkeit versetzt und dort umgesetzt werden.

Fünftens erwähnt Gerd-Klaus Kaltenbrunner die Freiheit als konstituierenden Begriff für den Konservativismus im nachliberalen Zeitalter. Freiheit gewönne der Mensch nur durch Bindungen, indem er sich in die übergreifenden Ordnungen hineinbegebe. Damit wird der Freiheitsbegriff von den Füßen wieder auf den Kopf gestellt, denn Freiheit gewinnt der Mensch natürlich dadurch, daß er sich aus übergreifenden Ordnungen immer wieder herausbewegt (um auch in neue Ordnungen sich hineinbewegen zu können). Der Konservative hält den berühmten Satz Rousseaus: „Der Mensch ist frei geboren" für falsch. Wenn man den Satz in einem bestimmten Sinne interpretiert, hält ihn auch der demokratische Sozialist für falsch. Denn der Mensch wird in der Tat abhängig geboren; er bleibt oft zeitlebens abhängig. Wenn freilich Kaltenbrunner behauptet, daß der Mensch seine Freiheit, seine relative Autonomie und sich selbst nur dadurch gewönne, indem er seine Grenzen erfahre und obligatorische Bedingungen annehme, dann wird hier der Freiheitsbegriff eindeutig jeweils gegebenen Herrschaftsverhältnisse untergeordnet, statt dazu aufzufordern, diese Herrschaftsverhältnisse kritisch zu reflektieren. Wer vom Sozialismus reden will, der solle auch vom Stalinismus reden, der solle auch erklären, wie es kommt, daß sozialistische System bisher nur in Gestalt illiberaler Regime aufgetreten seien — so Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Damit unterschreitet das neokonservative Denken sein eigenes Niveau. Die angemessene Replik könnte nur lauten: Wer vom Konservativismus redet, der solle auch vom Nationalsozialismus sprechen. Derartige plumpe Assoziationen zerstören die Dialogfähigkeit einer freien Gesellschaft, die das Gespräch zwischen Konservativismus und Sozialismus als Notwendigkeit impliziert. Daß Tag-träume zur Beute der Betrüger werden, daß Ideen als Ideologeme und Idole die Menschen zu verführen vermögen, ist ein Phänomen, das anthropologisch gegeben ist und nicht dem Bemühen um soziale Freiheit angelastet werden kann.

Gerd-Klaus Kaltenbrunner nennt abschließend den Pessimismus als Prinzip konservativen Denkens. Der Konservative glaube, daß in Staat und Gesellschaft keine Vollkommenheit, keine letzte Harmonie und absolute Gerechtigkeit möglich seien — er glaube dies aus ontologischen, nicht aus historischen oder sozialen Gründen. Er halte dafür, daß es in der Regel zwischen zwei Übeln zu wählen gelte. Für eine derartige ontologische Einsicht spricht in der Tat viel; spricht auch die Erfahrung aus der Geschichte, die uns darüber belehrt, daß wir nichts aus der Geschichte lernen. Es ist freilich sehr fragwürdig, eine ontologische in eine gesellschaftspolitische Einsicht umzumünzen; zudem kommt es darauf an, welches der zwei Übel man zu wählen gedenkt. Wenn der Konservative auch an keine Vollkommenheit glaubt, so sollte er — getreu seiner eigenen Einsicht — aber nicht automatisch jeweils das „Übel" wählen, das mit aktueller Herrschaft identisch ist. Es könnte geradezu Aufgabe sein, zum „anderen Übel", das unter Umständen das geringere ist, fortzuschreiten. Mag auch die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, im Plan der Schöpfung nicht enthalten sein, es könnte doch sein, daß er — in anderen Milieus, bei anderer gesellschaftlicher Gestaltung — glücklicher wird. Die pessimistische Attitüde des Neokonservativen maskiert die gesellschaftspolitische Stagnation als ontologische Weisheit.

Die Rehabilitierung des Pessimismus, für die drei Argumente sprächen: das Argument der Erfahrung, das Argument der Humanität und das Argument der Tiefe, bedeutet beim Konservativismus keineswegs „handlungshemmende Resignation"; vielmehr leitet der Konservativismus daraus das Recht zu sehr intensiver Aktivität ab; nämlich Veränderungsprozesse abzublocken und Bestehendes, nur weil es besteht, „aktiv" zu erhalten. Der Neokonservativismus sollte Philosophie nicht mit Sozialpolitik verwechseln; Weltschmerz darf nicht dazu führen, den Schmerz der an der Welt Leidenden nicht verändern zu wollen. Der demokratische Sozialismus steht einem Hurra-Optimismus genauso fern wie der Singout-Ideologie pseudoprogressiver Bewegungen. Er weiß durchaus um den Stillstand im Fortschritt, er hat — um Günter Grass zu zitieren — die Schattenseiten der Utopie durchaus bewohnt. Er kann sich zum Mythos von Sisyphos (Camus) bekennen; Sisyphos freilich gibt das Steinwälzen nicht auf, auch wenn der Stein immer wieder nach unten rollt. Der Konservativismus stimmt in die Lamentationen über diejenigen, die drunten stehen, mit ein, ist aber nicht genügend engagiert, diejenigen, die drunten stehen, nach oben zu bringen. Es ist in diesem Zusammenhang angebracht, sich zu erinnern, daß der Melancholiebegriff seit eh und je dazu herhalten mußte, weltanschauliche Gegner zu verteufeln Bei Gerd-Klaus Kaltenbrunner handelt es sich quasi um den umgekehrten Vorgang: die Unterstellung, der Sozialismus besitze keine Melancholie, dient dazu, diesen abzuqualifizieren. In Wirklichkeit ist der melancholische Zustand im Sozialismus außerordentlich stark ausgeprägt; freilich erwächst diesem auch die soziale Phantasie, die sich als ein vom Realitätsprinzip erzwungener Sublimierungsprozeß erweist: utopische Projektion, die für die Versagungen der Realität und die daraus folgende Unlust entschädigt.

Nach Herbert Marcuse hat in der gegenwärtigen Gesellschaft, in der das Realitätsprinzip — in der Form des Leistungsprinzips erscheinend — ungeheuere Triebopfer fordere und in der aus eben diesem Grunde der „Todestrieb" (als Unbehagen, Unlust, pathologische Melancholie sich äußernd) immer mehr den Menschen beherrsche, die noch dem Lustprinzip unterworfene Phantasie eine durchaus emanzipatorische, revolutionäre Funktion, da sie die verdrängten Urbilder wahrer Freiheit, wahren Glücks festhalte. Während also beim neokonservativen Denken der Pessimismus (allerdings aus sehr vordergründigem Herrschaftsinteresse heraus) das Zurücksinken in die soziale Lethargie befürwortet, erwächst aus der Melancholie des Sozialismus der emanzipatorische Impetus, der die Idee einer besseren Welt transportiert.

Es soll nicht bestritten werden, daß — wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Linke Melancholie" feststellte — es auch einen Pessimismus der melancholischen Hofnarren der bürgerlichen Gesellschaft gibt, die — unfähig zur politischen Aktion — mit ihren antibürgerlichen Spiegelfechtereien ihresgleichen und die übrigen Bürger bei Laune halten.

Benjamins scharfsinnige Analyse eines pseudorevolutionären, letztlich konformistischen Bewußtseins, das sich in ungemütlicher Situation gemütlich einrichtet („Hotel Abgrund"), trifft heute — scheint mir — viel mehr für das neokonservative Denken zu. Der Pessimismus muß dazu herhalten, den Brücken-schlag über den Abgreund unversucht zu lassen, wobei diejenigen, die den Blick in den Abgrund richten und ihn melancholisch auszuhalten bereit sind, sich einigermaßen sicher im Feisennest etabliert haben.

Wenn man die e contrario (in der Auseinandersetzung mit den neokonservativen Leitbegriffen) verdeutlichten Aspekte des demokratischen Sozialismus zusammenfaßt, so ergibt sich — ohne daß hier die Gegen-Theorie stringent und systematisch entwickelt werden kann —, daß die realutopische Utopie ihre Bedeutung aus der konkreten Verflechtung mit dem sozialen Sein erhält. Es kommt darauf an, das wahrhaft tradierte Vergangene in der fortgeschrittenen Gestalt des Bewußtseins „aufzuheben". Die „Machtergreifung" der Phantasie drängt, wie Karlheinz Stahl es formuliert hat auf die Revolutionierung der Verhältnisse, die entfremdetes Bewußtsein erzeugen; sie kämpft an gegen ein Dasein, das Menschen zur Selbstenttäuschung zwingt; gegen die Verobjektung des Menschen im politischen System der hochkomplexen Industrie-gesellschaften. Gegenüber Pessimismus und Melancholie macht die soziale Phantasie jenen Optimismus geltend, dem die Zukunft gehört, eine Zukunft, die nach Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit der Gefahr entgeht, die Th. W. Adorno aus dem Bruch in der Kontinuität historischen Bewußtseins aufsteigen sah. Zukunft kommt in der Projektion der realutopischen Utopie als Vor-Schein des Ganz-Anderen zur Wirklichkeit. Aneignung vollzieht sich als dialektisches Aus-einander-Setzen des Gewesenen und mit ihm. Ein Bewahren, das hierin gründet, verfügt über revolutionäre Kraft. Wo Tradition „nicht mehr durchbrochen wird, weil man sie nicht mehr spürt, und darum auch nicht die eigene Kraft an ihr erprobt, verleugnet man sie; was anders ist, scheint nicht die Wahlverwandtschaft mit dem, wovor -es abstößt. Gegenwär tiges wäre nicht das zeitlose Jetzt, sondern eines, das gesättigt ist mit der Kraft des Gestern und es darum nicht zu vergötzen braucht. An dem avancierten Bewußtsein wäre es, das Verhältnis zum Vergangenen zu korrigieren, nicht indem der Bruch beschönigt wird, sondern indem man dem Vergänglichen am Vergangenen das Gegenwärtige abzwingt und keine Tradition unterstellt."

Ein so geartetes dialektisches „Aufheben" der Vergangenheit, ein derartiges Fortschreiten vom Traum des Wahren zu.dessen Bewußtsein, gelingt nur, wenn es seinen Weg über das Sein nimmt. Marx gelang es, auf der Grundlage der materialistischen Dialektik die Wurzeln jener Widersprüche kenntlich zu machen, deren Folgen schon der Ästhetik Schillers ihr Gepräge verliehen: die kapitalistische Arbeitsteilung und die Entfremdung. Der Spielraum sozialer Phantasie eröffnet die Erprobung jener Alternativen, denen in der spielraumfeindlichen und deshalb spielraum-armen Gesellschaft keine oder nicht hinreichende Realisationsmöglichkeiten eingeräumt werden. Das Spiel in phantasiereicher Autonomie setzt libidinöses Potential frei, bewirkt kreatives Wahrnehmungsverhalten und eröffnet sinnlicher wie rationaler Erkenntnis neue Dimensionen. Es dient der realutopischen Vorwegnahme emanzipatorischen Seins, schafft innovative Gegenmodelle der Wirklichkeit, die das Humane antizipieren. Es gilt, „nach der reproduktiven Phantasie, die die Vergangenheit aufarbeitet, die produktive Phantasie für die Zukunft anzuregen, und die verdängte Spontaneität ans Licht zu bringen. Es würde heißen, eine Kultur zu pflegen, die nicht nur gesellschaftlichen Ausgleich bietet, sondern gesellschaftliche Veränderungen vorbereitet."

IV. Der Streit um die Mitte

Von größerer Bedeutung noch als das, was mehr oder weniger präzise als Konservativismus sich bezeichnet und politisch gesehen verhältnismäßig heimatlos flottiert (hat doch die CDU, die einen Konservativismus ä la Kaltenbrunner aufgreifen und politisch operationalisieren könnte, dies noch keineswegs getan; sie ist über vorideologische Überlegungen kaum hinausgekommen; einer, der eine entsprechende geistige Leistung vollbringen könnte, wie Richard von Weizsäcker, wird offensichtlich ganz von der politischen Tages-arbeit verschlissen), ist die Leitvokabel „Mitte" geworden. In Form einer soziolinguistischen Fallstudie sei aufgezeigt, auf welche Weise sich der Streit der Worte um die Besetzung des Begriffs vollzieht. Das nachfolgende Zitat diene dafür als Ausgangspunkt: „In ihrer eigentlichen Bedeutung ist die . Mitte'ein geometrisch exakt bestimmbarer, aber deshalb auch kein willkürlich veränderbarer Punkt. . Mitte'kennzeichnet damit einen Gleichgewichtszustand, auch Harmonie, und wird heute dementsprechend auch gesellschaftspolitisch so interpretiert. Mißbräuchlich ausgelegt wird der Begriff dann, wenn sich Politiker in Selbstüberheblichkeit anmaßen, das, was Mitte ist, und wen sie personal dazurechnen, aus eigener Machtvollkommenheit bestimmen zu wollen. Die Entscheidung wird und darf nicht auf dem politischen Tummelplatz ausgetragen werden. Wenn etwa Röpke von , Maß und Mitte'sprach, so dachte er wie auch der ihm gleichgesinnte Alexander Rüstow gewiß nicht an eine parteipolitische Ortsbestimmung, sondern an einen Zustand des Gleichgewichts und der Ausgewogenheit individuell menschlicher oder gruppengebundener Interessen auf der Grundlage einer allgemeinverbindlichen, zuchtvollen Lebensordnung. So verbanden sich auch meine immer wiederholten Aufforderungen zum Maßhalten mit den Begriffen , Maß und Mitte'auf engste, aber sie würden eine völlig falsche Auslegung erfahren, wenn darunter die Gleichmacherei (eine typisch falsche Mitte) als Maß vermeintlicher Gerechtigkeit Anwendung finden sollte. Auf solche Abwege aber scheinen wir zu geraten.

So ist denn die . neue Mitte'nicht mehr als ein parteipolitisches Kunstprodukt eigener Erfindung und Willkür, aber gerade deshalb nicht ernst zu nehmen. Jene neue Mitte, die sich bisher auch noch gar nicht vorgestellt hat, ist weder organisch gewachsen, noch bietet sie sich etwa als reife Frucht einer in sich ruhenden gesellschaftspolitischen Entwicklung an. E ist nur zu hoffen, daß dieses komisch-grotesk anmutende Gaukelspiel zwischen den Parteien bald ein Ende findet, denn rein räumlich reicht die Mitte der 250 bis insgesamt 500 Sitze im Deutschen Bundestag nicht aus, um alle Abgeordneten unterzubringen, die neuerdings alle , Mitte'sein wollen. Die Sozialdemokraten, die seither ihren Standort als links von der Mitte bezeichneten (und dort auch ihre Sitze haben), wollen offenbar ihre Plätze mit denen der Unionsparteien vertauschen, aber da diese neuerdings zu . Rechtsparteien'gestempelt werden sollen, müßte die FDP in der Sitzverteilung nach links abwandern, was auch wieder nicht ihrem Geschmack entsprechen dürfte."

Mit diesem Zitat aus einer Betrachtung von Ludwig Erhard befinden wir uns mitten im politischen Meinungsstreit, in einem Streit um Worte. Es handelt sich um einen Streit der Prädikationen. Was die einen (die Sozialdemokraten) neuerdings „Mitte" nennen, wird von den anderen (den Christlich-Sozialen) als „Mitte" nicht anerkannt. Diese wiederum sind der Meinung, daß ihre Prädikation „Mitte" die richtige Prädikation sei, was von den Sozialdemokraten bestritten wird.

„Mitte" ist zunächst eine umgangssprachliche Vokabel; etwa: wir befinden uns in der Mitte der Stadt; und beim „gegenständlichen“ Gebrauch des Wortes werden sich die Vertreter der Parteien auch einig sein. Im Text von Ludwig Erhard (wie in der politischen Diskussion insgesamt) wird „Mitte" jedoch im Sinne eines Terminus verwendet. Die Termini haben gegenüber den umgangssprachlichen Prädikatoren den Vorzug, daß sie in ihrer Verwendüng genau vereinbart sind. Grundlage von wissenschaftlicher Verständigung ist die klare Definition, also die ausdrückliche Vereinbarung. „Mitte" als Terminus ist, wie Ludwig Erhard mit Recht feststellt, „ein geometrisch exakt bestimmbarer", willkürlich nicht veränderbarer Punkt. Der nächste Satz von Erhards Stellungnahme bringt eine weitere Definition.

„Mitte" kennzeichne einen Gleichgewichtszustand, verweise auf Harmonie. Auch gegen diese Definition ist nichts einzuwenden, denn man kann das Gefühl von Harmonie durchaus „Mitte" nennen (man könnte es auch ganz anders nenne — wenn eine entsprechende Vereinbarung sich durchsetzen würde). Die Überzeugungskraft einer solchen Definition besteht letztlich darin, daß die Prädikation den umgangssprachlichen Hintergrund (den Gebrauch des Wortes) mit einbringt: wird doch „Mitte", anthropologisch und psychologisch gesehen, weitgehend mit Harmoniegefühl gleichgesetzt („in der Mitten liegt holdes Bescheiden"). Die psychologische „Besetzung" der „Mitte"

mit einem Positivempfinden ist auch soziologisch zu deuten. „Ruhe als erste Bürgerpflicht" stützt Herrschaftsverhältnisse, die sich von den „Rändern" her nicht befragen lassen wollen; die Ideologie der Mitte verdrängt dialektische Bewegung und Beweglichkeit. Die Definition von „Mitte" als „harmonischer Gleichgewichtszustand" ist somit nicht nur eine verbale Prädikation, sondern auch eine politische Aktion, indem sie nämlich ein ganz bestimmtes Gesellschaftsbild intendiert. In seiner Stellungnahme wendet Ludwig Erhard nun, bewußt oder unbewußt, den semantischen Trick an, daß er eine politisch tendenzielle Absicht mit einer wissenschaftlich unstrittig vereinbarten Definition verbindet bzw. abstützt, so daß die so vorgebrachte Vokabel den Schein von Absolutheit erhält: Da die Mitte ein geometrisch exakt bestimmbarer und auch kein willkürlich veränderbarer Punkt sei und „Mitte" einen Gleichgewichts-zustand, einen Zustand der Harmonie, anspreche, könne auch die politische „Mitte" nicht „willkürlich" verändert und nicht neu fixiert (definiert) werden. Die Entscheidung, was Mitte sei, dürfe nicht „auf dem politischen Tummelplatz ausgetragen werden". Mitte sei ein „unbestreitbarer Ort". Da Erhard und seine Parteifreunde sich zu „Maß und Mitte", zu Harmonie und „formierter Gesellschaft" bekennen, hätten sie auch die „richtige" Vorstellung von „Mitte".

Wenn die Sozialdemokraten neuerdings ebenfalls Anspruch auf „Mitte" erheben, so hat dies sicherlich zunächst psychologische bzw. sozialpsychologische Gründe. Da „Mitte" umgangssprachlich, aus soziolinguistischen Gründen, mit Vorstellungen von Harmonie und Ausgewogenheit verknüpft wird, handelt es sich um ein Wort, das gesellschaftspolitisch (angesichts des vorherrschenden kollektiven Bewußtseinszustandes) „gut ankommt". Die Sozialdemokraten wollen mit „Mitte" offensichtlich einen „Verbalschlüssel" in die Hand bekommen, mit dem sie sich Zugang zu Bewußtseinsund Unterbewußtseinsschichten verschaffen, die anderen Schlüsselbegriffen (wie Verunsicherung, Dialektik, Widersprüchlichkeit, Fragwürdigkeit, Konflikt etc.) gegenüber zumindest im Augenblick unzugänglich sind.

Wird nun der Begriff „Mitte" neu, also entgegen seiner umgangssprachlichen und auch ideologischen „Besetzung", verwendet, so könnte natürlich die Gefahr gegeben sein, daß er manipulativen Zwecken dient. Man verwendet ein Wort, um den anderen zu erreichen und zu beeinflussen, meint aber mit dem Wort etwas ganz anderes als derjenige, der mit diesem Wort erreicht werden soll. Es wird für die Offenheit und Ehrlichkeit (für die Transparenz) der politischen Auseinandersetzung deshalb sehr wichtig sein, daß die Vokabel „Mitte", wenn sie im neuen Sinne Verwendung findet, mit aller Deutlichkeit definiert wird, und man dabei auch begründet, warum dieser Terminus (dieser Begriff) für das gesellschaftspolitische Handeln von großer Bedeutung sei.

Wenn die beiden Parteien zum „Kampf um die Mitte" antreten, so handelt es sich auch um einen Streit der Prädikationen und Definitionen. Welche Definition sich durchsetzen wird, ob diejenige, welche die Vorstellung von „Maß und Mitte" tradiert bzw. perpetuiert, oder diejenige, die den Begriff „Mitte" neu fixiert und definiert, hängt in der Demokratie von der Zustimmung der Mehrheit ab. Diese Mehrheit wird sich im Streit der Worte und Begriffe weitgehend dadurch bestimmen lassen, welche Praxis die verschiedenen Definitionen von Mitte implizieren und evozieren, das heißt: welche Definition von „Mitte" ein Mehr an individueller und gesellschaftlicher Progression ermöglicht.

Solcher definitorischen Auseinandersetzung, die das praktische Handeln fundiert bzw. reflektiert, will sich jedoch Ludwig Erhard entziehen. Indem er so tut, als ob die politische Definition von „Mitte" der geometrischen gleichzusetzen sei, versucht er, den Begriff „Mitte" aus dem Meinungsstreit herauszunehmen und als Absolutum, in dessen Besitz man sich befinde, hinzustellen. Damit aber wird aus „Mitte" ein Ideologem, das — mit dem Anspruch unbefragbarer Gültigkeit — a priori dem anderen verwehrt, Mitte zu sein und sein zu können. Emotionale Metaphern wie „politischer Tummelplatz", „komisch-groteskes Schaukelspiel" garnieren Erhards linguistisches Mißverständnis, dem ein Mißverständnis von Politik in einem demokratischen Staate zugrunde liegt. Die „neue Mitte" meint Ludwig Erhard, sei ein „parteipolitisches Kunst-produkt eigener Erfindung und Willkür" und deshalb nicht ernst zu nehmen. Die „alte Mitte" dagegen wäre organisch gewachsen: „reife Frucht einer in sich ruhenden gesellschaftspolitischen Entwicklung". Die vorherrschende, historisch begründete Sprachgebrauch von „Mitte" wird so zur Wahrheit stilisiert.

Sprache als Vereinbarung läßt es jedoch zu, daß man im Rahmen rationaler Diskussion (diskursiver Verständigung) Worte, Begriffe und Werte „umschreibt", fortschreibt, umwertet. Diesem sprachdialektischen Prozeß stehen freilich diejenigen entgegen, die der magischen Kraft von Worten mehr vertrauen als ihrer rationalen Begründung. Politisch wie linguistisch ist es durchaus sinnvoll, daß „reife Sprach-und Begriffsfrüchte" immer wieder abfallen und neue nachwachsen. Wenn Ludwig Erhard meint, daß der Kampf um die neue Mitte deutlich mache, daß alle Maße verlorengegangen seien, so widerspricht dies dem demokratischen Selbstverständnis. Daß eine Partei der anderen einen Begriff streitig macht, ist Teil der notwendigen politischen Auseinandersetzung. Wer sich auf ein begriffliches Charisma beruft, verletzt den Grundsatz, daß Demokratie Diskussion zu sein habe.

Neben der soziolinguistischen Misere, die darin besteht, daß die antagonistischen Positionen häufig nicht akzeptieren, daß Begriffe — dem Ballspiel ähnlich — jeweils hin-und her wechseln können und dürfen, je nach Position und Geschicklichkeit der „Bewegung" (je nach terminologischer Trennschärfe und der Bereitschaft, neue Inhalte durch Handeln zu verifizieren), spiegelt sich im Streit um die Mitte ein spezielles politisches Dilemma: nämlich daß Schlagworte von Stapel gelassen werden, ehe die Inhalte, die sie transportieren sollen, fest genug „zusammengefügt" sind. Die Konstruktionen (sprachlich gesehen „Konstrukte") lassen zudem die philosophische Basis vermissen, von der aus sie ihre Verankerung bekämen. Das Ergebnis ist, daß — am Beispiel „Mitte" überdeutlich — die politischen Kräfte, die mit dem Begriff die Position für sich „besetzen" wollen, sich gegenseitig der Lügenhaftigkeit bezichtigen; beide Seiten haben im Vorwurf insofern recht, als sie unberechtigterweise den Begriff in An-spruch nehmen, solange sie ihn nicht in die durch Definition ausgezeichnete Form des Terminus gebracht und nicht ein Programm der Mitte entwickelt haben, das seinen Wahrheitsgehalt durch politische Praxis nachweist.

V. Toppi der Mitte

Anregungen für die notwendige Diskussion um die Fundierung von „Mitte" in einer sozialpsychologischen Theorie seien nachfolgend vorgelegt — Markierungen, die das Feld abzustecken versuchen, innerhalb dessen die „Lokalisation" dieses fragwürdigen Topos erfolgen könnte:

1. „Mitte“ als statischer Begriff: Ruhepol, in sich ruhende Mitte, Wurzelgrund, Meditation ohne Anfechtung, Hieronymus im Gehäuse.

Richard Schwarz — um solche Topoi von „Mitte" an einem Zitat zu entwickeln — setzt sie dem existentiellen Leerlauf entgegen:

„Wir leben heute weithin in einer existentiellen Bodenlosigkeit. Ein Vakuum in fundamentalen Lebens-und Sinnfragen markiert weithin die Intelligenz — auch an deutschen Hochschulen — eine weltanschauliche Situation, die einem neuen Mythos des 20. Jahrhunderts offene Türen bietet. Die aggressive Dynamisierung, der Ruf nach permanenter Bewußtseinsveränderung, nach ständigem Autoritätsabbau, der Schrei nach dem Neuen um jeden Preis scheinen uns Merkmale einer Flucht nach vorn zu signalisieren. Der Leerlauf der Fortschrittsideologie lähmt. Maßnahmen gibt es heute genug. Die Welt, auch die wissenschaftliche Welt, erstickt geradezu in Organisation, Management, statistischen Dokumentationen — auch in den Bildungsplanungen. Allein auf den Maßstab für diese Maßnahmen käme es mehr denn je heute an, in einer progressiv sich Überschlagenden Welt, die zwar in einem Leerlauf des Automaten . Kultur', den man sich gebaut hat, über ungeheuere Mittel verfügt, die aber nichtsdestoweniger um den Sinn dieser Mittel nicht mehr weiß. Mit der Verwandlung der Welt in ein unendliches Netz von Kausalitäten und Prozessen wird die Frage gar nicht mehr gestellt: zu welchem sinngebenden Endzweck dies alles sein soll. Was das heißt? Es heißt: daß in Kausalitäten, nicht in gewissentlichen Verantwortungen gedacht wird. Menschen werden im Zeichen des Fortschritts heute zu psychischen und soziologischen Automaten degradiert — und sie fühlen sich dabei ganz wohl. Wird ihnen doch eben jene persönliche Verantwortung abgenommen durch das Kollektiv, das verschiedene Gestalten annehmen kann. Dem theoretischen, aber weltanschaulich fundierten Atheismus des Ostens entspricht ein zumindest praktischer und geheimer Atheismus oder Nihilismus des Westens. Eine Nation, eine Kultur, wir alle leben von jener geistigen Welt, welche eine geistige Elite gestern und heute geschaffen hat — in den Denkleistungen, in der Kunst, in der Religion, in der Technik jedweden Bereichs. Geist aber hat sein Maß am Ethos. Vom Ethos aber lebt und mit dem Ethos stirbt auch die Kultur. Und dies genau betrifft die heutige kritische Lebensfrage unserer Bildung als das Fundament unserer humanen Existenz."

Man braucht die einzelnen Sätze dieses Zitats nur ins Positive „umzudrehen", um jeweils die Ortsbestimmung von „statischer Mitte" zu erhalten:

— statt existentieller Bodenlosigkeit glaubensfesten Grund;

— statt des Vakuums in fundamentalen Lebens-und Sinnfragen Sinnerfülltheit;

— statt aggressiver Dynamisierung pazifizie-

rendes Beharrungsvermögen;

— statt permanenter Bewußtseinsveränderung Stabilisierung des vorab Gedachten;

— statt ständigem Autoritätsabbau die Perpetuierung von vorhandenem Charisma;

— statt dem Schrei nach dem Neuen um jeden Preis die Bescheidung mit der Notierung der alten Werte;

— statt dem Leerlauf von Fortschrittsideologie die Substanz von Tradition;

— statt Organisation, Management, statistischer Dokumentation Führung und Geleit, Vertrauen auf die Kraft der Institution;

— statt psychischem und soziologischem Automatismus ganzheitliche Entelechie;

— statt praktiziertem Atheismus bzw. Nihilismus Gottvertrauen.

Eine derartige, den Gehalt des Zitats freilich verkürzende Exegese zeigt bereits, ohne die Verwendung parodistischer Überspitzungen, daß „Mitte", die sich derart zu definieren ver22) sucht, lediglich von der einen (zur Illustration des Feindbildes verwendeten) Stereotypie in die andere (zur Propagierung affirmativen Glücksgefühls) umschlägt. Der Topos „Mitte" erweist sich hier als Oberflächenbezirk, bei dem jede Tiefenschürfung auf das hohle Gestein mangelnder Reflexion stößt.

Für „Mitte" bieten sich, jenseits der Klischees, zwei andere Topoi an — gleichnishafte „Ortsbestimmungen" „ruhenden" Lebens-und Weltgefühls: das „Idyll" und die „Villa". Ich habe micht mit diesen beiden „Örtlichkeiten" sowohl anthropologischer wie soziologischer Relevanz mehrfach auseinandergesetzt und bin der Meinung, daß sie — in übertragenem Sinne — auch für die Diskussion um die politische Mitte sehr aufschlußreich sein dürften: einmal als Möglichkeit des Durchstehens und Durchlebens von Existenz zwischen Abgründen (bei der man freilich nicht weiß, wie lange das Felsennest hält); zum anderen als Eröffnung des Rückzugs mit eskapistischer Beglückung

Mitte als statischer Begriff: Ruhepol; in sich ruhende Mitte; Politik mit Maß und Ziel; ausgeglichener Haushalt, Kürzung von Entwicklungshilfe zum Beispiel; Abklärung hinter Mauern, auch Aufbau von Mauern, die den Traum der guten Denkungsart besser absichern helfen. — Man wird prüfen müssen, ob man sich, heute und hier, in dieser Welt und Gesellschaft, solche (individualspsycholo-gisch gesehen durchaus „essentielle") „Mitte" leisten kann. 2. Mitte als „Aufhebung": als Durchgangsposition des dialektischen Prozesses. Augenblick des Pendelschlag. Aufhebung — um nochmals an Hegel zu erinnern — als Überwindung, Bewahrung und Erhöhung. Als Stadium von Bewegung. Als Ort und Zeitpunkt, da Bewegung sich neu entwickelt, wieder zu sich selbst ansetzt. Mitte als Atemholen der Progression. Mitte als Synthese von These und Antithese und zugleich als These Ausgangspunkt zu neuer Antithese und Synthese. Oder, um ein modernes politologisches Modell zu verwenden: „Mitte" als Regelkreis, der sich rück-und „fort" -koppelt; „Folgeregelung", bei der sich die Führungsgröße mit der Zeit oder in Abhängigkeit von einer anderen Größe verändert: dies schließt ein die Reaktion auf veränderte Tatbestände und weiterentwickelte Informationen; die „Struktur" wird nicht im Sinne der einmal gesetzten und unter Umständen längst überholten Führungsgröße eingehalten, sondern homöostatisch verändert.

Beispiel — eigentlich Beispiel par excellence — für das, was hiermit gemeint ist: die heuristische Bedeutung der Reform für die Stabi-liserung von Mitte. Geht man davon aus, daß das agrarpsychologische Denken, Fühlen und Handeln, aus dem Gehabten in Extrapolation das Zukünftige entwickelnd, den Gegebenheiten der Industriegesellschaft nicht nur nicht entspricht, sondern konträr widerspricht, da hier die Reproduktion des „Erfahrenen" den ständig sich ergebenden (sich selbst erzeugenden) Zukunftsaufgaben und Zukunftsproblemen nicht adäquat ist und sein kann, so bedarf statt dessen die Industriegesellschaft des Experiments als eigentlich stabilisierenden Faktors, da dieses — wie schon erwähnt — immer ein Stück Zukunft voraus aufklärt und damit das Unerwartete, von der Extrapolation aus gesehen „Unmögliche", bewältigbar hält. Da die Dynamik der Industriegesellschaft es mit sich bringt, daß auf der gesellschaftlichen Landkarte ständig neue weiße Flecken entstehen, sozusagen — um das Bild zu wechseln — Verschattungen, Infektionen, Affektionen, die es aufzuhellen, aufzuklären und zu behandeln gilt, ist Reform das eigentliche Element, das „Mitte“ (die sich dialektisch-dynamisch, nämlich als Regelkreis begreift) konstituiert.

Den „Traum" von den Möglichkeiten der Verbesserung menschlicher Existenz gilt es en gros und en detail in kontinuierlicher Arbeit Schritt um Schritt in die Wirklichkeit umzusetzen, wobei das Bewußtsein, aufgrund der Konkretisierungserfolge oder -mißerfolge, die Maßstäblichkeit seiner Projektionen überprüfen und revidieren, also feststellen kann, inwieweit der Traum eine realutopische oder eine irreale Utopie gewesen ist. Die Wirklichkeit einer Sache mag sich vom futurischen Entwurf wesentlich unterscheiden oder gar diesem widersprechen, dergestalt als „produktive Differenz" oder als „produktive Negation" in Erscheinung treten. Im ersteren Fall wird die Diskrepanz zur Idee den Ansporn zu neuem Handeln bewirken; einem Schritt dem Ziele näher zu sein, auch wenn dieses sich wieder weiter entfernt, ist immer noch besser, als in der Stagnation des Status quo zu verharren. Oder aber es erweist sich, daß die Zielrichtung der Projektion nicht zu einer wirklichen Verbesserung hinführte, was dann — im Sinne von „Folgeregelung" — die Korrektur der Projektion bewirken sollte. Da-? mit, nach den Worten von Marx, der „große Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft" nicht eintritt, sondern die Gedanken der Vergangenheit vollzögen und aus dem Vollzug dieser Gedanken neue Gedanken ent-stehen, die wiederum in der Zukunft als Gedanken der Vergangenheit zur Realisation gelangen, bedarf es der fortschreitenden Kraft der Reform in einem generellen wie allgemeinen Sinne. Reform macht das Vorausdenken wirklich. Die Reform ist der große Prüfstein für eine Gesellschaft, die sich ihre „Mitte" erhalten will — wird doch durch Reform sowohl die Regression in die die Enttäuschungen des Daseins kaschierenden Mythen als auch die Flucht in den ideellen oder ideologischen Wahn vermieden, die Frustration wie die Aggression durch (kritischer Beobachtung zugängliches) Handeln vermieden.

Wer, um wiederum die allgemeinen Gedankengänge an einem konkreten Beispiel zu illustrieren, die jahrelange Arbeit der Bildungskommission des Bildungsrates beobachtet und die Gutachten zur Reform des Bildungswesens genau studiert hat, kann feststellen, daß hier eine erstaunlich subtile Konkretisierung allgemeiner Reformüberlegungen erfolgt ist. Der „Traum" von einer besseren Schule, die der demokratischen Gesellschaft adäquat und zugleich die wertvollen Ergebnisse der Tradition weiterzugeben vermag, ist in den Empfehlungen der deutschen Bildungskommission verwirklicht worden — in einer Form, die sich zur dialektischen Synthese bekennt: nicht als Polaritäten verschleiernde Stagnation, sondern als eine, dem dialektischen Prozeß entsprungene „Gemeinsamkeit der Mitte", aus der wiederum neues Fortschreiten entstehen kann. Zugleich haben diese Empfehlungen — letztes Musterbeispiel die „Empfehlung zur Neuordnung der Sekundarstufe II. Konzept für eine Verbindung von allgemeinen und beruflichem Lernen" — in der Breite ihres Spektrums und der Tiefe ihrer Fundierung dogmatische Einengung vermieden und die Vielfältigkeit des Experimentellen einbezogen. Es kennzeichnet auf betrübliche Weise die bundesrepublikanische Mentalität, daß diese Gutachten weitgehend von „durchschlagender Wirkungslosigkeit" geblieben sind und statt dessen sinnlose Ideologisierung zwar einen Höhepunkt theoretischer Auseinandersetzung erbrachte, die Praxis der Reform in der Wirrnis der Ideologeme und Kompetenzen auf der Strecke blieb. So hat Reform heute nur noch einen welken Charme

Es ist dabei unbestritten, daß bei vielen Reformprojekte die monetäre Dimension nicht genügend berücksichtigt worden war. Dies bräuchte jedoch nicht zu sehr bekümmern, denn Reform bedarf immer des langen Atems, auch einer langfristigen Finanzierung, die nicht durch Quantensprünge zu bewältigen ist. Das Hauptproblem der „Reformmüdigkeit" ist das der individuellen und kollektiven, persönlichen und institutionellen Mentalität. Es ist schwer und wird immer schwer sein, genügend Gelder für Reformvorhaben freizumachen; das entscheidende Defizit liegt aber in der mangelnden Solidarität hinsichtlich der Notwendigkeit von Reform in einer Industriegesellschaft.

Tiefenpsychologisch gesehen, ist die Vorstellung von „Mitte" als Teil eines dialektischen Prozesses und die darin implizierte Forderung auf Reform nicht internalisiert worden. Reform wird als störender Faktor empfunden, demgegenüber man auf die Mitte als Stabilität und Position von „Unverrückbarkeit" zu rekurrieren versucht. Erst dann, wenn „Aufhebung" in dem mehrfach beschriebenen Hegeischen Sinne als gewissermaßen existentieller Prozeß begriffen und ins Bewußtsein übernommen worden ist, wird die Reformmüdigkeit überwunden werden und Reformfreudigkeit um sich greifen können. Ein solcher Zustand würde einschließen, daß „Reform" kein Stein des Anstoßes mehr wäre, da sie eben nun zur Normalität des gesellschaftlichen Geschehens, zur „Mitte" in der Struktur des Regelkreises, gehören, zur Selbstverständlichkeit des Bewußtseins geworden wäre.

Diese Hoffnung liegt ferner denn je, da inzwischen — statt den Generationen ein zwar unterschiedliches, aber jeweils gewichtiges Rollenspiel zuzuweisen — Reform in den letzten Jahren zum Generationenkonflikt stilisiert wurde, die „dynamische Jugend" das „starre Alter" in die Schranken rief, und jetzt (bei umgekehrtem Trend) die „Erfahrung des Alters" „jugendliche Unbedachtheit" zurück-stößt. Zudem löst „Jugend" sich selbst wieder von den Ideen ehemals vertretener Reformen ab — einmal, indem sie sich dem smarten Konservativismus anschließt, der als Reproduktion des Bestehenden die beste Garantie für das eigene Fortkommen bietet, zum anderen, indem sie in das vegetative Idyll flieht (damit den Ort stagnierender Mitte auf ihre Weise sich erschließend); schließlich, indem sie (allerdings nur noch als Rand-gruppe) in den vandalistischen Aktionismus ausschert, der sich mit einigen durchaus spektakulären, aber letztlich unerheblichen Aktionen in Kürze vollends totlaufen wird.

VI. Jugend als gesellschaftliches Rollenspiel

Was das Psychogramm und Soziogramm der Jugend betrifft, so hat die empirische Soziologie — ihrem Wesen entsprechend, das auf die Analyse ablesbarer Tatbestände ausgerichtet ist — weder den Übergang in die Protestbewegung noch den neuerlichen konservativen Trend vorausgesehen. Die sozialpsychologische Prognose hingegen wird die quantitative Bedeutung von Verschiebungen im kollektiven Unterbewußtsein kaum sachgerecht abschätzen können; ihre Aussage hinsichtlich der allgemeinen Relevanz ihrer Beobachtungen ist somit mit vielerlei Unsicherheiten belastet. Im jetzigen Stadium einer gewissen Umbruchssituation im jugendlichen Verhalten ist es besonders schwierig, eine Feststellung darüber zu treffen, welcher Trend sich durchsetzen und das Profil der Jugend für die nächste Zeit, zumindest den Häufigkeitsmerkmalen nach, bestimmen wird.

Einige Thesen seien nachfolgend aufgelistet wobei selbstverständlich, auch wenn hier „gesplittet", erst die Gesamtheit der Beobachtungen ein Bild des jugendlichen Verhaltens (wie gesagt, zusammengesetzt aus Mutmaßungen) abzugeben vermag: 1. Unsere Gesellschaft ist durch eine Fülle von Unsicherheitsfaktoren bestimmt. Die mentale Grundhaltung, hinter einer Fassade von vorgetäuschtem Optimismus, ist die des Skeptizismus und Zweifels, der jedoch verdrängt und somit nicht bewältigt wird. Der neurotische Grundzug manifestiert sich als Desintegration, Verlust kommunikativer Fähigkeit, Entfremdung, Identitätsverlust — insgesamt in einem Frustrationsgefühl, das sich ständig durch Surrogate zu kompensieren sucht. Das „schlechte Gewissen", im besonderen der führenden Schichten, schlägt dabei nicht — aufgrund der vorherrschenden Tabus und Normen — in offene Aggression um, doch ist das Aggressivitätspotential groß, die Abreaktionsbereitschaft latent stets gegeben.

Die Rolle der protestierenden Jugend, die fast ausschließlich von Jugendlichen geprägt wurde, die den von der Legitimitätskrise am stärksten berührten soziologischen Schichten (dem Bürgertum und Kleinbürgertum) entstammen, stellt gewissermaßen ein Aggressionsprivileg dar, was auch dazu führt, daß die Provozierten zumindest unbewußt die Provokation „bestätigen" (manifest in der Schwäche ihres Widerstands). Der Masochismus der Provozierten ist sowohl Ausdruck einer irrational bestimmten Grundbefindlichkeit, „falsch zu liegen", es falsch zu machen, als auch einer rationalen Einsicht in den desolaten Zustand der Welt, in der die aufklärerischen wie insgesamt humanen, im besonderen die christlich-abendländischen Maximen, ständig scheitern. Das Stichwort „Vietnam" charakterisiert einen solchen Komplex der Verdrängung; zugleich signalisiert es die Identifikation mit dem Aufstand des Gewissens, dem sich — unbelastet von der Aufgabe, immer wieder mit der Realität zurechtkommen zu müssen — die sensibilisierte Jugend verschrieb. Somit wäre die große oder kleine Verweigerung die (uneingestandene) Sehnsuchtprojektion weiter Kreise der Gesellschaft, die jedoch, unter dem Druck der unentrinnbaren Zwänge, nur von einem kleinen Kreis Privilegierter verwirklicht werden kann — solange die Gesellschaft dieser Gruppe (z. B.der nicht in die Produktionsverhältnisse eingebundenen „freischwebenden" studentischen Jugend) das Privileg zur Aggression zugesteht. 2. Der jugendliche Protest ist insofern Ausdruck von Konformität, als erst Lebensstandard und Bildungsniveau die Sensibilisierung ermöglichen, die zur Registrierung gesellschaftlicher wie kultureller Defizite befähigt. Das Lernziel auch der nicht-reformierten Schule (die reformierte würde diese Sensibilität noch viel mehr steigern, und die Konflikt-wahrnehmung und -ausübung in den Mittelpunkt rücken) schließt die Fähigkeit ein, durch die Lücken der Fassaden von Norm, Sitte, Gesinnung hindurchsehen und die teilweise diffusen Strukturen dahinter erkennen zu können. Der jugendliche Protest — sowieso quantitativ ein Epiphänomen, jedoch auf Grund der allgemeinen medialen Verkabelung von sehr gewichtiger, Bewußtsein prägender Kraft — bestätigt die Bildungserwartungen, die auf das Lernziel analytischer Fähigkeit, und nicht auf Solidarität ausgerichtet sind. 3. Die moderne Zivilisation ist durch die Dominanz des Rationalen und Rationellen weitgehend seelen-und gefühllos geworden. Der dionysische Ausbruch, ein ohnehin archetypisches jugendliches Urphänomen, verstärkt sich in einer Zeit, in der die Enklaven des Emotionalen immer mehr eingeengt werden und teilweise völlig brachliegen. Die jugendliche Subkultur wäre demnach Ausdruck des Ausbruchs aus der „seelenlosen Zivilisation".

Das „Zurück-zur-Natur" meint zwar nicht die primäre Natur, obwohl auch diese in zunehmendem Maße wieder entdeckt wird, entspricht aber in seiner Struktur den Ausbruchsversuchen früherer Jugendbewegungen: nämlich als Versuch, der Domestikation und Repression der Erwachsenenwelt mit ihren Ritualen und Zwängen zu entfliehen und Lebensräume der Wirrnis als eigentliche Erfüllung menschlicher Bedürfnisse zu besiedeln. Die Empfindung, daß der Geist der Widersacher der Seele sei, mag gesellschaftskritisch als Absage an die Produktionsverhältnisse des Spätkapitalismus und als Idealisierung eines klassenlosen paradiesischen Gesellschaft sich ausprägen; es handelt sich jedoch meist um spielerisch bzw. verspielt abgesteckte Spielräume vegetativen Daseins, die — soweit sie von der Gesellschaft geduldet werden — als jugendliche Narrheit erscheinen, die allerdings, bei entsprechender Unterdrückung, aus dem Vegetativen ins Aggressive umkippen. Selbstverständlich ist der Wandel der Blumenkinder in kriminelle Gangs, häufig von satanistischen Mythen befördert, nicht nur reaktiv zu verstehen (auch wenn man Megalopolis, wie etwa der Stadtlandschaft von Los Angeles, die jugendliche Perversion als Spiegelbild der zerstörten gesellschaftlichen Identität wesentlich anlasten muß), sondern in der vegetativen Einseitigkeit jugendlichen Verhaltens mit angelegt — da hier die Ganzheit menschlich-jugendlicher Strebungen unerfüllt bleibt. Der Sublimierungsverzicht führt keineswegs zu einem „Behagen in der Kultur", sondern zum Gefühl und Erlebnis menschlicher Unerfülltheit, was sich als Neid auf das scheinbare Glück der anderen (im besonderen der Erwachsenen) ausformt und schließlich — in Extremfällen — den kriminellen Angriff auf die in der vegetativen Wildnis nicht erreichbare „urbane" Lebensweise bewirkt.

Solche Deutungsversuche beziehen sich, dies sei nochmals nachdrücklich betont, auf zwar tonangebende, aber prozentual verhältnismäßig kleine Teile der Jugend, während der größere Teil der Jugend eigentlich gar nicht als Jugend in Erscheinung tritt, sondern — nach Verlassen der Kindheit — verhältnismäßig rasch dem Erwachsenendasein sich integriert oder dieses zumindest kopiert. Der berufstätige Jugendliche z. B., und diese Gruppe umfaßt rund 80 Prozent, hat gar nicht das Privileg, die Jugendrolle ausführlich spielen zu dürfen. Es wird zwar in seiner Freizeit mehr oder weniger an den Attitüten privilegierter Jugend (nämlich Jugend sein zu können) sich zu orientieren versuchen, aber diese Orientierung dürfte nicht von tiefgreifender Auswirkung sein.

Einer Ausnahme hierzu kommt freilich besondere Bedeutung zu: nämlich der Rolle, die die Jugend in der Warenästhetik spielt. Hier handelt es sich um die „Bilder" von Jugend, die, ohne Fixierung an bestimmte Alterstufen, den Nicht-Jugendlichen insofern noch wesentlich stärker erfassen dürften als den Jugendlichen, da ja die Sehnsucht, jung zu sein, vor allem diejenigen erfüllt, die es nicht mehr sind. Die Trivialmythen der Werbung sind zum überwältigenden Teil darauf ausgerichtet, das jugendliche „Frischwärts“ als Losung für menschliche Existenz schlechthin zu suggerieren und mit Hilfe quantitativer Massierung und qualitativen Geschicks (nämlich waren-ästhetischen Raffinements) die Außenwelt zur Innenwelt werden zu lassen. „Jugend" (Sonne und Amore) ist dabei gar nicht mehr nur Verpackung, warenästhetisches Werbemittel; sie löst sich vom Produkt und wird sui generis zum sinnlich-sittlichen Mentalitätsmuster, das — entsprechend internalisiert — als Innen-welt der Außenwelt wieder in die Außenwelt umschlägt und diese mit entsprechenden (Konsum) Erwartungen belegt. Schönheit wird völlig depraviert; die Ästhetik auf das Niveau besinnungs-losen, saturierten Glücklich-seins heruntergeschwindelt, während sie doch in Wirklichkeit (als Ausdruck von Anmut und Würde) der Schwerkraft und den Gefährdungen abgerungen werden müßte bzw. als kritisches Movens sich zu erweisen hätte. Jugend als Mode, Mode als Jugend — dies bedeutet Kahlschlag der geistig-seelischen Landschaft. Der „ästhetische Staat" hätte hier mit allen Kräften um Gegensteuerung sich zu bemühen, d. h. die warenästhetische Vermarktung der Jugend wie die Verjugendlichung der Äthetik abzuwenden, also eine gesellschaftsrelevante Ästhetik zu entwickeln und zu praktizieren. Konfrontiert mit der modischen Pervertierung jugendlichen Soseins und der für die gesamtgesellschaftliche Rollen-konstellation fatalen Verabsolutierung von Jugend, würde die Wiedergewinnung des Ästhetischen (als umfassender Begriff für Spiel, Kunst, Kultur) Abhilfe bedeuten.

VI. Das Defizit demokratischer Identität

Es gibt nun einige Begriffe, die komplexe und komplizierte Tatbestände bzw. Handlungsmuster umreißen, an denen meines Erachtens die augenblickliche mentale Situation sich besonders gut auskristallisiert. Mit anderen Worten: an ihnen läßt sich der Pegelstand des kollektiven Bewußtseins, soweit eine an Häufigkeitsmerkmalen sich orientierende Sozial-psychologie Aussagen überhaupt wagt, einigermaßen ablesen. Dementsprechend sollen nachfolgend einige „Markierungen" gegeben werden — und zwar: zur Resonanz des Grundgesetzes; zur politischen Identitätsbildung; zur Demokratisierung; zur Disziplinierung der Demokratie und zum geschichtlichen Bewußtsein.

Jürgen Seifert hat in seinem Buch „Grundgesetz und Restauration" festgestellt, daß in allen entscheidenden Bereichen, z. B.der Sozial-staatlichkeit mit Eigentumsbildung, der Mitbestimmung, antifaschistischer und antimilitaristischer Grundhaltung, im Rahmen der Restaurierung des bürgerlichen Systems in Westdeutschland bewußt durch Verfassungsänderungen Rückbildungen vorgenommen worden seien Sie ließen die Verfassungswirklichkeit von heute weit hinter den Anspruch von 1949 zurückfallen. Seit der Ver-

seien kündung des Grundgesetzes 45 Artikel geändert mehrmals geändert, Artikel bzw. 35 neu eingefügt und fünf Artikel gestrichen, insgesamt rund 50 Verfassungssätze hinzugefügt, neu verfaßt oder gestrichen worden. Seifert zitiert Ferdinand (1862 im preußischen Verfassungskonflikt): „Keine Fahne, die hundert Schlachten mitgemacht hat, kann so zerfetzt und durchlöchert sein wie unsere Verfassung". In den Vereinigten Staaten habe es demgegenüber 18 Jahrzehnte gebraucht, um zu zwei Dutzend Verfassungsänderungen zu kommen. Unabhängig von diesem restaurativen Trend sei im Grundgesetz überhaupt die Ungleichheit der materiellen Lebensverhältnisse der Menschen, trotz politischer Emanzipation, fixiert. Abgesehen von wenigen sozialstaatlichen Rechten werde in allen Fragen, welche die materielle Existenz des Menschen betreffen, das Individuum nicht als Staatsbürger, sondern als egoistischer Mensch genommen. Der eigentliche und wahre Mensch im gegenwärtigen sozialen System sei das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft, das gezwungen würde, sich zum Teil herabzuwürdigen und andere als Mittel zu benutzen.

Seifert stellt ferner fest, daß das Grundgesetz heute zwar weniger als früher geändert, dafür jedoch durch Gremien ausgehöhlt werde, die im Grundgesetz überhaupt nicht vorgesehen seien und die Beschlüsse faßten, die von größerer Bedeutung wären als förmliche Veränderungen der Verfassung. Sein Fazit: „Eine Verfassung kann nicht durch eine Aushöhlung außerhalb der Legalität und durch den in der Bundesrepublik 25 Jahre lang praktizierten Grundgesetzrevisionismus angetastet werden, sondern auch durch Interpretationen, die aus allgemeinen Verfassungssätzen unmittelbar das Konzept für die Organisation differenzierter politisch-gesellschaftlicher Vorgänge abzuleiten versucht und die dabei Rechts-auslegung ersetzt durch konservative (oder auch linke) Rechtstheologie."

Auf der anderen Seite des Beurteilungsspektrums von Verfassungsidee und -Wirklichkeit finden wir eine Position, die jeweils dann, wenn die gesellschaftlichen Bemühungen auf eine stärkere Verwirklichung der im Grundgesetz niedergelegten sozialstaatlichen Grundrechte aus ist, also auf das, was Willy Brandt einmal „Mehr-Demokratie-wagen“ nannte, verfassungsfeindliche Tendenzen unterstellt in und vorgegebener Wortgläubigkeit das Grundgesetz als absolut systemstabil Von wird auch interpretiert. hier aus dann gesellschaftsdynamische Beweglichkeit, wird im besonderen die Gruppe der „Systemveränderer" und „Systemüberwinder" der Verfassungsfeindlichkeit bezichtigt:

In der „Mitte" steht die z. B. von Fritz Vilmar mit Recht vertretene These, daß umfassende Demokratisierungsstrategien durchaus evollu-tionär, auf den Boden des Grundgesetzes und seiner Prinzipien einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verwirklicht werden könnten. Vilmar stellt fest, daß ein gesellschaftliches System in einer Zeit ständiger wissenschaftlich-technischer, edukativer und ökonomischer Weiterentwicklung eines ständigen Veränderungsund Reformprozesses bedürfe; der Begriff „Systemveränderung" sei zu einem emotionalisierten Grenzbegriff lediglich durch Ideologien von links und von rechts entartet.

Ungewöhnlich, für den gesunden Menschenverstand suspekt geworden, sei so der an sich normale Vorgang der Systemveränderung aufgrund des Ideologiecharakters einander entsprechender statisch-konservativer bzw. statisch-revolutionärer Vorstellungen des gesellschaftlichen Systems: „Konservative wie orthodoxe Linke setzen . System'gleich marktwirtschaftlicher bzw. kapitalistischer Ordnung, und bezeichnenderweise identifizieren beide ideologische Richtungen dieses ökonomische Teilelement unseres gesellschaftlichen Gesamtsystems mit der parlamentarisch-demokratischen Ordnung — freilich mit dem entscheidenden Unterschied, daß die Konservativen eben darum die Privatwirtschaft als Element der’ Demokratie — verfassungsrechtlich unhaltbar!" — zu idealisieren, ihre Kritik und Umgestaltung als . verfassungsfeindlich'zu diffamieren versuchen, während orthodoxe Linke umgekehrt den . Klassencharakter'(Legitimationsschleier) der bestehenden demokratischen Verfassung eben daraus abzuleiten versuchen, daß — entgegen der klaren verfassungsrechtlichen Sachlage — diese parlamentarische Ordnung Garant der privaten Verfügung über die Produktionsmittel sei. Beide Ideologien sind, wie gesagt, verfassungsrechtlich und damit politisch unhaltbar. Es kann nicht oft und deutlich genug betont werden, daß einzig und allein die .freiheitlich-demokratische Grundordnung'den — sehr weiten — Gestaltungsrahmen des verfassungsmäßigen Systembegriffs definiert. Nach der vom Bundesverfassungsgericht erarbeiteten Definition dieser Grundordnung kann aber von einem . Verbot'sozioökonomischer Veränderungen innerhalb des so bestimmten Gesamtsystems überhaupt keine Rede sein. Das Sozialstaatsgebot erheischt ganz im Gegenteil einen ständigen Veränderungsprozeß im Interesse der noch lange nicht verwirklichten sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit (von der noch nicht realisierten Menschenwürde gemäß Artike 1 GG in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen einmal ganz abgesehen). Die politische, verfassungsgemäße Frage kann also nicht lauten: Systemveränderung ja oder nein? — denn diese Frage kann sachlogisch nur bejaht werden. Die Frage kann, richtig gestellt, nur lauten: Systemveränderung auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung — oder in Mißachtung, durch Zerstörung dieser unserer demokratischen Grundördnung?"

Das entscheidende Problem dürfte, sozialpsychologisch gesehen, darin bestehen, ob es z. B. durch Erziehung gelungen ist, bzw. gelingt, im Verhältnis zum Grundgesetz die Position der „dynamischen Mitte" so zu habi-tualisieren, daß sie das Bewußtsein des Großteils der Bevölkerung zu bestimmen vermag.

Hier muß man mit Betroffenheit wohl feststellen, daß die nach den Ereignissen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besonderes überraschende Tatsache, daß wir heute in der Bundesrepublik eine der freiheitlichsten Staats-und Gesellschaftsordnungen (auf der Basis sozialer Demokratie) haben, nur von wenigen aktiv bejaht und mit staatsbürgerlichem „Glücksgefühl" registriert wird.

Diejenigen, die sich an die Zeit des Dritten Reiches, ohne biographische Belastung oder nach deren Überwindung, zurückerinnern, müßten eigentlich sehr konkret wissen, welche erfreuliche Wegstrecke auf das Ziel des humanen Staates hin zurückgelegt werden konnte. Die „public happiness", die das Grundgesetz der Gesellschaft ermöglicht, entbindet nicht von ständiger kritischer (system-kritischer) Arbeit, sondern fordert sie geradezu, da man ja sonst das Angebot des Grundgesetzes, das einen Auftrag an den Citoyen und die gesellschaftlichen Kräfte darstellt, verfehlen würde. Verfassungstreue schließt somit die unwandelbare Bereitschaft zum humanen Handeln im Rahmen jener unantastbaren Grundlinien, die solches Handeln ermöglichen, ein.

Der verfassungstreue Bürger gleicht nicht dem Mitglied einer Bekenntnisschule; er begreift Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als Vorgang von Aktion und Interaktion; der „Traum" von einer Sache muß zur Sache des Bewußtseins, vor allem zur Sache des Handelns gemacht werden, damit man sie wirklich besitzt. Die fortschreitende Humanisierung des Staates als der großen Leitidee, die im Rahmen einer den Menschen als Menschen beschreibenden Anthropologie den Staat erst legitimiert, bedarf aber innerlicher Erfülltheit, die bislang, als kollektive Identität mit dem Grundgesetz, leider nicht erreicht worden ist.

Im Sinne Hegels ist von einer „falschen Identität" zu sprechen, wenn die Einheit eines in seine Momente zerfallenden Lebenszusammenhangs nur noch gewaltsam aufrechterhalten werden. Jürgen Habermas hat immer wieder darauf hingewiesen, daß wir uns in einer Identitätskrise befänden, die es dadurch zu überwinden gälte, daß diese unsere komplexe Gesellschaft eine „vernünftige Identität" ausbilde. Solche „vernünftige Identität" hätte, meiner Meinung nach, vorrangig die Identität mit dem Grundgesetz, als Basis allen gesellschaftlichen Bewußtseins und Handelns, einzuschließen. In seiner Rede aus Anlaß der Entgegennahme des Hegel-Preises stellt Habermas u. a. fest: „Die kollektive Identität ist heute nur noch in reflexiver Ge-stalt denkbar, nämlich so, daß sie im Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an solchen Kommunikationsprozessen begründet ist, in denen Identitätsbildung als kontinuierlicher Lernprozeß stattfindet. Solche wert-und normbildenden Kommunikationen haben keineswegs immer die Präzisionsform von Diskursen, und sie sind keineswegs immer institutionalisiert, also an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten erwartbar. Sie bleiben häufig diffus, treten unter sehr verschiedenen Definitionen in Erscheinung und dringen, von der , Basis'ausströmend, in die Poren der organisationsförmig geordneten Lebensbereiche ein. Sie haben einen subpolitischen Charakter, d. h. sie laufen unterhalb der Schwelle politischer Entscheidungsprozesse ab: sie nehmen aber indirekt Einfluß auf das politische System, weil sie den normativen Rahmen der politischen Entscheidungen verändern. Die Diskussionen über die sogenannte Lebensqualität sind ein Anzeichen für solche subkutan herbeigeführten Änderungen oder auch nur Thematisierungen."

Dies ist eine wichtige Feststellung, die im besonderen in die Diskussion über die Weiterentwicklung der politischen Bildung einzubringen wäre. Hierfür hat jüngst Hartmut von Hentig wichtige Hinweise gegeben, als er von der Notwendigkeit der „Wiederherstellung der Politik" sprach, wobei Politik nach seinem Verständnis die gemeinsame bewegliche Regelung gemeinsamer Angelegenheiten bedeutet, die Selbstbestimmung des einzelnen durch Mitbestimmung in der Gemeinschaft. Selbstsein verwirklicht sich demzufolge durch Teilhabe an gemeinschaftlichen Entscheidungsprozessen, durch Mitarbeit an der gemeinsamen Überwindung der Krise. Unter „Politagogik" kann in diesem Sinne eine Erziehung zur Politik verstanden werden, die sich den Luxus der Beliebigkeit nicht mehr leistet, sondern in ständigem Handeln die Identifikation mit dem Grundgesetz ermög. die den einzelnen durch sein eigenes Sein in die Mitwissenschaft des Ganzen bringt.

Diesen Bildungsweg gehen, heißt, um Hartmut von Hentigs entsprechenden Vorschlag aufzugreifen, „den Weg über die Politik selbst gehen, also über eine Antizipation der erstrebten Selbstbestimmung in dafür heute schon geeigneten und empfänglichen Teilbereichen, d. h. über die Mobilisierung der geeigneten Subsysteme, so daß sich statt der gefürchteten und darum geächteten, und folg-lieh mit allen Mitteln verhinderten Systemüberwindung so etwas wie eine allmähliche Verschiebung und Wandlung des Systems mit seinen eigenen Mitteln ergibt" Das polita-gogische Verfahren der Emanzipation muß bei Subsystemen beginnen, weil es nur dort erfolgreich praktiziert werden kann. Durch größere Teilhabe an kleineren Interaktionseinheiten (z. B. in der Schule) und in vielen Bereichen des jugendlichen wie des Erwachsenenbereichs (Mitbestimmungsgremien) werden Erfolgserlebnisse vermittelt, die politisches Engagement immer neu stimulieren. Die Perspektive dieser Erziehung zur Politik ist, der Politik gleich, die der Totalität, d. h.der totalen Idenfikation mit dem Rollenspiel des Zoon politikon; die Privatsphäre bleibt davon unberührt. Aus solchem Blickwinkel betrachtet, trägt jeder Teilerfolg zum Gesamterfolg bei. „Politik kann gegen die überwältigenden Grundtatbestände der industriellen Zivilisation erfolgreich nur sein, wenn sie zugleich das System wandelt, das sie steuert. Das — so scheint mir — kann nur durch Subsysteme gelingen, die im Gesamtsystem Funktion und Ansehen und also schon etwas Macht haben und die das Gesamtsystem darum aus sich selbst heraus verändern können. Dem Gesamtsystem, das sehr viel mehr Macht hat, sind die Subsysteme gleichwohl überlegen, weil und insofern sie eine Identität haben. Sie können sich selbst bestimmen, nicht in erster Linie, weil sie bestimmen können, sondern weil sie ein , Selbst'sind."

Demokratisierung ist ein ganz besonders wichtiges „Instrument" kollektiver Identitätsbildung, da eben nur so die Diskrepanz zwischen Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit überwunden bzw. dort, wo sie zur Zeit und aus bestimmten Gründen nicht überwindbar ist, im Tun eingesehen werden kann (sowohl was die Transparenz wie die rationale Verarbeitung des Gegensatzes betrifft). Aus Gründen, die es hier nicht näher zu erörtern gilt, hat der Begriff der „Demokratisierung" weitgehend Fetischcharakter angenommen. Das Mißverständnis, das Demokratisierung weitgehend „Phonokratie" bedeute, d. h. die ständige lautstarke Artikulation aller zu allem, ohne Kompetenz-und Legitimationsnachweis, hat das konservative Rollback ins Gegenteil, in die Denunziation von Demokratisierung als praxisverhindernde „Rederei", entscheidend gefördert.

In seinem neuen, vom Gesamtinhalt her enttäuschenden, im Titelmotto jedoch faszinie30) renden Buch hat Gerhard Szczesny die „Disziplinierung der Demokratie" gefordert Die Vokabel „fortschrittlich" diene häufig nur als Alibi für das Unvermögen, Selbstbeherrschung ausüben zu können. Statt wichtige Ordnungsbegriffe neu zu durchdenken und durch Praxis „fortzuschreiben", habe die Linke die Orientierungsrahmen für menschliche Gesellung mit leichter Hand weggeschoben. Der starke Staat, der freilich als gerechter, sozialer und demokratischer Staat zu verwirklichen sei, ermögliche erst, daß Personalität entstehen und der Aufbau der Kulturgesellschaft erfolgen kann; dazu bedarf es der Willensentscheidung und Willensleistung, die wiederum einen Disziplinierungsprozeß darstellten. Ein unneurotisches Verhältnis zur Autorität sei herzustellen. Die Entscheidung falle links von der Mitte; hier könnten und sollten sich neu sammeln, „deren Ziel die humane Stabilisierung und Optimierung des Daseins der hier und jetzt und unter diesen Verhältnissen lebenden Menschen ist, ohne daß sie deshalb aufhören, für die stete Verbesserung dieser Verhältnisse zu kämpfen". Es gäbe dabei keinen Kompromiß zwischen einem Programm der Humanität, das sich als eine innerund einzelmenschliche Aufgabe begreife, und einem anderen, das seine Verwirklichung für die Funktion einer kollektivistischen Gesellschaftsordnung halte. Die vierte Stufe der Freiheit werde dann erreicht, wenn wir Selbst-Verwirklichung nicht mehr als Selbst-Enthemmung, sondern als SelbstBeherrschung begriffen und betrieben.

Im Umfeld der notwendigen Disziplinierung der Demokratie (als Prozeß der Selbstbeherrschung und Selbstfindung sowie der Anerkennung von Orientierungsrahmen ohne deren Verabsolutierung) erscheint es angebracht, einige Überlegungen zum Geschichtsverständnis, zur Frage der antiautoritären Erziehung und zur Frage des Pragmatismus anzufügen: Der „Abschied von der Geschichte" nach 1945 war Folge der tiefgreifenden Enttäuschung über die Perversion abendländischer Werte und Kulturvorstellungen, die im besonderen im nationalsozialistischen Deutschland ein unvorstellbares Ausmaß angenommen hatten. Daß man aus der Geschichte nur lerne, daß aus ihr nichts zu lernen sei, war hier auf ungeheuerlicher Weise demonstriert worden. Der Staat als SS-Staat bedeutete die totale Umkehrung und Verkehrung der Hegeischen Staatsmystik; im Reich der niederen Dämonen war vom Gang Gottes durch die Geschichte nichts, aber auch gar nichts mehr zu verspüren. Diesen geschichtlichen Pessimismus bzw.

Agnostizismus hat Gottfried Benn auf die Formel gebracht: „Der Inhalt der Geschichte. Um mich zu belehren, schlage ich ein altes Schulbuch auf, den sogenannten kleinen Ploetz:

Auszug aus der alten, mittleren und neuen Geschichte, Berlin 1891, Verlag A. G. Ploetz.

Ich schlage eine beliebige Seite auf, es ist die Seite 337, sie handelt vom Jahre 1805. Da findet sich: einmal Seekrieg, zweimal Waffenstillstand, dreimal Bündnis, zweimal Koalition, einer marschiert, einer verbündet sich, einer vereinigt seine Truppen, einer verstärkt etwas, einer rückt deran, einer nimmt ein, einer zieht sich zurück, einer erobert ein Lager, einer tritt ab, einer erhält etwas, einer eröffnet etwas glänzend, einer wird kriegsgefangen, einer entschädigt einen, einer bedroht einen, einer marschiert auf den Rhein zu, einer durch ansbachisches Gebiet, einer auf Wien, einer wird zurückgedrängt, einer wird hingerichtet, einer tötet sich — alles dies auf einer einzigen Seite, das Ganze ist zweifellos die Krankengeschichte von Irren."

Als Reaktion auf die Stunde Null war diese Haltung verständlich; vor allem auch, weil die deutsche Schule in ihrem Geschichtsunterricht bis in die jüngste Zeit hinein die Behandlung der Geschichte des Geistes und der Kultur mißachtete, worüber sie entweder in positivistischer Stoffhuberei festlief, oder — ohne philosophisches Rückgrat — der Ideologisierung verfiel. Nun gilt es, wieder ein. Geschichtsverständnis aufzubauen, das auf der einen Seite den Abschied von der falschen Geschichtsbetrachtung als glückhafte Möglichkeit des Aufbruchs zu neuen Ufern nutzt, auf der anderen aber auch die Geschichtslosigkeit, wie sie uns heute vielfach entgegen-tritt, zu überwinden vermag. Diese Form der Geschichtslosigkeit, vor allem bei der jüngeren Generation, ist nicht Folge der leidenschaftlichen Reaktion auf die Erfahrung historischer Perversion, sondern Ausdruck eines warenästhetisch verpackten traditionslosen Fortschrittsgefühls, das in Wirklichkeit regressiv ist, weil es seine Substanzlosigkeit gar nicht zu erkennen vermag. Dieses „Frischwärts" kleidet sich häufig scheinradikal bzw. pseudorevolutionär ein (orientiert im Habitus an dem, was in den Revolutionsboutiquen angeboten wird). Würde der Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft zur unüberbrückbaren Zäsur, ergäbe sich ein Substanzverlust, der auch die Wiederherstellung der Politik im Sinne Hartmut von Hentigs nicht mehr ermöglichen würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. B. Brock, Der Bürger auf der Flucht nach rechts?, in: Der Spiegel, Nr. 25/1974, S. 116 ff.

  2. Allensbacher Berichte, Nr. 14/1974.

  3. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 26. Juli 1974.

  4. Ich habe, in Fortführung früherer Arbeiten (u. a. Die Bundesrepublik zwischen Restauration und Rationalismus, Freiburg 1965; Eros in der Politik - Eine sozialpathologische Untersuchung, Köln 1967; Radikalität und Scheinradikalität - Zur Sozialpsychologie des jugendlichen Protests, München 1970), in den letzten Monaten in einer Reihe von Zeitschriften-und Zeitungsartikeln sowie (im Herbst) erscheinenden Buchbeiträgen versucht, das Phänomen der „Tendenzwende" in wichtigen Einzel-aspekten zu behandeln. Die hier vorliegende zusammenfassende Darlegung meiner Vorstellungen greift bei einigen Punkten auf diese Veröffentlichungen zurück; im Rahmen einer Tour d'horizon ist es freilich nicht möglich, dies in ausführlicher Weise zu tun. Hierfür kann auf die in den Anmerkungen erwähnten Titel verwiesen werden.

  5. Vgl. hierzu auch H. Abosch, Das Altern der Neuen Linken, in: Neue Rundschau, Zweites Heft 1974, S. 193 ff.

  6. M. Horkheimer /Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Ausgabe Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1971, S. 3.

  7. H. v. Hentig, Uber die Schwierigkeit, eine Gesellschaft aufzuklären, die sich für aufgeklärt hält, in: Vorgänge, Nr. 7/1973, S. 35 ff.

  8. H. M. Enzensberger, schwierige arbeit, in: blindenschrift, Frankfurt/M. 1964, S. 58 f.

  9. H. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt/M. 1973, S. 122 f.

  10. Schule & wir, berät Eltern in Bayern, herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Nr. 2/1974, S. 5. . * .

  11. H. Glaser, Radikalität und Scheinradikalität. Zur Sozialpsychologie des jugendlichen Protests, München 1970, S. 59 f.

  12. K. Sontheimer, Der Konservatismus auf der Suche nach einer Theorie, in: Merkur, Heft 7/1974, S. 690.

  13. Ich beziehe mich auf eine zusammenfassende Darstellung Gerd-Klaus Kaltenbrunners in der Neuen Rundschau: Der Konservative im nachliberalen Zeitalter, Neue Rundschau, Heft 1/1974, S. 7 ff. Vgl. hierzu H. Glaser, Ende einer Ära? Einige Bemerkungen zum Zeitgeist, der in Bewegung geraten ist und dabei nach rückwärts läuft, in: Tribüne, Heft 50/1974, S. 5694 ff.

  14. K. Marx, Brief an Arnold Ruge, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Band 1. Berlin (Ost) 1970, S. 346.

  15. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen, Kapitel 1— 37, Frankfurt/M. 1959, S. 1 f.

  16. W. Lempert, Zum Begriff der Emanzipation, in: Neue Sammlung, Heft 1/1973, S. 63 und 69.

  17. Vgl. hierzu H, -Günter Schmitz, Melancholie als falsches Bewußtsein, in: Neue Rundschau, Heft 1/1974, S. 27 ff.

  18. Zu Nachfolgendem H. Glaser /K. H. Stahl, Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München 1974.

  19. Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, I, Frankfurt/M. 1965, S. 106 f.

  20. J. Moltmann, Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Versuche über die Freude an der Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel, 3, München 1972, S. 74 f.

  21. L. Erhard, Die neue Mitte — eine blutleere Formel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 1. 1973. Für das Nachfolgende vgl. H. Glaser, Weshalb heißt das Bett nicht Bild? Soziolinguistische Paradigmata zur Sprache der Gegenwart, München 1973, S. 18 ff.

  22. R. Schwarz, Bildungspolitik ohne Bildung?, in:

  23. Vgl. hierzu H. Gläser, Der Gartenzwerg in der Boutique. Mythen der Regression. Provinzialismus heute, Frankfurt/M. 1973.

  24. Vgl. hierzu H. Glaser, Der welke Charme der Reform. Bildungspolitik zwischen Illusion und Resignation, in: Frankfurter Rundschau, 5. 1. 1974.

  25. Ich orientiere mich bei Nachfolgendem auch an den Ergebnissen eines Vortrags-Zyklus der Siemens-Stiftung München 1974.

  26. Hierzu ausführlich H. Glaser /K. H. Stahl, Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München 1974.

  27. J. Seifert, Grundgesetz und Restauration, Darmstadt und Neuwied 1974, S. 7 ff. und S. 55.

  28. F. Vilmar, Systemveränderung auf dem Boden des Grundgesetzes. Gesellschaftsreform als Prozeß umfassender Demokratisierung, in: Aus Politik ud Zeitgeschichte, B 18/74, S. 4 f.

  29. J. Habermas/D. Henrich, Zwei Reden. Aus Anlaß des Hegel-Preises, Frankfurt/M. 1974, S. 66 f.

  30. H. v. Hentig, Die Wiederherstellung der Politik. Cuernavaca revisited, München 1973, S. 63.

  31. H. v. Hentig, a. a. O., S. 17.

  32. G. Szczesny, Die Disziplinierung der Demokratie. Oder: Die vierte Stufe der Freiheit, Reinbek bei Hamburg 1974.

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Hermann Glaser, Dr. phil., geboren 1928 in Nürnberg; Studium der Germanistik, Anglistik, Geschichte und Philosophie in Erlangen und Bristol; Lehramt; seit 1964 Schul-und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Weltliteratur der Gegenwart, 19709; Spießer-Ideologie, 19732; Eros in der Politik — Eine sozialpathologische Untersuchung, 1967; Radikalität und Scheinradikalität. Zur Sozialpsychologie des jugendlichen Protests, 1970; Das öffentliche Deutsch, 1972; Jenseits von Parkinson — Ein kybernetisches Modell für Verwaltung und Wirtschaft, 1972; Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, 1974 (zus. mit K. H. Stahl); Urbanistik. Neue Aspekte der Stadtentwicklung (Hrsg.), 1974.