Bevölkerungswissenschaft — Instrument zur Bevölkerungskontrolle?
Geschichte, Methoden und gegenwärtige Tendenzen der Bevölkerungswissenschaft
Heinz Wewer
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Zusammenfassung
Bevölkerungswissenschaft ist ein multidisziplinäres Bezugssystem, dessen Kerndisziplin die Demographie ist. Gegenstandsbereich der im 17. Jahrhundert in England entstandenen Demographie ist die statistische Beschreibung und Analyse des Umfangs, der Alters-und Geschlechtsstruktur und der geographischen Verteilung der Bevölkerung eines Territoriums sowie der Variablen (Geburten, Sterbefälle, Wanderungen), durch die diese Größen verändert werden. Zur Erklärung und Vorausschätzung demographischer Prozesse sind andere Disziplinen (Soziologie, Ökonomie, Geschichte etc.) heranzuziehen. Bevölkerungswissenschaft ist heute in nahezu allen Staaten an Hochschulen und in nichtakademischen Einrichtungen institutionalisiert. Zur Verbesserung der bevölkerungsstatistischen Datenbasis, der Weiterentwicklung der Methoden und der Gründung bevölkerungswissenschaftlicher Lehr-und Forschungszentren in der Dritten Welt haben die Vereinten Nationen bedeutende Beiträge geleistet. In der Bundesrepublik sind Versuche, die Bevölkerungswissenschaft an den Hochsdiulen zu etablieren, bisher gescheitert, was auf historisch begründete Vorbehalte zurückzuführen sein dürfte. In der Geschichte der Bevölkerungswissenschaft spielen ideologische Positionen eine wichtige Rolle. Der Malthusianismus war eine biologistische Interpretation sozio-ökonomischer Probleme, die gegen die Veränderung der ökonomischen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse gerichtet war. Eine, ähnliche Zielrichtung verfolgt heute der Neo-Malthusianismus: Indem er das Bevölkerungswachstum zur Primärursache von Armut und Unterentwicklung in der Dritten Welt erklärt, sucht er die ökonomischen und politischen Strukturen, die Armut und Unterentwicklung bedingen und perpetuieren, der Kritik zu entziehen. Eine Reduzierung der Geburtenraten in den Entwicklungsländern ist jedoch nur zu erreichen, wenn die Lebensbedingungen der Unterschichten, die in den meisten Entwicklungsländern die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, grundlegend verbessert werden.
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und erweierte Fassung des Aufsatzes „Bevölkerungswissen-ichaft"
aus: Rainer Mackensen und Heinz Wewer Hrsg.), Dynamik der Bevölkerungsentwicklung, München 1974 2.
Abbildung 7
Tabelle 1: Ausgaben der Agency for International Development (AID) für Projekte in Entwicklungsländern (in Millionen US-Dollar)
Quellen: U. S. Aid to Population Family Planning in Asia. Report of a Staff Survey Team to the Committee on Foreign Affairs, U. S. House of Re-presentatives, Washington 1973, S. 8; Agency for International Development, Population Program Assistance, Washington 1972, S. 3 f.
Tabelle 1: Ausgaben der Agency for International Development (AID) für Projekte in Entwicklungsländern (in Millionen US-Dollar)
Quellen: U. S. Aid to Population Family Planning in Asia. Report of a Staff Survey Team to the Committee on Foreign Affairs, U. S. House of Re-presentatives, Washington 1973, S. 8; Agency for International Development, Population Program Assistance, Washington 1972, S. 3 f.
In zahlreichen Ländern, sowohl in den Industriestaaten als auch in Ländern der Dritten Welt, gehört die Bevölkerungswissenschaft heute zu den etablierten Wissenschaften. Die Zahl der bevölkerungswissenschaftlichen Institute ist kaum noch zu überblicken. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die internationale Forschung beträchtliche Fortschritte gemacht. An dieser Entwicklung haben Einrichtungen der Vereinten Nationen durch die Beteiligung an der Methoden-Diskussion, durch die Förderung von Datenerhebungen und Forschungsprojekten sowie durch die Gründung demographischer Lehr-und Forschungszentren einen maßgeblichen Anteil.
Abbildung 8
Tabelle 2: Daten zur wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung auf den Philippinen und Taiwan, in Mexiko, Brasilien und Korea
Quelle: William Rich, Smaller Families through Social and Economic Progress, Washington 1973, S. 70 f.
Tabelle 2: Daten zur wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung auf den Philippinen und Taiwan, in Mexiko, Brasilien und Korea
Quelle: William Rich, Smaller Families through Social and Economic Progress, Washington 1973, S. 70 f.
In der Bundesrepublik Deutschland zählt die Bevölkerungswissenschaft allerdings zu den von der Wissenschaftspolitik vernachlässigten Bereichen. Bevölkerungswissenschaftliches Lehren und Forschen sind an keiner Universität der Bundesrepublik und West-Berlins institutionalisiert. Angesichts der Intensivierung der Diskussion von Bevölkerungsproblemen wie auch der bevölkerungswissenschaftlichen Forschungstätigkeit auf internationaler Ebene, die die Vereinten Nationen durch die Erklärung des Jahres 1974 zum Weltbevölkerungsjahr bewirkt haben, ist erneut die Frage nach dem Stellenwert und der Zukunft der Bevölkerungswissenschaft in der Bundesrepu-blik aktuell geworden. Mit diesem Beitrag soll ein kurzgefaßter Überblick über Geschichte, Fragestellungen und Methoden der Bevölkerungswissenschaft gegeben werden — auch als Anregung zur notwendigen Diskussion über die Rolle dieser Wissenschaft in der Bundesrepublik.
I. Vorgeschichte und Anfänge der Bevölkerungswissenschaft
Abbildung 1
Heribert Knorr
Die Große Koalition in der parlamentarischen Diskussion der Bundesrepublik von 1949 bis 1965 ........................................... S. 24
Heribert Knorr
Die Große Koalition in der parlamentarischen Diskussion der Bundesrepublik von 1949 bis 1965 ........................................... S. 24
Fragen des tatsächlichen und wünschenswerten Umfanges der Bevölkerung eines Territoriums sowie der Regulierung der Bevölkerungsentwicklung waren bereits in frühen Phasen der bekannten menschlichen Geschichte Gegenstand des politischen und sozialphilosophischen Interesses. Vorstellungen über ideale Bevölkerungsgrößen — frühe Formen der späteren Optimum-Theorie — sind sowohl aus dem China des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung (Konfuzius und seine Schüler) als auch aus dem Griechenland der Antike (Plato, Aristoteles) überliefert. Maßstäbe solcher Vorstellungen waren die ökonomische Tragfähigkeit des Landes und, vor allem für Plato und Aristoteles, das reibungslose Funktionieren der politischen Institutionen In beiden Kulturkreisen war auch die Kenntnis und Anwendung geburtenkontrollierender Maßnahmen verbreitet. Auch Kindesmord wurde als Mittel der Regulierung der quantitativen und qualitativen Bevölkerungsentwicklung praktiziert, so in Sparta, wo Neugeborene, deren Konstitution Zweifel an ihrer späteren Tauglichkeit für den Militärdienst weckte, auf dem Berg Taygetos ausgesetzt wurden.
Das römische Reich entwickelte eine umfassende Bevölkerungspolitik als Korrelat seiner Expansionspolitik. Unter Kaiser Augustus wurde der erste bekannte Zensus veranstaltet. Durch eine pronatalistische Gesetzgebung suchte man die Heiratsund Geburtenrate zu erhöhen. Ob solche Maßnahmen die beabsichtigte Wirkung hatten, erscheint zweifelhaft; zumindest waren sie nicht in der Lage, den mit der Ausdehnung des Imperiums immer empfindlicher werdenden Mangel an administrativem und militärischem Personal auszugleichen
Mit dem Zerfall staatlicher Ordnungen im Mittelalter nahm auch das Interesse an Bevöl-kerungsfragen ab. Erst mit dem Entstehen bürokratisch organisierter, souveräner Territorialstaaten in Europa mißt die herrschende Staatsdoktrin der Zahl der Bewohner eines Gebietes wieder Bedeutung zu. Für Jean Bodin im 16. Jahrhundert, für die Merkantilisten und Kameralisten im 17. und 18. Jahrhundert sind große und wachsende Bevölkerungen — Untertanen in ihrer Funktion als Arbeitskräfte, Soldaten und Steuerzahler — Voraussetzung für die Entfaltung der wirtschaftlichen und politischen Macht des Souveräns. Turmeau de La Morandiere bringt die Bevölkerungsdoktrin des Absolutismus auf die Formel: „Die Untertanen und die Tiere müssen vermehrt werden.“ 1. Das Entstehen der Demographie Die von der Staatsphilosophie jener Epoche propagierte Notwendigkeit des Bevölkerungswachstums und die zunehmende Verdrängung spekulativen Denkens durch exakte wissenschaftliche Methoden weckten das Interesse an der systematischen Erforschung der Bevölkerungsvorgänge und setzen damit die Bedingungen für das Entstehen der Demographie: 1662 erschienen John Graunts Natural and Political Observations ... Made upon the Bills of Mortality, die auf der Grundlage kirchlicher Sterbe-und Taufregister vorgenommene, erste empirisch-statistische Untersuchung von Regelmäßigkeiten im Sterbe-und Geburten-muster ländlicher und städtischer Bevölke. rungen. Wenig später entstand das zweite bedeutende Werk, das den Beginn der Geschichte der Demographie bezeichnet: William Pettys Political Arithmetic (1676, veröffentlicht 1690). Während Graunt sich in seinen Aussagen streng an das untersuchte empirische Material hielt, stand Pettys Arbeit ganz im Zeichen der herrschenden bevölkerungspolitischen Lehre seiner Zeit, indem sie die Bedeutung des Bevölkerungswachstunis unter fiskalischen, administrativen und ökonomischen Gesichtspunkten hervorhob
In Deutschland wurde die von Graunt und Petty entwickelte Methode erstmals von dem preußischen Feldkaplan Johann Peter Süß-milch angewandt. In seiner Abhandlung Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen (zuerst 1741, später in erweiterten Fassungen erschienen) untersuchte er auf der Basis statistischen Materials aus ganz Preußen die Zahl der Geburten, Heiraten und Sterbefälle im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, die Zahl der Sterbefälle bestimmter Altersgruppen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Sterbefälle, den Anteil bestimmter Todesursachen an allen Sterbefällen, Unterschiede der Bevölkerungsstrukturen und -entwicklung in ländlichen und städtischen Gebieten etc. Wie vor ihm Graunt und Petty entdeckte er Regelmäßigkeiten in der Abfolge und in der Relation der Ereignisse. Da zu diesen von ihm als Gottesbeweis interpretierten Regelmäßigkeiten ein leichtes überwiegen der Geburten über die Sterbefälle und damit ein allmähliches Wachstum der Bevölkerung gehörte, kam er zu dem Ergebnis, daß Bevölkerungswachstum wünschenswert sei und von der Regierung durch eine pronatalistische Politik gefördert werden müsse.
Das Instrumentarium der massenstatistischen Analyse von Bevölkerungsvorgängen, die heute vielfach als „formale Demographie’ oder „demographische Analyse" bezeichnet wird, wurde in den folgenden Jahrhunderten zu großer Perfektion entwickelt. Diese Entwicklung entsprach einem wachsenden Bedarl an bevölkerungsstatistischen Informationer sowohl im öffentlichen (amtliche Statistik Gesundheitswesen) als auch im privaten Be reich (Versicherungswesen). Zu den For schein, die maßgebend zur Verfeinerung der Methoden beigetragen haben, zählen, um nur einige wenige Namen zu nennen, Leonhard Euler, Adolphe Qutelet, Pierre Franpois Verhulst, Emile Lavasseur, Richard Boeckh, Raymond Pearl und Lowell Reed, Alfred J. Lotka und Robert Kuczynski. 2. Malthus, ein Exponent sozialkonservativer Interessen Parallel zur Entwicklung der formal-demographischen Analyse entstand, besonders in Europa und in den USA seit Beginn des 19. Jahrhunderts, eine umfangreiche wissenschaftliche und populäre Literatur, in der versucht wurde, die demographischen Befunde zu außerdemographischen (ökonomischen, sozial-strukturellen, kulturellen, biologischen etc.)
Variablen in Beziehung zu setzen, um zu einer Erklärung der Bevölkerungsprozesse und ihrer Interdependenz mit nichtdemographischen Faktoren zu gelangen und Maßstäbe für die Beeinflussung der künftigen Bevölkerungsentwicklung zu gewinnen. Am Anfang dieser Literatur steht die berühmt gewordene Schrift des Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle oi Population ..., deren erste Fassung 1798 in London erschien. Malthus glaubte ein allgemeines Naturgesetz der Bevölkerungsentwicklung entdeckt zu haben: Während die Grundlagen der materiellen Existenz (means of subsistence) tendenziell in arithmetischer Reihe wüchsen, habe die Bevölkerung die Tendenz, in geometrischer Progression (in neuerer Terminologie: exponentiell) zu wachsen; die Erschöpfung des Nahrungsmittelspielraums und allgemeine Hungersnot seien daher unvermeidlich, wenn das Bevölkerungswachstum nicht durch ein „preventive check", nämlich Enthaltsamkeit, eingedämmt würde.
Die Entstehung des „Malthusianismus" fällt mit dem Beginn der durch die Industrialisierung ausgelösten gesellschaftlichen Umwälzungen zusammen und ist durch diese bedingt. In der arbeitsextensiven Agrargesellschaft mußte den herrschenden Schichten an hohen Geburtenziffern in der Unterschicht gelegen sein, da sich aus dieser Schicht die Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und die Soldaten rekrutierten. Hohe Geburtenziffern waren zugleich erforderlich, um die durch Seuchen, Kriege und Hungersnöte verursachten Ausfälle auszugleichen. Solange die Unter-schicht nicht in Städten konzentriert war, konnte sie auch das politische Monopol der herrschenden Schichten nicht ernsthaft in Frage stellen. Mit der Bildung eines städtischen Proletariats ändern sich die Bedingungen grundlegend. Im England der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann das Proletariat die herrschenden Schichten, das heißt die alte Oberschicht und das an sie assimilierte Bürgertum, erstmals zu Konzessionen zwingen (die Armengesetze), die eine zwar minimale, in ihrer Signalwirkung jedoch bedeutsame Umverteilung der Ressourcen zugunsten der Besitzlosen bewirken. Zugleich steigt das natürliche Wachstum in der Unterschicht, da infolge der Fortschritte der Medizin und der Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswe-sens die Sterbeziffern sinken. Der Übergang von einer pro-natalistischen zu einer anti-natalistischen Orientierung (die übrigens das Reproduktionsverhalten der Feudalschicht seit langem weitgehend bestimmte, da eine zahlreiche Nachkommenschaft die Gefahr einer Teilung von Herrschaftsbereichen bedeutete) ist ideologischer Reflex auf die Bedrohung der Herrschaftsstellung der Oberschichten durch die ökonomischen und politischen Ansprüche des erstarkenden städtischen Proletariats. „Als die Herrschaft nicht mehr absolut war, wurde die Beschränkung der Zahl der Geburten vorteilhaft, wenn nicht notwendig, für die herrschende Klasse." Es ist daher folgerichtig, wenn Malthus nicht nur Geburtenbeschränkung propagiert, sondern auch gegen Sozialreformen Stellung nimmt.
Die bevölkerungswissenschaftliche und bevölkerungspolitische Diskussion ist seit Malthus weitgehend durch die Bildung von Fronten zwischen Malthusianern, Anti-Malthusianern und Nicht-Malthusianern bestimmt. Dabei wird unter Malthusianismus die Auffassung verstanden, daß Bevölkerungswachstum ein krisenverursachender Faktor sei, der durch „direkte Einwirkung", nämlich Maßnahmen der Geburtenkontrolle, eliminiert werden könne und müsse. 3. Einwände gegen Malthus Die Malthus-Debatte, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend mit der Diskussion über die im Gefolge der Industrialisierung in Europa und in den Vereinigten Staaten eintretenden dramatischen demographischen Veränderungen verband, kann hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Nur drei Positionen, die bis heute in der Auseinandersetzung mit dem Malthusianismus eine Rolle spielen, sollen skizziert werden:
1. Das von Malthus postulierte „Gesetz der abnehmenden Erträge" findet keine Bestätigung in der Wirklichkeit, da die wissenschaftlich-technische Revolution sowohl in der Industrie als auch — in einer späteren Entwicklungsphase — in der Landwirtschaft zu gewaltigen Produktionssteigerungen geführt hat. Große Bevölkerungen sind eine wesentliche, wenn auch nicht hinreichende Bedingung wirtschaftlichen Wachstums, da sie die Realisierung differenzierter Arbeitsteilung und die Herstellung großer Märkte ermöglichen. Diese „optimistische Position" wurde von liberalen Ökonomen wie Adam Smith und Keynes vertreten; sie ist auch heute noch herrschende Lehrmeinung in der kapitali. tisch orientierten Wirtschaftswissenschaft.
2. „Überbevölkerung“ ist im Kern das Problem der Armut der Massen. Es ist damit primär nicht ein Bevölkerungsproblem, sondern ein sozio-ökonomisches Problem. Seine Lösung setzt eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen in der Weise voraus, daß die Produktivkräfte entfaltet und das gesellschaftlich erwirtschaftete Produkt allen Mitgliedern der Gesellschaft gemäß ihren Bedürfnissen zugute kommt. Diese Position wurde (und wird zum Teil noch heute) insbesondere von sozialistischen Autoren vertreten
3. Eine dritte, die Nicht-Malthusianische Position, lehnt ebenfalls die Malthussche These, daß Bevölkerungswachstum eine unabhängige Variable und die Primär-Ursache gesellschaftlicher Probleme sei, ab. Vertreter dieser Auffassung räumen jedoch ein, daß unter bestimmten historischen Bedingungen (zum Beispiel in einem verarmten und unterentwickelten Staat) eine rasche Bevölkerungszunahme die gesellschaftliche Entwicklung behindern kann und daß langfristig das Wachstum der Erdbevölkerung unter Kontrolle gebracht werden muß. Das Reproduktionsverhalten sei jedoch nur indirekt beeinflußbar, und zwar über die Veränderung der materiellen Bedingungen, aus denen die Motivation, möglichst viele Kinder zu haben, entsteht.
Die Malthus-Debatte ist keineswegs beendet. Das die Diskussion der Gegenwart beherrschende Problem ist der Entfaltung des Antagonismus zwischen besitzenden und besitzlosen Klassen, die durch die Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen ausgelöst wurde, vergleichbar, wenn auch auf die globale Ebene verschoben. Ging es Malthus um das Verhältnis der herrschenden Schichten gegenüber den Ansprüchen de; entstehenden Proletariats, so lautet heute die zentrale Frage in der Diskussion über Bevöl kerungsprobleme: Welche Strategie ist ange sichts der Armut und des Hungers in weiter Teilen wachsender Bevölkerungen in de: Dritten Welt angemessen? Zur Beantwortung dieser Frage können bevölkerungswissen schaftliche Methoden und Ergebnisse ohni Zweifel einen Beitrag leisten. Im Kern geht e jedoch, wie das auch bei der Fragestelluni des Malthus der Fall war, um Interessenkon flikte, die nicht „rein wissenschaftlich", son dem letztlich nur nach Maßgabe von Interes senlagen analysiert und gelöst werden kör nen.
II. Gegenstandsbereich und Methoden der Bevölkerungswissenschaft
Abbildung 2
Abbildung 2
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pie wissenschaftliche Erforschung von Bevölkerungsvorgängen wurde erstmals in einer 1840 erschienenen Untersuchung als „Bevölkerungswissenschaft“ bezeichnet Der Terminus wurde dann kaum noch benutzt; erst seit Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts wird er in der Literatur zunehmend verwendet. International wird die Bevölkerungsforschung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts überwiegend als „Demographie" bezeichnet, allerdings mit sehr unterschiedlicher Abgrenzung der Reichweite.
Es erscheint zweckmäßig, bei der Darstellung des Gegenstandsbereichs und der Methoden der Bevölkerungswissenschaft einer seit dem Zweiten Weltkrieg in der angelsächsischen Literatur wachsenden Tendenz zu folgen und zwischen Demographie und Bevölkerungswissenschaft zu unterscheiden. Diese Unterscheidung entspricht der Differenzierung zwischen .demographic analysis" (zuweilen auch: Demographie im engeren Sinne) und „population studies" (zuweilen auch: Demographie im weiteren Sinne) sie impliziert jedoch nicht eine Trennung, sondern, wie später zu zeigen sein wird, eine Interdependenz der beiden Bereiche. 1. Grundlagen und Methoden der Demographie Die Aufgabe der Demographie besteht in der statistischen Beschreibung der menschlichen Bevölkerung eines bestimmten Gebietes. In die Beschreibung werden einbezogen: a) der demographische Bestand: der Umfang die Zahl), die Alters-und Geschlechtsstruk-ur und die regionale Verteilung der Bevölke-ung;
1 demographische Ereignisse, durch die die-e Größen verändert werden: Geburten Fruchtbarkeit, Fertilität), Sterbefälle (Sterb-ichkeit, Mortalität) und Wanderungen (regio-lale Mobilität).
deben den genannten Merkmalen werden in er demographischen Analyse häufig weitere Variablen wie Personenstand, Erwerbstätigkeit, Staatsangehörigkeit, Nationalität und chronische Erkrankungen (Morbidität) berücksichtigt. Ein besonderer Zweig der Demographie, die Populationsgenetik, befaßt sich mit der statistischen Beschreibung vererbbarer Merkmale, etwa von Erbkrankheiten.
Datenquellen sind die in zahlreichen Staaten von der amtlichen Statistik (in der Bundesrepublik vom Statistischen Bundesamt und den statistischen Ämtern der Länder und Gemeinden) periodisch veranstalteten Volkszählungen (Zensen) und die hierauf basierenden Bevölkerungsfortschreibungen, die bevölkerungsstatistischen Unterlagen anderer Behörden (in der Bundesrepublik insbesondere der Standesämter und der Einwohnermeldeämter), daneben auch spezielle Erhebungen. Für die historische Demographie spielen die Register kirchlicher Stellen eine bedeutende Rolle.
In modernen Verwaltungen wird die Bevölkerungsstatistik im allgemeinen in zwei Kategorien unterteilt: Die Statistik des Bevölkerungsstandes verzeichnet den demographischen Bestand, die Statistik der Bevölkerungsbewegungen die demographischen Ereignisse.
Zur Zeit verfügen noch nicht alle Staaten über eine zuverlässige Basis bevölkerungsstatistischer Daten. Die Zensusergebnisse zahlreicher Entwicklungsländer, in denen die statistischen Dienste noch im Aufbau sind und in denen zudem die Datenerhebung durch die mangelnde Reichweite der Verwaltungen und unzulängliche Verkehrsverhältnisse erschwert wird, können nicht als zuverlässig gelten. In 14 afrikanischen Staaten findet erstmals im Rahmen des Weltbevölkerungsjahres 1974 mit Unterstützung der Vereinten Nationen eine Volkszählung statt. Auch die Registrierung demographischer Ereignisse weist in den unterentwickelten Regionen erhebliche Lücken auf. So berichtet Lars Bonde-stam, daß um 1970 von 50 afrikanischen Staaten nur 35 über ein Registrierungssystem verfügten, das jedoch in den meisten Fällen lük-kenhaft war; nur sechs dieser Länder hätten nach eigenen Angaben zu diesem Zeitpunkt über eine lückenlose Registrierung der Geburten und Sterbefälle verfügt Nach der Schätzung des Statistischen Amtes der Vereinten Nationen konnten um 1969 nur etwa ein Drittel der Daten zur Erdbevölkerung als zuverlässig gelten
Indessen ist zu vermuten, daß sich die bevölkerungsstatistische Datenbasis in den Entwicklungsländern in absehbarer Zeit verbessern wird. Dies wird vor allem der Tätigkeit von Institutionen der Vereinten Nationen zu danken sein. So hat das Statistische Amt der UN eine Reihe von Handbüchern zur Erhebung und Aufbereitung bevölkerungsstatistischer Daten herausgebracht, und der Bevölkerungsfonds der UN (United Nations Fund for Population Activities) setzt in zunehmendem Maße Mittel zur Förderung von Ausbildungsprogrammen für Statistiker und Demographen und von Volkszählungen ein. Solange ein Teil der Daten zur Erdbevölkerung als unzuverlässig oder unvollständig gelten muß, wird man für die Ermittlung des Bestandes und die Vorausschätzung der Entwicklung der Bevölkerung in einer Reihe von Entwicklungsländern auf Schätzungen, die auf Plausibilitätsannahmen beruhen, oder auf Modell-Rechnungen angewiesen bleiben.
Die ermittelten (oder vorausgeschätzten) Bestandsdaten lassen sich nach ihrer Häufigkeitsverteilung nach den bekannten Schemata graphisch darstellen. Für die Darstellung der Geschlechts-und Altersstruktur, aus der sich zugleich der Anteil der Erwerbsfähigen (15 bis 64 Jahre) an der Gesamtbevölkerung und der Anteil der Frauen im reproduktionsfähigen Alter (15 bis 49 Jahre) ablesen läßt, gelten die folgenden „idealtypischen“ Schemata:
Nach demselben Prinzip läßt sich die Häufig keitsverteilung weiterer Merkmale darstellen etwa der Anteil der Erwerbstätigen, der Ver heirateten, der Einwohner mit fremder Staatsangehörigkeit oder der Einwohnerländlicher und städtischer Regionen.
Die demographische Analyse besteht zu nächst im wesentlichen in der Ermittlung de formalen Bezugs von Teilbevölkerungen m bestimmten demographischen Merkmalen zt Gesamtbevölkerung oder zu anderen Teilbe völkerungen (zum Beispiel: Anteil der Frauen im reproduktionsfähigen Alter an der Gesamtzahl der Frauen). Die Methoden und Techniken der demographischen Analyse können in diesem Aufsatz nicht umfassend dargestellt erden. Hierzu wird auf die reichhaltige einschlägige Fachliteratur verwiesen Nur zwei spezifisch demographischeVorgehensweisen sollen hier erläutert we den: die Tafel-Methode und die Ermittlur von Meßziffern. pie klassische demographische Tafel ist die bereits in den erwähnten Arbeiten von 'Graunt, Petty und Süßmilch angelegte Sterbe-tafel. Die Sterbetafel erlaubt die Ermittlung altersspezifischer Sterberaten (Todesfälle auf Tausend der Bevölkerung) und der mittleren Lebenserwartung für jeden Altersjahrgang.
Die altersspezifische Sterberate bezeichnet die zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende statistische Sterbewahrscheinlichkeit. Entsprechend lassen sich Tafeln konstruieren, die die Warhscheinlichkeit (das „Risiko") angeben, nach der andere demographische Ereignisse wie Geburten oder Eheschließungen eintreten.
Aus den Tafeln, zum Teil aber auch nach einfacheren Verfahren, werden Meßziffern (auch: Häufigkeitsziffern, Raten) gewonnen, die als Indizes der demographischen Struktur zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten. Die am häufigsten benutzten Meßziffern sollen kurz skizziert werden
Geborenenzifier (Geburtenziffer, rohe Geburtenrate): Zahl der Lebendgeborenen pro Jahr pro 100 000 der Bevölkerung. Diese Zahl ist wesentlich für die Ermittlung des (positiven oder negativen) Wachstums einer Bevölkerung. Sie wird häufig für die Messung des Fruchtbarkeitsniveaus einer Bevölkerung herangezogen; hierzu ist sie jedoch nur beiingt geeignet, da bei ihrer Ermittlung die Alters-und Geschlechtsstruktur unberücksich-igt bleibt.
Sterbeziffer (rohe Sterberate): Zahl der sterbefälle pro Jahr pro Tausend der Bevölerung. Sie ist, ebenso wie die Geburtenziffer, wesentlich zur Ermittlung des (positiven oder legativen) Wachstums einer Bevölkerung, sie ibt jedoch nicht das Fruchtbarkeitsniveau n, da sie die Alters-und Geschlechtsstruktur ußer acht läßt. 'ate des natürlichen Wachstums: Die Diffe-enz zwischen Geborenenziffer und Sterbezif-r, gewöhnlich als Prozentsatz ausgeruckt. ate des Bevölkerungswachstums: Rate des atürlichen Wachstums unter Berücksichtiung von Ein-und Auswanderungen.
Hgemeine Fruchtbarkeitsrate: Zahl der Le-endgeborenen pro Jahr pro 1 000 Frauen im produktionsfähigen Alter (15 bis 49 Jahre); ißt die Altersverteilung der Frauen im repro-uktionsfähigen Alter unberücksichtigt.
Alfersspezifische Fruchtbarkeitsrale: Zahl der Lebendgeborenen pro Jahr pro 1 000 Frauen eines gegebenen Altersjahrgangs oder einer gegebenen Altersjahrgangsgruppe (zum Beispiel 15— 19 .. . 45— 49). Diese Zahl stellt einen guten Index für das Fruchtbarkeitsniveau einer Bevölkerung dar.
Totale Fruchtbarkeitsrate: Die Summe aller altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten.
Brutto-Reproduktionsrate: Die durchschnittliche Zahl von Töchtern, die die Frauen eines hypothetischen Altersjahrgangs oder einer hypothetischen Altersjahrgangsgruppe gebären’ wenn sich die gegenwärtigen altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten nicht verändern. Dieser Index bezeichnet das künftige Fruchtbarkeitspotential.
Netto-Reproduktionsrate: Dasselbe wie die Brutto-Reproduktionsrate, doch unter Berücksichtigung der (wahrscheinlichen) Sterbefälle in der Bezugsgruppe.
Säuglingssterblichkeit: Zahl der jährlich gestorbenen Kinder im Alter bis zu 12 Monaten, bezogen auf 1 000 Lebendgeburten des selben Jahrs.
Abhängigkeitsquote: Zahl der Menschen im Alter bis 14 und über 64 Jahre, geteilt durch die Zahl der Menschen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren.
Erwerbsquote: Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung. (Dieser Index ist erst dann aussagekräftig, wenn er altersspezifisch definiert wird.)
Die dargestellten Vorgehensweisen basieren auf Querschnittbetrachtungen. Sie können schlüssige Informationen nur über Sachverhalte des Bevölkerungsbestandes geben; Elemente der Bevölkerungsveränderung („Bevölkerungsdynamik") gehen in einige der genannten Meßziffern lediglich in der Form von Hypothesen ein.
Eine in neuerer Zeit entwickelte Methode, die die Darstellung von Bevölkerungsveränderungen ermöglicht und einen Zugang zu ihrer Erklärung und Vorausschätzung eröffnet, ist die Kohorten-Analyse. Hierbei handelt es sich um eine Methode der Längsschnittbetrachtung. Kohorten sind Aggregate von Personen, bei denen im Verlauf eines Altersabschnitts (meist werden fünf Jahre zusammengefaßt) ein bestimmtes demographisches Ereignis eingetreten ist, zum Beispiel die Geburt eines Kindes, Heirat oder Tod; man kann also Fruchtbar-keits-, Heiratsund Sterbe-Kohorten bilden. Durch den Vergleich des demographischen Verhaltens von Kohorten über einen längeren Zeitabschnitt lassen sich zyklische Veränderungen und Trends darstellen. So wurde mit Hilfe der Kohorten-Analyse festgestellt, daß der im 19. Jahrhundert in den Industriestaaten einsetzende Geburtenrückgang mit einer Verschiebung der Furchtbarkeitsintensität auf jüngere Jahrgänge einherging. Zur Erklärung der Verhaltensveränderungen werden nicht-demographische Variablen wie die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, Veränderungen in den kulturellen Normen, Kriege und Veränderungen in der Familiengesetzgebung herangezogen. Mitunter werden für die Ermittlung und Analyse von Verhaltensänderungen von Kohorten Panel-Untersuchungen, das heißt periodische Befragungen, eingesetzt. 2. Bevölkerungswissenschaft: ein multidisziplinäres Bezugssystem Die Kohorten-Analyse bezeichnet aber bereits den Übergang von der Demographie zur Bevölkerungswissenschaft. Während sich die Demographie mittels statistischer Techniken und der Konstruktion mathematischer Modelle mit der Ermittlung, Erklärung und Prognose der demographischen Grundvariablen auf der Basis bevölkerungsstatistischen Materials befaßt, sucht die Bevölkerungswissenschaft die außerhalb dieses Materials liegenden Determinanten und Konsequenzen demographischer Sachverhalte zu ermitteln, zu erklären und zu prognostizieren.
Hauser und Duncan umschreiben die Differenz zwischen Demographie (= demographische Analyse) und Bevölkerungswissenschaft (= Bevölkerungsstudien) folgendermaßen:
„Die demographische Analyse beschränkt sich auf das Studium der Komponenten von Bevölkerungsveränderungen. Bevölkerungsstudien befassen sich nicht nur mit Bevölkerungsvariablen, sondern auch mit den Beziehungen zwischen Bevölkerungsveränderungen und anderen Variablen — sozialen, ökonomischen, politischen, biologischen, genetischen, geographischen und ähnlichen. Der Bereich der Bevölkerungsstudien ist mindestens so weitgespannt wie das Interesse an den . Determinanten und Folgen von Bevölkerungstrends'."
Fruchtbarkeit, Sterblichkeit und Wanderungen sind keine „autonomen" Vorgänge. So wird die Sterberate einer Bevölkerung dure den Stand der Medizin, des Gesundheitswe sens und der Alterssicherung, durch die soziale Schichtung sowie die Ernährungs-und Verkehrsbedingungen und die klimatischen und ökologischen Verhältnisse, die in einen Gebiet herrschen, und eventuell durch weitere Faktoren beeinflußt. Ebenso wird das Repro-duktionsverhalten von Bevölkerungen durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt; hierzu sind im makro-gesellschaftlichen Bereich der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung, die Erwerbsquote (Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung), insbesondere die der Frauen, der Stand des Bildungswesens, I die Versorgung mit sozialen und medizinischen Diensten zu rechnen; im Mikro-Bereich die Familienstruktur, die Bereitschaft zur Familienplanung und der Zugang zu kontrazeptiven Methoden und Mitteln. Wanderungsbewegungen schließlich werden unter anderem durch die in .den Herkunfts-und den Zielregionen herrschenden ökonomischen Bedingungen, durch den Stand der Versorgung mit Wohnungen und Infrastruktureinrichtungen sowie durch den sozialen Status der wandernden Individuen determiniert. Andererseits wirken Veränderungen in den Fruchtbarkeits-und Sterbeverhältnissen sowie Wanderungen auf die gesellschaftlichen Systeme, innerhalb derer sie sich vollziehen, wie auch, auf die von diesen Vorgängen betroffenen Individuen zurück. Das Heranwachsen geburtenstarker Jahrgänge kann ein Ansteigen der Abhängigkeitsquote (Anteil der nicht am Erwerbsleben Beteiligten), erhöhten Bedarf an Kindertagesstätten, Schulen und Ausbildungsstätten und — mit zeitlicher Verzögerung — ein erhöhtes Angebot an Arbeitskräften nach sich ziehen. Steigt der Anteil der Alten, so hat das Konsequenzen für die Renten-und Sozialpolitik und möglicherweise, wenn zugleich die absolute Zahl der im erwerbsfähigen Alter Stehenden abnimmt, Stagniert oder nur geringfügig zunimmt, für die volkswirtschaftliche Produktivität. Ebenso können Wanderungen komplexe Folgen nach sich ziehen, etwa die Vergrößerung oder Verringerung des Gefälles zwischen entwickelten Regionen und Rückstandsregionen, die Überlastung infrastruktureller Einrichtungen, Veränderungen in der sozialen und demographischen Struktur sowohl der Herkunftsregionen (zum Beispiel Reduzierung des Anteils der Erwerbsfähigen, Steigen des Anteils der Kinder und Alten) als auch der Aufnahmeregion (zum Beispiel Bildung eines Sub-Proletariats) etc.
Der Unterschied zwischen demographischem und bevölkerungswissenschaftlichem Ansatz läßt sich am Beispiel des „demographischen Übergangs“ darstellen. Das Schema des „demographischen Übergangs“ beschreibt den demographischen Veränderungsprozeß, der sich im Verlauf der Industrialisierung zunächst in Frankreich und später (zum Teil mit geringfügigen Verschiebungen) in den übrigen europäischen Industriestaaten und in den USA (hier im Ergebnis durch Einwanderungen modifiziert) vollzogen hat.
Die demographischen („inneren“) Variablen dieses Prozesses, ihre Veränderungen und Konsequenzen sind unschwer zu ermitteln: Die erste Phase ist von hohen Geburten-und Sterbeziffern gekennzeichnet, die Bevölkerung wächst langsam. In der zweiten Phase bleiben die Geburtenziffern unverändert hoch, doch die Sterbeziffern fallen, die Zuwachsraten steigen. In der dritten Phase fallen Geburten-und Sterbeziffern, die Zuwachsraten nehmen ab. In der vierten Phase haben sich die Geburten-
und Sterbeziffern auf einem niedri-Jen Niveau stabilisiert, die Bevölkerung wächst langsam.
Während grundsätzlich — und, da wir über -ine relativ gute Datenbasis verfügen, weitgehend auch faktisch — der Vorgang in seinen demographischen Aspekten vollständig erklärbar ist, bereitet der Versuch, die demographischen Variablen zu „äußeren" Variablen in Relation zu setzen, um zu einer umfassenden, das heißt bevölkerungswissenschaftlichen Erklärung des Entwicklungsprozesses in seiner Komplexität zu gelangen, Schwierigkeiten. Am wenigsten problematisch erscheint die Erklärung des Sinkens der Sterblichkeit. Hier sind vor allem die Fortschritte in der Medizin, der Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens (Seuchenkontrolle) und die erhöhte Produktivität der Landwirtschaft sowie die allgemeine Verbesserung der Versorgung mit Nahrungsmitteln anzuführen. In der Diskussion über den Geburtenrückgang wurden unter anderem, häufig mit dem Anspruch einer monokausalen Erklärung, die Verstädterung, soziales Aufstiegsdenken, die Auflösung traditioneller Familienstrukturen und wachsende Rationalität und Planungsorientierung gesellschaftlichen Verhaltens als Faktoren der Veränderung genannt. Vertreter der sogenannten Wohlstandstheorie (Leroy-Beaulieu, Bertillon, Lavasseur, Paul Mombert, Lujo Brentano) schrieben das Sinken der Fruchtbarkeit einem Steigen hedonistischer Ansprüche zu, deren Erfüllung durch Kinderreichtum behindert werde.
Das skizzierte Beispiel der Analyse des „demographischen Übergangs" kennzeichnet Reichweite und Interdependenz demographischer und bevölkerungswissenschaftlicher Ansätze. Die demographische Analyse reicht zur Beschreibung und Erklärung der historischen Realität von Bevölkerungsveränderungen, ihrer Ursachen und Folgen nicht aus; hierzu bedarf es eines komplexeren, eben des bevölkerungswissenschaftlichen Ansatzes. Man kann Bevölkerungswissenschaft als ein multidisziplinäres Bezugssystem der umfassenden Analyse von Bevölkerungsveränderungen bezeichnen, deren zentrale Disziplin die Demographie ist und der weitere Fachdisziplinen nach Maßgabe der jeweiligen Problemstellung hinzuzurechnen sind; zu diesen Disziplinen zählen etwa Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft, Geographie, Medizin, Biologie, Genetik. Dieses Verständnis von Bevölkerungswissenschaft ist keineswegs bloßes Programm, sondern es bestimmt weite Bereiche der Forschung insbesondere in den Vereinigten Staaten, in England und in Frankreich.
III. Tendenzen und Organisation der internationalen Forschung
Abbildung 3
Pyramidenform: wachsende Bevölkerung
Pyramidenform: wachsende Bevölkerung
1. Bevölkerungsforschung in Europa In Europa hat sich die Bevölkerungsforschung bis zum Zweiten Weltkrieg überwiegend als Zweig der Statistik entwickelt Daneben bestanden in einigen europäischen Ländern besondere Bindungen an eine der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen, etwa in Deutschland an die Nationalökonomie, in Italien an die Biologie. Nur in England konnte die Bevölkerungsforschung ein Eigengewicht gewinnen. Seit Anfang der zwanziger Jahre vollzog sich diese Entwicklung als Zusammenarbeit zwischen Statistikern, Ökonomen, Historikern, Soziologen, Biologen, Genetikern und Medizinern. Von den bedeutenden Vertretern dieser Forschung sind insbesondere Alexander Carr-Saunders (Bevölkerungsgeschichte), David V. Glass (Bevölkerungsgeschichte, Fruchtbarkeitsforschung) und Robert R. Kuczynski (Statistik) zu nennen. Das akademische Zentrum der Bevölkerungswissenschaft in England war — und ist bis heute — die London School of Economics, wo 1936 das Population Investigation Committee gegründet wurde. Auch die staatliche Auftragsforschung trug zur Weiterentwicklung der Bevölkerungswissenschaft bei. Aus der Arbeit der zum Studium der Bevölkerungsentwicklung eingesetzten Royal Commission (1943 bis 1947) ging eine umfassende, auf Statistiken und Befragungen beruhende Untersuchung der Trends und Determinanten des Fruchtbarkeitsverhaltens hervor — die erste Studie dieser Art in Europa. Ebenfalls als Auftragsforschung entstand Kuczynskis Untersuchung Demographie Survey of the British Colonial
Empire (1948— 1953). 2. Bevölkerungsforschung in den Vereinigten Staaten Für die Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft im internationalen Rahmen wurden jedoch — zunehmend seit den zwanziger Jahren — die in den Vereinigten Staaten entstandenen Untersuchungen maßgebend. Auch in dieser Forschung herrschen interdisziplinäre Ansätze — mit einer Bevorzugung soziologischer Fragestellungen — vor. Bis zum Zweiten Weltkrieg standen — neben Fragen der statistischen Analyse, der mathematischen Formalisierung und der Theorie-Bildung -Probleme der Entwicklung der amerikanischen Bevölkerung im Vordergrund des Interesses, insbesondere Wanderungen und differentielle Fruchtbarkeit. Fragen der Fruchtbarkeit, ihrer Determinanten und ihrer Konsequenzen für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung sind bis heute der von der amerikanischen Bevölkerungswissenschaft bevorzugte Forschungsbereich. Hier sind die großen empirischen Studien, die „Indianapolis-Studie“ die „Scripps-Studie' und die „Princeton-Studie" zu erwähnen, in denen die mikro-gesellschaftlichen Determinanten des Reproduktionsverhaltens in den USA untersucht wurden. Aber schon Mitte der dreißiger Jahre begann sich die amerikanische Bevölkerungswissenschaft den Problemen der Bevölkerungsentwicklung außerhalb des eigenen Landes in zunehmendem Maße zuzuwenden. So testete E. F. Penrose eine Reihe von Bevölkerungstheorien am Beispiel der demographisch-ökonomischen Entwicklung Japans Joseph J. Spengler untersuchte das Phänomen der sinkenden Fruchtbarkeit in Frankreich und John W. Innes analysierte klassenspezifische Fruchtbarkeitsunterschiede in England
Die neue Weltmachtrolle der USA gab dieser Tendenz zur internationalen Orientierung des Forschungsinteresses Auftrieb. Sie fand Ausdruck in zahlreichen Studien, etwa Frank Notesteins regionalisierter Projektion der Bevölkerungsentwicklung Europas und Frank Lorimers Projektion der Bevölkerungsent-Wicklung in der UdSSR es folgten Untersuchungen über das Verhältnis von Bevölkerung und Gesellschaft in Indien (Kingsley Davis über die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Kultur in Taiwan (George W. Barclay und über Bevölkerungstrends in Japan (Irene Taeuber) Die Zahl der seither von amerikanischen Bevölkerungswissenschaftlern veröffentlichten empirischen und theoretischen Untersuchungen über die Entwicklung der Fruchtbarkeit und über das Verhältnis zwischen demographischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Variablen in fast allen Ländern der Erde, insbesondere denen der Dritten Welt, ist heute kaum noch zu überblicken.
Auch in anderen Ländern hat das Interesse an Bevölkerungsfragen und ihrer wissenschaftlichen Untersuchung seit dem Zweiten Weltkrieg rapide zugenommen. In fast allen Staaten, den westlichen und östlichen Industriestaaten wie auch den Ländern der Dritten Welt, befaßt sich die amtliche Statistik mit der Analyse und Prognose der Bevölkerungsentwicklung. In einigen Ländern bestehen staatliche demographische Forschungsinstitute, deren angesehenstes in Europa das 1945 gegründete Institut National d'Etudes Dmo-graphiques (INED) in Paris sein dürfte. Universitätsinstitute oder Lehrstühle für Demographie bzw. Bevölkerungswissenschaft bestehen unter anderem in Italien, Frankreich, England, Belgien, den Niederlanden und Schweden allein in Indien wird an 36 Universitäten Demographie als Haupt-oder Nebenfach angeboten 3. Die Rolle der Vereinten Nationen Von den internationalen Organisationen haben vor allem die Vereinten Nationen durch das Statistische Amt und die Bevölkerungsabteilung der Bevölkerungswissenschaft wert-volle Arbeitsunterlagen geliefert; hierzu zählen außer periodisch erscheinenden Statistiken Veröffentlichungen über Techniken der Datensammlung und -analyse und der Bevölkerungsprognose, Regionalstudien und umfassende bevölkerungswissenschaftliche Untersuchungen wie The Determinants and Consequences of Populations Trends (1953). In fünf Staaten der Dritten Welt — Indien, Chile, der VAR, Ghana und Kamerun — wurden auf Initiative der UN und mit deren finanzieller Unterstützung demographische Lehr-und Forschungszentren errichtet.
Zur Kommunikation der Bevölkerungswissenschaftler untereinander haben die Vereinten Nationen durch die Veranstaltung von regionalen Seminaren und zwei Weltbevölkerungskongressen (Rom 1954 und Belgrad 1965) beigetragen. Im Rahmen des Weltbevölkerungsjahres 1974 beteiligen sich das Statistische Amt, die Bevölkerungsabteilung, der Bevölkerungsfonds und nahezu alle Sonderorganisationen der UN an einem umfangreichen Programm bevölkerungsstatistischer Erhebungen und bevölkerungswissenschaftlicher Untersuchungen und Veranstaltungen Zahlreiche wissenschaftliche Kongresse zu Problemen der Bevölkerungsforschung wurden unter anderem von der International Union for the Scientific Study of Population, der International Planned Parenthood Federation und dem Europarat veranstaltet. 4. Forschungsprioritäten Die Prioritäten der internationalen Bevölkerungsforschung lassen sich anhand der Verhandlungsthemen der Belgrader Weltbevölkerungskonferenz bezeichnen. Es handelt sich dabei um folgende Bereiche 1. Struktur, Determinanten und Konsequenzen differentieller Fruchtbarkeit in Regionen mit hoher Fruchtbarkeit und Regionen mit niedriger Fruchtbarkeit;
2. Familienplanung;
3. Struktur, Determinanten und Konsequenzen differentieller Sterblichkeits-und Krankheitsverhältnisse; 4. internationale Wanderungen — ökonomische und demographische Probleme;
5. interne Wanderungen — ökonomische und demographische Probleme;
6.demographische Aspekte der Verstädterung und der Versorgung mit Wohnraum;
7.demographische Aspekte der Entwicklung des Bildungswesens;
8.demographische Aspekte der Beschäftigung; 9. Bevölkerung und natürliche Ressourcen; 10.demographische Aspekte der landwirtschaftlichen Entwicklung und der Versorgung mit Nahrungsmitteln; 11.demographische Aspekte des Sparens, der Investitionen, der technologischen Entwicklung und der Industrialisierung; 12.demographische Aspekte des Wirtschafts. Wachstums;
13. Bevölkerungsgenetik;
14. Probleme des Messens und der Analyse von Faktoren der Bevölkerungsstruktur und der Bevölkerungsverteilung;
15. Prognose von Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsverteilung;
16. Methoden der Arbeit mit unvollständigen oder fehlerhaften demographischen Daten.
Fruchtbarkeit und Familienplanung stehen nicht zufällig am Beginn der Themenliste. Angesichts des raschen Wachsens der Erdbevölkerung sind Fragen der Fruchtbarkeit und der Geburtenkontrolle die Themen, die die internationale bevölkerungswissenschaftliche Diskussion gegenwärtig weitgehend beherrschen.
LV. Tendenzen und Organisation der Forschung in der Bundesrepublik
Abbildung 4
Glockenform: stationäre Bevölkerung
Glockenform: stationäre Bevölkerung
In Deutschland hatte die Bevölkerungswissenschaft vor 1933 einen hohen Entwicklungsstand erreicht. Es hatten sich zwei Interessen-schwerpunkte herausgebildet: zum einen die Bevölkerungsstatistik und mathematische Bevölkerungstheorie (G. von Mayr, Becker, Boekh, Lexis, von Bortkiewicz), zum anderen die Bevölkerungslehre. Die Bevölkerungslehre, aus den Staats-und Wirtschaftswissenschaften hervorgegangen, bezeichnet den Versuch, die Bevölkerungsbewegungen im Kontext von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur empirisch und theoretisch zu analysieren. Zu den hervorragenden Repräsentanten dieser Forschungsrichtung zählten Paul Mombert, Rudolf Heberle, Lujo Brentano, Gunther Ipsen, Friedrich Burgdörfer und Hans Harmsen
Im Gegensatz hierzu und im internationalen Vergleich kommt der Bevölkerungswissenschaft in der Bundesrepublik eine verhältnismäßig geringe Bedeutung zu. Gerhard Mak-kenroths Bevölkerungslehre 1953 erschie-nen, in der theoretische Ansätze von Ipsen („Bevölkerungsweise") und Hans Linde (. generative Strukturen“) weitergeführt werden, ist bislang die einzige Publikation in der Bundesrepublik geblieben, die es unternimmt, den Stand der Methoden-und Theorie-Diskussion systematisch aufzuarbeiten. Allerdings war Mackenroths Arbeit infolge der Schwierigkeiten der Beschaffung wissenschaftlichen Materials in der Zeit des „Dritten Reiches" und während der ersten Nachkriegsjahre schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens, gemessen am Stand der internationalen Forschung, teilweise „veraltet“.
Bis vor kurzem war die demographische Forschung in der Bundesrepublik fast ausschließlich der amtlichen Statistik Vorbehalten, das heißt dem Statistischen Bundesamt, den Statistischen Landesämtern und einigen an demographischen Problemen besonders interessierten Stadtverwaltungen wie denen in Nürnberg, München und Mannheim. Daneben entstanden vereinzelt Studien zu bevölkerungswissenschaftlichen Fragestellungen, so die Untersuchungen Hilde Wanders zum Verhältnis zwischen Bevölkerungs-und Wirtschaftsentwicklung 1 Zur Frage der Institutionalisierung an den Hochschulen An keiner Universität der Bundesrepublik besteht ein bevölkerungswissenschaftliches Institut. Nur an zwei Universitäten sind bevöl-
kerungswissenschaftliche Fächer in die Prü-jungsund Studienordnungen aufgenommen worden: in Bochum Demographie als Vertie-fungsoder Nebenfach, in Kiel Bevölkerungswissenschaft mit der Möglichkeit der Spezialisierung in „Bevölkerungspolitik" und „Demographie der Entwicklungsländer" als Wahlfach im Rahmen des Studiengangs für Diplom-Volkswirte. An einigen anderen Universitäten (TU Berlin, Erlangen, Nürnberg, Gießen, Hamburg, Mainz, München und Stuttgart) werden mit unterschiedlicher Häufigkeit von Soziologen, Geographen, Wirtschaftswissenschaftlern, Statistikern und Dozenten anderer Disziplinen demographische oder bevölkerungswissenschaftliche Lehrveranstaltungen angeboten. An einigen Universitäten werden bevölkerungswissenschaftliche Forschungsprojekte bearbeitet. Das Interesse der Forschung konzentriert sich auf Probleme der regionalen Mobilität, wobei Fragen der geographischen Verteilung, des Arbeitsmarktes, der psycho-sozialen Determinanten und der Projektion im Vordergrund stehen
Von der offiziellen Forschungspolitik wurde die Bevölkerungswissenschaft bis vor wenigen Jahren kaum zur Kenntnis genommen. Erst seit Ende der sechziger Jahre beginnt sich die Einschätzung der Bevölkerungswissenschaft zu wandeln. Das Erwachen des regierungsamtlichen Interesses an der Bevölkerungswissenschaft wird man im Zusammenhang mit der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklungsphase, die die Bundesrepublik erreicht hat, sehen müssen. Etwa um die Mitte der sechziger Jahre ist die weitgehend im Zeichen des laisser-faire stehenden Phase der Rekonstruktion von Wirtschaft und Gesellschaft abgeschlossen worden. Engpässe entstehen im Arbeitsmarkt und im Bildungswesen. Es wird deutlich, daß die weitere Entfaltung der Produktivkräfte sowie die Realisierung der hierfür erforderlichen strukturellen und infrastruktureilen Veränderungen der langfristigen Planung bedürfen. Entsprechend wächst das Planungsbewußtsein; Gesellschaftspolitik wird in immer stärkerem Maße als Gesellschaftsplanung begriffen. Gesell
Schaftsplanung aber kommt ohne wissenschaftlich abgesicherte Aussagen über den Bevölkerungsprozeß und die Tendenzen seiner zukünftigen Entwicklung nicht aus.
Vor diesem Hintergrund ist die Stellungnahme der Bundesregierung zu den Empfehlungen der Ersten Europäischen Bevölkerungskonferenz, Straßburg 1966, zu sehen. In der Stellungnahme heißt es unter anderem: „Die Bundesregierung hält Vergleichsstudien über die Fruchtbarkeit für unerläßlich, da sie u. a. die Grundlage für Bevölkerungsschätzungen sind, die in der mittel-und langfristigen Wirtschafts-und Finanzplanung zunehmend an Bedeutung gewinnen ... Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß über die statistische Ermittlung der Fakten hinaus Untersuchungen über die Motive der Ehepaare hinsichtlich der Familienplanung erforderlich sind. Derartige Untersuchungen gehören nach bisheriger Auffassung jedoch nicht zu den Aufgaben der amtlichen Statistik. Sie sollten von demographischen Instituten durchgeführt werden. Die Bundesregierung hat im Anschluß an die Erste Europäische Bevölkerungskonferenz der Frage, welche Möglichkeiten der Förderung der bevölkerungswissenschaftlichen Forschung und Lehre bestehen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. ... Die Notwendigkeit, die bevölkerungswissenschaftliche Forschung und Lehre zu fördern, wird von der Bundesregierung anerkannt. . .. Die Bundesregierung hat schließlich einen Sonderforschungsbereich . Demographie unter Berücksichtigung der Entwicklungsländer'vorgeschlagen und ist bemüht, für die demographische Forschung eine staatliche Institution zu schaffen, in der Form eines Instituts für Be-
völkerungs-und Familienforschung."
Ein Wandel der Forschungspolitik schien sich 1967 in der Einrichtung zweier bevölkerungswissenschaftlich relevanter Schwerpunktprogramme durch die von Bund und Ländern finanzierte Deutsche Forschungsgemeinschaft anzukündigen. Im Schwerpunkt „Demographie" wurden von 1968 bis 1971 mit einem Aufwand von 2 Millionen DM 12 Projekte gefördert, unter anderem zu Problemen der regionalen Mobilität, der Familienplanung und des Alterungsprozesses der europäischen Bevölkerung. Der Schwerpunkt „Bevölkerungsgeographie" (Aufwand von 1969 bis 1973: 2, 4 Millionen DM) umfaßt 20 Projekte, hauptsächlich zu Fragen der Strukturen und Deter-minanten von Wanderungsbewegungen und der Bevölkerungskonzentration
Die in der Stellungnahme der Bundesregierung erwähnte staatliche Institution wurde im Februar 1973 als Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung gegründet. Das Institut, das eng mit dem Statistischen Bundesamt zusammenarbeitet, steht in erster Linie für Forschungsaufträge der Bundesregierung zur Verfügung. 2. Vorbehalte gegen die Bevölkerungswissenschaft Im Universitätsbereich ist dagegen bisher, abgesehen von den erwähnten Ansätzen in Bochum und Kiel, trotz vielfältiger Bemühungen um Einrichtung eines Instituts oder Sonderforschungsbereichs eine Institutionalisierung der Bevölkerungswissenschaft nicht möglich gewesen. Dies legt die Frage nach den Widerständen nahe. Hier sind drei Argumentationsebenen auszumachen:
1. In der Öffentlichkeit, insbesondere in der Universitätsöffentlichkeit, wird Bevölkerungswissenschaft immer noch vielfach mit der volkstumsorientierten Rechtfertigungsideologie des „Dritten Reiches" in Verbindung gebracht. Das ist historisch nicht unbegründet. Bereits vor 1933 hatte es in der deutschen Bevölkerungswissenschaft völkische und extrem sozial-konservative Strömungen gegeben einige Exponenten dieser Strömungen fanden es nur folgerichtig, sich aktiv in den Dienst des NS-Staates und seiner Bevölkerungspolitik zu stellen. Kennzeichnend für dieses Verhalten ist ein 1933/34 erschienener Aufsatz Friedrich Burgdorfers, eines angesehenen Bevölkerungswissenschaftlers, zu jener Zeit Direktor beim Statistischen Reichsamt; der Schlußsatz dieses Aufsatzes lautet: „An der amtlichen deutschen Bevölkerungsstatistik soll es nicht fehlen, dem Staat das erforderliche statistische Rüstzeug für eine aufbauende Bevölkerungspolitik, die Familien-und Volkstumspolitik sein muß, bereitzustellen."
Andere machten, ohne sich ausdrücklich mt der herrschenden Ideologie zu identifizieren ihr wissenschaftliches Know how dem Wis senschaftsbetrieb der Nazis nutzbar Verweigerungen waren bei den Bevölkerungswis.senschaftlern jener Jahre Ausnahmen Diese teils offen politische, teils „rein wissenschaftliche" Verstrickung mit der offiziellen Bevölkerungspolitik der Nazi-Ära ist bis heute nicht analysiert und aufgearbeitet worden Eine solche Analyse und Aufarbeitung hätte die Strukturen und Tendenzen der bürgerlichen Bevölkerungswissenschaft aufzudecken, die es dieser Wissenschaft ermöglichten, zu einem teils bewußten, teils unbewußten Instrument faschistischer Herrschaft zu weiden 2 Eine weitere Argumentation entspringt ei-
ner grundsätzlichen Planungsfeindlichkeit.
Bevölkerungswissenschaft ist Planungswissenschaft, und Planung wird vielfach noch immer als Bedrohung der individuellen Freiheit, der „freien Marktwirtschaft“, wenn nicht der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überhaupt, gesehen.
3. Ein dritter Einwand geht von der Kritik am kapitalistischen Verwertungsprozeß aus. Wofür und in wessen Interesse werden bevölkerungswissenschaftliche Forschungsergebnisse beispielsweise über die Entwicklung des Arbeitskräfteangebots, über die Determinanten von Wanderungsbewegungen oder über optimale Bedingungen des Einsatzes von Geburtenkontroll-Programmen verwendet? Im kapitalistischen System werden die Produktiv-kräfte, zu denen auch Wissenschaft zählt, nicht nach Maßgabe gesellschaftlicher Rationalität, sondern im Interesse privater Profit-maximierung eingesetzt. Eine für die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse zumindest potentiell so bedeutsame Wissenschaft wie die Bevölkerungswissenschaft ist damit in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt, von partikularen Interessen als Herrschaftstechnologie in Dienst genommen zu werden.
Diese Argumentation ist m. E. wohlbegründet. Es wäre jedoch naiv anzunehmen, man könnte der Gefahr des Mißbrauchs einer Wissenschaft wirksam begegnen, indem man die Entfaltung dieser Wissenschaft ignoriert oder zu behindern sucht. Vielmehr sollte eine Auseinandersetzung mit dieser Gefahr auf zwei Ebenen erfolgen. Erstens der sozio-politischen: durch Veränderung der Herrschaftsstrukturen in der Weise, daß die Disposition über die Verwendung gesellschaftlicher Ressourcen, also auch von Wissenschaft, demokratisch kontrollierbar wird] zweitens der wissenschaftlichen: durch das Hereinnehmen solcher Elemente in die Wissenschaft selbst, durch die der Herrschaftszusammenhang, in dem Wissenschaft steht, transparent gemacht wird; für die Bevölkerungswissenschaft würde das vor allem die Aufnahme von Methoden und Fragestellungen der Ideologiekritik und der Politischen Ökonomie bedeuten.
V. Bevölkerungswachstum als „crisis issue": Die Renaissance des Malthusianismus
Abbildung 5
Zwiebelform: schrumpfende Bevölkerung
Zwiebelform: schrumpfende Bevölkerung
Die bevölkerungswissenschaftliche Literatur in den Vereinigten Staaten ist seit dem Zwei-en Weltkrieg zunehmend von der Tendenz jekennzeichnet, im Bevölkerungswachstum iie Primärursache krisenhafter Erscheinungen in sehen. So führen viele Autoren die Unter-Entwicklung in der Dritten Welt, neuerdings iuch die Störung des ökologischen Gleichge-vichts, auf das Wachstum der Bevölkerung uirück. ) iese Position wird in der Feststellung Levi-ies zusammengefaßt: „In den dichtbesiedelten interentwickelten Gebieten kann Bevölke-ungswachstum als Hindernis, oder vielleicht las Hindernis wirtschaftlicher Entwicklung ind der Verbesserungen, die solche Entwick-ung bringt, angesehen werden." Hinsicht-liehder Belastung der Rohstoff-Reserven und der Umwelt heißt es in dem Bericht der von Präsident Nixon eingesetzten Commission on Population Growth and the American Future, der auch eine Reihe prominenter Bevölkerungswissenschaftler angehören: „Bevölkerungswachstum ist einer der Hauptfaktoren, die sich auf die Nachfrage nach Rohstoffen und auf die Verschlechterung der Umwelt in den Vereinigten Staaten auswirken." 1. Die Bevölkerungskontroll-Explösion Bevölkerungswachstum ist in den Vereinigten Staaten zu einer „crisis issue" höchster Priorität geworden. Das schlägt sich in der Bildung von Organisationen wie dem Population Crisis Committee, der Campaign to Check the Population Explosion und der Zero Population Growth, Incorporated, nieder, aber auch in der empirischen Bevölkerungsforschung. Mehr und mehr werden Fragen der Geburten-kontrolle, ihrer Voraussetzungen und ihrer praktischen Realisierbarkeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht. Richtungweisend ist hierbei die Arbeit des Population Council. Das Population Council fördert Forschungsprojekte zur Familienplanung in den USA und in der Dritten Welt, es finanziert Familienplanungsorganisationen und -programme in zahlreichen Staaten und unterhält ein eigenes Forschungs-und Ausbildungsprogramm. Erklärtes Ziel dieser Aktivitäten ist die Senkung der Geburtenziffern insbesondere in den unterentwickelten Regionen durch die Verbreitung von Familienplanungstechnologie. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den auch vom Population Council propagierten und geförderten KAP-Surveys (KAP = Knowledge, Attitüde and Practice of family planning) zu. Diese bisher in einigen Dutzend Entwicklungsländern veranstalteten Erhebungen kommen regelmäßig zu dem Ergebnis, daß in der befragten Bevölkerung eine positive Einstellung gegenüber der Geburtenkontrolle vorherrscht. Auf die wissenschaftlichen Mängel vieler dieser Untersuchungen ist wiederholt hingewiesen worden Sie dienen im wesentlichen dazu, den Bedarf an Familienplanungstechnologie nachzuweisen und Strategien zu deren Verbreitung zu legitimieren. Mayone Stycos, selbst an mehreren KAP-Surveys beteiligt, hat eingeräumt, daß „die wichtigste Funktion solcher Erhebungen der eines jeden Marktforschungsprojekts ähnlich ist: die Existenz einer Nachfrage nach Gütern und Diensten, in diesem Fall nach Geburten-kontrolle, zu demonstrieren" Philip Hauser kommt in einer Kritik dieser Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß KAP-Surveys eine Rolle als Instrumente des politischen Drucks spielen: „Die Ergebnisse von KAP-Surveys, ob falsch oder nicht, haben geholfen, Premierminister, Parlamente und die Bevölkerung zu überreden, in einer wünschenswerten Richtung tätig zu werden, und haben Administratoren von Familienplanungsprogrammen . Rechtfertigungen'für Budgets und Programme geliefert."
Neben dem Population Council wendenE. richtungen der amerikanischen Großwirtschat erhebliche Summen für „Bevölkerungspr gramme" (Fertilitätsforschung, Ausbildun von Familienplanern, Entwicklung und AN Wendung von Geburtenkontroll-Technologie auf. Allein die Ford-Stiftung hat zwischen 1951 und 1969 für „Bevölkerungsprogramme 115 Millionen Dollar zur Verfügung ge stellt Der Förderungspolitik liegt diema thusianische Grundthese zugrunde, dal „Überbevölkerung" Druck auf die Subsistenzmittel ausübe und daß dieser Druck vorrangig mit Mitteln der Geburtenkontrolle reduzier werden müsse. So hat John D. Rockefeller 111 der im Jahre 1952 den Population Council ge gründet hatte und seither dessen Aufsichts ratsvorsitzender ist, im Jahre 1965 erklärt „Heute ist für das Wohlergehen der Mensch heit kein Problem dringlicher als die Begren zung des Bevölkerungswachstums."
Diese Auffassung ist seit einigen Jahren i zunehmendem Maße zur Leitlinie der amerik nischen Politik im Bereich der Entwicklung: hilfe geworden. Präsident Johnson hatte 196 in einer Rede zum 20. Jahrestag der Vereii ten Nationen erklärt: „Gehen wir davon aus, daß weniger als 50 Dollar, die für Bevölkerungskontrolle ausgegeben werden, so viel wert sind wie 100 Dollar, die in Wirtschaftsentwicklung investiert werden." Entsprechend dieser Sichtweise, die von der Nixon-Administration übernommen worden ist, sind die für „Bevölkerungsprogramme“ in der Dritten Welt von der amerikanischen Regierung zur Verfügung gestellten Mittel von 2, 1 Millionen Dollar im Jahre 1965 auf 123, 3 Millionen im Jahre 1972 gestiegen Gleichzeitig sind jedoch die für die Entwicklung des Gesundheitswesens in Ländern der Dritten Welt aufgewendeten Mittel drastisch gekürzt worden, wie die Tabelle 1 ausweist.
AID ist heute, gemessen am Budget, die mit Abstand wichtigste Einrichtung zur Förderung von „Bevölkerungsprogrammen''. Von den zwischen 1968 und 1972 von AID für „Bevölkerungsprogramme''insgesamt aufgewendeten 386 Millionen Dollar wurden 180 Millionen oder 46 Prozent 35 Entwicklungsländern (überwiegend als Schenkungen, zum geringeren Teil als Darlehen) zur Verfügung gestellt 206 Millionen oder Prozent wurden über internationale Organisationen an mehr als 70 Entwicklungsländer für die Finanzierung von Forschungs-, Ausbildungs-und Anwendungsprogrammen im Bereich der Geburtenkontrolle gezahlt. Uber den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen flossen 5 projektgebundene Mittel in Höhe von 50 Millionen, über die Internationale Föderation für Geplante Elternschaft (IPPF) 31 Millionen 54), über den Population Council 20 Millionen, über den Pfadfinder-Fonds 11 Millionen, über die amerikanische Föderation für Geplante Elternschaft 7, 5 Millionen und über den Welt-jugendverband (WAY) 1, 5 Millionen.
Im Haushaltsjahr 1971/72 erhielten 531 Studenten aus Entwicklungsländern AID-Stipendien für eine Ausbildung in Familienplanung. Projekte zur Fertilitätsforschung an amerikanischen Universitäten und nicht akademischen Institutionen wurden zwischen 1966 und 1972 von AID mit mehr als 49, 5 Millionen Dollar gefördert.
Die hohe Priorität der Förderung von „Bevölkerungsprogrammen", die sich in den genannten Zahlen ausdrückt, hat Pierre Prader-vand treffend als „population control explosion" gekennzeichnet Die Rückwirkungen dieser Entwicklung auf die Bevölkerungswissenschaft in den USA — zum Teil aber auch in der Dritten Welt, da viele Lehrund Forschungseinrichtungen in den Entwicklungsländern auf die finanzielle Hilfe des Population Council oder der Agency for International Development angewiesen sind — ist beträchtlich. Lehre und Forschung konzentrieren sich mehr und mehr auf Fragen der Fruchtbarkeitsforschung und der Geburtenkontrolle. In entsprechende Untersuchungen ist, wie am Beispiel der KAP-Surveys dargestellt wurde, nicht selten die äeburtenkontroll-Ideologie der Auftraggeber eingebaut. Teile des bevölkerungswissenschaftlichen Establishments in den USA sind so zu Instrumenten der von Großwirtschaft und Regierung betriebenen Politik der Bevölkerungskontrolle geworden, einer Politik, die sich vorwiegend auf die Propagierung und Anwendung von Geburtenkontroll-Technologie stützt, ohne die materiellen Bedingungen des in den betroffenen Bevölkerunen vorherrschenden Reproduktionsverhaltens zu reflektieren oder gar zu verändern. 3. Fragwürdigkeit des Begriffs „Überbevölkerung“
Die Verfechter der Bevölkerungskontrolle nehmen für sich humanitäre Motive in Anspruch. Sie übersehen jedoch — in manchen Fällen offenbar geflissentlich —, daß „Überbevölkerung“ nicht in erster Linie ein biologisches Phänomen ist, sondern das Resultat eines Geflechts politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Faktoren. Absolute Grenzen der Tragfähigkeit eines Territoriums sind bisher nur in primitiven Entwicklungsstadien, etwa in Jägerkulturen, sichtbar geworden, was dann in der Regel Wanderungsbewegungen ausgelöst hat. Infolge der zunehmenden Beherrschung der Natur durch den Menschen, ermöglicht durch die Einführung wissenschaftlicher und technologischer Innovationen in den Produktionsprozeß, sind diese Grenzen flexibel geworden. In armen und volkreichen Staaten mit einem geringen Entwicklungspotential, wie etwa Bangla Desch, scheinen diese Grenzen erreicht zu sein; in jedem Fall wären sie durch den massiven Einsatz internationaler Hilfe veränderbar. In den meisten Entwicklungsländern ist „Überbevölkerung" jedoch eindeutig ein sozioökonomisches Problem: Es ist das Problem der zunehmenden ökonomischen Disparität zwischen den reichen Oberschichten und der Mehrheit der Bevölkerung, die am Rande oder unterhalb des Existenzminimums lebt. Die sozio-ökonomische Entwicklung in Brasilien (bei schnell wachsendem Brutto-Sozialprodukt) und in Indien (bei langsam wachsendem Brutto-Sozialprodukt) verdeutlicht das Problem auf exemplarische Weise. In einer Untersuchung der Vereinten Nationen werden für die Region Lateinamerika krasse Ungleichheiten in der Einkommensverteilung nachgewiesen: Anfang der sechziger Jahre verfügten fünf Prozent der Bevölkerung über 33, 4 Prozent des gesamten Einkommens; das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen dieser Bevölkerungsschicht betrug umgerechnet 2 600 Dollar. Dagegen mußten sich am unteren Ende der Einkommensskala 20 Prozent der Bevölkerung mit 3, 1 Prozent des Einkommens begnügen; das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen dieser Bevölkerungsschichten lag bei umgerechnet 60 Dollar
Die Verschärfung der Disparitäten, die die zunehmende „Marginalisierung" (Samir Amin der ökonomischen Unterschichten nach sich zieht, wird im Inneren durch die bestehenden politischen Strukturen abgesichert. Das bedeutet, „daß der durch die sogenannte Bevölkerungsexplosion in den Entwicklungsländem scheinbar auf die vorhandenen Ressourcen und den existierenden Kapitalstock ausgeübte Druck tatsächlich auf den institutionellen Rahmen der Gesellschaft ausgeübt wird"
Der ungleichgewichtigen Entwicklung in den meisten Ländern der Dritten Welt entspricht, im Rahmen des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems, die Verschärfung des Gefälles zwischen „reichen" und „armen“ Staaten. So wurden im Zeitraum zwischen 1950 und 1965 von amerikanischen Konzernen Gewinne im Umfang von 11, 3 Milliarden Dollar aus Lateinamerika in die USA transferiert. Dem standen Direkt-Investitionen im Umfang von 3, 8 Milliarden gegenüber. Der Verlust der Staaten Lateinamerikas betrug in diesem Zeitraum also — ohne Berücksichtigung von Steuern und Abgaben — 7, 5 Milliarden Dollar
Es soll nicht bestritten werden, daß auf längere Sicht das Wachstum der Erdbevölkerung im jetzigen Tempo (durchschnittlich pro Jahr etwa ein Prozent in den Industriestaaten, 2, 5 Prozent in den Entwicklungsländern) auf globaler Ebene zu Versorgungsproblemen führen kann, die auch dann nicht lösbar sind, wenn eine größere Verteilungsgerechtigkeit in den Entwicklungsländern und im Weltwirtschaftssystem und eine maximale Entfaltung der Produktivkräfte realisiert werden. Angesichts der Langfristigkeit demographischer Prozesse („demographische Trägheit“) ist es daher ein Gebot der Vernunft, Strategien für die Stabilisierung der Erdbevölkerung zu entwickeln. Sie müssen von der Einsicht ausgehen, daß sich das Reproduktionsverhalten nicht durch Geburtenkontroll-Propaganda und die Verteilung noch so perfektionierter Verhütungsmittel verändern läßt, sondern nur indirekt, nämlich über die Veränderung seiner sozio-ökonomischen Determinanten. 3. Notwendige Voraussetzung für ein Sinken der Fruchtbarkeit: Sozialentwicklung Sicher können die bevölkerungshistorischen Erfahrungen der Industriestaaten nicht schematisch auf die demographische Situation der unterentwickelten Regionen angewandt werden. Dennoch lassen sich aus der Bevölkerungsgeschichte einige verallgemeinernde Hinweise aut die Determinanten des Sinkens der Fruchtbarkeit ableiten. Wesentliche Voraussetzung für die Änderung des Reproduktionsverhaltens war die Entwicklung der Wirtschaft, die, zusammen mit dem Kampf des Proletariats um bessere Lebensbedingungen, zu einer Hebung des Lebensstandards und größeren Sozialchancen auch der Massen führte. Während Kinder unter agrarischen und frühindustriellen Verhältnissen für die Familie als Arbeitskräfte und unter dem Gesichtspunkt der Alterssicherung ein Ertrags-faktor waren, wurden sie unter den neuen ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen in zunehmendem Maße als Aufwandsfaktor, der die Sozialchancen reduzierte, empfunden. Mit dem Entstehen wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen ging die Funktion der sozialen Sicherung allmählich von der Familie auf öffentliche Instititionen über. Zugleich hatte die Verbesserung der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Gesundheitsdiensten die Folge, daß die Sterblichkeit, insbesondere die Säuglings-und Kindersterblichkeit, sank und die allgemeine Lebenserwartung stieg. Mit diesen Entwicklungen entfiel die objektive Notwendigkeit, sank die Motivation zur Gründung großer Familien.
Der Ansatz zur Erklärung des Sinkens der Geburtenziffern in den jetzt entwickelten Ländern wird durch die demographische Entwicklung, die heute etwa in einigen Entwicklungsländern zu beobachten ist, bestätigt: Wo die Wirtschaft wächst und keine allzu ausgeprägten Unterschiede in der Einkommensverteilung bestehen, sinken die Geburtenraten. Wo die Wirtschaft wächst, das Wachstum aber nur einer dünnen Oberschicht zugute kommt, während die Massen der Bevölkerung weiterhin in Armut leben, sinken die Geburtenraten allenfalls in einem unbedeutenden Maße. (Wachstum von Bruttosozialprodukt und Pro-Kopf-Einkommen sind als Indizes für Sozialentwicklung unzureichend; die Einkommensverteilung ist eine aussagefähigere Meßziffer für den Stand der gesellschaftlichen Entwicklung.) William Rich, ein Mitarbeiter des Overseas Development Council in Washington, hat hierzu eindrucksvolle Zahlen zusammengetragen, die auszugsweise wiedergegeben werden sollen (vgl. Tabelle 2):
Die Zuverlässigkeit der von Rich mitgeteilten Zahlen konnte nicht überprüft werden. Es ist auch daran zu erinnern, daß aus der Verände-Tabelle rung der Geburtenrate nicht zwingend abgeleitet werden kann, daß sich das Fruchtbarkeitsverhalten verändert hat. Indessen wird für Taiwan und Korea bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen und einer relativ gleichmäßigen Verteilung des Einkommens ein so drastisches Sinken der Geburtenraten angegeben, daß die von Rich im Titel seines Buches formulierte These bestätigt scheint: Kleinere Familien durch sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt.
Die von Rich und auch vom Verfasser dieses Beitrages vertretene Auffassung, daß eine dynamische Wirtschaftsentwicklung, die allen Schichten der Gesellschaft zugute kommt, die notwendige Voraussetzung für eine Veränderung des Reproduktionsverhaltens in Ländern mit hoher Fruchtbarkeit sei, wird durch weitere Untersuchungen erhärtet. So hat Mahmood Mamdani in einer Feldstudie in einer ländlichen Region des Pandschab, wo eine Geburtenkontroll-Kampagne gescheitert war, die Produktions-und Lebensweise untersucht. Er kam zu dem Ergebnis, daß für die armen Bauern, die die Mehrheit der Bevölkerung in dieser Region bilden, der Wunsch, möglichst viele Kinder zu haben, durchaus rational ist: Wo eine primitive, arbeitsextensive Produktionsweise vorherrscht, wo es an Möglichkeiten der sozialen Vorsorge mangelt, haben Kinder einen hohen Wert als Arbeitskräfte 4. Funktion der Geburtenkontroll-Propaganda Tendenziell wird durch die Fixierung auf Familienplanungsprogramme als vorrangige Lösung des Problems der „Überbevölkerung" und der Armut in der Dritten Welt der Blick auf den ökonomisch-gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang verstellt, der in Wirklichkeit eine Lösung dieses Problems verhindert. Das technologische Defizit der armen Länder ist sicher ein Faktor, der Unterentwicklung mitbedingt. Auch zusätzliche Technologie-Kapazität könnte jedoch nur zum Zuge kommen, wenn es den unterentwickelten Ländern gelänge, ökonomische Selbstbestimmung zu gewinnen und die durch die außenwirtschaftliche Abhängigkeit bedingte Kapitalflucht zu stoppen, indem sie sich aus den Zwängen des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems, durch das die reichen Länder ständig reicher und die armen Länder ständig ärmer werden, befreien. Das heißt, die Entfaltung der Produktivkräfte in den armen Ländern und ihre Nutzbarmachung für die eigene Bevölkerung setzt die Loslösung aus der Abhän-gigkeit von den internationalen Monopolen voraus. Wenn Konzerne wie die Rockefeller Gruppe, die an der Ausplünderung der Dritten Welt maßgebend beteiligt ist, bedeutende Summen für die Finanzierung von Projekten der Fruchtbarkeitsforschung und Programmen der Familienplanung in der Dritten Welt aufwenden, so deutet das auf die Funktion der Geburtenkontroll-Ideologie hin: Indem sie suggeriert, daß Unterentwicklung primär ein Problem des Bevölkerungswachstums sei, verschleiert sie den ökonomischen und politischen Herrschaftszusammenhang, der Unterentwicklung bedingt und perpetuiert
Kein geringerer als Kingsley Davis, einer der angesehensten amerikanischen Bevölkerungswissenschaftler, hatte bereits 1954 in einem Vortrag in der Universität Chicago den politischen Charakter der Geburtenkontroll-Bewegung dargelegt: „Wenn wir davon ausgehen, daß die demographischen Probleme der unterentwickelten Länder, insbesondere in den Regionen nicht-westlicher Kultur, diese Völker für den Kommunismus anfälliger machen, so erhebt sich die Frage, welche Bevölkerungspolitik die Freie Welt verfolgen kann. Eine geeignete Politik wäre wohl die Kontrolle der Geburtenraten, dazu solche Aktivitäten wie die Verminderung der Sterberaten, die Bereitstellung technischer und wirtschaftlicher Hilfe und die Bildung militärischer Bündnisse. Eine solche Kombination von Strategien würde, wenn sie energisch in Angriff genommen wird, die Freie Welt in ihrem fortwährenden Kampf gegen Versuche, ihre Position zu beeinträchtigen, stärken." Hier wird in aller Deutlichkeit Geburtenkontrolle in der Dritten Welt als Teil-Strategie zur Erhaltung bestehender internationaler Herrschaftsstrukturen bestimmt. Wenn dennoch viele Entwicklungsländer im Westen konzipierte „Bevölkerungsprogramme" akzeptieren, so dürften hierfür unterschiedliche Motive maßgebend sein. Das Vertrauen in die Effizienz westlicher Sozial-und Geburtenkontroll-Technologie dürfte verbrei tet sein, daneben auch die Hoffnung, daß die Einrichtung von GeburtenkontrollDiensten (Kliniken, Beratungsstellen) ein schritt zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens sein könnte. Ohne Zweifel sind aber "Bevölkerungsprogramme" für die politischen und wirtschaftlichen Eliten in vielen Entwicklungs ländern ein propagandistisches Instrument, durch das eine Veränderung der Machtstrukturen zuungunsten dieser Eliten verhindert werden soll. In einer Studie der algerischen Regierung heißt es hierzu: „Geburtenkontrolle kann kein Ersatz für strukurelle Reformen sein: diese aber sind die bei weitem wichtigste Aufgabe. Heute sehen wir, wie Länder in vielen Teilen der Dritten Welt sich eifrig der Familienplanung zuwenden, ohne die grundlegenden Reformen eingeführt zu haben, ohne die sie auf Dauer unterentwickelt bleiben werden. Indien ist ein typischer Fall: Dieses Land, das unter Nahrungsmangel leidet, hat bisher nicht die Agrarreform zustande gebracht, die es ihm ermöglichen würde, an die Wurzel des Problems zu gehen — und zwar, weil das Parlament von Großgrundbesitzern beherrscht wird, die es offenbar vorziehen, Familienplanung zu propagieren."
Organisierte Familienplanung in Entwicklungsländern ist keineswegs grundsätzlich abzulehnen. Sie ist jedoch nur sinnvoll im Rahmen einer Entwicklungsstrategie, die auf die Hebung des Lebensniveaus auch der ärmeren Bevölkerungsschichten zielt. Taiwan und Korea — in beiden Ländern bestehen staatliche Familienplanungsprogramme — wurden bereits als Beispiele genannt. (Taiwan und Korea sind unter den im westlichen Einflußbereich liegenden Entwicklungsländern insofern Son-
derfälle, als sie massive amerikanische Wirtschaftshilfe erhalten und unter amerikanischem Druck — im Interesse der politischen Stabilität — wirksame Agrarreformen realisiert haben; nichtsdestoweniger verdeutlicht ihr Beispiel den Sachverhalt, auf den es hier ankommt, nämlich die enge Beziehung zwischen Sozialentwicklung und Fruchbarkeits-verhalten.)
Unter den sozialistischen Entwicklungsländern, die Familienplanung propagieren, verdient der volkreichste Staat der Erde, die Volksrepublik China, besondere Beachtung. Während China vor der Revolution als überbevölkert galt und periodisch von Hungersnöten heimgesucht wurde, sind heute, infolge der Veränderung der Produktionsverhältnisse, die Probleme Arbeitslosigkeit und Hunger gelöst. Jedem ist ein Minimum an Nahrung und Kleidung garantiert. Ein umfassendes Gesundheitssystem, dessen Dienste durch mobile Kliniken und die berühmten „Barfußärzte" auch die Bevölkerung entlegener ländlicher Regionen erreichen, wurde geschaffen. Die
Beteiligung der Frauen an der Produktion und in den politischen Organisationen ist hoch. Im Kontext dieser Entwicklung, die jedem die Erfüllung seiner materiellen Grundbedürfnisse garantiert (wenn auch, gemessen an den Verhältnissen in den Industriestaaten, auf einem bescheidenen Niveau), entfällt die Basis der Motivation zur Bildung von Großfamilien. Das Angebot von Mitteln und Diensten der Familienplanung in der VR China ist — im Gegensatz zu den herkömmlichen „Bevölkerungsprogrammen" — kein Isolat, sondern integraler Bestandteil einer gesellschaftlichen Entwicklung, die die Bedingungen des Reproduktionsverhaltens grundlegend verändert hat 5. Gesellschaftliche Verantwortung der Bevölkerungswissenschaftler Die ideologische Funktion des Neo-Malthusianismus ist es — ebenso wie es die ideologische Funktion des Malthusianismus im 19. Jahrhundert war—, durch die Propagierung einer biologistischen Betrachtungsweise die Analyse und Infragestellung der strukturellen Bedingungen sozio-ökonomischer Un-gleichgewichte abzuwehren und damit bestehende Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren. Angesichts der Belastung durch eine Tradition, in der malthusianische Strömungen eine gravierende Rolle gespielt haben, und des Eindringens neo-malthusianischer Ideologie in die neuere Forschung werden die Bevölkerungswissenschaftler sich nicht auf eine Position der Wertneütralität zurückziehen können. Sie werden sich über ihre Rolle in der gegebenen historischen Situation klarzuwerden haben. Verstehen sie ihre Wissenschaft als Instrument der Absicherung privilegierter Interessen oder machen sie die Befreiung aller Glieder der Erdbevölkerung aus Armut, Unterentwicklung und Abhängigkeit zu ihrer Sache?
Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Unterentwicklung ist organisierte Familienplanung zum Scheitern verurteilt. Weshalb wird dennoch von einigen westlichen Staaten mit großem finanziellem und politischem Aufwand der Export von Geburtenkontroll-Technologie in die Dritte Welt betrieben? Der Verdacht liegt nahe, daß Familienplanung als ideologisches Instrument benutzt wird.
Heinz W e w e r , M. A., geb. 1935, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Amherst, Princeton und an der Freien Universität Berlin. Tätigkeit in der Erwachsenenbildung; 1970 bis 1972 Wissenschaftlicher Sekretär der Studiengruppe „Interdisziplinäre Bevölkerungswissenschaft" der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler; derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Hoch-schul-Informations-System GmbH, Regionalbüro Berlin. Veröffentlichungen u, a.: Forschungsdokumentation zur regionalen Mobilität, Berlin 1972; Dynamik der Bevölkerungsentwicklung (Mitherausgeber und Mitautor), München 1974 2. In Vorbereitung: Geburtenkontrolle in der Dritten Welt — Zur Kritik neo-Malthusianischer Ideologie und Strategie (Herausgeber und Mitautor).
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