Plurale und identitäre Demokratie
Der Begriff „Demokratisierung" muß zur Leer-formel erstarren und die Diskussion darüber muß zur babylonischen Sprachverwirrung gerinnen, wenn die Rivalität von zwei unterschiedlichen Demokratiemodellen übersehen wird: Einmal gibt es das Modell der konstitu-
tionell-pluralen Demokratie, die von natur-
rechtlich vorgegebenen (und damit auch der Disposition durch den Demos entzogenen) Menschenrechten ausgeht, in der Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz einander ergänzen und in der die Volkssouveränität in die Kanäle einer gewaltenteilenden und repräsentativen Verfassung geleitet wird Hier werden Gegensätze und Konkurrenz zwischen gesellschaftlichen Gruppen bejaht und Interessengegensätze nicht etwa zugunsten einer Gruppe eliminiert, sondern allein durch den gesellschaftlich notwendigen Kompromiß begrenzt. Die plurale Demokratie lebt vom Gleichgewicht zwischen dem weitgehenden Konsens in möglichst allen fundamentalen und dem Konflikt in möglichst vielen aktuellen Fragen der Verwirklichung des nicht apriorischen, aber stets als Postulat der praktischen Vernunft aufgegebenen Gemeinwohls. Zum anderen gibt es das Modell der identitären Demokratie. Diese geht aus von dem Gedanken der Identität von Regierenden und Regierten, erstrebt die Aufhebung des zeitweise antagonistisch verschärften Interessenkonfliktes zugunsten der stärksten gesellschaftlichen Klasse und negiert oder minimalisiert zumindest individuellen Grundrechtsschutz, Gewaltenteilung und Repräsentation zugunsten einer als total verstandenen Volks-souveränität (wobei die Artikulation und Verwirklichung der Bedürfnisse des Volkes durch eine gesellschaftliche Avantgarde nicht immer ausgeschlossen wird)
Der liberale Sozialdemokrat und „Revisionist" Eduard Bernstein wies bereits 1899 in seiner Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" auf den elementaren Gegensatz zwischen dem konstitutionell-pluralen Demokratieverständnis — wie er es in Großbritannien kennengelernt hatte — und dem ursprünglichen Verständnis von Volksherrschaft hin: „Wir finden heute die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit . undemokratisch', obgleich sie ursprünglich mit der Volksherrschaft durchaus vereinbar gehalten wurde.“ Als Anhänger dieses ursprünglichen Demokratieverständnisses nannte er die Jünger des französischen Frühkommunisten Louis-Auguste Blanqui, die die Demokratie als „unterdrückende Macht" ansahen und die die vollkommene Gesellschaft als eine Tyrannei der Gesamtheit, in der es keine Freiheit im individuellen Sinne gäbe, anstrebten
Mehr als ein halbes Jahrhundert später hat der Politikwissenschaftler J. L. Talmon in seinem viel zu wenig beachteten Standardwerk „Die Ursprünge der totalitären Demokratie" die beiden unterschiedlichen Modelle „liberale und totalitäre Demokratie“ dargestellt: „Die liberale Auffassung geht von dem Standpunkt aus, daß Politik eine Sache des Experimentierens ist, immer aufs neue , trial and error'; sie betrachtet politische Systeme als pragmatische Einrichtungen menschlicher Schöpfungskraft und Freiwilligkeit, und gleichzeitig werden für persönliche und kollektive Bestrebungen vielerlei Ebenen anerkannt, die gänzlich außerhalb der politischen Sphäre liegen. Die Lehre der totalitären Demokratie hingegen basiert auf der Annahme einer alleinigen und ausschließlichen Wahr-heit in der Politik. Man kann sie politischen Messianismus nennen in dem Sinne, daß sie eine vorausbestimmte harmonische und vollkommene Ordnung der Dinge postuliert, zu der die Menschen unwiderstehlich getrieben und zwangsläufig gelangen werden. Sie erkennt im Grunde als einzige Daseinsebene die politische an und sie erweitert den Umfang des Politischen derart, daß damit das ganze menschliche Dasein erfaßt wird." Der Talmonschen Unterscheidung zwischen liberaler und totalitärer Demokratie entspricht Ernst Fraenkels Begriffs-Dichotomie „autonom und heteronom legitimierte Demokratie"
Da jede Diskussion um die Demokratisierung sich Klarheit über die beiden entgegengesetzten Demokratie-Modelle verschaffen muß, sollen die unterschiedlichen Positionen herausgearbeitet werden.
Die plurale Demokratie geht von einem dualistischen Menschenbild aus, welches einen „radikalen anthropologischen Pessimismus, nach dem der Mensch prinzipiell böse (homo homini lupus), zur Ordnung nur gezwungen und nur gewaltsam diszipliniert werden könne", ebenso ablehnt wie einen „unkritischen anthropologischen Optimismus" Diesem Menschenbild liegt einmal „die auf der jüdisch-christlichen Tradition beruhende Anthropologie zugrunde" 8a) wie auch die Philosophie eines Immanuel Kant, wonach jeder Mensch die Menschenwürde besitzt, wonach aber auch jeder Mensch der Kontrolle bedarf, weil im politischen Handeln immer wieder mit der Verführbarkeit aller Menschen zu rechnen ist
In gleichem Sinne betonen etwa die „Föderalist Papers", jene von Alexander Hamilton, John Jay und James Madison von Oktober 1787 bis August 1788 verfaßten Essays über den Verfassungsentwurf des Konvents von Philadelphia, daß die menschliche Natur Qualitäten aufweise, die Achtung und Vertrauen rechtfertigten, daß aber andererseits Mißtrau-en und Vorsicht gegen menschliche Fehler und Schwächen erforderlich seien Aus diesem dualistischen Menschenbild resultiert die Forderung nach einer Teilung der Gewalten wie nach einer repräsentativen Verfassung-in Kants Schriften „Zum ewigen Frieden" und „Metaphysik der Sitten" und in den „Federnlist Papers".
Die plurale Demokratie verwirft aufgrund ihrer politischen Anthropologie die Vorstellung, „durch Umstrukturierung der Gesellschaft einen neuen, durch und durch guten Menschen zu schaffen und einen sittlich vollkommenen Zustand der Gesellschaft zu erreichen" Die menschliche Gesellschaft wird vielmehr — nach der Überzeugung konstitutionell-pluraler Demokraten — immer reform-bedürftig sein und niemals zur Ruhe kommen. Wenn sich auch die plurale Demokratie zu Werten, wie etwa der Menschenwürde, bekennt, so lehnt sie es doch ab, letzte und absolute Wahrheiten im Bereich des Sozio-Politischen zu verwirklichen. Keine Klasse, keine Gruppe und keine Partei darf demnach Recht und Wahrheit allein für sich beanspruchen und die Forderung durchsetzen, einzig und allein die wahren Bedürfnisse des Volkes zu artikulieren. Alle Verbände und Parteien vertreten nur Teilwahrheiten über das gemeine Wohl des Volkes. Deswegen kann — bei allen notwendigen Konflikten — die plurale Demokratie mit Eduard Bernstein als die „Hochschule des Kompromisses“ bezeichnet werden.
In der pluralen Demokratie gilt auch nicht nur ein Prinzip, sondern es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen mehreren Prinzipien, etwa zwischen Volkssouveränität einerseits, vorstaatlichen Menschenrechten und Gewaltenteilung andererseits, zwischen Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz. Es darf nicht übersehen werden, daß zu den geistigen Protagonisten der pluralen Demokratie Konservative wie Alexis de Tocqueville, Liberale wie John Stuart Mill und Max Weber und Sozialdemokraten wie Eduard Bernstein zählten. Bernsteins Darlegungen wenden sich gegen eine Verabsolutierung des Majoritätsprinzips und verdeutlichen das Spannungsverhältnis zwischen diesem und den Rechten des einzel-nen: . In dem Begriff Demokratie liegt eben für die heutige Auffassung eine Rechtsvorstellung eingeschlossen: die Gleichbehandlung aller Angehörigen des Gemeinwesens, und an ihr findet die Herrschaft der Mehrheit, worauf in jedem konkreten Fall die Volksherrschaft hinausläuft, ihre Grenze. Je mehr sie eingebürgert ist und das allgemeine Bewußtsein beherrscht, um so mehr wird Demokratie gleichbedeutend mit dem höchstmöglichen Grad von Freiheit für alle."
Hatte der Cheftheoretiker der Wilhelminischen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, in der 1899 veröffentlichen Antikritik „Bernstein und das sozialdemokratische Programm“ noch die Bernsteinschen Thesen verurteilt, eine milde Form identitärer Demokratie vertreten und Klassenherrschaft des Proletariats wie proletarische Demokratie gefordert, so wurde Kautsky neunzehn Jahre später in der Disputation mit Lenin zu einem überzeugenden Verfechter der pluralen Demokratie: „Sie (die Demokratie) bedeutet Herrschaft der Mehrheit, aber auch Schutz der Minderheit, denn sie bedeutet Gleichberechtigung, gleiche Teilnahme an allen politischen Rechten für jedermann, welcher Klasse und Partei er immer angehören mag."
Es waren auch die Grundsätze der pluralen Demokratie, die 1918/19 von den sozialdemokratischen Praktikern Ebert, Scheidemann und Noske gegen den Spartakusbund um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht erstritten und die von Otto Wels und anderen Sozialdemokraten erfolglos, aber mutig gegen den Ansturm des Nationalsozialismus verteidigt wurden. Nach 1945 kämpften Politiker wie Kurt Schumacher, Ernst Reuter, Carlo Schmid, Erich Ollenhauer und Fritz Erler ebenfalls für die plurale Demokratie, welche in dem von Sozialdemokraten maßgeblich mitgestalteten Bonner Grundgesetz einen gültigen Ausdruck gefunden hat. — Hingegen unterstreicht die sozialistische Historikerin und Politologin Helga Grebing, anknüpfend an Wolfgang Abendroth aber auch an Carl Schmitt „die Orientierung in den
Zielvorstellungen an der klassischen Definition der Demokratie, die auf dem Prinzip der Identität von Regierenden und Regierten beruht"
Dieses Demokratie-Modell geht auf Jean Jacques Rousseau zurück, der im Parlamentarismus eine unzulässige Entfremdung des Volkswillens sah. Er schrieb darüber in seinem Hauptwerk »Contrat social«: „Die Souveränität kann nicht stellvertretend ausgeübt werden, und zwar aus demselben Grund, aus dem sie nicht übereignet werden kann. Sie besteht wesensmäßig in dem Gemeinwillen, und der Wille ist unvertretbar: er ist er selbst oder er ist ein anderer. Ein Mittleres gibt es nicht. Die Abgeordneten des Volkes sind also weder seine Stellvertreter, noch können sie es sein. Sie sind nur seine Beauftragten; sie können nichts endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht in Person ratifiziert hat, ist nichtig; es ist kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein; es täuscht sich gar sehr. Es ist nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder frei; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts." Diese Parlamentarismuskritik wird später von marxistischen Denkern wieder aufgegriffen. Man findet sie in Marx'Ausführungen über die Pariser Kommune, in Lenins „Staat und Revolution", bei Rosa Luxemburg und bei Führern der Neuen Linken wie bei Johannes Agnoli und Rudi Dutschke. Die Rousseausche Philosophie bildet auch die Grundlage für all jene, die eine sozialistische Transformation des Parlamentarismus in Richtung Rätesystem anstreben. Nach Rousseau ist der Gemeinwille unveräußerlich, unübertragbar und unteilbar. Rousseaus Staats-und Gesellschaftskonzeption richtet sich gegen parlamentarische Repräsentation wie gegen Gewaltenteilung und gegen die pluralen „Sondergesellschaften". Da die zentrale Klausel des Gesellschaftsvertrages „die totale Übereignung jedes Teilhabers mit all seinen Rechten an die gesamte Gemeinschaft" fordert, negiert Rousseau auch personale Grundrechte als Freiheitsrerhte gegen den Staat. Rousseaus Menschenbild ist völlig optimistisch: Der Mensch ist von Natur gut, aber durch Kultur verdorben. Rousseau glaubte nicht nur an die natürliche Güte, sondern auch an die unbegrenzte Veränderungsmöglichkeit des Menschen. Es besteht nach ihm folgendes Dilemma: Das Volk will zwar das Gute, aber es erkennt das Gute nicht, es möchte zwar den rechten Weg einschlagen, sieht ihn jedoch nicht. Dieses Dilemma soll durch den Gesetzgeber (»legislateur«) gelöst werden. Seine Aufgabe besteht nicht nur darin, Gesetze auszuarbeiten und dem Volke vorzulegen. Nein, seine primäre Rolle ist die eines Schöpfers neuer Menschen: „Wer es zu unternehmen wagt, ein Volk zu bilden, muß sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu verwandeln." Rousseau liefert somit die Rechtfertigung für eine moderne Erziehungsdiktatur.
Der Jakobinerführer Maximilien de Robespierre, „die blutige Hand" von Jean Jacques Rousseau (Heinrich Heine), wollte während seiner Schreckensherrschaft in den Jahren 1793/94 das von seinem Lehrer für kleinere Gemeinschaften, wie etwa die Insel Korsika, konzipierte und später als kaum realisierbare Utopie angesehene Staatsmodell in einem Großflächenstaat verwirklichen. Von Rousseau übernahm Robespierre die Gleichsetzung von Tugend und Freiheit, den Gedanken des unteilbaren Volkswillens und die Ablehnung des repräsentativen Systems. Auf Rousseaus Lehre vom Gesetzgeber konnte sich Robespierre berufen, als er die Jakobiner als jene Avantgarde, die das gemeine Wohl des Volkes kennt, vorstellte. Schließlich rechtfertigte Rousseaus These vom notwendigen Zwang, dem Gemeinwillen zu gehorchen, die Unterdrückung der unterliegenden Klasse.
Die Vorstellung eines von Natur guten Menschen und der Glaube, man könne durch gesellschaftliche Bedingungen einen „neuen Menschen" mit neuen Eigenschaften, einen allseitig entwickelten und sich jederzeit sozial und kommunikativ verhaltenden Menschen schaffen, liegt der Philosophie sowohl von Rousseau als auch von Karl Marx zugrunde. Marx betont im „Kapital“ ausdrücklich, daß die ursprüngliche Akkumulation", die Scheidung des Produzenten von den Produktionsmitteln und die damit verbundene Entfremdung in seiner politischen Ökonomie, die Rolle der Erbsünde in der christlichen Theologie übernommen hat Mit der ur-sprünglichen Akkumulation und der Arbeitsteilung wurde die Klassengesellschaft, die ihre höchste Ausprägung im Kapitalismus findet, eingeleitet. In der kommunistischen Gesellschaft wird mit dem Fortfall der Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln und mit dem Fortfall der Arbeitsteilung auch die Entfremdung aufgehoben. Da es dort keine Klasse mehr zu unterdrücken gibt, tritt an die Stelle der Herrschaft von Menschen über Menschen die Verwaltung von Sachen, und der Staat stirbt ab. Wie Rosseau, so fordert Marx bereits in den Aufsätzen „Zur Judenfrage" von 1843 die totale Vergesellschaftung des Menschen, das völlige Aufgehen des individuellen Menschen im „Gattungswesen“ Folgerichtig wendet er sich gegen vorstaatliche Menschenrechte, wie sie etwa in den verschiedenen Verfassungen nordamerikanischer Einzelstaaten und nach der Französischen Revolution verkündet wurden. Nach Marx sind „die sogenannten Menschenrechte ... nichts anderes als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d. h.des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen“ Der Ablehnung vorstaatlicher Menschenrechte entspricht es, daß Marx 28 Jahre späterbei seiner idealisierenden Darstellung der Pariser Kommune in „Der Bürgerkrieg in Frankreich'die Aufhebung von Gewaltenteilung und parlamentarischer Repräsentation rechtfertigt:
..... Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit... Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein ..."
Dieses von Marx dargestellte Kommunemodell bildet das Paradigma für alle Rätekonzeptionen. Es wurde auch von Lenin in „Staat und Revolution" von 1917 als Alternative zum „korrupten und verfaulten Parlamentarismus der bürgerlichen Gesellschaft“ übernommen. In dieser Schrift artikulierte Lenin ebenfalls das Verständnis der meisten — auch nichtleninistischen — Marxisten von Demokratie: „Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d. h. ihr Ausschluß von der Demokratie — diese Modifizierung erfährt die Demokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus." Hiermit stimmte auch die partielle Lenin-Kritikerin Rosa Luxemburg überein, die in ihrer Schrift über die russische Revolution an Stelle der bürgerlichen Demokratie „sozialistische Demokratie" befürwortete, das heißt „Diktatur ... in der Art der Verwendung der Demokratie“ gleichbedeutend mit „Diktatur der “ Die Klasse Überzeugung, daß Demokratie identisch sei mit der Diktatur der unteren Klasse: dies ist weitgehend Gemeingut aller Anhänger der identitären Demokratie — seien sie nun jakobinischer, blanquistischer oder marxistischer Provenienz.
Umstritten ist die Bedeutung der revolutionären Avantgarde. Hatte sich Marx ausdrücklich auf jene Stelle im »Contrat social« berufen, wo die Aufgaben des »legislateur« beschrieben werden so blieb es Lenin Vorbehalten, in seinen Schriften „Was tun?" von 1902 und „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ von 1904 diese Rousseausche Lehre zu der Doktrin von der Partei als der Avantgarde des Proletariats umzugestalten. Dies löste die Kritik von Rosa Luxemburg aus, die bereits 1904 das Leninsche Organisationsprinzip mit seinem „rücksichtslosen Zentralismus“ beanstandete und die 1918 Lenin ihre Forderung nach „Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder Clique" entgegen-hielt. Die Bedeutung der revolutionären Avantgarde blieb unter Anhängern der identitären Demokratie kontrovers.
Lange Zeit bestand in der Bundesrepublik ein umfassender Grundkonsensus der konstitutio-nell-pluralen Demokratie. Dieser wird heute selbst von manchen Repräsentanten des viel-zitierten „Establishments" infrage gestellt. So erklärte etwa Walter Giere, Referent der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, in einem Schreiben an die Wochenzeitung „Das Parlament", „daß die Bekämpfung des Parlamentarismus sehr wohl aus legitimen radikal-demokratischen ... Bestrebungen erfolgen kann" In dem Versuch einer Widerlegung des Fraenkelschen Pluralismus-Begriffes berief sich Giere ausgerechnet auf die „Kritik der reinen Toleranz", worin sich Herbert Marcuse u. a. für „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts" und für Zensur und Vorzensur ausspricht
Den Geist der identitären Demokratie atmen auch die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre, in denen die liberalen Elemente der Verfassung abgewertet und als „formaldemokratisch" diskreditiert werden Diese Erscheinungen sind bedingt durch das wachsende Vordringen von Anhängern der identitären Demokratie innerhalb der an Mitgliederzahl und politischem Gewicht stärksten Partei in der Bundesrepublik. Dies wird von manchen, die sich auf die plural-demokratische Tradition ihrer Partei besinnen, mit Sorge gesehen. So konstatiert etwa Gesine Schwan im „Sozialdemokratischen Forum" der „Berliner Stimme" die Neigung von einigen Sozialisten innerhalb der SPD, nicht nur das Schema des Klassenantagonismus'neuzubeleben, sondern darüber hinaus die parlamentarisch-rechtsstaatliche Demokratie als einen Ausdruck bürgerlicher Klassenherrschaft anzusehen Bereits im Januar 1970 hatte der ehemalige Bundessekretär der Jungsozialisten, Ernst Eichengrün, warnend darauf hingewiesen, daß viele Jusos gesellschaftspolitisch nur „Schönheitsoperationen am Leninismus" anstreben.
Dieser Strömung der identitären Demokratie kam die Parteiführung mit der Neubelebung des in den sechziger Jahren — nach dem Schis-ma von Sozialdemokraten und Sozialisten — kaum noch verwendeten Wortes vom „demokratischen Sozialismus" entgegen, welches mittlerweile einen starken Sinnwandel erfahren hat: Denn nicht mehr für alle Teile der Partei ist das Verdikt Schumachers gültig, die ökonomischen Strukturen im Osten seien genausowenig sozialistisch wie „die Verhältnisse im Westen einfach kapitalistisch sind“ Vielmehr signalisieren manche demokratische Sozialisten der siebziger Jahre mit der unkritisch übernommenen Formel „hier kapitalistische — dort sozialistische Staaten" ihren Fundamentalwiderspruch zu den vermeintlich einer Basisrevolution bedürftigen westlichen Demokratien und ihren Partialwiderspruch zu den nur einer Überbaurevolution bedürftigen Ostblockstaaten. Hatte bei den pluralen Demokraten Schumacher und Ollenhauer die Über-führung der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum die Substanz ihrer Sozialismuskonzeption ausgemacht, so bildet heute bei vielen Sozialisten innerhalb und außerhalb der SPD die Forderung nach Demokratisierung aller Lebensbereiche den Hauptinhalt ihrer sozialistischen Strategie. Nicht nur in der Sozialdemokratie, sondern in der gesamten Bundesrepublik kann man einen kalten Grabenkrieg zwischen pluraler und identitärer Demokratie beobachten — einen Grabenkrieg mit ungewissem Ausgang. Die Anhänger der identitären Demokratie erzielen ständig Geländegewinne, denn sie verfügen über grundsatzfeste Kader. Die andere Seite zeigt hingegen Symptome der Zermürbung und Aufweichung — häufig aus Nervenschwäche, Ignoranz, Indifferentismus oder dem Wunsch nach Anpassung. Insbesondere durchschaut sie nicht die konstitutionelle Mimikry der identitären Demokraten, findet sie nicht den Schlüssel, um ihre Geheimsprache zu dechiffrieren.
Fritz Vilmars Bekenntnis zur identitären Demokratie
Fritz Vilmars Aufsatz „Systemveränderung auf dem Boden des Grundgesetzes“ erscheint als eine zeitgemäße — und vom orthodoxen Kommunismus unabhängige — Magna Charta der identitären Demokratie. Er wendet sich entschieden gegen die These des Politikwissenschaftlers Wilhelm Hennis, daß „die Trennung (und Entfremdung) zwischen Regierung und regiertem Volk unaufhebbar" sei Hennis wird zu den Sozialwissenschaftlern gerechnet, die „mit Scheinargumenten zahllose gutgläubige Mitbürger und unsichere politische Funktionsträger abschrecken" Vilmar gibt also implizit zu verstehen, daß er die Identität von Regierenden und Regierten anstrebt. Dies wird auch daraus ersichtlich, daß er als das gleiche Ziel von „realer Demokratie" und „Sozialismus“ die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft und die „Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen" postuliert
Vilmar wünscht also die Trennung zwischen Regierung und regiertem Volk zugunsten einer Identität aufzuheben. Die Überzeugung verdient sicherlich Respekt. Nur muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Die Trennung von Regierenden und Regierten ist eine wesentliche und unabdingbare Grundlage jeder konstitutionell-pluralen Demokratie. Ohne diese Prämisse kann die Anerkennung und der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten nicht gedacht werden. Diese Grundrechte — denen bezeichnenderweise der erste Abschnitt des Grundgesetzes gewidmet ist — bilden „Abwehrrechte" gegen den Staat, für die nach dem Willen des Grundgesetzes sogar eine Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4) besteht
Abwehrrechte und Rechtsweggarantie kann es aber nur geben, wenn man an der Tren-nung festhält. Bei Überwindung der Trennung und dem Zustand der Identität von Regierenden und Regierten wird niemand mehr gegen sich selbst Rechte wahrnehmen, geschweige denn gegen sich klagen können — ebenso wie etwa die Arbeiter in „sozialistischen" Staaten nicht gegen sich selbst streiken dürfen. Die Prämisse einer Trennung von Regierenden und Regierten ist also unerläßlich für den Schutz von Grundrechten und für die Existenz des Verfassungs-und Rechtsstaates. Ebenso sind horizontale und vertikale Gewaltenteilung (zur letzteren gehören Föderalismus und Pluralismus) nur in einem Gemeinwesen möglich, welches auf der Annahme dieser Trennung basiert. Insbesondere kann das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation nicht ohne diese Prämisse gedacht werden.
Vilmars Strategie zur Überwindung des Parlamentarismus
Vilmar distanziert sich von einem militanten Antiparlamentarismus, wie ihn etwa Johannes Agnoli propagiert hat Er fordert hingegen „sozialistische Transformation“ zu einem „realen System der Volksvertretung" Wie sehen nun seine Vorschläge aus? Eine scheinbar harmlose und plausible Forderung lautet: „Permanente und optimale Eingriffsmöglichkeiten der Betroffenen in Entscheidungsprozesse ihrer Funktionsträger; plebiszitäre Entscheidungsbildung Nun hat das Grundgesetz — ausgehend von der Tatsache, daß in der Weimarer Republik sich vorwiegend antidemokratische Rechtsparteien des Mittels von Volksbegehren und Volksentscheid zur Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie bedienten — das plebiszitäre Element auf die Neugliederung des Bundesgebietes nach Artikel 29 beschränkt. (Verschiedene Länderverfassungen sehen für ihre Angelegenheiten einen weiteren plebiszitären Spielraum vor.)
Aber es kann keinem Zweifel unterliegen, daß durch Zweidrittelmehrheit die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid auch für andere Bereiche geschaffen werden kann, sofern dadurch nicht die in Artikel 20 Abs. 2 geforderten (und nach Artikel 79 Abs. 3 durch die Wesensbestandsgarantie geschützten) „Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" absolet werden. Schließlich ist das plebiszitäre Element in zahlreichen westlichen Demokratien stärker als in der Bundesrepublik.
Doch Vilmar liefert Beweise für die Argumentation, daß der Parlamentarismus durch viele Plebiszite ausgehöhlt werden kann und daß rechts und linksradikale Gruppen das Plebiszit als ein Mittel zur Zerschlagung des parlamentarischen Regierungssystems gebrauchen wollen, gratis ins Haus. Er fordert ja nicht nur „permanente und optimale Eingriffsmöglichkeiten der Betroffenen", sondern auch in Verbindung damit: „'Verstärkte Kontrollierung und Rechenschaftspflicht der demokratischen Funktionsträger — bedingt imperatives Mandat — evtl. Abwahl" Eine Realisierung dieser Forderungen würde in der Tat die Degradierung jeder parlamentarischen Arbeit zur Farce, des Parlamentes zu einem Puppen-theater und der Abgeordneten zu Marionetten linksradikaler Befehlshaber bedeuten. Wesentliche Funktionen des Parlamentes würden wohl der von Vilmar vorgeschlagenen „Kampagne für demokratische Reformpolitik" zufallen, die als Sammelbecken diverser linker Organisationen eine neue Elite bilden und eine Art Erziehungsdiktatur ausüben könnte. Diese „Kampagne“ hat die Aufgabe, „erstens die Reformschritte der nächsten acht bis zwölf Jahre zu formulieren und ins öffentliche Bewußtsein zu bringen, und zweitens, jede Art direkter gewaltfreier Aktion (Demonstrationen, Bürgerinitiativen, Streiks, Rote-Punkt-Aktionen etc.) für Reformen an Ort und Stelle organisieren zu helfen.“ Das bedeutet im Klartext: Durch Demonstrationen und Streiks soll das Parlament (zusätzlich zu der von Vilmar geforderten direkt-demokratischen „Rückbindung" permanent unter Druck gesetzt werden, um das von der „Kampagne" formulierte Reformprogramm zu verabschieden. Diese „Kampagne" hat Ähnlichkeiten mit dem 1793 in Paris gebildeten Wohlfahrts-Ausschuß, von dem der sozialdemokratische Theoretiker und Historiker Karl Kautsky schrieb, daß er „mehr und mehr die Rechte eines absoluten Herrschers erhielt"
und daß die Nationalversammlung vor ihm zitterte Aus diesem Ausschuß trat schließlich der Diktator Robespierre hervor
Die von Vilmar skizzierte Strategie zur Einschüchterung des Parlamentes durch Demonstrationen und Streiks hat ebenfalls eine Parallele in der Methode, wie die Jakobiner die Nationalversammlung durch direkte Aktionen, ein permanentes Referendum und durch häufig bewaffnete Eingriffe einschüchterten.
Weiterhin propagiert Vilmar den Rätegedanken: „Gerade in den vielen überschaubaren Subsystemen (Schulen, Redaktionen, Kinder-läden, Betrieben, Hochschul-Fachbereichen, Theatern . ..) können rätedemokratische Formen unmittelbarer Selbstorganisation oder Herrschaftskontrolle der Betroffenen im politischen Alltag erprobt werden, von da aus aber zunehmend auch in den Großorganisationen (Parteien, Gewerkschaften, Parlament) durchgesetzt werden." Nun, dies bedeutet nicht etwa Reform, sondern schleichende Deformation des parlamentarischen Regierungssystems, graduelle Aushöhlung des Parlamentarismus und seine langsame Umfunktonierung zugunsten einer Räteherrschaft. Vilmar möchte hier die grundsätzliche Unvereinbarkeit von parlamentarisch-konstitutioneller Demokratie und Rätesystem, die von aufrichtigen und realistischen Anhängern sowohl der einen als auch der anderen politischen Ordnung stets betont wurde, hinwegzaubern. Jede Rätekonzeption geht von dem Kommunemodell aus, welches Karl Marx idealisierend in seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ dargestellt hat. Das wesentliche Strukturprinzip dieser Kommune war die Aufhebung der Gewaltenteilung. Deshalb gilt auch die Feststellung von Eric Ertl, einem Anhänger des Rätegedankens: „Die Rätetheoretiker lehnen das Gewaltenteilungsprinzip grundsätzlich, nicht wegen seiner aktuellen Unwirksamkeit ab." Die Gewaltenteilung wird aber durch Artikel 20 des Grundgesetzes bestimmt. Dessen Grundsätze gehören nach Artikel 79 Abs. 3 zum Wesensbestand des Grundgesetzes, welcher auch nicht durch eine qualifizierte Mehrheit angetastet werden darf. Folglich dürfte nach dem Willen des Grundgesetzes das Rätesystem selbst nicht durch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat eingeführt werden.
Abgesehen von dieser formalrechtlichen Seite muß die Tatsache berücksichtigt werden, daß für jede konstitutionell-plurale Demokratie der Artikel 16 aus der Erklärung der Men schenrechte vom August 1789 gilt: »Toute socit dans laquelle la garantie des droits n'est pas assuree et la Separation des pouvoirs determinee, n'a point de Constitution. « (Zu deutsch etwa: „Jede Gesellschaft, in der der Schutz der Rechte nicht gesichert und die Teilung der Gewalten nicht bestimmt ist, hat keine Verfassung" Die Dichotomie . geteilte und konzentrierte Machtausübung-wird von dem Politologen Karl Löwenstein zu Recht als die „Klassifizierungsgrundlage" für den politischen Konstitutionalismus einerseits und die Autokratie andererseits angesehen
Wie die Zerstörung der Gewaltenteilung, so widerspricht auch die von Marx und Fritz Vilmar geforderte strikte Weisungsgebundenheit und Rückrufbarkeit von demokratischen Funktionsträgern der Essenz einer jeden konstitutionell-parlamentarischen Demokratie. Vilmar beruft sich auch ausdrücklich auf Rosa Luxemburg die das Marxsche Kommunemodell als Rätemodell für einen Großflächenstaat, in diesem Fall das Deutsche Reich, weiterentwickelte. In ihrer Flugschrift . Was will der Spartakusbund?“ von Ende 1918 forderte Rosa Luxemburg u. a.: „Abschaffung aller Einzelstaaten; einheitliche deutsche sozialistische Republik.
2. Beseitigung aller Parlamente und Gemeinderäte und Übernahme ihrer Funktionen durch Arbeiter-und Soldatenräte sowie deren Ausschüsse und Organe.
3. Wahl von Arbeiterräten über ganz Deutschland durch die gesamte erwachsene Arbeiterschaft beider Geschlechter in Stadt und Land nach Betrieben, sowie von Soldatenräten durch die Mannschaften, unter Ausschluß der Offiziere und Kapitulanten, Recht der Arbeiter und Soldaten zur jederzeitigen Rückberufung ihrer Vertreter.
4. Wahl von Delegierten der Arbeiter-und Soldatenräte im ganzen Reiche für den Zentralrat der Arbeiter-und Soldatenräte, der den Vollzugsrat als das oberste Organ der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt zu wählen hat.
5. Zusammentritt des Zentralrats vorläufig mindestens alle drei Monate — unter jedesmaliger Neuwahl der Delegierten — zur ständigen Kontrolle über die Tätigkeit des Vollzugsrates und zur Herstellung einer lebendigen Fühlung zwischen der Masse der Arbel ter-und Soldatenräte im Reiche und ihrem obersten Regierungsorgan. Recht der lokalen Arbeiter-und Soldatenräte zur jederzeitigen Rückberufung und Ersetzung ihrer Vertreter im Zentralrat, falls diese nicht im Sinne ihrer Auftraggeber handeln. Recht des Vollzugsrates, die Volksbeauftragen sowie die zentralen Reichsbehörden — und Beamten zu ernennen und abzusetzen..."
Dieses Rätemodell unterscheidet sich über die Negation der Gewaltenteilung und die strikte Weisungsgebundenheit der demokratischen Funktionsträger hinaus durch folgende Gedanken fundamental von der konstitutionell-parlamentarischen Demokratie: Es gilt nicht mehr das allgemeine und gleiche Wahlrecht, sondern in der proletarischen Demokratie werden nichtproletarische Schichten (und Klassenverräter) weitgehend vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Rosa Luxemburg nennt ausdrücklich „Offiziere und Kapitulanten", die kein Wahlrecht haben dürfen. Aber es ergibt sich aus der zwingenden Konsequenz ihres Rätemodells, daß viele andere — darunter nicht nur „Kapitalisten", sondern auch Freiberufler — vom Wahlrecht ausgeschlossen wären. Die Überzeugung, daß Rätedemokratie Klassenherrschaft und weitgehende Entrechtung nichtproletarischer Bevölkerungskreise bedeutet, wurde auch von anderen Rätetheoretikern, wie etwa Ernst Däumig, geteilt. Auch die Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918, die eine Institutionalisierung des Rätesystems brachte, sah einen Ausschluß von privaten Kaufleuten, von Mönchen und Personen, „die von arbeitslosen Einkommen leben" bzw. „die zwecks Erzielung von Gewinn Lohnarbeiter verwenden', vom Wahlrecht vor Man kann also feststellen, daß die Absage an das allgemeine und gleiche Wahlrecht Gemeingut von Räte-theorien ist. Die sozialdemokratische Mehrheit, die sich Mitte Dezember 1918 beim Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte in Berlin für die parlamentarische Demokratie und gegen das Rätesystem entschied, faßte ihren Beschluß in der Überzeugung, daß Räte nur in einer revolutionären Phase ihre Existenzberechtigung besitzen und daß die Institutionalisierung des Rätesystems dem Postulat einer allgemeinen und nicht auf eine Klasse beschränkten Demokratie widerspricht.
Nach Rosa Luxemburg haben die Arbeiter und Soldaten lediglich das Recht, ihre lokalen Arbeiter-und Soldatenräte direkt zu wählen. Diese entsenden ihre Delegierten in den Zentralrat, der wiederum den Vollzugsrat als das oberste Organ der gesetzgebenden Gewalt zu wählen hat. Dieser Vollzugsrat wählt seinerseits den Rat der Volksbeauftragten. Dies bedeutet: Während in der parlamentarischen Demokratie das Parlament direkt vom Volke gewählt wird, kommt nach Rosa Luxemburg das höchste gesetzgebende (und vollziehende) Organ durch eine Kette von einer direkten und zwei indirekten Wahlen zustande. Es liegt auf der Hand, daß hierbei die Mediatisierung des Wählers weitaus stärker wäre als in einer parlamentarischen Demokratie. Rosa Luxemburgs Vorstellungen eines Räte-systems mit der direkten Wahl nur auf lokaler Ebene hatten auch in der Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918 Eingang gefunden
Rosa Luxemburgs Rätemodell erinnert an Pläne ultrakonservativer Kreise, die parlamentarische Demokratie durch einen sogenannten organischen Aufbau mit direkter Wahl nur auf Gemeindeebene und der Ermittlung des Zentralparlamentes durch eine Kette von Zwischenwahlen zu ersetzen. Zudem gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem sozialistischen (ursprünglich anarchistischen) Rätemodell und dem ultrakonservativen Ständestaatsmodell. Die sozialistische Rätekonzeption unterscheidet sich zwar vom Ständestaat durch den Klassenkampfgedanken und die Privilegierung der Arbeiterschaft. Andererseits verbindet sie vieles miteinander. Beide Staatskonzeptionen beurteilen den Menschen einseitig nach seiner wirtschaftlichen Funktion (wobei sie Außenseiter der Gesellschaft ebenso wie den Verbraucher übersehen müssen). Beide wenden sich gegen das Gleichheitsprinzip. Und beide stellen wegen der Unklarheit der politischen Willensbildung das weiche Wachs dar, welches ein starker Mann nach Belieben zu einem autoritären oder totalitären Regime formen kann. Arthur Moeller van den Bruck, der Repräsentant eines nihilistischen Konservatismus, sah sowohl in den Ständen als auch in den Räten wirksame Instrumente zur Zertrümmerung des Parlamentarismus, und er wurde in seinem Hauptwerk „Das dritte Reich" nicht müde, das Gemeinsame und Verbindende zu betonen: „Es war nur folgerichtig, daß der Angriff gegen den Parlamentarismus, dem revolutionär der Angriff vom Räte-gedanken aus entsprach, konservativ vom Ständegedanken aus vorgetragen wurde . . . Korporative und syndikalistische Vorstellun-gen vermischten sich, nicht ohne daß auch dabei Ausblicke auf den Rätegedanken fielen und seine Einbeziehung in einen deutschen Ständestaat nahelegten." Dies schrieb Moeller van den Bruck über die Berührungspunkte zwischen linksradikalen Räteanhängern und rechtsradikalen Befürwortern eines Ständestaates. Im gleichen Sinne erklärte der autoritäre Ständestaatstheoretiker Othmar Spann, „der Rätegedanke selbst enthält einen starken Keim zu ständischer Entwicklung (nicht eigentlich gleichmacherisch-kommunistischer) in sich" In der Weimarer Zeit äußerte auch der Historiker Martin Spahn, ein fanatischer Gegner der westlichen Demokratie und als Mitglied des Reichstages erst An-gehöriger der deutschnationalen und dann der nationalsozialistischen Fraktion, unter dem Einfluß seines Schülers Eduard Stadtler (der 1933 noch ein Tag vor Spahn NSDAP-Frak. tionsmitglied wurde) Sympathien für den Rätegedanken
Der Hinweis auf die Tatsache, daß auch Rechtsextreme dem Rätegedanken Geschmack abgewinnen konnten, bedeutet keine simplifizierende Gleichstellung von rechts und links. Wohl zeigen aber diese rechtsextremen Sympathien, daß der Rätegedanke von Gegnern der parlamentarischen Demokratie — rechten wie linken — wiederholt als ein wirksames Instrument zur Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie verstanden wurde.
Vilmars sozialistische Avantgarde
Nun wird man fragen: Hat nicht Vilmar selbst vor dem „Idealbild einer Räte-Omnipotenz" gewarnt und dieses als unrealisierbar in der industriellen Massengesellschaft bezeichnet? Gewiß, Vilmar verabsolutiert nicht die Rätedemokratie. Er betrachtet sie nicht als Endzustand, sondern weist ihr vielmehr eine transitorische wie transformatorische Funktion zu. Er sagt deutlich, wozu sie gut ist: „zur Auflösung der oligarchischen Verselbständigung nur formal demokratischer Funktionsträger und Organisationen" Man lese dies im Kontext mit seinem Vorschlag, die Demokratisierung gleichzeitig in möglichst vielen Subsystemen voranzutreiben, weil nur dies „die herrschaftlichen Strukturen der Gesellschaft als Ganzes nachhaltig erschüttern und schrittweise auflösen kann" Dies bedeutet: Wie Lenin 1917 die Räte als Mittel zur „Aufhebung des Parlamentarismus" proklamierte und wie er die Räte dazu verwendete, „um den imperialistischen Staatsapparat zu zertrümmern“ und „die Herrschaft der kleinen disziplinierten Minderheit der Berufsrevolutionäre über die große und wirre Masse“ zu errichten so sieht auch der partielle Lenin-Kritiker Vilmar in der totalen Demokratisierung unter Verwen-düng des Rätegedankens ein geeignetes Instrument zur Zertrümmerung der „kapitalistischen" Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie und zur Schaffung jener Tabula rasa, auf der die Herrschaft einer sozialistischen Avantgarde errichtet werden kann. Ja, Vilmar nennt sie ausdrücklich, die „sozialistische(n) Avantgarden" an einer und die „revolutionäre Avantgarde" an anderer Stelle. Die Verbindung des plebiszitären Perfektionismus mit der aufgeklärten Avantgarde geht sicherlich auf das Denken von Rousseau und Robespierre zurück, wie J. L. Talmon nachweist: „Das Altertum hatte schon verstanden und an sich erlebt, daß extreme Demokratie geradewegs zu persönlicher Tyrannei führt. Die Erfahrung der Neuzeit hat ein Glied in der Kette hinzugefügt: die Rolle der totalitären demokratischen Avantgarde, die sich als das Volk ausgibt, in einer plebiszitären Regierungsform." Andererseits ist Vilmars Aussage über die revolutionäre Avantgarde dem Denken Lenins verpflichtet, der immer wieder auf die Bedeutung der proletarischen Avantgarde hinwies: „Und da taucht vor allem die Frage auf: wodurch wird die Disziplin der revolutionären Partei des Proletariats aufrechterhalten? wodurch wird sie kontrolliert? wodurch gestärkt? Erstens durch das Klassenbewußtsein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihre Ausdauer, ihre Selbstaufopferung, ihren Heroismus. Zweitens durch die Fähigkeit, sich mit den breiten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nicht- proletarischen werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja, wenn man will, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen. Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung, die von dieser Avantgarde verwirklicht wird ..."
Diese sozialistische Avantgarde ist nach Lenin notwendig, um „die Bourgeoisie zu stürzen und die ganze Gesellschaft umzugestalten“ Wichtig ist auch Lenins Aussage von der Bedeutung der Intelligenz als Mittler des richtigen sozialistischen Bewußtseins, welches die Arbeiterschaft von sich aus nicht entwickeln kann: „Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u. a. m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an.“ Ähnlich sind Vilmars Vorstellungen von sozialistischen Avantgarden, die sich aus den Gebildeten — wenn auch in abhängiger Arbeit Beschäftigten — formieren sollen: „Gerade die wachsende Zahl der besser gebildeten und geschulten Abhängigen, mit relativ guten Berufschancen, die aber gleichwohl und gerade deshalb von den unerträglichen Zuständen im Wohnbereich, im Betrieb, an der (Hoch-) Schule, in den Redaktionen, Gewerkschafts-, Partei-und Kirchenoligarchien sich besonders gedemütigt fühlen: das werden die Avantgarden der gesellschaftlichen Demokratisierung und damit Transformationsein .. Diese sozialistischen Avantgarden vertreten nach Vilmar allein das Gemeinwohl und sind einzig im Besitz der absoluten Wahrheit und des gesellschaftlich richtigen Bewußtseins. Wer ihnen widerspricht, der ist auf der Seite der Unwissenheit und des Unrechts: „Die sozialistische Wende der deutschen Politik kann aus einer Möglichkeit zur Wirklichkeit nur werden, wenn sich sozialistische Avantgarden formieren, deren Theorie-Praxis den Sozialismus als eine Perspektive in die politische Bewußtseinsbildung bringt, die von wachsenden Minderheiten der Heranwachsenden und politisch Aufgeschlossenen als logische, realistische und lustvolle Alternative zu den inhumanen Strukturen des Spätkapitalismus und Sowjetsozialismus bejaht wird."
Dies bedeutet: Wer den von den sozialistischen Avantgarden formulierten Sozialismus ablehnt, der ist unlogisch und unrealistisch. Es klingt hier die von Marx und Lenin geteilte, aber wohl erstmals von dem Frühkommunisten Louis-Auguste Blanqui ausgesprochene Überzeugung an, der Streit zwischen Kommunismus und Nichtkommunismus sei eine Frage von Wissen und Unwissenheit, Intelligenz und Dummheit, Wissenschaft und mythisch-theologischer Schimäre
Aber nach Vilmar sind die Gegner des von den Avantgarden konzipierten Sozialismus auch bösartig, denn sie verneinen diesen Sozialismus als „lustvolle Alternative zu den inhumanen Strukturen des Spätkapitalismus und Sowjetsozialismus". Hier wird der „Sowjetsozialismus“ bezeichnenderweise an zweiter Stelle hinter „Spätkapitalismus" genannt, weil dieser eine Basisrevolution, jener hingegen nur eine Revolutionierung des Überbaus erfordert. Folglich besteht nicht nur das Carl Schmittsche Freund-Feind-Prinzip, sondern vor allem ein fast ausschließlich auf die nichtsozialistische Opposition fixiertes Feindbild, welches keinen Zweifel an dem entschlossenen Willen zur Ausschaltung dieses Feindes offen läßt. So spricht Vilmar etwa von den „massivsten Korruptions-und Diffamierungskampagnen zum Sturz und zur Wahlniederlage der sozial-liberalen Regierung seitens der kapitalistischen und sonstigen restaurativen Machteliten“ und von den „Gegenstrategien des Kapitals und seiner verbündeten Machtgruppen" Wenn Vilmar darauf hinweist, daß die Demokratisierungskritiker Hennis, Buchheim, Schelsky und Luhmann „mit Scheinargumenten zahllose gutgläubige Mitbürger und unsichere politische Funktionsträger abschrecken“ so gemahnt dies an die Art, wie Rousseaus »legislateur« das Volk vor der Verführung durch den Sonderwillen, wie Robespierre »la nation une et indivisible« vor seinen nichtjakobinisehen Volksfeinden und wie Lenin das Proletariat vor Klassenfeinden, einschließlich menschewistischer und kautskyanischer Renegaten, zu bewahren suchten.
Zwingend geht aus Vilmars Darlegungen hervor, daß in einer von ihm angestrebten „realen Demokratie" kein Platz ist für Parteien und Persönlichkeiten, die sich gegen den Sozialismus wenden. Dies verrät auch der folgende Satz: „Mit Recht haben daher auch Marxisten, selbst wenn sie für die Übergangsperiode der Niederringung der alten Macht-eliten den leicht mißzuverstehenden Begriff der Diktatur des Proletariats prägten, sozialistische Demokratie als die wirkliche, die reale Demokratie verstanden." Hier wird die „Niederringung der alten Machteliten", das heißt die gewaltsame Ausschaltung bürgerlicher Parteien und Presseorgane, Publizisten, Wissenschaftler und Künstler, als eine zwingende Notwendigkeit für das Funktionieren „realer Demokratie" begriffen. Die „Diktatur des Proletariats" wird nicht abgelehnt, sondern dem Sinn nach bejaht (denn gerade die von Vilmar angeführte Kronzeugin Rosa Luxemburg identifizierte — wie auch andere Marxisten — „sozialistische Demokratie" mit Diktatur der proletarischen Klasse) und nur rein äußerlich als ein mißzuverstehender Begriff betrachtet. Abgesehen davon schließt die Existenz einer oder mehrerer Avantgarden (Vilmar gebraucht den Begriff abwechselnd in Singular und Plural) auch die Vielfalt sozialistischer Parteien und Gruppen aus. Keine Existenzberechtigung werden solche Gruppierungen mehr haben, die zwar nicht den Sozialismus schlechthin, wohl aber den von den Avantgarden formulierten Sozialismus ablehnen. Von den Avantgarden wird dann auch nur noch eine „revolutionäre Avantgarde“ — von der Fritz Vilmar auf Seite 25 spricht — übrig bleiben. Dies zeigt die Geschichte des bolschewistischen Rußland, wo etwas mehr als ein halbes Jahr nach der Oktober-Revolution selbst die mit den Bolschewiki verbündeten linken Sozialrevolutionären aus den Sowjets hinausgedrängt wurden: „So verengt sich innerhalb des Proletariats selbst der Kreis derjenigen immer mehr, die an den politischen Rechten teilnehmen, auf die das bolschewistische Regime sich stützt" schrieb bereits im August 1918 der sozialdemokratische Theoretiker Karl Kautsky.
Wohin eine Herrschaft von Avantgarden führen kann, zeigt auch das Beispiel der Jakobiner in den Jahren 1793/94, als nacheinander Girondisten, Hebertisten und Dantonisten unter die Guillotine kamen.
Vilmars politischer Chiliasmus
Vilmars Feind-Bild wird insbesondere aus seiner Identifizierung von „realer Demokratie" und „Sozialismus" ersichtlich. Dies ist nicht der Sozialismus eines Kurt Schumacher, nicht der Sozialismus des Godesberger Programms. Nein, dieser Sozialismus tendiert im Sinne von Marx, Engels und Lenin zu jenem Zustand, den man in der Sprache des Marxismus als Kommunismus bezeichnet: zur klassenlosen Gesellschaft und zur „Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen" Es tritt dann also — wie es Marx, Engels und Lenin lehrten —jene Menschheitsepoche ein, in der der Staat ausstirbt, weil es nichts mehr zu unterdrücken gibt.
Mit der klassenlosen Gesellschaft wird ein Zustand der Homogenität angestrebt. Hier gilt, was der rechtsautoritäre Staatsrechtslehrer und Hauptanreger der heutigen „linken" Parlamentarismuskritik, Carl Schmitt, mit entlarvender Offenheit erklärte: „Zur Demokratie gehört notwendig, erstens Homogenität und zweitens — nötigenfalls — die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen." “ Nun wird zwar mit der Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen jede Staatsform und damit auch die sozialistische Demokratie als Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus hinfällig. Vilmar hätte dies ebenso ehrlich eingestehen sollen wie etwa Lenin in „Staat und Revolution". Andererseits wird „sozialistische De mokratre" von Sozialisten als Instrument ei ner Klasse (der Expropriierten bzw. ihrei Avantgarde) zur Unterdrückung einer anderer (der Expropriateure) verstanden und als ein« Planierraupe zur Homogenisierung der Gesell schäft. Der Stalinismus war eben die drastisch ste und perfekteste Planierraupe, deshall eine mögliche Konsequenz und kein Betriebs Unfall des marxistischen Sozialismus. Folg lieh gilt auch für den nichtstalinistischen So zialisten Vilmar das Wort von Gert-Klau Kaltenbrunner: „Wer vom Sozialismus rede will der soll auch vom Stalinismus reden, der soll auch erklären, wie es kommt, daß sozialistische Systeme bisher stets nur in Gestalt illiberaler Regime aufgetreten sind.“
Dabei sollte nicht vergessen werden, daß schon in den Anfängen des Versuches einer . sozialistischen Demokratie" unter Führung einer „revolutionären Avantgarde" in Ruß-land Massendeportationen und Massenerschießungen an der Tagesordnung waren. Der Sozialdemokrat Karl Kautsky konnte bereits für das Jahr 1919 feststellen: „Erschießen — das ist das A und O der kommunistischen Regierungsweisheit geworden."
Einer der damals Hauptverantwortlichen, Leo Trotzki, später nach seinem Bruch mit Stalin von vielen heimatlosen Linken als Vorkämpfer des Rätesystems und der sozialistischen Demokratie verehrt, erklärte bezeichnenderweise in einer Replik auf-Karl Kautsky: „Im Bewußtsein von Relativitäten findet man nicht den Mut, Gewalt anzuwenden und Blut zu vergießen." Trotzki wollte also das Absolute; und dies verlieh ihm den Mut, „Gewalt anzuwenden und Blut zu vergießen". Die von Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Fritz Vilmar angestrebte klassenlose Gesellschaft mit der Konsequenz einer Abschaffung der Herr-schaff von Menschen über Menschen und damit eines Absterbens jeder staatlichen Ordnung — dies ist eben das Absolute im Sinne eines politischen Messianismus und Chiliasmus. Für jedes chiliastische und pseudoreligiöse Denken im Bereich des Sozio-Politischen gilt nach wie vor, was der Verfasser vor fünf Jahren in seinem Buch „Hitlers und Maos Söhne" in bezug auf die innerweltliche Utopie einer vollkommenen Gesellschaft geschrieben hat: „Die Anhänger dieser Utopie sind zumeist bereit, Hekatomben von gegenwärtigen Menschen zugunsten eines zukünftigen Menschen zu opfern und zugunsten eines Paradieses auf Erden durch ein Meer von Blut zu waten. Denn was bedeutet schon der Tod unzähliger Menschen, die manipulieren oder manipuliert werden, wenn aus ihren Gräbern eine neue Generation, völlig frei von Repression und Manipulation, aufersteht? Der innerweltliche Utopist wird deshalb das Leben des gegenwärtigen Menschen geringschätzen. Nur derjenige, der an eine zwar verbesserungsfähige, aber doch im letzten imperfekte Welt und an einen verbesserungsfähigen, aber doch im letzten unvollkommenen Menschen glaubt, wird dem Leben des gegenwärtigen Menschen den nötigen Respekt entgegenbringen können."
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Der Verfasser bezweifelt keineswegs, daß Vilmar diese Konsequenzen des utopisch-chialistischen Denkens nicht sieht und nicht wahrhaben möchte. Möglicherweise würde Vilmar auch eher zu den frühen Opfern als zu den Werkzeugen dieser Konsequenzen zählen. Es geht hier allein um die Erkenntnis, daß jeder Versuch, das Absolute im Sozio-Politischen zu verwirklichen, zu einer Schreckensherrschaft führen muß. Keiner hat dies mit größerer psychologischer Meisterschaft — dessen nur ein Romancier und Dichter fähig ist — geschildert als der engagierte Aufklärer und linke Demokrat Anatole France in seinem Roman »Les dieux ont soif« (zu deutsch: „Die Götter dürsten"). Er beschreibt das Schicksal des idealistischen und edlen Malers Evarist Gamelin, der, berauscht vom Chiliasmus der Jakobiner von der Natürlichen Ordnung, zum unmenschlichen Richter über seine Mitmenschen wird: „Das Revolutionstribunal verhalf der Gleichheit zum Siege, indem es gegen Lastträger und Mägde ebenso streng verfuhr wie gegen Aristokraten und Finanzleute. Gamelin faßte es nicht, daß es unter einer Volksherrschaft anders sein könnte. Er hätte es für eine Verachtung des Volkes, ja für eine ihm angetane Schmach gehalten, wenn man es straflos ausgehen ließe. Das hätte ja ausgesehen, als wäre es der Strafe unwürdig. Die Guillotine als Vorrecht der Aristokraten wäre ihm als ungerechtes Privileg erschienen..." „Evarists Spruch lautete beständig auf Tod, und alle Angeklagten, mit Ausnahme eines alten Gärtners, wurden aufs Schafott geschickt... In der nächsten Woche mähten Evarist und seine Sektion fünfunddreißig Männer und achtzehn Frauen nieder."
Es genügt also bei der Disputation mit Fritz Vilmar nicht allein der Nachweis, daß seine Vorschläge zur „Systemveränderung" gegen den Wesensbestand des Grundgesetzes verstoßen und deswegen nach dem Willen unserer Verfassung selbst nicht mit einer qualifizierten Mehrheit realisiert werden dürften. Ja, es genügt selbst nicht die Darlegung des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen seiner „realen Demokratie" und der westlichen kon. stitutionell-pluralen Demokratie. Entscheidend ist vielmehr die Erkenntnis, daß jeder „demokratische Perfektionismus" ein „invertierter Totalitarismus" ist und daß Freiheit und politischer Messianismus nicht miteinander vereinbar sind Deswegen könnte der Gedanke einer klassen-und herrschaftsfreien Gesellschaft, sollte er zum realisierbaren Ziel einer sozialistischen Politik erhoben werden, leicht einen neuen „Archipel Gulag’ erzeugen und Hekatomben von Opfern verschlingen.
„Demokratisierung" oder Ausbau des demokratischen und sozialen Rechtsstaates?
Der Aufsatz von Fritz Vilmar erscheint als ein untrügliches Zeichen dafür, daß die meisten Propagandisten der schillernden Formel von der „Demokratisierung" die Transformation der pluralen zur identitären Demokratie anstreben. Wie sehr „Demokratisierung" identisch sein kann mit der Überwindung des freiheitlichen Rechtsstaates — dies zeigt insbesondere die Entwicklung an den Universitäten und Hochschulen. Von Golo Mann ist die Äußerung überliefert, daß der Rechtsstaat vor den Toren der Universität haltmacht. Weitaus schärfer attackierte der Intendant des Senders Freies Berlin, Franz Barsig, eine von zahlreichen Ländern betriebene „Universitäts-und Schulpolitik, die fast zwangsläufig dazu führt, das Feld nicht nur Agitatoren zu überlassen, sondern es für sie auch noch zu planieren". Der ehemalige Pressesprecher des Parteivorstandes der Sozialdemokratie fährt fort: „Berlins Universitäten sind dafür ein Beispiel, und man müßte es fast ein Verbrechen an der jungen Generation nennen, daß unfähige Präsidenten es schon so weit gebracht haben, daß in weiten Bereichen der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung es wie ein Kainszeichen wirkt, wenn man von der Freien oder der Technischen Universität in Berlin kommt.“ Die „Demokratisierung’ mancher Universitäten kollidiert also nicht nur mit dem Rechtsstaat, sondern auch mit dem Sozialstaat. Hinzu kommt noch die Tatsache, daß die „Demokratisierung“ von Subsystemen in Konflikt geraten kann mit der pluralen Demokratie als Organisationsform der Gesamtgesellschaft. Wäre die „Demokratisierung“ der Bundeswehr etwa so weit fortgeschritten wie die „Demokratisierung“ der Universitäten und wäre der Bundesverteidigungsminister so weit entmachtet worden wie zahlreiche Kultusminister im Hochschulbereich — dann hätten wir keine demokratisch kontrollierten Streitkräfte, sondern ein Frei-korps-System unseligen Andenkens. Wie die Freikorps früherer Zeiten sich als Avantgarde der Nation verstanden, so verstehen sich heute viele linke Wissenschaftler als „Vorhut menschlicher und gesellschaftlicher Emanzipation". Deswegen erkämpfen sie die Autonomie der Hochschule als die „Autonomie einer Gelehrtenrepublik selbsternannter Philosophenkönige“ An zahlreichen Universitäten wurden Vorstellungen einer identitären Demokratie verwirklicht, die der von der Gesamtgesellschaft getragenen pluralen Demokratie widerstreiten — obgleich diese Gesamtgesellschaft mit ihren Steuern die Uni-rersitäten finanziert in der Erwartung, daß sie den gesellschaftlichen Bedarf an Ärzten, Lehern etc. qualitativ und quantitativ decken. Es qibt gewiß Vorgänge an Universitäten, die die Gesamtgesellschaft mehr berühren als die Universitätsbürger. Um ein Beispiel zu nenjen, welches viel Staub aufgewirbelt hat: Wäre es nicht im Sinne demokratischer Legitimation und Transparenz vertretbarer gewejen, wenn der Landtag von Nordrhein-Westfalen die heikle Frage entschieden hätte, ob die Düsseldorfer Universität den Namen Heinrich Heines tragen soll oder nicht — als daß man diese Entscheidung den Selbstverwaltungsorganen der Universität überließ?
Statt dessen führt die Entwicklung dahin, daß der Staat immer mehr Kompetenzen im Hoch-schulbereich verliert
Staatliche Instanzen, die durch einen parlamentarisch-demokratischen Willensbildungsprozeß legitimiert sind, werden zugunsten von amorphen Gruppen an Universitäten ausgehöhlt. Deswegen kann Hans F. Zacher mit Recht den der „egalitären Demokratie“ widersprechenden „ständestaatlichen Charakter der akademischen Selbstverwaltung bemängeln und feststellen, daß durch die Hochschulreform die Universität aus der Denokratie in der Bundesrepublik herausgelöst wird: „Was heute im Rahmen der sogenannten Hochschulreform geschieht, ist deshalb taue Demokratisierung der Universität, sondern ihre Herauslösung aus der Demokratie.'
Der ehemalige Juso-Bundessekretär Ernst Eichengrün bemerkte bereits vor vier Jahren, daß manche Universitäten — neben Rund-funkanstalten und Volkshochschulen — nicht nur einen „Unterschlupf", sondern darüber hinaus „Agitationsbasen“ für die „radikale Linke" bilden“ Da das Wort von der „Demokratisierung" ein Kampfruf zur langsamen Aushöhlung der im Grundgesetz institutiona • usierten Demokratie geworden ist, sollten Anhänger dieser Demokratie den schon rein sprachlich-etymologisch monströsen Begriff „Demokratisierung" vermeiden. Zudem kann dieses Wort einen Hoffnungsrausch bewirken, auf den der große Katzenjammer mit Sicherheit folgt. Insbesondere sollte „Demokratisierung" nicht als Synonym für die notwendige Partizipation in gesellschaftlichen Subsystemen verwendet werden, weil es dort keinen Demos gibt, der sich eben nur im staatlichen Bereich formiert. Andererseits machen es sich manche Anhänger der pluralen Demokratie zu leicht, wenn sie auf das Wort „Demokratisierung" nur negativ reagieren und dabei übersehen, daß durch dieses Reiz-und Schlagwort der berechtigte Wunsch nach Fortentwicklung der rechtsstaatlichen, demokratischen und sozialen Elemente unseres Staates irregeleitet und verfälscht wird. Den Parolen von „Demokratisierung“, „Systemveränderung" bzw. „Systemüberwindung" sollten plurale Demokraten deswegen die Forderung nach Ausbau des demokratischen und sozialen Rechtsstaates entgegenstellen. Wie unsinnig etwa die Parole von der Demokratisierung der Familie auch ist (für zahlreiche Anhänger der identitären Demokratie gleichbedeutend mit Zerschlagung der Kleinfamilie zugunsten von Wohnkollektiven), so können andererseits Familien nicht hermetisch verschlossene Zellen im demokratischen und sozialen Rechtsstaat sein. Die erschreckende Zahl von Kindesmißhandlungen durch Eltern, wie sie vom Deutschen Kinderschutzbund gemeldet werden, gebietet zwingend einen besseren Schutz des Kindes — etwa durch gesetzlich festgelegte Anzeigepflicht für Zeugen, einer exzessiven Auslegung des problematisch gewordenen Züchtigungsrechtes, etwa durch Erweiterung der Kompetenzen des Jugendamtes bei schwierigen häuslichen Verhältnissen.
Wie sehr der Wunsch nach mehr kollektiver Partizipation in zahlreichen Subsystemen der Gesellschaft berechtigt auch ist, so darf man andererseits nicht übersehen, daß es zwischen Partizipation und Rechten des einzelnen immer wieder Friktionen geben kann. Die Rassenintegration wäre sicherlich an zahlreichen US-amerikanischen Schulen bei einer weitgehenden Partizipation der weißen Eltern gescheitert. Eine „Demokratisierung" an Universitäten und Schulen hätte in der Weimarer Zeit sicherlich schon Jahre vor Hitlers Machtantritt manchen jüdischen oder sozialdemokratischen Professor bzw. Lehrer aus dem Amt gejagt — so wie heutzutage manche in ihrem Fortkommen an Universitäten und Institutionen der Erwachsenenbildung gehindert werden, wenn sie nicht den modischen Geßlerhut eines emanzipatorischen Wissenschaftsbegriffes grüßen.
Der Ausbau individueller Rechte muß also den Vorrang vor kollektiver Partizipation haben. Das bedeutet etwa in der Wirtschaft:
Nicht ein fragwürdiges Mitbestimmungsmodell hilft weiter, welches nach dem Willen von zahlreichen Anhängern der paritätischen Mitbestimmung ein erster Schritt ist, um den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit und damit die pluralistische Struktur unserer Gesellschaft abzuschaffen und welches zudem noch bei der Behandlung der leitenden Angestellten ein Rousseausches Demokratieverständnis verrät (man sieht zwar den „Sonderwillen" der Leitenden, will ihn aber durch den Wahlmodus im „Gemeinwillen" der Gesamtbelegschaft aufheben). Dafür sollte der Kündigungsschutz, insbesondere der älteren Arbeitnehmer, verbessert werden; dafür sollten die Rechte am Arbeitsplatz und in der Gestaltung der Arbeit ausgeweitet werden; dafür sollte — etwa durch steuerliche Begünstigung — die Humanisierung der Arbeitswelt (Einschränkung von Fließband-und Akkordarbeit) und die Rehabilitierung von gesellschaftlichen Außenseitern wie Drogensüchtigen und entlassenen Häftlingen gefördert werden.
Viele „Demokratisierungs" -Protagonisten sind der Ansicht, daß „das Demokratisierungs-Potential im politischen System weitgehend erschöpft zu sein scheint“ und deshalb „vom politischen System insgesamt auf dessen Subsysteme und andere Teilsysteme“ gelenkt werden müsse’ Deswegen ist das Terrain der „Demokratisierungs" -Protagonisten so dürftig und so provinziell. Weder die politischen Rechte der Gastarbeiter noch die Zukunft der europäischen Demokratie werden von ihnen anvisiert. Hingegen müßte unter pluralen Demokraten ernsthaft die Frage diskutiert werden, ob nicht die Gastarbeiter, die das Volksvermögen der Bundesrepublik Deutschland miterarbeiten und die fast der gesamten Rechtsordnung in der Bundesrepu blik unterliegen, wenigstens auf kommunale;
Ebene das aktive und passive Wahlrecht erhalten sollen Für plurale Demokraten sollte darüber hinaus das demokratische Defizit in der Europäischen Gemeinschaft ein ständiges Ärgernis sein. Noch immer besitzt das Europäische Parlament kein Budgetrecht noch immer werden seine Abgeordneten nicht direkt gewählt. Der weitere Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zu einer echten parlamentarischen Demokratie mit dem direkt gewählten und mit größeren Kompetenzen ausgestatteten Europäischen Parlament als erster und dem Ministerrat als zweiter Kammer erscheint als die wichtigste und vordringlichste Aufgabe für plurale Demokraten in der Bundesrepublik und den anderen Staaten der Gemeinschaft. Auch die politischen Institutionen in der Bundesepublik bedürfen einer Reform. Hierbei könnten die Anregungen des sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Friedrich Schäfer beachtet und verwertet werden. Schäfer unterbreitete vor Jahren, noch aus der Perspektive eines Oppositionsabgeordneten, den Vorschlag, die Rechtsposition der parlamentarischen Opposition als dem eigentlichen Gegenspieler der Regierung im Grundgesetz und in der Geschäftsordnung des Bundestages entscheidend zu verbessern Tatsächlich gehen Verfassung und Verfassungswirklichkeit noch immer weitgehend von der Fiktion aus, das Parlament insgesamt sei das gewaltenhemmende Kontrollorgan der Regierung (und nicht in erster Linie die Opposition), was sich etwa darin zeigt, daß die Redezeit von Regierungsmitgliedern nicht immer auf die Redezeit ihrer Fraktion angerechnet wird und was insbesondere in der Zusammensetzung des Untersuchungsausschusses zu» Ausdruck kommt. Deswegen schlug Friedrich Schäfer mit Recht vor, der Untersuchungsausschuß solle — um eine einseitige Majorisierung der Opposition durch die Regierungsparteien zu vermeiden — aus sieben Bundestagsabgeordneten und drei Bundesrichtern, von denen einer Vorsitzender des Untersuchungsausschusses ist, bestehen
Verteidigungsaktion zum Schutze der freiheitlichen Demokratie
Zu den bedauerlichsten Erscheinungen der Demokratie in der Bundesrepublik zählt die Tatsache, daß es keinen gemeinsamen Konsensus aller Führungskräfte in den demokratischen Parteien gegenüber rechts-und linksradikalen Parteien und Gruppierungen mehr gibt. So besteht keine Übereinstimmung in der Behandlung der DKP als einer bei äußerster Strapazierung der Legalität nur aus pragmatisch-politischen Gründen tolerierten Ersatz-organisation der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen KPD — obgleich die DKP Ende 1971 selbst die Fiktion fallen gelassen hatte, es bestünde neben ihr noch eine illegale KPD; obgleich Max Reimann, langjähriger Vorsitzender der KPD in Legalität und Illegalität, seit November 1971 Ehrenvorsitzender der DKP ist; obgleich sich die DKP in ihren Thesen des Düsseldorfer Parteitages nicht nur zum Modellcharakter von UdSSR und DDR sondern darüber hinaus ausdrücklich zum „Marxismus-Leninismus“ bekennt.
Die linken Gruppierungen in den Regierungsparteien solidarisieren sich bei den Kampagnen gegen „Berufsverbote" mit der DKP, nicht weil sie alle ihre Ziele bejahen, sondern weil sie in ihr einenVerbündeten im Kampfe um die identitäre Demokratie sehen. Diese Gruppierungen sind nicht nur verantwortlich dafür, daß in Hessen kommunistische Lehrer unterrich-ten, sondern auch dafür, daß darüber hinaus ein DKP-Mitglied eine Kreisvolkshochschule leitet während andererseits der soziale Demokrat Günther Wetzel vor einigen Jahren als Staatssekretär im hessischen Innenministerium . über die Klinge springen'mußte, weil er den linksradikalen SDS wie eine verfassungsfeindliche Organisation behandelt hatte. In Anbetracht der ständigen Terraingewinne von Anhängern der identitären Demokratie und in Anbetracht verantwortungsloser Konzessionen von großen Teilen des „Establishments“ erscheint es notwendig, daß sich liberale Demokraten zu einer überparteilichen „Verteidigungsaktion zum Schutze der freiheitlichen Demokratie" zusammenfinden. Aufgabe dieser Aktion müßte es sein, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, etwa: — gegen die Beschäftigung von Radikalen im öffentlichen Dienst und die Benachteiligung von verfassungstreuen Demokraten; — gegen die öffentliche Preisverleihung an Kommunisten, wie etwa die Auszeichnung des Literaturhistorikers Georg Lukacs mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt wie die Auszeichnung des DKP-Mitgliedes Erika Runge mit dem nach einem freiheitlichen Demokraten und Antikommunisten benannten Ernst-Reuter-Preis des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen;
— gegen die Finanzierung prokommunistischer Organisationen aus öffentlichen Mitteln, wie etwa des ganz auf DKP-Linie eingeschwenkten Studentenbundes SHB, der nach wie vor jährlich 97 000 DM aus dem Bundesjugendplan erhält.
Plurale Demokraten müssen in Harnisch gehen — gegen die militanten Anhänger eines totalitären Demokratiemodells und gegen die nützlichen Ignoranten und Anpassungsartisten. Die „anderere Republik", von der ein ehemaliger Superminister sprach, ist mitten unter uns. Bei mangelnder Wachsamkeit und Abwehrbereitschaft der pluralen Demokraten kann sie die liberalen Institutionen unseres Staates verschlingen oder umfunktionieren und ins Gegenteil pervertieren.