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Analyse der weltpolitischen Machtverteilung Prinzipielle Verhaltensmuster im derzeitigen Entspannungsprozeß | APuZ 38/1974 | bpb.de

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APuZ 38/1974 Artikel 1 Yom Kippur und seine Folgen Eine Wende zum Frieden? Analyse der weltpolitischen Machtverteilung Prinzipielle Verhaltensmuster im derzeitigen Entspannungsprozeß

Analyse der weltpolitischen Machtverteilung Prinzipielle Verhaltensmuster im derzeitigen Entspannungsprozeß

Klaus Ritter

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Zusammenfassung

Die Studie beruht auf einem Referat, das im Rahmen der XXI. Jahrestagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing gehalten wurde, die unter dem Gesamtthema „Wer hat die Macht? — Neue Qualitäten internationaler Beziehungen" stand. Gedacht als Grundlage für eine Diskussion, in der veranschaulichende Ergänzungen zu vermitteln waren, wird hier mit dem dafür notwendigen Abstraktionsgrad anhand von vier zentralen Begriffen — strategisch» Parität, friedliche Koexistenz, Interdependenz und Modus vivendi — der sogenannte Entspannungsprozeß als ein Austrag prinzipieller Orientierungen internationalen Verhaltens beschrieben. Damit wird ein grundlegendes Entscheidungsmuster aufgezeigt, innerhalb dessen sich eine dynamische „Friedensstrukturpolitik" bewegt, die die gesicherte „Einhegung" des unaufhebbaren Konflikts der Systeme und damit die ständige Erweiterung der Fundamente eines internationalen Modus vivendi zum Ziel hat. Macht und „Machtverteilung" wird somit unter besonderer Berücksichtigung der sogenannten Supermächte und deren Stabilisierungsaufgabe anhand der Entscheidungsmöglichkeiten dargestellt und gewertet, die die Dramaturgie der internationalen Politik unter dem Vorzeichen des Zwangs zum Frieden derzeit ihren Akteuren zuweist: Sie liegen im Spannungsfeld zwischen der prinzipiellen Anerkennung und der institutionellen Sicherung eines Systempluralismus und der globalen Durchsetzung einer Seite im „Kampf der Systeme“.

Auf der XXI. Jahrestagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing wurde mir die Aufgabe einer Analyse der gegenwärtigen weltpolitischen Machtverteilung zugedacht. Vor der analytischen Bestimmung sei jedoch zunächst die Frage gestellt: Was heißt „weltpolitische Machtverteilung", mit Bezug auf was läßt sich Macht im Felde internationaler Politik überhaupt ausmachen und gewichten — und wie schließlich läßt sich ihre „Verteilung" im Verhältnis zu welchen Machtträgem und welchen anderen Machtfaktoren bestimmen? Mit anderen Worten: Wie sind Aussagen über den internationalen Prozeßverlauf, das Gewicht der Prozeßparteien oder gar über „neue Qualitäten" in der Art oder Handhabung ihrer Beziehungen möglich?

Denkbar wäre etwa, daß man — ganz pragmatisch — versucht, einzelne Elemente dessen, was hier als Macht zu gelten hätte, aus dem Gewebe internationaler Beziehungen heraus-präpariert, z. B. die strategischen und sonstigen Streitkräfte, industrieller Entwicklungsstand, Energie und Rohstoffe, Bevölkerungsumfang, ideologische oder auch moralische Positionen etc. Das liefe dann auf den Versuch einer Systematisierung nur schwer vergleichbarer oder überhaupt wägbarer, jedenfalls aber nicht isoliert bewertbarer Größen hinaus, um damit zu einer Art internationalen Machtprofils, zu einer Rangordnung zu kommen.

Eine andere Möglichkeit wäre, mit den soge-nannten Strukturen zu beginnen und von Bipolarität und Multipolarität, von Konfrontation und Blockbildung oder von Interdependenz und Weltinnenpolitik zu reden, um den Realitätsgehalt solcher und anderer Formeln der Machtverteilung zu prüfen. Die Komplexität von Macht würde dabei praktisch vorausgesetzt und das „System" und seine Subsysteme wären auf ihre funktionalen Eigenschaften und Entwicklungsmöglichkeiten hin zu untersuchen.

Oder es wäre anhand ausgewählter Vorgänge der Weltpolitik der letzten Zeit die Instrumentierung verschiedener Machtfaktoren in ihren jeweiligen Verknüpfungen zu besprechen. Hier wären dann nicht die jeweilige Größenordnung bestimmter Potentiale und nicht die Struktur ihrer Einordnung, sondern die durch sie gewährten Optionen, d. h. ihre praktische Anwendbarkeit das Ausgangskriterium für die Bestimmung dessen, was als Macht bzw. Machtverteilung im internationalen Rahmen wirksam wird oder werden kann.

Alles das will ich so nicht versuchen. Ich müßte fürchten, damit bei einem so weit gespannten Thema in ein Labyrinth zu geraten, dessen Minotaurus — hier die in der Sache liegende Unschärfe der Bewertungsmaßstäbe — kaum überwindbar wäre.

Vielmehr habe ich eine andere Zumutung im Sinn. Um ein Koordinationssystem für unsere Diskussion zu liefern, möchte ich eine Gedankenskizze anhand von vier ziemlich gängigen, aber durchaus klärungsbedürftigen Stichworten aus dem neueren Latein internationaler Politik entwerfen. Es sind dies: strategische Parität, friedliche Koexistenz, Interdependem und Modus vivendi. Die damit jeweils bezeichneten Sachverhalte bzw. Verhaltensweisen haben in der derzeitigen Phase internationaler Politik —, vornehmlich der Ost-West-Politik — eine zentrale Bedeutung. Und sie bilden in ihrer eigenartigen Komplementarität eine Art Fadenkreuz, mit dem sich das bewegliche Ziel dieser Politik ins Visier nehmen ließe. Meine Skizze wird unvermeidlich etwas abstrakt ausfallen, indem sie der komplexen Wirklichkeit bestimmte Grundmuster abzugewinnen sucht; sie sollte aber in etwa die wichtigsten Bewegungsgesetze, den ner vus rerum einer Politik sichtbar machen, die seit Ende der 60er Jahre — wohl etwas zu simpel — als Entspannungspolitik firmiert.

I. Strategische Parität

Mit dem Abschluß von SALT I — ein Vorgang, der nicht zufällig den Auftakt für die hier untersuchte Phase internationaler Politik bildete — und mit der amerikanisch-sowjetischen Prinzipienerklärung anläßlich des Moskauer Gipfeltreffens vom Mai 1972 wurde strategische Parität, d. h. das Gleichgewicht der strategischen Rüstungen der sogenannten Supermächte als Prinzip einer „gleichwertigen Sicherheit“ für beide Seiten ausdrücklich anerkannt. Die Prinzipienerklärung formuliert darüber hinaus den Grundsatz „no unilateral advantage“, d. h., der Erwerb einseitiger Vorteile soll im Bereich strategischer Politik ausgeschlossen sein.

Ich stelle hier zunächst die berechtigte Frage zurück, inwieweit dies tatsächlich und vor allem auch auf längere Sicht die geltende Doktrin beider Seiten ist bzw. bleibt. Fraglich erscheint das mit Bezug auf politische Intentionen, über die noch zu sprechen sein wird, aber auch mit Bezug darauf, — daß strategisches Gleichgewicht nicht statischer Natur ist, — daß es kaum eindeutig und jedenfalls nur innerhalb bestimmter Grenzen im Sinne einer Gleichgewichtsmarge konstatiert werden kann, — daß es vielfältige Asymmetrien des Rüstungsstandes und dessen Weiterentwicklung einschließt — und daß es somit insgesamt durchaus bedenkliche Instabilitäten enthält.

Andererseits gehe ich davon aus, daß die wechselseitige Abschreckung strategischer Potentiale, d. h. insbesondere auch wechselseitige nukleare Abschreckung, eine jedenfalls durch Abrüstung kaum zu eliminierende Stütze internationaler Sicherheitspolitik bleibt. Mehr noch, daß das entsprechende Machtpotential über seinen Abschreckungszweck hinaus auch weiterhin ein wichtiges und nicht isoliert zu handhabendes Instrument der Großmachtdiplomatie sein wird. Dennoch werden alle Bemühungen dem Versuch gelten müssen, das Gleichgewicht zunehmend auf andere und hoffentlich tragfähigere Strukturen einer internationalen Friedensordnung zu verlagern. Idi gehe ferner davon aus, daß sich der Abstand der strategischen Rüstung der Supermächte von der aller anderen Staaten oder Staatengruppierungen in überschaubarer nächster Zeit eher noch vergrößern wird. Das heißt, daß mit Bezug auf die hier besprochenen Aspekte internationaler Machtverteilung Bipolarität ein dominierendes Grundmuster bleiben wird.

Insoweit ist die Rede von einer multipolaren Weltordnung — sei sie nun als Pentarchie oder anders gedacht — zumindest verfrüht.

Man muß auch bezweifeln, daß ein multipolares Gleichgewichtssystem stabiler sein würde.

Im Zeitalter konventioneller Rüstungen war das entscheidende Merkmal kollektiver Gleichgewichtssysteme die Möglichkeit wechselnder Koalitionen als Mittel der Balance. Einmal ganz abgesehen von den heute bestehenden Systemgegensätzen, die diese Möglichkeit schon aus politischen Gründen stark reduzieren, trägt sie zur Stabilisierung wechselseitiger Abschreckung auf der Ebene strategischer Rüstung wohl kaum Entscheidendes bei.

Das ist prinzipiell zu verstehen: Bei dem heutigen Entwicklungsstand nuklearer Interkontinentalwaffen und — was zumindest ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger ist — angesichts der notwendigen Aufklärungs-und Führungskomponenten strategischer Systeme gilt dies: Die Supermacht A kann im Verhältnis zur Supermacht B ein etwa bestehendes Minus an Optionen durch Koalition mit der Nuklearmacht C nicht ausgleichen. Die Addition der Potentiale von A und C ändert in letzter Konsequenz nichts an der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der strategischen Abschreckung im Verhältnis von A und B.

Wohlgemerkt, ich spreche hier von strategischen Optionen, nicht von einer subjektiv unter Umständen unterschiedlichen Risikobereitschaft aufgrund unterschiedlicher politischer Konstellationen. Und ich spreche im Augenblick auch nicht von den Kopplungsund sonstigen Problemen, die bestehende Un-gleichgewichte oder anderweitiger Spielraum für militärische Konfliktaustragung unterhalb der Ebene strategischer Abschreckung — übrigens nicht nur im bipolaren System — aufwerfen. Aber damit komme ich bereits zu dem Punkt, auf den es mir hier besonders ankommt: die innere Logik strategischer Parität. Strategische Parität bedeutet ja nicht einfach Gleichgewicht — wie komplex und schwer aus-machbar das im einzelnen auch immer ist —, sie indiziert darüber hinaus, daß Anwendung von Gewalt in der letzten Konsequenz militärischer Auseinandersetzung die Selbstvernichtung zum Preis hat, daß also der „große Krieg", wo dieser als Eskalationsmöglichkeit droht, eben nicht „die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln" sein kann, um hier die bekannte Definition von Clausewitz zu gebrauchen.

Das ist nun wiederum keine Sachlage, die sich mit einer bestimmten Qualität von Gleichgewicht einmal einstellt und von da an wirksam bleibt. Denn die Wirkung wechselseitiger strategischer Abschreckung beruht auf einem ihr zugrunde liegenden Widerspruch, einer Ambivalenz der Mittel, die es aufrechtzuerhalten gilt: Ihre Unanwendbarkeit gesichert, wo ihre Anwendbarkeit für einen potentiellen Gegner glaubhaft gemacht werden kann. Die jüngsten Erklärungen des amerikanischen Verteidigungsministers Schlesinger über strategische Flexibilität zielen u. a. auf die Wirksamkeit dieses Widerspruchs. Die Ambivalenz der Mittel, um die es hier geht, denaturiert gleichsam immer wieder in Richtung auf zu viel oder aber zu wenig Anwendbarkeit — zumal es sich hier nicht nur um eine Frage des Kriegsgeräts, sondern auch um eine Frage des Wechselspiels von politischem Willen auf der einen Seite und dessen jeweiliger Wahrnehmung auf der Gegenseite handelt. Ein Zuviel wäre der Fall bei ausgesprochener Betonung der sog.counter-force-Fähigkeiten, ein Zuwenig bei zu starker Beschränkung auf eine sog.counter-value-oder counter-city-Strategie.

Lassen Sie mich hier eine Äußerung von Henry Kissinger zitieren (übrigens aus dem Jahre 1968, als er noch nicht in offizieller Funktion war): „Die abstrakte Natur moderner Macht beeinflußt zutiefst die innenpolitischen Auseinandersetzungen. Abschreckung wird negativ getestet durch die Dinge, die nicht geschehen ... Je länger ein Friedenszustand erhalten wird, das heißt um so erfolgreicher Abschrekkung ist, um so mehr Argumente bieten sich jenen, die gegen die Voraussetzungen der Verteidigungspolitik opponieren.“ (Agenda for the Nation, 1968, S. 591).

Strategische Politik kreist immer wieder um die eben bezeichnete Frage, ob nun armscontrol oder die Anwendungsdoktrin im Vordergrund steht. Das läßt sich an den großen Debatten Anfang und Ende der 60er Jahre und der jetzt durch Schlesinger eingeleiteten deutlich ablesen, wenn man sich in ihre esoterische Sprache genügend einarbeitet. Die Bandbreite, innerhalb deren die Ratio strategischer Parität wirksam wird, wird abgesteckt durch zwei Prinzipien, die den beiden Abkommen von SALT I zugrunde liegen (dem ABM-Vertrag und dem bis 1977 befristeten Vertrag über die quantitative Begrenzung strategischer Offensivwaffen): zum einen das Prinzip der garantierten wechselseitigen Verwundbarkeit, zum anderen der Ausschluß einer so-genannten Erstschlagkapazität, d. h.der Möglichkeit einer Entwaffnung des Gegners für den Gegenschlag. Das Optimum innerhalb dieser Brandbreite ist eine Gleichwertigkeit der Optionen, die dem schon genannten Gebot „no unilateral advantage" folgt. Die kritische Frage ist indessen, inwieweit dieses Gebot als Verhaltensnorm in der Praxis — und zwar letztlich nicht nur in der Praxis strategischer Politik — wirklich durchschlägt.

Zusammenfassend ziehe ich aus dem über strategische Parität Gesagten zwei wichtige Folgerungen, die es für den weiteren Gang der Überlegungen festzuhalten gilt: 1. Insoweit Parität annähernd Realität und zugleich geltendes Prinzip ist, folgt aus ihr die Notwendigkeit gleichwertiger Selbstbeschränkungen und zumindest in dieser Beziehung die Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Konsensbildung und Kooperation zwischen den Supermächten. Kooperation und entsprechende Selbstbeschränkungen sind indessen nicht nur mit Bezug auf rüstungspolitische und militärische Dispositionen gefordert. Sie empfehlen sich für alle Formen machtpolitischer Auseinandersetzung, die die Sicherheit einer Seite so bedrohen würde, daß mit der akuten Gefahr militärischer Konfrontation zugleich die Grenze erreicht wird, jenseits deren die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ins Absurde gerät. 2. Die Ratio strategischer Parität der Supermächte hat nur dann den notwendigen Wirkungsradius, wenn Zonen fehlenden Gleichgewichts oder sonstiger Instabilität hinreichend an das Stabilisierungsinteresse, d. h. letztlich auch an das strategische Gleichgewicht der Supermächte gekoppelt bleiben. Bipolarität als sicherheitspolitisches Ordnungsmuster läßt sich deshalb nicht strikt auf die Verfügung über diejenigen Machtmittel beschränken, die das sog. „Gleichgewicht des Schrek kens" aufrechterhalten (Beispiel: AVA). Sicherheitsgarantien gegenüber Dritten setzen ein gewisses Maß an Koordinierung der Sicherheitsinteressen und Stabilisierungsbedürfnisse voraus. Eine falsch akzentuierte „UnB abhängigkeit" würde u. U. gerade nicht den erwünschten zusätzlichen Handlungsspielraum, sondern ein verstärktes Interesse der Supermächte an bilateralen Stabilisierungsbedürfnissen produzieren, deren Praktizierung man ansonsten als Kondominium denunziert.

Indessen: Hier ist nun ein Maximum an bipolarer Orientierung auch nicht das Optimum. Denn wechselseitige Selbstbeschränkung, die Essenz jeder Entspannungspolitik, darf nicht ausschließlich auf der Logik strategischer Parität beruhen. Sie muß durch Instrumentierung anderweitiger Interessen der jeweiligen Gegenseite immer wieder aktualisiert oder erinnert werden. Das ist aber nur möglich, wenn eine stärker gegliederte Machtverteilung im internationalen System dazu genügend Ansatzpunkte und Manövrierraum bietet. Die Realisierung dieser Einsicht, die eine systemanalytisch bedingte Isolierung der amerikanischen arms-control-Politik der 60er Jahre überwindet, ist übrigens eine der entscheidenden Veränderungen der 1969 einsetzenden Außenpolitik Nixon-Kissingers, die aus der völligen Stagnation herausführte, an der Johnson gescheitert war.

II. Friedliche Koexistenz

Auf die Geschichte dieses Prinzips sowjetischer Außenpolitik, das einen sehr spezifischen Inhalt hat, ist hier nicht einzugehen. Sie geht schon auf Lenin zurück. Hier ist bemerkenswert, daß dieser Begriff in die amerikanisch-sowjetische Prinzipienerklärung vom Mai 1972 neben der Anerkennung strategischer Parität aufgenommen wurde — beides sehr zur Befriedigung Moskaus und zu mancherlei Besorgnis andernorts.

Das Prinzip der friedlichen Koexistenz gilt nach sowjetischer Lehre ausdrücklich nur für die Beziehung von Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsformen. Innerhalb des sozialistischen Lagers gilt anderes. Denn dieses Prinzip bezeichnet eine spezifische Form des Klassenkampfs, der Austragung der System-gegensätze bis zu dem vom Sozialismus erwarteten, weil vom Gesetz der Geschichte vorgezeichneten Sieg über den Kapitalismus. Friedliche Koexistenz bedeutet also nicht — wie von manchen im Westen angenommen wird — die Anerkennung eines Systempluralismus, sie bedeutet ganz ausdrücklich . Kampf der Systeme unter Vermeidung von Krieg“.

Mit Chruschtschow und nach dem Abschuß des Sputnik setzte im Ostblock eine lebhafte Debatte über die Vermeidbarkeit von Kriegen ein — die in China zu abweichenden Ergebnissen kam. Ich kann hier vom Detail absehen. Ich meine, man darf davon überzeugt sein, daß die von mir gebrauchte Definition friedlicher Koexistenz als „Kampf der Systeme un-ter Vermeidung von Krieg" für die Intentionen sowjetischer Politik in vollem Umfang Att Von dem allerdings nicht unproblematischen Sonderfall sog. Befreiungskriege sehe ich dabei ab.

Das Problem, um das es hier geht, liegt indessen tiefer. In einem sehr grundlegenden Sinne geht die sowjetische Koexistenzthese von einem realistischen Befund aus: Friedenspolitik kann nicht Konfliktvermeidung schlechthin sein. Politische Existenz setzt — im innerstaatlichen grundsätzlich nicht anders als im internationalen Rahmen — immer die Auseinandersetzung mit dem Widerspruch voraus. Das gilt übrigens prinzipiell, also auch noch für den Fall des vom Sozialismus erwarteten Endsieges über den Kapitalismus. Ganz entsprechend wäre dies allzu naiven Konvergenztheoretikern oder auch denen entgegen-zuhalten, die anderweitig auf eine universale Friedensgesellschaft setzen.

Einer westlichen Friedenspolitik kann es indessen nicht allein darauf ankommen, daß friedliche Koexistenz die Intention zum Kriege ausschließt. Ebenso wichtig, wenn auch subtiler, ist die Frage, welche Rolle militärischer Macht in sowjetischer Sicht bei der „Auseinandersetzung mit dem Widerspruch", dem „Kampf der Systeme“ zukommt. Die Antwort darauf fällt nicht leicht. „Gleichwertige Sicherheit für beide Seiten“ — das ist der von Moskau immer wieder stark unterstrichene Grundsatz in allen Verhandlungen. Aber dieser Garantieschein deckt ja eben nur die Mittel der Kriegsverhinderung, d. h. hier praktisch die der wechselseitigen Abschreckung im Sinne einer Erzwingung des beschworenen Gewaltverzichts. Er deckt aber ausdrücklich nicht — wenn wir der Koexistenzthese folgen — die Sicherheit des Systemganzen in einem allgemeineren politischen Verständnis. Er deckt insbesondere auch nicht die politische Instrumentierung eventuellen militärischen Übergewichts (etwa auch regionaler Art), wenn und wo sich das machen läßt.

Wo die Sowjetunion auf solchen partiellen militärischen Disparitäten besteht (z. B. im Rahmen von MBFR), hört man von dieser Seite u. a. auch immer wieder das Argument, daß man dadurch anderweitige Nachteile des eigenen Systems (etwa im wirtschaftlichen Bereich) kompensieren müsse. Das bedeutet aber eben, daß auch militärische Positionen und der Kampf darum in dem umfassenden „Kampf der Systeme" politisch genutzt werden sollen oder müssen.

Aber damit komme ich zu dem hier entscheidenden Punkt: Wenn man realistischerweise davon ausgehen muß, daß Politik — auch internationale Politik — die dynamische Entwicklung ihrer jeweiligen Einsichten und Lösungsvorstellungen verfolgen und mit ihr rechnen muß — sie ergibt sich aus der Asymmetrie der Ausgangspunkte und Zielvorstellungen —, dann geht es also entscheidend um die Methode, mit der die „Auseinandersetzung mit dem Widerspruch" — im Prozeß der Politik gehandhabt wird — und dies gemäß der paradox anmutenden Feststellung, daß Frieden die Stabilisierung sinnvoller Entwicklungsdynamik ist. Es geht also um angemessene Flußregulierung der Dynamik.

Hier aber gerät die Logik der strategischen Parität in Widerspruch zur Koexistenzthese. Die eine schließt die Anwendung bestimmter Mittel der Auseinandersetzung in letzter Konsequenz aus. Sie sollte deshalb nicht nur im Kriege, sondern auch schon im kritischen Vorfeld von Krisen zu entsprechenden Selbst-beschränkungen nötigen. Demgegenüber gibt die Koexistenzthese, die Systempluralismus letztlich nicht gelten läßt, dem „Kampf der Systeme" eine entsprechend hohe Priorität. Sowjetische Politik wird letztlich verstanden als operative Beihilfe für die dem Gesetz der Geschichte folgenden „objektiven Prozesse", die dem Sozialismus zuarbeiten. Daran und nicht am stets neu zu suchenden Ausgleich im Rahmen eines Modus vivendi mißt man dort letztlich auch ihre Effizienz.

Aber wie verlaufen dann die Abgrenzungen des einen gegen das andere in der praktischen Politik, im konkreten Detail unterhalb der Prinzipienebene, wie sie in der Moskauer Erklärung von 1972 oder etwa auch im sog. Korb 1 der KSZE manifestiert wird? Welche Chancen hat hier das Gebot von Selbstbeschränkungen, das den Leitfaden für eine Konkretisierung — und zwar durchaus nicht nur des Gewaltverzichtsprinzips — abgeben müßte; sei es in der Form von vereinbarten Dispositionsbeschränkungen oder in der Form einer Einspielung sonstiger Verhaltensnormen? (Herr Bahr rubrizierte das bei seinem Vortrag vor einem Jahr hier an dieser Stelle unter dem Stichwort „Sicherheit durch Vereinbarung".) Gebietet nicht die Koexistenz-these, auch alles dies für den Kampf der Systeme zu nutzen? Erhält nicht von hier aus und nicht nur durch technische Neuerung oder durch den sogenannten militärisch-industriellen Rüstungskomplex auch der Rüstungswettlauf immer wieder Anstöße? Wie strukturbildend ist dann die vielberufene intersystemare Kommunikation und Kooperation, wenn und solange der Antagonismus des Klassenkampfes eine im östlichen System mehr oder weniger durchgehend institutionalisierte Leitvorstellung ist?

Natürlich ist auch auf sowjetischer Seite immer wieder Zurückhaltung feststellbar. Das wäre leicht zu zeigen und steht hier gar nicht in Abrede. Ich spreche hier vielmehr von der inneren „Absicht“ und dem Rangverhältnis ganz und gar nicht leicht harmonisierbarer prinzipieller Verhaltensweisen. Die der Koexistenzthese eigene Suggestivkraft verdeckt hier indessen eher die wirklichen Probleme. Und dabei geht es durchaus nicht um theoretische Fragen, sondern um das, womit es die praktische Politik in der zähen Auseinandersetzung mit dem Detail und dessen Nuancierung (worin ja bekanntlich der Teufel steckt) ständig zu tun hat — und zwar in den verschiedensten Themenbereichen: sei es SALT, MBFR, Korb 1— 3 der KSZE oder auch Krisenmanagement in kritischen Zonen, etwa Nah-ost.

III, Interdependenz

in der Frage, wie strukturbildend unter den vorbezeichneten Umständen intersystemare Kommunikation und Kooperation letzten Endes sein werden, lag bereits die Anknüpfung zu diesem Stichwort, Strategische Parität und was daraus folgt, könnte ja allein den ausreichenden Dienst einer Einhegung der System-konflikte durch die Einführung von Selbstbe-Schränkungen kaum leisten. Es bedarf hier weiterer Umstände oder Interessen, die assistierend wirken.

Interdependenz ist zunächst ein reichlich allgemeiner, wenn auch zunehmend prominenter Begriff. Nicht nur in der Politik hängt alles mit allem mehr oder weniger zusammen und in einer immer stärker zusammenwachsenden Welt morgen sicher noch mehr als heute. Das ist überall zu greifen, ob es nun um das Währungssyslem, Welternährungslage, Erdöl, Umweltfragen oder was sonst geht. Ich muß dies hier nicht erläutern. Im Zusammenhang meiner Skizze will ich indessen unter diesem Stichwort nur zwei Aspekte behandeln:

-Einmal die Frage wirtschaftlicher und technologischer Abhängigkeiten speziell mit dem Blick auf das, was ich hier bezeichnen möchte als das Schwellenproblem in der Entwicklung der sowjetischen Wirtschaftsordnung als eines in die politische Architektur des sozialistischen Systems fest eingefügten Bauelements.

-Zum anderen wäre hier die schon einmal kurz angeschnittene Frage der Instrumentierung von Interdependenz aufzunehmen. Dies mit dem Blick auf unterschiedlich geartete und unterschiedlich verteilte Machtfaktoren oder Interessenlagen im Zusammenhang dessen, was die derzeitige Entspannungspolitik Die of Union Message" „State the ausmacht.

Nixons von 1972 nennt das etwas anspruchsvoller „Friedensstrukturpolitik".

Daß hierbei die Interdependenz von Aulen-und Innenpolitik einen ganz entscheidenden Anteil hat, wird von mir gewiß nicht libersehen, aber hier ausdrücklich nicht disekt behandelt.

1 Was das von mir so genannte „SchwellenProblem“ der sowjetischen Systementwickung angeht, so handelt es sich dabei natürich um ein mehr als „abendfüllendes" Thema, Hier in Kürze nur dies:

Kein Modell, kein System deckt die Ansprüche, die die komplexe Realität an es stellt, völlig und dauerhaft. Deshalb treibt die Entwicklung jedes Systems immer an die kritische Grenze, wo es für Ergänzungen und Korrekturen, wenn nicht für einen gewissen Umbau offen sein muß. Davon macht das sowjetische System, insbesondere auch die sowjetische Wirtschaftsordnung keine Ausnahme:

— Der zentralistischen Wirtschaftsplanung und Investitionspolitik fehlt die Flexibilität, um den notwendigen Übergang von einem extensiven zu einem intensiven Wirtschaftswachstum zu leisten. Insbesondere die technische Innovation als Wachstumsfaktor neben Arbeit und Kapital kommt dabei zu kurz — wenn man von sehr schmal angelegten Sonderentwicklungen mit hoher Priorität (etwa auf dem Rüstungssektor) absieht.

— Ferner ist die sowjetische Wirtschaftspolitik (mit der Ergänzung der osteuropäischen Staatswirtschaften) strukturell sehr weitgehend auf Autonomie gestellt. Sie kann aber aus eigenen Ressourcen den wachsenden Ansprüchen quantitativer, insbesondere aber denen qualitativer Art nicht oder nicht mehr gerecht werden.

— Die sektorale Verteilung der Investitionen, die bisher ganz eindeutig die Grundstoff-und Schwerindustrie auf Kosten der Konsumgüter-produktion und Infrastruktur begünstigte, muß stärker modifiziert werden. Abgesehen davon, daß diese Einseitigkeiten weitgehend auch politisch motiviert waren oder noch sind (hier wäre auch die Rüstungsproduktion zu nennen), ist den hier notwendigen Umstellungen aus Eigenem schwer nadizukommen.

— Schließlich sei noch erwähnt, daß Erschließung, Transport und Verarbeitung der Energieressourcen ein wachsendes Problem der Sowjetwirtschaft darstellen, das ohne westliches Kapital und know-how nicht lösbar scheint.

Die vier genannten Punkte sind wahrscheinlich die wichtigsten und mögen hier zur Charakterisierung einer Lage genügen, die derzeit die Sowjetunion vor allem anderen zu einer Fortsetzung der sogenannten Entspannungspolitik motiviert. Andererseits steht sie aber mit eben dieser Motivation — um nicht zu sagen Nötigung — in verschiedenen Hinsichten zwischen zwei Feuern.

Einmal sind Reformeingriffe in das System, wenn sie wirksam genug sein sollen, kritisch.

Das gilt insbesondere für den engen Zusam-menhang zwischen der bestehenden Wirtschaftsordnung und dem, was ich die politische Architektur des Systems nannte. Bei jedem Umbau ist die heikle Frage, wo die tragenden Elemente in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Eindruck besteht, daß die Führungsspitze in Moskau die Antwort darauf selbst noch nicht weiß und sich auch deshalb nur außerordentlich vorsichtig und offenbar auch gegen stärker werdende Kritik (dies wohl nicht nur von Seiten der Militärs) vortastet. Das macht die Sache zusätzlich empfindlich und bedeutet für die sogenannte Entspannungspolitik zumindest Verlust an Spielraum und Tempo. Neuer Immobilismus in den Ost-West-Beziehungen droht, wenn für eine substantielle Weiterentwicklung die systeminternen Voraussetzungen anhaltend fehlen. Der Verzicht auf systemöffnende Reform (im Sinne einer Verbesserung der Fähigkeit zu intersystemarer Kooperation) bedeutet aber andererseits wahrscheinlich Verlust an Potenz im Wettbewerb der Systeme. Das sowjetische Wirtschaftsmodell hat — wie es ist — gewiß beachtliche Grundlegungsaufgaben lösen lassen. Bei dem derzeitigen Stand der Dinge kann es aber die auch zur Systemerhaltung notwendige Entwicklungsdynamik wohl nicht mehr ohne Kooperation insbesondere mit den westlichen, also kapitalistischen Industrienationen erzielen. Hier liegt das Dilemma — und Wahrnehmung führt uns noch einmal zu den unter den Stichworten Parität und Koexistenz besprochenen Verhaltensfragen. Interdependentes Wirtschaftsverhalten verlangt nach einer gewissen Symmetrie der Austauschbedürfnisse und -möglichkeiten. Es verlangt Spielregeln, Umgang mit dem Pluralismus, die einverständliche Absteckung von Toleranzbreiten für Rivalität, d. h. auch verifizierbare Selbstbeschränkungen — kurz: es verlangt die Entwicklung von Kooperationsstrukturen, die jedenfalls anderen Effizienzgesichtspunkten folgen, als sie der geschichtliche Auftrag des Sieges über den Kapitalismus vermittelt.

Hier stellt sich also wieder — ähnlich wie bei dem Verhältnis von Parität und Koexistenz — die „Gretchenfrage". Sie ist ernsthafter Natur. Wie sie letzten Endes entschieden werden wird, ist zur Zeit wohl offen. Natürlich hat die Systemerhaltung im Ostblock hohe Priorität. Aber sie ist wahrscheinlich nur noch um den Preis stärkerer Veränderungen zu haben — und zwar einer stärkeren Einlassung auf eben das, was hier sehr summarisch mit Interdependenz gemeint ist. Deren objektive Folgen bleiben indessen ungewiß, solange die Erfahrung damit fehlt.

Es ist ein bekanntes Verfahren, aus diesem Zirkel herauszukommen, indem man der anderen Seite den Schritt suggeriert, den man selbst nicht oder noch nicht vollziehen kann oder indem man auf Krisen der anderen Seite setzt, die neue Einflußmöglichkeiten schaffen, Die östliche Seite operiert hier gern mit dem schon erwähnten Begriff „objektiver Prozesse". Aber all das scheint kaum ausreichend, weil wenig konstruktiv — zumal wenn dazu jeweils zwei gehören. Und die sogenannten objektiven Prozesse nehmen auch niemandem die Verantwortung für die Wahl der richtigen Therapie ab.

2. Die Frage der Instrumentierung von Interdependenz in Richtung einer schrittweisen Verdichtung oder auch Institutionalisierung von kooperationsgerechten Verhaltensnormen kann ich hier nur streifen. Gerade sie macht indessen „die Kunst des Möglichen“ aus, um die es bei der sogenannten Entspannungsoder Friedensstrukturpolitik geht.

Nur so viel: Verhaltensnormen, die dem „Kampf der Systeme" Beschränkung auferlegen, wären jeweils als die notwendige Konkretisierung der Prinzipien zu denken, wie sie etwa in der UN-Satzung, der Gipfelerklärung vom Mai 1972 oder im sogenannten Korbl der KSZE figurieren. Man darf sich das aber nicht so vorstellen, daß damit ein konsequent fortwirkendes Muster vorgegeben ist. Vielmehr ist es der konkrete Inhalt der politischen Prozesse — sei es in der Form von Vereinbarungen, einseitigen Dispositionen oder sich faktisch einspielender Konsensbildung —, hier jeweils im Geschiebe der Interessen und Möglichkeiten die optimalen Muster einzuschleifen. Dieser Prozeß orientiert sich indessen im Gefälle der Zeit — gleichsam wie Wasser, das sich ein Flußbett sucht — an Leitvorstellungen oder auch Nötigungen, wie ich sie anhand meiner Stichworte zu zeigen suchte.

Beispiele für solche Konkretisierungen wären etwa die amerikanisch-sowjetische Vereinbarung über die Vermeidung von Nuklearkriegen von 1973 (technisch gesehen eine Summe von Konsultationsregelungen) oder auf europäischer Ebene die Bemühungen um militärische Dispositionsbeschränkungen — sog nannte constraints — im Rahmen von MBFR (sie sind fast wichtiger als die Reduzierungen, um die es da geht) oder die Versuche, im Rahmen der KSZE operativ wirksame Regeln für den freieren Austausch von Informationen und Ideen zu finden.

Wie immer die Chancen dafür stehen: worauf es mir im Augenblick ankommt, ist die Feststellung, daß im internationalen Rahmen das Zustandekommen, die einheitliche Auslegung und Einhaltung entsprechender Verhaltensnormen — weil letztlich nicht erzwingbar — eben ständig einer kommunikativen Prozeßführung überantwortet sind. Das ist eine laufende Aufgabe der Verständigung. Diese Verständigung bedarf aber immer auch der mehr oder weniger kräftigen „Erinnerung" durch die Aktivierung von Rahmenbedingungen, die die unterschiedlichen Interessen der Gegenseite für die Realisierung der Aufgabe mobilisieren. Der anderen Seite ist die „Qual der Wahl“ zwischen verschiedenen Interessen oder Verhaltensweisen zuzumuten — das ist in der Politik nicht anders als anderswo.

— Daher ist eine Isolierung von arms-control-Politik — gleichsam als Selbstzweck — abwegig;

-daher ist die Erweiterung des Operationsfeldes (ich erwähne hier nur die amerikanische Annäherung an China) von großem Belang; — daher ist die Frage der rechten Koordinierung oder Ausbalancierung der Allianzpolitik einerseits mit der Ost-West-Politik auf ihren verschiedenen Ebenen andererseits so wichtig oder auch empfindlich (zu diesem Zweck war jedenfalls der Vorschlag einer New Atlantic Charta gedacht);

— daher meint die Beachtung wirtschaftlich-technologischer Interdependenz sehr viel mehr als Geschäft;

— und daher ist alles in allem Macht und Machtverteilung sozusagen per se überhaupt nicht faßbar.

Die Amerikaner sprechen von „compact approach“. Es geht um die Instrumentierung von Verknüpfungen, von Interdependenz im Dienst einer „dynamischen Stabilisierung wirtschaftlicher und politischer Ordnung"

(Nixon). Sie ist nur möglich, wenn einerseits die stabilisierenden Momente von Bipolarität — auch strategischer Bipolarität — und anderseits diejenigen stabilisierenden Möglichkeiten, die ein gewisses Maß an „Streuung der Macht" einer beweglichen Diplomatie für eine aufgeklärte Form von „Auseinandersetzung mit dem Widerspruch" bietet, in einem ausgewogenen Verhältnis genützt werden.

Modelle können Orientierungshilfen im fortschreitenden Prozeß, Wegschilder für Teil-strecken oder Projektionen von Teilzielen sein — nicht aber das Columbusei innerweltlicher Eschatologie, mit der die Endlichkeit aus der Friedlosigkeit ihres ständigen Selbst-Widerspruchs befreit wird.

Damit komme ich zu meinem letzten Stichwort:

IV. Modus vivendi

Dieses Stichwort ist gewiß nicht beliebig gewählt. Man weiß, welche Rolle dieser Begriff im Zusammenhang der deutschen Ostverträge gespielt hat und noch spielt. Er charakterisiert die Regelungen dieser Verträge, die ja für die gesamte Entspannungspolitik eine gewisse Schlüsselstellung haben, in ausdrücklicher Unterscheidung zu einer Friedensver-tragsregelung.

Das hat komplexe Gründe, auf die hier nicht einzugehen ist.

Hier interessiert der Typus einer Regelung, die der Sache nach wie auch mit ihrer Etikettierung als Modus vivendi besonders sichtbar macht, worum es sich praktisch bei der ge-somten Entspannungspolitik handelt: nämlich um den Versuch, den Antagonismus der Systeme — der umfassender Natur und nicht aufhebbar ist — durch Stillegung von Teilbereichen in der Form einer pragmatischen Anerkennung oder Sicherung des Status quo abzuschwächen. Damit soll Bewegung in Richtung auf eine bessere Handhabung — wenn nicht Lösung — offener, unter dem Widerspruch unterschiedlicher Zielsetzungen stehender Fragen möglich werden. Kurz: Es handelt sich eben um die Herstellung eines Modus vivendi. Und etwas Besseres gibt es gar nicht! Wohlgemerkt — ich spreche hier von Grundsätzlichem und nicht vom Detail.

übrigens sind grundsätzlich ja etwa auch die Medizin — als die systematische Bemühung um die Erhaltung der Gesundheit — oder das Rechtswesen — als Formalisierung und Durchsetzung von Gerechtigkeit — in gar keiner anderen Lage als die Lehre und Praxis internationaler Politik, soweit es dabei um die Sicherheit von Konflikthandhabung geht. In allen drei Fällen ist auch der jeweilige Zen37 tralbegriff (Gesundheit, Gerechtigkeit, Sicherheit) inhaltlich nicht eindeutig faßbar. Methodisch beruhen übrigens gerade darauf die konkreten Möglichkeiten oder Leistungen der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin. Aber das sei hier nur am Rande angemerkt.

Zurück zu meinem letzten Stichwort: Mit jedem Modus vivendi werden — gerade weil er ja nur auf einem Teilkonsens beruht — begrilfsnotwendig je unterschiedliche Entwicklungs-oder Zielvorstellungen verbunden. Insoweit korrespondiert dieser Begriff in gewisser Weise mit dem Prinzip der friedlichen Koexistenz, das ja auch auf Veränderung hinaus will. Nur ist in beiden Fällen die innere Absicht eben doch entscheidend unterschiedlich: „Internationaler Klassenkampf" unter Vermeidung von Krieg hier, Modus vivendi — was wörtlich zu übersetzen wäre — dort. Die Logik des Modus vivendi ist schlicht seine Fortschreibung — freilich in Richtung einer ständigen Verbreiterung der Konsensbasis — sei es mit Bezug auf substantielle Kooperationsinteressen oder auch gemeinsame Verhaltensnormen, die die „Auseinandersetzung mit dem Widerspruch" aus der gefährlichen Zone der Konflikteskalation heraushalten. Darin besteht Friedenspolitik. Das ist so einfach und unidealisiert, wie es in der Praxis kompliziert und schwer ist. Damit möchte ich schließen. — Indessen:

Ich weiß, daß es heutzutage fast schon ein Sakrileg ist, in einer Analyse über internationale Politik die sogenannte Dritte Welt nicht besorgt anzusprechen. In der Tat, sie macht uns besorgt. Globale Interdependenz besteht auch mit Bezug auf die Gefahren, die dem Versuch einer „dynamischen Stabilisierung wirtschaftlicher und politischer Ordnung-drohen. Eben diese Formulierung sagt aber schon, daß es neben und mit der Aufgabe der „Einhegung“ jedweder Entwicklungsdynamik natürlich immer auch um die rechte sozioökonomische Therapie mit Bezug auf die Ursachen drohender Instabilität oder konflikt-trächtiger Entwicklungsmängel bis hin zu purer Not und Ungerechtigkeit geht. Beide Aufgaben sind zu sehen und wahrzunehmen — und dies möglichst ohne eine wenig sachdienliche „Schlagseite" nach einer sich mehr „humanitär-moralisch" oder mehr „machtpolitisch-realistisch" gebenden Seite hin. Es ist aber meine Überzeugung, daß — wenn wir die Ost-West-Beziehungen nicht strukturell zu verbessern wissen — die uns von Seiten der Dritten Welt bedrohlich zuwadisenden Probleme praktisch unlösbar werden. Hier die grundlegenden Entscheidungmuster zu verdeutlichen, war die Absicht meiner Skizze, die ergänzender Eintragungen bedarf.

Fussnoten

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Professor Dr. Klaus Ritter, geb. 1918, Direktor des Forschungsinstituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen bei München. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der internationalen Politik.