Hans-Hermann Hartwich und Wolfgang Hilligen haben sich im vergangenen Jahr in der Zeitschrift „Gegenwartskunde“ vergleichend mit den in verschiedenen Bundesländern veröffentlichten Curriculum-Entwürfen zur politischen Bildung befaßt und dabei die rheinland-pfälzischen Entwürfe in ihrer politik-theoretischen Grundorientierung am schärfsten kritisiert Emst-August Roloff hat nun in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" diese Kritik nicht nur ausdrücklich aufgenommen, sondern unter Einbeziehung der historischen Dimension noch erweitert
Wenn ich mich hier als einer der Autoren der rheinland-pfälzischen Entwürfe zu Wort melde, so nicht nur deshalb, weil Roloff auf weite Strecken gegen meine „Didaktik des politischen Unterrichts" polemisiert, auch nicht nur, weil die genannten Kritiker sehr pauschal argumentieren, mit unangemessen verkürzten Belegen arbeiten und so unseren Entwürfen nicht gerecht werden. Es geht mir vielmehr darum, in Auseinandersetzung mit der Kritik die Prämissen unserer Entwürfe zu entwickeln, weil ich überzeugt bin, daß unsere Kritiker diese mißverstanden haben und ihrerseits mit unzureichendem begrifflich-theoretischen Instrumentarium arbeiten. Meine Gegenkritik ist im wesentlichen der Versuch, schiefe Fronten zurechtzurücken, falsche Alternativen zurückzuweisen und so Voraussetzungen eines Konsenses über die Grundlagen und Ziele politischer Bildung zu sichern.
Hartwich und Hilligen messen unsere Entwürfe an „materialdemokratischen“ Vorstellungen, an einer „Prozeßtheorie“ von Demokratie, und spannen sie damit gleichsam in ein Prokrustesbett. Hilligen beruft sich dabei auf einen „in den Sozialwissenschaften sich abzeichnenden Konsensus“, dem die rheinland-pfälzischen Entwürfe „noch wenig entsprechen" (a. a. O., S. 287), bleibt dem Leser aber schuldig zu sagen, wo und worin sich nach seiner Meinung der Konsens abzeichnet. Ich sehe einstweilen in der sozialwissenschaftlichen Literatur auf den entscheidenden Ebenen der Theoriebildung und der Forschungsansätze, gerade auch im Bereich der Demokratietheorie, mehr Dissens und Pluralität als Konsens Hartwichs Aufsatz liefert dafür übrigens einen Beleg, indem er die beiden von ihm unterschiedenen Theorien von Demokratie jeweils auf Aussagen bekannter Politikwissenschaftler stützt.
Um nicht gleich am Anfang völlig mißverstanden zu werden, möchte ich betonen, daß wir in den Kommissionen unseres Landes immer nach der Möglichkeit eines solchen Konsenses gefragt und versucht haben, unsere Entwürfe darauf hin anzulegen. Diese haben zur Voraussetzung, daß , Ordnungs‘-und , Prozeßtheorie‘ der Demokratie nicht alternativ, sondern komplementär zueinander stehen, während unsere Kritiker sie glauben der . Ordnungstheorie" zurechnen zu können und ihnen ein billiges „Einerseits-Andererseits“ vorwerfen. Hartwich und Hilligen erörtern aber nicht ausreichend die Grenzen ihres eigenen kritischen Aspekts und gelangen deshalb auch nicht über demokratietheoretische Erwägungen hinaus zur Frage nach einer tragfähigen Politiktheorie, um die wir uns in unserer Curriculumarbeit glaubten bemühen zu sollen.
Roloff übernimmt im Bezug auf meine Didaktik und auf die rheinland-pfälzischen Entwürfe nicht nur die „Schubladisierung" nach Ordnungs-und Prozeßtheorie der Demokratie (vgl. a. a. O., S. 16), sondern ordnet uns kühn den Systemtheoretikern und einem „a-historischen Funktionismus“ zu, seiner Überraschung Ausdruck verleihend über die „schnelle Rezeption der Luhmannschen Theorie durch Didaktiker wie Behrmann und Sutor“ (a. a. O., S. 21). Ich stehe nun allerdings nicht an zu bekennen, daß ich zur Zeit der Abfassung meiner Dikdaktik und der Arbeit an den rheinland-pfälzischen Curriculum-Entwürfen nicht eine einzige Zeile von Luhmann gelesen hatte und auch heute noch, was die didaktische Relevanz der Systemtheorie betrifft, eher zur Skepsis neige. Freilich ist indirekte Beeinflussung durch Zeitströmungen und virulente Theorien nie auszuschließen. Ich muß aber mit Nachdruck darauf hinweisen, daß zu deren Nachweis erheblich mehr an methodischer Strenge der Interpretation gehört, als sie Roloffs Arbeit bedauerlicherweise erkennen läßt. Dazu hier nur ein paar Hinweise auf Stellen in Roloffs Arbeit, auf die ich im folgenden aus systematischen Gründen nicht mehr zu sprechen komme.
Roloff hätte merken müssen, daß ich, was die Möglichkeit rationaler Legitimation gesellschaftlicher Normen betrifft, nicht auf Luhmanns, sondern auf Habermas'Seite stehe, den er gegen Luhmann ins Feld führt (a. a. O., S. 21). Er polemisiert nämlich an anderer Stelle (S. 8) gegen meine Annahme eines Vermögens der Werterkenntnis im Menschen. Eben diese Passage scheint mir typisch für Roloffs Arbeitsweise, die eine kritische Auseinandersetzung zwischen klar definierten Positionen sehr erschwert. Roloff bezieht sich dort in einem einzigen Gedankengang auf vier verschiedene Stellen meiner Didaktik, an denen vier unterscheidbare Fragen behandelt werden: das erkenntnistheoretische Problem der Werterkenntnis, der Nationalismus in politischer Bildung, Recht und Grenzen utopischen Denkens, schließlich die Ideologieproblematik. Das nenne ich nicht Interpretation, sondern Kontamination. Die Schlüsse, die Roloff aus meinen Aussagen an der genannten Stelle zieht, sind denn auch allesamt falsch: Ich kenne sehr wohl die Möglichkeit des Gegensatzes zwischen dem Interesse des Individuums und der Ordnungsfunktion des Staates (vgl. meine Didaktik, S. 38); ich weise die Kategorie „Konflikt" keinesfalls „schärfstens" zurück, sondern bringe sie in einen dialektischen Bezug zu „Konsens“ (ebda. S. 75 ff. und 84 ff.); ich identifiziere nirgends Anarchie und Totalitarismus, und ich nenne die Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft, deren Recht und Grenzen ich aufzuzeigen versuche, nirgends „totale Ideologie" (vgl. ebda. S. 122 ff. und 128 ff.); schließlich unterscheide ich, anders als Roloff behauptet (a. a. O., S. 17), sehr genau zwischen Ideologie und Utopie (vgl. Didaktik, S. 125 ff.). Ich muß Roloff ernsthaft fragen, wie eine wissenschaftlich redliche Auseinandersetzung — der einzige Weg zur Feststellung von Dissens und Konsens — bei derart nachlässigem Umgang mit der vorliegenden Literatur möglich bleiben soll. Leider ist die Art und Weise, wie Roloff den Inhalt der rheinland-pfälzischen Entwürfe zur Kenntnis nimmt (genauer: nicht zur Kenntnis nimmt), nicht besser. Doch wenden wir uns der Sache selbst zu!
Im ersten Teil meiner Erörterung gehe ich von Hartwichs Unterscheidung der beiden Demokratietheorien aus und versuche zu begründen, warum die Autoren der rheinland-pfälzischen Entwürfe darin eine falsche Alternative sehen. Im zweiten Teil erörtere ich die von unseren Kritikern vernachlässigte, unseren Entwürfen zugrunde liegende Politiktheorie. Im dritten Teil versuche ich, unser Verständnis von Geschichtlichkeit in Auseinandersetzung mit Roloffs arg verkürzender Interpretation zu explizieren. Schließlich komme ich viertens zu den sozialphilosophischen Prämissen unserer Entwürfe, die Roloff systemtheoretisch mißinterpretiert, und fünftens zu einigen Folgerungen für die Curriculumarbeit. Meine Erörterung mag neue und diesmal vielleicht sogar fundiertere Kritik auch an unseren Entwürfen provozieren. Aber nur in Kritik und Gegenkritik, die der jeweils anderen Position gerecht wird, haben wir die Chance, zu dem Minimalkonsensus der Didaktik politischer Bildung zu kommen, den Hilligen als schon gegeben anzunehmen scheint, indem er uns eine Position der Rückständigkeit bescheinigt (a. a. O., S. 275), ähnlich wie Roloff (a. a. O., S. 19).
I. Ordnungs-und Prozeßtheorie der Demokratie — eine falsche Alternative
1. Hartwich sieht das Grundsätzliche an dem derzeitigen Streit um Curricula politischer Bildung, besonders um die hessischen Rahmenrichtlinien, „in den unterschiedlichen Auffassungen über Demokratie in der Bundesrepublik und über die Reichweite , des Politischen'“ begründet (a. a. O., S. 145). Er meint daher, diesen Streit rationalisieren zu können, indem er diese unterschiedlichen Auffassungen theoretisch auf den Begriff bringt, um so die „Identifizierung unterschiedlicher normativer Optionen" zu ermöglichen (ebda., S. 152). Dem kritischen Leser seines Beitrages fällt freilich auf, daß er auf die „Reichweite des Politischen" und damit auf eigentlich politik-theoretische Fragen nirgends zu sprechen kommt. Hartwich scheint vielmehr Demokratie-und Politikverständnis gleichzusetzen (vgl. ebda., S. 152).
Hartwichs Unterscheidung beginnt mit folgender Gegenüberstellung: „Der Grundunterschied zwischen den beiden Hauptrichtungen des Demokratieverständnisses liegt darin, däß die einen Demokratie dann verwirklicht sehen, wenn vom souveränen Volk abhängige Repräsentanten auf der Basis mehrheitsbestimmter-rechtsstaatlicher Verfahren die Verantwortung für alle staatlichen Aktivitäten tragen: Demokratie und Politik sind hier eine Angelegenheit des Staates, seiner Institutionen, der . Mittler'im Prozeß politischer Willensbildung (Parteien, Verbände, Massenmedien). Die anderen sehen dagegen Demokratie ferst dann als gegeben oder auf dem Wege der Verwirklichung an, wenn auch alle gesellschaftlichen Institutionen und Prozesse adäquaten Bedingungen unterworfen sind. Demokratie und Politik sind hier eine Angelegenheit der Gesamtverfassung" (a. a. O., S. 145 f.).
Als repräsentativ für die eine Seite zitiert er dann ausführlich Franz Neumann und Ernst Fraenkel, für die andere Wolfgang Abendroth Ein Zitat aus Besson/Jasper soll belegen, daß das dynamisierte und erweiterte Demokratieverständnis nicht auf Gruppierungen des „demokratischen Sozialismus“ beschränkt ist, und mit Helga Grebing wird „das Grundproblem des Auseinanderklaffens im Demokratieverständnis noch aus einer etwas anderen Perspektive beleuchtet" (a. a. O., S. 151). Leider läßt Hartwich das Grebing-Zitat ohne Interpretation; denn bei genauerem Zusehen könnte man aus ihm bereits die Erkenntnis gewinnen, daß die Alternative nicht Ordnungs-und Prozeßtheorie heißt — mag auch politisch und politikwissenschaftlich zeitweise so argumentiert worden sein —, sondern daß wir es hier mit einem Komplementärverhältnis zu tun haben, während es andererseits einander ausschließende Prozeßtheorien von Demokratie gibt.
Hartwich faßt seinen Literaturdurchblick so zusammen: „Demokratieverständnis im Sinne einer statischen normativ-begrifflichen politischen Ordnungstheorie einerseits — Demokratieverständnis im Sinne eines historisch-dynamischen Prozesses der . Demokratisierung'andererseits; hier Staatsbezogenheit, dort die Erweiterung in die Gesellschaft hinein; das gemeinsame Bekenntnis zur Notwendigkeit demokratisch organisierter politischer Willensbildung mit unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie weit gespannt die Objekte politischen Interesses und Zugriffs sein sollen — was kann dies alles für die Entwick-lung von Lehrplänen für eine Gesellschaftslehre an der Schule bedeuten? Auf Grund der hier versuchten Klarstellung des unterschiedlichen Politikverständnisses kann gefolgert werden, daß die Hessischen Rahmenrichtlinien die Entscheidung zugunsten des erweiterten Begriffs enthalten . . (a. a. O., S. 152). 2. Idi bestreite nicht, daß Hartwichs Unterscheidung ein Stück weiter hilft, gesellschaftspolitische Orientierungen in Curricula zu erkennen und zu ordnen. Ich bestreite auch nicht, daß nach dieser Unterscheidung die hessischen Rahmenrichtlinien so einzuordnen sind, wie Hartwich es tut. Ich bestreite aber, daß seine Unterscheidung politiktheoretisch genügt, und ich bestreite zunächst, daß die rheinland-pfälzischen Entwürfe auf die andere, die nur staatsorientierte Seite gehören. Der Nachweis dafür ist leicht zu führen durch einen Blick in unsere Entwürfe selbst.
Für die Klasse 10 haben wir z. B. als drittes Thema vorgesehen: Wirtschaftsund Sozialordnung als politische Aufgaben (a. a. O., S. 113 ff.). Unter „Kenntnisse von Fakten“ heißt es dort (S. 118): „Dem Komplex der Mitbestimmung liegen soziale Probleme (Mitwirkung in sozialen, personellen Fragen) und das Problem der wirtschaftlichen Machtverteilung zugrunde. Es verbirgt sich dahinter aber auch die grundsätzliche Frage der Demokratie, inwieweit diejenigen, die an der Ausführung von Entscheidungen beteiligt sind, auch beim Zustandekommen solcher sie mit betreffender Fragen mitwirken können.“
Unter „Problemziele und Einsichten" heißt es (ebda., S. 120): „Welche gesellschaftspolitischen Vorstellungen verbergen sich hinter den Kontroversen um die Fragen der Vermögensbildung und Mitbestimmung in der Wirtschaft?" Soweit man also Hartwichs Unterscheidung für sinnvoll hält, müßte man uns zumindest zubilligen, daß wir die Problematik als Unterrichtsgegenstand vorsehen und die Entscheidung für das eine oder andere Konzept für Lehrer und Schüler offenhalten — eine Position, die der Aufgabe politischer Urteilsbildung angemessener ist als die Festlegung auf ein bestimmtes Konzept.
Ich erspare mir und dem Leser weitere Hinweise auf Einzelheiten etwa in unseren Themen 10. 1: Struktur und Wandel der Industriegesellschaft, und 11. 1: Der einzelne im Spannungsfeld sozialer Gruppen. Ich verweise aber auf das umfangreiche Thema 11. 2: Pro bleme der Demokratie in der heutigen Gesellschaft, das in der didaktischen Analyse so eingeleitet ist (ebda., S. 170): „Die Demokratietheorie des klassischen Liberalismus und die demokratische Wirklichkeit in der pluralistischen Industriegesellschaft klaffen weit auseinander. In der Diskussion über die damit gegebenen Probleme ist in den letzten Jahren der Konsens über das, was unter Demokratie zu verstehen sei, geringer geworden. Die Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen individueller und gruppenmäßiger Teilnahme an Herrschaftsausübung und politischen Entscheidungen, die Diskussionen über die Funktionsfähigkeit unserer politischen Ordnung, über Chancen der Selbstbestimmung und Gefahren der Außensteuerung finden heute sehr divergierende Antworten und Ergebnisse. Politischer Unterricht darf an dieser Problematik nicht vorbeigehen.“
Eines der drei Unterthemen, die dazu vorgeschlagen, didaktisch kurz analysiert und lernzielorientiert ausgearbeitet sind, lautet: Demokratie in der Schule — Möglichkeiten und Grenzen; ein anderes: Massenmedien und demokratische Öffentlichkeit. In der Formulierung der Problemziele ist auch hier die Frageform gewählt. Beispiele: „Welche Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Notenfindung gibt es für Schüler?"
„Welche Möglichkeiten der Schüler gibt es, bei der Auswahl von Unterrichtsgegenständen und -methoden oder -Organisation mitzuwirken?" „Sollen Schülervertreter bei der Regelung von Disziplinarfällen beteiligt sein; mitentscheiden?" (ebda., S. 173 f.)
„Soll der Staat Zeitungskonzerne entflechten, enteignen, ihre Marktanteile begrenzen können? Soll er kleinere Zeitungen wirtschaftlich stützen, nach welchen Kriterien, mit welchen Mitteln? Welche Organisationsmodelle zur Sicherung innerer Pressefreiheit (im Verhältnis Verleger — Journalist) sind denkbar?" (ebda., S. 180)
Wie man sieht, haben wir keinen der Topoi „emanzipatorischer" Gesellschaftskritik ausgelassen; freilich sind sie in die der politischen Bildung angemessene Sprache politischer Entscheidungsfragen gebracht. Auch in den Literaturangaben sind die unterschiedlichen Positionen berücksichtigt. Es scheinen mir jedoch keine weiteren Zitate nötig. Ünsere Themen und die Form ihrer Darbietung beweisen, daß wir (1970/71) nicht daran dachten, uns auf das festzulegen, was Hartwich staats-bezogene Ordnungstheorie nennt, freilich auch nicht auf die ihr gegenübergestellte „Demokratisierung". 3. Warum scheint uns diese Alternative falsch? Ordnung und Prozeß bilden politik-theoretisch keine sinnvolle Alternative, sondern sind dialektisch einander zugeordnete Grundkategorien. Sie stehen in Spannung zueinander, bedingen sich jedoch auch gegenseitig, sofern man mit den Begriffen nicht die Extreme bewegungsloser Statik einerseits, ungeordneter anarchistischer oder revolutionärer Bewegung andererseits meint. Einzelne und Gruppen mögen im konkreten politischen Streit je nach Interessen, Herkunft und gewohnter Denkweise die Akzente sehr verschieden auf Ordnung oder Bewegung setzen; immer wird man dabei mehr konservativ und mehr progressiv orientierte Kräfte identifizieren können. Aber eine tragfähige Demokratie-theorie muß doch die beiden Kategorien Ordnung und Prozeß umgreifen; sie muß berücksichtigen, daß einerseits ein demokratischer Prozeß die Minima demokratischer Ordnung voraussetzt, daß andererseits diese Ordnungselemente gerade nicht dazu gedacht und geeignet sind, den jeweiligen Status quo als unveränderlich zu sanktionieren.
Ich will nicht darüber streiten, ob Hartwich die als „Ordnungstheoretiker" zitierten Autoren richtig interpretiert. Unsere Vorstellung von Demokratie ist jedenfalls nicht bei diesen Autoren, sondern in unseren Entwürfen zu erkennen, und wenn ich mich dafür auf eine Autorität berufen soll, dann ziehe ich es vor, statt eines einzelnen Autors die Aussage des Bundesverfassungsgerichts zu unserer Frage im KPD-Urteil zu zitieren „Diese freiheitlich-demokratische Ordnung nimmt die bestehenden, historisch gewordenen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Denk-und Verhaltensweise der Menschen zunächst als gegeben hin. Sie sanktioniert sie weder schlechthin, noch lehnt sie sie grundsätzlich und im ganzen ab; sie geht vielmehr davon aus, daß sie verbesserungsfähig und -bedürftig sind. Damit ist eine nie endende, sich immer wieder in neuen Formen und unter neuen Aspekten stellende Auf-gäbe gegeben; sie muß in Anpassung an die sich wandelnden Tatbestände und Fragen des sozialen und politischen Lebens durch stets erneute Willensentschließungen gelöst werden.
Die freiheitliche Demokratie lehnt die Auffassung ab, daß die geschichtliche Entwicklung durch ein wissenschaftlich anerkanntes Endziel determiniert sei und daß folglich auch die einzelnen Gemeinschaftsentscheidungen als Schritte zur Verwirklichung eines solchen Endziels inhaltlich von diesem her bestimmt werden könnten. Vielmehr gestalten die Menschen selbst ihre Entwicklung durch Gemeinschaftsentscheidungen, die immer nur in größter Freiheit zu treffen sind.
Das ermöglicht und erfordert aber, daß jedes Glied der Gemeinschaft freier Mitgestalter bei den Gemeinschaftsentscheidungen ist. Freiheit der Mitbestimmung ist nur möglich, wenn die Gemeinschaftsentscheidungen — praktisch Mehrheitsentscheidungen — inhaltlich jedem das größtmögliche Maß an Freiheit lassen, mindestens aber ihm stets zumutbar bleiben. Anstelle eines vermeintlich vollkommenen Ausgleichs in ferner Zukunft wird ein relativer ständiger Ausgleich schon in der Gegenwart erstrebt. .
Wenn als ein leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen der Fortschritt zu . sozialer Gerechtigkeit'aufgestellt wird, eine Forderung, die im Grundgesetz mit seiner starken Betonung des . Sozialstaats'noch einen besonderen Akzent erhalten hat, so ist auch das ein der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähiges und bedürftiges Prinzip. Was jeweils praktisch zu geschehen hat, wird also in ständiger Auseinandersetzung aller an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligten Menschen und Gruppen ermittelt. Dieses Ringen spitzt sich zu einem Kampf um die politische Macht im Staat zu. Aber es erschöpft sich nicht darin. Im Ringen um die Macht spielt sich gleichzeitig ein Prozeß der Klärung und Wandlung dieser Vorstellungen ab. Die schließlich erreichten Entscheidungen werden gewiß stets mehr den Wünschen und Interessen der einen oder anderen Gruppe oder sozialen Schicht entsprechen; die Tendenz der Ordnung und die in ihr angelegte Möglichkeit der freien Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften wirkt aber in Richtung auf Ausgleich und Schonung der Interessen aller. Das Gesamtwohl wird eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen und Wünschen einer bestimmten Klasse; annähernd gleichmäßige Förderung des Wohls aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten wird grundsätzlich erstrebt. Es besteht das Ideal der . sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaats’."
Folgende Grundpositionen dieses Textes scheinen mir im Blick auf Hartwichs, Hilligens und Roloffs Kritik bemerkenswert:
— Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist eine Ordnung, die einen geregelten politischen Prozeß ermöglichen soll. Die Grundelemente dieser Ordnung, die demokratischen Minima, sind bekanntlich in diesem Urteil ebenfalls beschrieben und können hier als bekannt vorausgesetzt werden. Ich will nur hier schon hinzufügen, daß diese Minima, da sie teils direkt, teils indirekt aus der Idee der Menschenwürde abgeleitet sind, mehr sind als beliebig veränderbare Spielregeln rein formaler Natur.
— Diese Ordnung ermöglicht geregelte Veränderung gerade dadurch, daß sie die freie Auseinandersetzung der vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte zu einem ihrer konstitutiven Faktoren und zu ihrem Inhalt macht. Pluralität gilt als Bedingung politischer Freiheit, eine Position, an der auch Curricula nicht vorbeigehen dürfen.
— Die von der Verfassung gebotene Sozial-staatlichkeit und der Zielwert „Soziale Gerechtigkeit" schreiben vor, daß dieser Staat Sozialpolitik zu einem seiner Haupttätigkeitsfelder macht, und Sozialpolitik weitet sich heute infolge hochgradiger gesellschaftlicher Interdependenz und Komplexität unausweichlich zur „Gesellschaftspolitik“ (vgl. meine Didaktik S. 177 ff.). Aber es wird nicht ein bestimmtes, konkretes gesellschaftspolitisches Konzept zum Verfassungsgebot erklärt, sondern dies bleibt dem politischen Tagesstreit überlassen.
— Die Richter scheinen wie selbstverständlich davon ausgegangen zu sein, daß die alte obrigkeitsstaatliche Art der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft obsolet ist. Dieser Staat des Grundgesetzes lebt von dem, was die gesellschaftlichen Kräfte in ihn einbringen, und diese sind in vielem auf Staatstätigkeit, auf staatliche Vorsorge und Hilfe angewiesen. 4. Die so interpretierte demokratische Ordnung sieht Gesellschaftsveränderung durch Politik also ausdrücklich vor, freilich nicht unbesehen und total — dagegen gibt es Grundrechtsschranken. Aber sie überläßt in diesem Rahmen Art und Grad der Veränderung dem politischen Streit. Das ist der, wenn man so will, demokratie-theoretische Grund für den von Hilligen kritisierten Tatbestand, daß unsere Entwürfe in Fragen der Sozialpolitik der Möglichkeit von Alternativen den Vorzug geben vor dem Parteiergreifen im Konkreten (a. a. O., S. 274 und 277). Wo Hilligen mit seiner Kritik konkreter wird, muß er sich allerdings sagen lassen, daß er ungenau gelesen hat; so wenn er behauptet (ebda., S. 277): „Im Lernzielkatalog von Rh. Pf. wird zwar die Notwendigkeit von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit betont, nirgendwo aber werden die Eigentumsverhältnisse bzw. die strukturelle soziale Ungleichheit als Anlaß für strukturelle Reformen genannt. Der Begriff der Fortentwicklung der Gesellschaft, den Kultusminister Vogel (1972) für seine Definition des Erziehungsauftrags der Schule benutzt, hat in den . Qualifikationen'keinen Platz."
Ich breche das Zitat hier ab, weil das dann noch Folgende Sache der Wertung ist, über die man streiten kann. Gegen die erste Behauptung im Zitat aber kann ich verweisen auf die Lernziele unserer Entwürfe zur wirtschaftspolitischen Thematik (a. a. O., S. 119 und 120) und auf die ihnen zugeordneten Gegenstände zur Eigentumsfrage im besonderen und zur Sozialpolitik im allgemeinen (S. 123). Gegen die zweite Behauptung zitiere ich die vierte unserer sieben „Allgemeine Qualifikationen für das Fach Sozialkunde“ (a. a. O., S. 8): „Fähigkeit und Bereitschaft zur Wahrnehmung sozialer Kompetenz im Erkennen und Bewältigen gesellschaftlicher Probleme nach den Maßstäben persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit."
Hierin hat „Fortentwicklung der Gesellschaft" sehr wohl ihren Platz; allerdings kann nach dieser Formulierung nicht alles, was sich als sozial deklariert oder mehr Gleichheit verspricht, auch schon Beifall finden. Alle sozialen Konzepte sind ambivalent, müssen demnach auch nach freiheitsgefährdenden Elementen befragt werden.
Aus dem Dargelegten erhellt wohl schon zur Genüge, wie wenig wir geneigt sind, uns auf das Verfassungsverständnis festlegen zu lassen, das Roloff bei Manfred Hättich und mir zu finden vorgibt, freilich ohne dafür Belegstellen anzugeben (a. a. O., S. 16). Ich wüßte nicht, wie ich, orientiert an der oben zitierten Verfassungsinterpretation, auf die Idee verfallen sollte, in der bei uns konstituierten Staatsgewalt „Sinngebung" oder gar „Vollen29 düng" der Geschichte zu sehen. Dafür finden sich in meiner Didaktik zu viele Aussagen über die Relativität staatlicher Ordnung (vgl. etwa S. 34 ff. und 71 ff.), und selbst das von Roloff mir zugeschriebene funktionale Staats-verständnis steht einer solchen mystifizierenden Erhöhung des Staates entschieden entgegen (vgl. ebda., S. 90 ff.).
Gerade aus diesem Staatsverständnis stimme ich Roloff durchaus zu, wenn er sagt, Veränderungen des politischen Systems seien in der Bundesrepublik Deutschland ohne revolutionäre Änderung der Grundnormen möglich (a. a. O., S. 4). über das Ausmaß notwendiger Veränderungen sind wir, wie ich aus vielen Einzelbemerkungen bei Roloff ersehe, wahrscheinlich verschiedener Meinung. Aber dieser Dissens kann hier unbeachtet bleiben; er gehört in die politische Tagesauseinandersetzung, und Positionen in ihr dürfen nicht zum Programm politischer Bildung gemacht werden. Normative Legitimierung von Curricula durch das Grundgesetz ist nicht so zu gewinnen, daß man eine einzelne Wertnorm der Verfassung herauslöst, zum unmittelbaren „Verfassungsgebot" uminterpretiert und mit einem konkreten politischen Konzept identifiziert. Ein solches Verfahren macht Curricula parteilich und stellt die gemeinsame Basis des staatlichen Schulwesens in Frage" 3). 5. Hartwich bezeichnet das Verlangen nach Demokratisierung der Gesellschaft als ein Demokratieverständnis, das auf dem staatsbezogenen aufbaue, aber weiter reiche (a. a. O., S. 14b). Es ist dies die einzige Stelle, an der er die beiden unterschiedenen Theorien nicht einander gegenüberstellt, sondern zuordnet Hätte er die Zuordnung statt der Gegenüberstellung durchgehalten, dann hätte er sich die Frage stellen müssen, ob sich nicht hinter der Losung von der Demokratisierung der Gesellschaft sehr heterogene Demokratievorstellungen verbergen, die man nicht alle gleichermaßen als Erweiterung von Demokratie in die Gesellschaft begreifen kann.
Für die gesellschaftsbezogene Interpretation von Demokratie beruft er sich auffällig undifferenziert auf die „Tradition des marxistischen Revisionismus und Reformismus“ und auf Hermann Heller (ebda., S. 149). Nun ist Hermann Hellers Staatslehre gewiß ein imponierendes Dokument für die Öffnung dieser Disziplin zur Soziologie und Politikwissenschaft hin, und man kann mit ihrer Hilfe auch gut für die gesellschaftliche Erweiterung von Demokratie argumentieren. Dabei darf man aber nicht übersehen, daß Heller in seinem Werk eine scharfe Grenze zieht zur Marx-Engelsschen Rückführung der Staatsfunktion auf die ökonomisch bedingte Klassenspaltung und daß er sich gegen die Leugnung der Notwendigkeit einer politischen Repräsentation für die klassenlose Gesellschaft wendet: „So zeigt sich die nicht mehr zu ökonomisierende Eigengesetzlichkeit des Staates in der Universalität seiner Ordnungs-und deshalb Repressionsfunktion. Diese Aufgaben haben aber ihre letzte soziologische Begründung in der autonomen, durchaus nicht nur durch die Klassengesellschaft bedingten Repräsentationsfunktion des modernen Staates."
Solche Formulierungen sind eine Provokation für orthodoxe Marxisten. Man halte sie zur Probe einmal marxistisch argumentierenden Studenten vor, die ja auch von der Demokratisierung der Gesellschaft reden. Hier wird nämlich eine prinzipielle Grenze zur Marx-sehen Vorstellung von Demokratie sichtbar, die von der Utopie eines Absterbens des Staates lebt und Staat nur negativ als Ausdruck der Entfremdung des Menschen begreift: „Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eigenen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns ... ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besonderen und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel-und Gesamtinteressen, an ..."
Konsequenterweise radikalisiert Marx in der . Jugendfrage''den Gedanken der politischen Emanzipation im Staat zur Emanzipation von Staat und Politik Am Schluß des ersten Teiles dieser Schrift heißt es: . Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine , forces propres'als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“
Hier ist die Uberwindbarkeit politischer Repräsentation, also die Möglichkeit der Aufhebung politischer Ordnung, das Absterben des Staates proklamiert. 6. Wer in Anknüpfung an Marxsche Gedankengänge heute von Emanzipation spricht — und das tun auch in didaktischer Literatur bekanntlich nicht wenige —, muß klar sagen, ob er mit Marx Emanzipation vom Staat meint, ob er mit den marxistischen . Klassikern" Demokratie als Mittel dem Klassenkampf unterordnet oder ob er in der Dialektik von Staat und Gesellschaft, von politischer Ordnung und Freiheit nur eine Akzentsetzung vornimmt. Formulierungen wie die folgende, die hier repräsentativ steht für eine ganze Moderichtung, drücken sich mit dem Trick des Wörtchens „tendenziell an dieser Klarheit vorbei: „Im Zentrum einer politischen* Bildung, die der Demokratisierung der Gesellschaft verpflichtet ist, steht also die Analyse von Herrschaft, und diese Analyse intendiert tendenziell zugleich deren Aufhebung."
Es ist nicht zu leugnen, daß bis in offizielle Curriculumentwürfe hinein diese einseitige Sicht vorherrscht, nämlich die Frage nach dem Herrschaftsabbau. Nicht mehr oder kaum noch gefragt wird nach Sinn und gesellschaftlicher Funktion von Herrschaft, besser gesagt von politischer Ordnung, denn da der Herrschaftsbegriff mißverständlich ist, dient er unterschwellig zugleich zur Denunzierung von Staat und Ordnung. Mit dieser Tendenz ist die politische Bildung aber in Gefahr, ihren spezifischen Gegenstand, die Politik selbst, zu verfehlen. Ich bleibe daher bei meiner von Hartwich angegriffenen These: Die Verdrängung des Institutionellen (Recht, Verfassung, Staatsordnung) in manchen Entwürfen läßt einen unzureichenden Politikbegriff erkennen. Daß diese These kein Plädoyer für die Erneuerung der „Institutionenkunde''impliziert, brauche ich hier nicht näher auszuführen
Auch bei Roloff vermisse ich eine Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit von Begriff und Theorie der Emanzipation. Wenn er meint (a. a. O., S. 15), in der Forderung nach „Demokratisierung" der gesamten Gesellschaft stehe heute eine bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland verschobene Entscheidung erneut an, dann ist das doch wohl mehr historische Konstruktion als Interpretation. Eine solche Stilisierung gibt Anlaß zur kritischen Frage, ob mit „De. okratisie rung" nicht doch mehr gemeint sei als die Erweiterung von Partizipation, nämlich die Aushöhlung oder gar Verneinung der Repräsentationsfunktion staatlicher Institutionen. Die starke Betonung der antiplebiszitären Elemente im Grundgesetz, die Roloff bedauert und überwunden sehen möchte, hat bisher jedenfalls den Gesetzgeber nicht gehindert, Mitbestimmungsmöglichkeiten in den verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereichen zu sichern, und braucht ihn auch in Zukunft nicht daran zu hindern, solche Möglichkeiten auszuweiten. Ich sehe daher den Kern des heutigen Konflikts anders als Roloff nicht darin, „ob die Masse der Menschen ein Mehr an Teilhabe will und ob sie fähig ist, nicht nur im engeren institutionellen Rahmen der Politik, sondern auch in der Arbeitswelt und ihrem unmittelbaren Lebensraum ihr Leben mitzubestimmen" (a. a. O., S. 11). Denn von den Schulen über die Universitäten bis zum Arbeitsplatz, zu den Betrieben und Unternehmungen, den Sozialversicherungs-und Funk-anstalten gibt es seit langem Mitbestimmungsregelungen für Beteiligte und Betroffene. über ihre Ausweitung sollten wir getrost politisch streiten, aber wir sollten nicht so tun, als ging es darum, erst hier und heute Demokratie zu verwirklichen. Diese Sucht, in der tagespolitischen Auseinandersetzung der eigenen Position den Rang des geschichtlich Bedeutsamen zu verleihen — sie ist es doch, die bei anderen die berechtigte Frage aufkommen läßt, ob hier nicht etwas ganz anderes gemeint sei, die „andere Republik", vor der Karl Schiller einmal gewarnt hat.
Unsere Kritiker konstruieren hier eine falsche Alternative. Die Alternative heißt nicht: staatsorientierte Ordnungstheorie der Demokratie oder gesellschaftsorientierte Prozeßtheorie der Demokratisierung, sondern: Festhalten an dieser Dialektik oder ihre Auflösung zugunsten radikaldemokratischer Ablehnung der Ordnungskomponente. Demokratie-theoretische Überlegungen allein reichen zur Bewältigung dieser Problematik nicht aus, in der es exakt um die Frage geht, wie weit Demokratisierung der Gesellschaft gehen darf, ohne die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu gefährden. Es bedarf zusätzlich politiktheoretischer Erwägungen, was Hart-wich und Hilligen zu übersehen scheinen.
II. Politikbegriffe und politiktheoretische Aspekte zur Demokratisierung der Gesellschaft
1. Gehen wir von der Voraussetzung aus, die unter Demokraten, soweit ich sehe, nirgends bestritten ist, daß alles Politische grundsätzlich demokratisiert werden kann, dann wird für Klärungen in der Demokratisierungsdiskussion der Politikbegriff entscheidend. In der vielfach völlig undifferenziert vorgetragenen Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft scheint vorausgesetzt, alles Gesellschaftliche sei eo ipso politisch, soziales und politisches Handeln seien identisch. Diese Annahme bezieht einen gewissen Schein der Plausibilität daraus, daß alles Gesellschaftliche, alles, was in Gruppen und Verbänden, in sozialen Zweckorganisationen und Leistungsbereichen geschieht, politisch relevant werden kann. Aber „politisch relevant" heißt noch nicht schlechthin „politisch". Es ist auch vieles Gesellschaftliche religiös relevant, und doch würden wir uns heute gegen die Idee wehren, deshalb die ganze Gesellschaft nach religiös begründeten Ordnungskateyorien zu strukturieren. Schon dieser vergleichende Gedanke legt es nahe, Politik als eine spezifische, unterscheidbare Modalität sozialen Handelns zu interpretieren.
überblickt man die zahlreichen Versuche der Politikwissenschaft, Politik zu umschreiben oder zu definieren und bezieht sie auf die Demokratisierungsdiskussion, dann kommt man meines Erachtens nicht um den Versuch herum, den ich schon in der 1. Auflage meiner Didaktik auch für den Politikunterricht vorgeschlagen habe, einen weiteren und einen engeren Begriff von Politik zu unterscheiden (a. a. O., S. 39 ff und 122 ff.). In Anlehnung an Überlegungen von Hans Buchheim, die mit ihm zu diskutieren ich mehrfach Gelegenheit hatte, würde ich heute diese Unterscheidung genauer fassen in „Politik als Modalität" und „Politik als Bereich".
Vorweg sei zur Vermeidung von Mißverständnissen betont, daß diese Unterscheidung nicht identisch ist mit der früheren von Gesellschaft und Staat, obwohl sie, wie sich zeigen wird, mit ihr zu tun hat. Politik im weiteren Sinn ist überall in der Gesellschaft zu beobachten; Politik im engeren Sinn zielt zwar auf das normativ-institutionelle Gefüge, das wir Staat nennen, oder bedient sich seiner; Initiativen und Impulse erhält sie aber aus der Gesellschaft. Im übrigen ist das Problem der Unterscheidung von Gesellschaft und Staat nicht so rasch abzutun, wie Roloff wohl meint, wenn er sagt: „.. . zumal die theoretische Unterscheidung von Individuum, Gesellschaft und Staat unhaltbar geworden ist ..." (a. a. O., S. 24).
Unhaltbar ist zunächst einmal die begriffliche Form dieser Aussage. Es gibt ganz einfach die verschiedenen Begriffe und damit sinnvoller-B weise die Frage nach ihrem unterschiedlichen Inhalt. Gar nicht mitvollziehen kann ich den Gedanken, daß Individuum und Gesellschaft nicht mehr unterscheidbar sein sollen. Das wäre schlimmer als alle bisher vertretenen Spielarten von Kollektivismus. Worum sich die Sozialwissenschaft jedoch mit Recht müht, ist die Frage, ob die theoretisch durchaus vollziehbare Unterscheidung von Staat und Gesellschaft noch ein Fundament in der Sache, in der sozialen Wirklichkeit hat. Die überzeugende Antwort auf diese Frage scheint mir die zu sein, Staat und Gesellschaft seien in der Sache identisch, weil vom gleichen Personenverband konstituiert, aber unter bestimmten Aspekten durchaus zu unterscheiden, weil nur so verschiedene Funktionen und Sphären im menschlichen Zusammenleben im Interesse der Freiheit unterschieden und unterschiedlich geordnet werden können Staat ist ein bestimmter Aggregatzustand der Gesellschaft, aber nicht ihr einziger. 2. Politik im weiteren Sinn oder Politik als Modalität meint einen bestimmten Modus zwischenmenschlicher Kommunikation, in der es nicht in erster Linie um besondere Zwecke geht, sondern um die allgemeine Regelung des Miteinanderauskommens, um Selbstbehauptung und Interessenwahrnehmung der Beteiligten aus dem je eigenen Selbstverständnis in Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis des oder der anderen. Es handelt sich um eine bewegliche Art des Umgehens miteinander, um eine situative Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen ohne Rückgriff auf gemeinsame Sachzwecke und auf andere Gemeinsamkeiten (der Überzeugung, des Glaubens, der Liebe) oder um eine Regelung, die zusätzlich zu solchen Gemeinsamkeiten nötig wird.
Die Menschen sind, wenn sie nicht in völlige Beziehungslosigkeit oder in Feindschaft verfallen wollen, um so mehr auf diesen Modus des Umgangs miteinander angewiesen, je weniger von den genannten Gemeinsamkeiten vorhanden sind; aber auch dort, wo sie vorhanden sind, kann auf den politischen Umgang nicht ganz verzichtet werden. In allen sozialen Beziehungen und Gebilden, in einer Freundschaft so gut wie in Familie, Schule, Verein, Universität und Betrieb, bedarf es zusätzlich zu den auf Gemeinsamkeiten oder auf Sachzwecke gegründeten Regelungen allgemeiner Regeln und situativer Regelung des Miteinanderauskommens. Davon ist jeder als Person betroffen, unabhängig von Position und Status, und daher kann jeder sinnvollerweise Gleichberechtigung mit allen Beteiligten beim Finden und Anwenden dieser Regelungen fordern. Das so umschriebene Politische in den sozialen Beziehungen und Gebilden ist also demokratisierbar, weil es in personaler Betroffenheit gründet.
Nun ist aber Politik im umschriebenen Sinn nicht der eigentliche Zweck dieser Beziehungen und Gebilde, sondern sekundäres Phänomen. Demokratisierung kann hier also sinnvollerweise nur heißen, die sachbezogenen, zweckrationalen Regelungen möglichst weitgehend in Einklang zu bringen mit dem Tatbestand der personalen Betroffenheit aller Beteiligten. Die Sachzwecke dürfen nicht gleichsam wegdemokratisiert’ werden, so daß etwa in einer Schule nicht mehr oder kaum noch gelehrt und gelernt, sondern „Konfliktregelung" betrieben wird. Dies zu sagen, ist in der heutigen Diskussion nicht so überflüssig, weil selbstverständlich, wie Klaus von Beyme etwa meint
Die bisherige Überlegung zielt auf ein theoretisches Herauslösen des Politischen aus Zusammenhängen, in die es in der Praxis natürlich unlösbar verwoben ist. Deshalb soll hier nicht behauptet werden, die theoretisch richtigen und praktisch angemessenen Regelungen seien leicht zu finden. Zur personalen Betroffenheit kommt hinzu die Frage der Mitsprache und Mitentscheidung in Sachfragen. Das Maß dafür kann nur sachlich-fachliche Kompetenz sein, der eine rechtlich fixierbare Verantwortung entspricht. Darin gibt es sowohl fundamentale Unterschiede als auch gleitende Übergänge. Nicht diese Frage aber bildet den Kern der Demokratisierungsproblematik; der ist vielmehr darin zu sehen, daß die zweckrationale, funktionale Ordnung in Sozialgebilden die Rücksicht auf personale Betroffenheit aller Beteiligten nicht überflüssig, sondern dringend nötig macht. Es führt aber gar nicht weiter, sondern hält die Diskussion in der allenthalben konstatierbaren Verwirrung, wenn man immer nur pauschal nach „Demokratisierung“ ruft, ohne sich die Mühe der Unterscheidung zu machen zwischen Interessenwahrnehmung und Mitsprache aufgrund des allgemeinen Betroffen-und Beteiligtseins einerseits, der Mitbestimmung nach Maßgabe von Sachkompetenz und ihr entsprechender rechtlich fixierter Verantwortung andererseits. 3. Politik im engeren Sinn ist gleichsam die Verdichtung des soeben beschriebenen politischen Umgangs zu einem eigenen Bereich. In ihm sind nicht mehr Sachzwecke das Primäre, sondern Zuordnung, Koordinierung, Regelung im Kontext des Selbstverständnisses der Beteiligten. Diese Quasi-Verselbständigung der Ordnungsproblematik stellt sich erst auf der Ebene der Gesamtgesellschaft ein. Auf ihr geht es um die verbindliche Regelung des allgemeinen Umgangs und Auskommens der Bürger miteinander: „Im partikularen Bereich besteht die fundamentale Aufgabe der Politik darin, für einen bestimmten Kreis von Personen eine gemeinsame Orientierung zu finden; im gesamtgesellschaftlichen Bereich dagegen muß für eine unbestimmte Zahl beliebiger Personen eine allgemeine Orientierung geschaffen werden."
Entscheidend für den Politikbegriff wird hier die Analyse dessen, was eine gesamtgesellschaftlich verbindliche Regelung bedeutet. Schon in der Politik im weiteren Sinn geht es nicht ganz ohne relative Fixierung. Keine soziale Gruppe, auch nicht eine ganze Generation ist imstande, Umgangsregeln, Sitten und Konventionen völlig neu zu entwickeln, und im Augenblick, wo solche Regeln entwickelt und akzeptiert sind, haben sie ein Minimum an Verbindlichkeit für den Umgang miteinander. Ohne ein gewisses Maß an Verbindlichkeit wird Mitmenschlichkeit desavouiert. Zwischenmenschliche Kommunikation bedarf immer eines Mediums; wer es verneint oder einseitig aufkündigt, wandelt Partnerschaft und Interessengegnerschaft in bloße Feindschaft um.
In der Politik im engeren Sinn potenziert sich diese Problematik des Verhältnisses von relativer Beweglichkeit und Verbindlichkeit. Gesamtgesellschaftlich verbindliche Regelungen sind nur zu haben in der Form objektiver Normen und Institutionen. Objektiv heißt hier nicht unwandelbar, heißt auch nicht von außen gegeben. Es heißt, daß diese Normen und Institutionen der unmittelbaren und willkürlichen Veränderung durch einzelne oder Gruppen entzogen sein müssen, wenn eine verläßliche Orientierung für alle, zumal in Konfliktfällen, gegeben sein soll. Daraus folgt, daß gerade ein demokratischer Prozeß 20 diese Objektivität braucht; sie soll gewährleisten, daß auch Weiterentwicklung und Änderung allgemein zumutbar bleiben. Objektive Normen und Institutionen einer Gesellschaft sind aber nur zu entwickeln, zu bewahren und zu verändern im Prozeß der Integration der Gesellschaft zu einer handlungsfähigen Einheit. Auch und gerade die demokratische Ordnung, die nach dem Prinzip personaler Betroffenheit alle Bürger gleichwertig an Politik beteiligen möchte, ist auf Integration und Repräsentation angewiesen: „Nun entspringt die politische Willensbildung allerdings auch in der republikanischen Demokratie den permanent sich erneuernden Initiativen in der Bevölkerung; weil aber die politische Freiheit nicht nur diese Spontaneität voraussetzt, sondern ebenso fordert, daß den Entscheidungen öffentlicher Angelegenheiten eine allen zumutbare Allgemeinheit eigen ist, bedarf es nach republikanischer Theorie der Integration und Repräsentation sowie objektiver Nonnen und Institutionen" (Buchheim, a. a. 0., S. 36).
Roloff scheint diese Notwendigkeit völlig zu verkennen, wenn er beklagt, nach dem Bonner Grundgesetz sei den Staatsbürgern Mitwirkung zwar nicht verwehrt, „aber auf bestimmte institutionelle Bahnen und Verhaltensnormen verwiesen“ (a. a. O., S. 10). Als ob dies nicht Bedingung aller Bürgermitwirkung in jeder Art Verfassung sein müßte, will sie effizient werden! Wenn Roloff schließlich am Ende seines Aufsatzes für einen demokratischen Staat plädiert, „in dem alle Gewalt nicht vom Volke ausgeht, sondern auch von ihm ausgeübt wird", in dem die Mehrheit ihre Grundrechte nicht nur in Anspruch nimmt, sondern auch „den Schutz ihrer menschlichen Würde selbst" garantiert (a. a. O., S. 29), dann gibt er die dem Verfassungsstaat inhärente Unterscheidung von ius maiestatis, welches das Volk ausüben kann, und ius regni, welches es nur übertragen kann, offensichtlich auf und stellt sich damit nicht nur gegen die europäische Staatstheorie einschließlich Rousseaus sondern auch gegen ein Grundprinzip unserer Verfassung und gegen alle Erfahrung, daß Menschenwürde von Staatsgewalt zwar unterdrückt werden kann, aber ohne Staat schutzlos jeder Willkür preisgegeben ist.
Auch die von Hartwich für die Demokratisierungstheorie in Anspruch genommene Staatslehre Hermann Hellers faßt das Politische zwar weiter als den „Staat", sieht aber den spezifischen Sinn der Politik in ihrer gesamtgesellschaftlichen Funktion der Sicherung einer verbindlichen Ordnung (a. a. O., S. 203 ff.).
Politik im engeren Sinn können wir demnach alles Handeln nennen, das auf die gesamtgesellschaftliche Ordnung gerichtet ist, sei es, daß es diese Ordnung ausdrücklich intendiert, bewahren oder verändern will, sei es, daß es sie für irgendwelche Zwecke und Interessen in Anspruch nehmen will. Logischerweise ist letztere Art politischen Handelns an die Voraussetzung geknüpft, daß eine Ordnung vorhanden ist; das heißt, die politische Ordnung der Gesamtgesellschaft ist die Bedingung der Möglichkeit politischer Regelung gesellschaftlicher Probleme. Das Insistieren darauf ist nicht Ausfluß statischen oder konservativen Denkens. Konservative wie progressive Politik, auch Politik im Sinne individueller oder kollektiver Emanzipation kommt nicht an der Notwendigkeit vorbei, sich in den Horizont der Allgemeinheit und gesamtgesellschaftlichen Verbindlichkeit zu transformieren. Totale Emanzipation von politischer Ordnung durch Politik ist ein Widerspruch in sich. Demokratisierung der Gesellschaft durch Politik kommt an der Ordnungsfrage nicht vorbei; sie löst nicht Ordnung einfach auf, sondern will und muß an die Stelle alter neue Ordnungen setzen. Es ist „kein Etatismus, sondern entspringt der Einsicht in die Komplexität der Gesellschaft, wenn man feststellt, daß das, was nicht in der Sprache des Staates gesagt werden kann, auch nicht im Namen der Gesellschaft gesagt werden kann"
Hier haben wir übrigens den Grund für den empirisch feststellbaren Tatbestand, daß der Versuch, über staatliche Sozial-und Gesellschaftspolitik Freiheit durch mehr Gleichheit abzusichern — so vieles für eine solche Politik auch spricht — immer auch neue Bindungen schafft, Staatsmacht vermehrt. Diese Ambivalenz der Gesellschaftspolitik wird von den Verfechtern kollektiver Emanzipation kaum gesehen, jedenfalls in ihren Veröffentlichungen zu wenig reflektiert.
Schließlich ist die Unvermeidlichkeit von Integration und Repräsentation auch der politiktheoretische Grund für meine von Hart-wich kritisierte Behauptung, die Tendenz mancher Curriculumentwürie, Politik gleichsam gesellschaftlich aufzulösen, verfehle Politik im Kern. Wo das Feld der Inneren Politik in „Öffentliche Aufgaben“ oder „Öffentlichkeit“ aufgelöst wird, wird die Ordnungsfrage gar nicht oder nur am Rande gestellt sie wird jedenfalls sekundär, so als ginge es in der Politik lediglich um die möglichst zweckmäßige oder möglichst im Interesse bestimmter Gruppen liegende Wahrnehmung von Aufgaben öffentlicher Daseinsvorsorge. Für ein solches Politikverständnis werden konsequenterweise die Unterrichtsgegenstände relativ oder völlig beliebig. Für das hier entwickelte Politikverständnis hingegen hat diese Beliebigkeit deutliche Grenzen insofern, als die Schule, gewiß in der Durchdringung aktueller Politik, die Systematisierung von Wissen über die politischen Ordnungsstrukturen unserer Gesellschaft, über die Institutionen und ihre Funktionen zu leisten hat bis hin zur Erhellung der zugrunde liegenden Sinnkategorien. Nur so wird Kritik und wird die Frage nach möglicher und nötiger Veränderung sinnvoll, weil nur so die politische Realität als Ausgangspunkt für Veränderungen wahrgenommen und beim Wort ihrer eigenen Theorie genommen werden kann. Von der von Hartwich befürchteten bloßen Anpassung ist dieses Verständnis politischer Bildung weit entfernt.
Die Ordnungsfrage ist nicht um der Ordnung, sondern um der Freiheit willen zu stellen. Lassen wir das Problem beiseite, wie weit innere, religiös oder philosophisch gefaßte Freiheit, Glaubens-und Gewissensfreiheit letztlich unabhängig von und vielleicht auch gegen äußere Ordnungen vollziehbar bleibt. Gesellschaftliche, öffentliche Freiheit als Freiheit sozialen Handelns und politische Freiheit als Freiheit der Mitwirkung an gesamtgesellschaftlicher Willensbildung und Entscheidung bedürfen der institutionell-normativen Sicherung. Das zentrale Problem aller Politik lautet, wie eine gesamtgesellschaftliche Ordnung zu schaffen und zu erhalten sei, die diese Freiheit aller ermöglicht. Wir wissen heute, daß dazu unter den Bedingungen der industriellen Gesellschaft auch umfassende Sozialpolitik nötig ist. Aber darüber darf doch das Ziel, die Freiheit samt ihrer institutionellen Sicherung, nicht aus dem Auge verloren werden.
Weil die Ordnungsfrage um der Freiheit willen im Mittelpunkt der Politik steht, ist es auch so naiv, die angeblich formalen Elemente einer freiheitlich-demokratischen Ordnung im Interesse angeblich materialer Demokratie zu beliebigen, disponiblen „Spielregeln" herabzuqualifizieren Die geltenden „Spielregeln“ darf hur in Frage stellen, wer die Ordnungsfrage im eben umschriebenen Sinn stellt; sonst wird der Sinn des Formalen einer politischen Ordnung verkannt. Wenn nur noch ganz bestimmte inhaltliche Interessen, die richtigen oder höheren, sich auf die formalen Regeln berufen dürfen, ist es mit der Freiheit aller vorbei.
Roloff wird der hier umschriebenen Dialektik von Freiheit und Ordnung ganz und gar nicht gerecht, wenn-er schreibt: „Jede Staatsgewalt, auch in Rechtsstaaten wie dem unseren, tendiert aber dahin, sich für den Garanten der Freiheit zu halten (weil ihre Legitimation darauf beruht) und mithin Gefährdungen ihrer selbst als Angriff auf die Grundwerte der Ordnung abzuwehren. Keine Staatsgewalt wird eine Aufforderung zum Bruch der Legalität, d. h.der geltenden Rechte und Gesetze zu tolerieren bereit sein, selbst wenn diese als . Einlösung von Verfassungsansprüchen'legitim erscheint" (a. a. O., S. 15). Der demokratische Rechtsstaat darf um der Freiheit seiner Bürger willen die Aufforderung zum Bruch der Legalität nicht dulden. Sie ist gleichbedeutend mit der Weigerung, sich am Willensbildungs-und Integrationsprozeß zu beteiligen, der durchaus auf Änderung von Gesetzen und auch von Institutionen zielen kann. Roloff erweckt an dieser und an anderen Stellen den Eindruck, als sei der Extrem-and Ausnahmefall des Widerstandsrechtes und der Revolution der Normalfall. Ebendies zu verhindern und Opposition zu legalisieren, ist Sinn der demokratischen Verfassung eines Gemeinwesens. Und er erweckt an anderer Stelle (a. a. O., S. 22) den Eindruck, als erklärten Didaktiker, die das Institutioneile und die Achtung vor Institutionen betonen, diese für sakrosankt. Auch Institutionen können im demokratischen Konsensverfahren weiterentwickelt und verändert werden, sinnvollerweise freilich unter erheblich schwierigeren Bedingungen, als sie für die Änderung von Gesetzen gelten. 4. Unsere politiktheoretischen Überlegungen sollen beitragen zur Klärung der Probleme, die sich unter dem Schlagwort von der Demokratisierung der Gesellschaft mehr verbergen als darstellen. Es sind dies bisher das Problem der Binnendemokratisierung sozialer Gebilde unter gleichzeitiger Respektierung ihrer Sachzwecke und der personalen Betroffenheit der Beteiligten und das Problem einer freiheitlich-demokratischen politischen Gesamtordnung. Es bleibt ein drittes, nämlich die demokratische Bändigung und Kontrolle partikularer Mächte. Von diesem Problem geht bei vielen Autoren die Demokratisierungsdiskussion aus, wenn sie dann auch ausgeufert ist. Es steht auch im Vordergrund in den von Hart-wich zitierten Ausführungen von Hermann Heller und von Besson/Jasper. Akzeptiert man die Unterscheidung von Politik im weiteren und im engeren Sinn und die Unaufhebbarkeit der Dialektik von Freiheit und Ordnung, dann ergibt sich als Lösungsweg nur die Machtdisposition im Rahmen der gesamtgesellschaftlich verbindlichen Ordnung. Binnendemokratisierung kann diesen Weg allenfalls ergänzen, nicht jedoch ersetzen.
Es geht hier um die früher schon berührte politische Relevanz der primär nichtpolitischen Bereiche und Gebilde. Es bestreitet niemand, daß das, was an Universitäten und in Betrieben und Unternehmungen geschieht, politisch von großer Bedeutung ist, d. h. von Bedeutung für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und für ihre Ordnung. Gerade weil und soweit es das ist, unterliegt es daher der Ordnungskompetenz der politischen Organe, die für die Machtdisposition in der Gesellschaft als ganzer zuständig sind. Soweit wegen dieser politischen Relevanz verbindliche Regelungen notwendig werden, sind sie so zu treffen, daß einerseits partikulare Macht eben partikular bleibt und andererseits der Staat die Wahrnehmung der besonderen Zwecke und Interessen nicht absorbiert, sondern ermöglicht. Die Notwendigkeit institutionell-normativer Sicherung gesellschaftlicher Freiheit nach beiden Seiten hin leuchtet hier unmittelbar ein. Aber es leuchtet gar nicht ein, wie man von dieser Aufgabenstellung her zur Unterscheidung der Demokratietheorien nach Hartwich kommen kann. Hier ist staatliche Ordnungspolitik in hohem Maße gefordert, während gesellschaftliche „Demokratisierung" das Problem nicht lösen kann. Konkreter heißt das z. B.,'daß der Staat die Aufgabe hat, die Freiheit von Forschung, Leh-B re und Studium an den Universitäten normativ zu sichern; daß er diese Aufgabe weder den dort tätigen und häufig konfligierenden Gruppen überlassen darf, noch sie so wahrnehmen darf, daß er selbst die Freiheit stranguliert. Die Ereignisse an vielen Universitäten in den letzten Jahren sind ein demonstrativer Beweis dafür, daß nicht nur die Allgegenwart, sondern auch die Absenz des Staates freiheitsgefährend wirkt.
Für andere Bereiche mag die konkrete Regelung anders aussehen; aber generell gilt, daß man grundsätzlich unterscheiden muß zwischen Regelungen, die Interessenvertretung und entspräche Betroffener und Beteiligter ermöglichen sollen, und solchen, die im Blick auf gesamtgesellschaltliche Relevanz erfolgen. Daß beides unter dem Etikett Demokratisierung abgehandelt wird, hat die Diskussion heillos verwirrt. Ein Asta vertritt die Interessen von Studenten, ein Aufsichtsrat die von Anteilseignern und (vielleicht demnächst paritätisch) Arbeitnehmern eines Unternehmens in Unternehmensfragen, der Betriebsrat einer Rundfunkanstalt die Interessen der dort Beschäftigten. Aber keines dieser Gremien hat die Interessen der Gesamtgesellschaft in oder gegenüber der Universität, dem Unternehmen, der Rundfunkanstalt zu vertreten; das können nur Organe der Gesamtgesellschaft. Und keines dieser Gremien hat die auf die Gesellschaft als ganze bezogenen, d. h. die im engeren Sinn politischen Interessen seiner Wähler zu vertreten. Das soge-nannte allgemeine politische Mandat, das den Schüler, Arbeiter, AOK-Versicherten zwingt, bei der Wahl seiner Vertreter bereichsspezifischer Interessen auch noch über die deutsche Ostpolitik oder über Fragen der Energieversorgung mit abzustimmen, desavouiert mit den partikularen und spezifischen Interessen auch die spezifischen Zwecke der einzelnen sozialen Gebilde und Bereiche durch eine unerträgliche, freiheitsmindernde Politisierung. Demokratisierung bedeutet Politisierung, was ganz wertneutral gemeint ist; denn Demokratisierung aktualisiert das Politische an einer Sache, in einem Bereich oder einem Gebilde. Deshalb muß Demokratisierung bereichsspezifisch erfolgen, und es ist daher durchaus kein akademischer Streit, wie Hartwich meint, ob es ratsam ist, zwischen Demokratie und Partizipation zu unterscheiden (a. a. O., S. 146). Es ist der Streit um bereichsspezifische, sachadäquate oder pauschale, unsachliche und deshalb schließlich auch unmenschlische Politisierung. Jedenfalls hilft in diesem Streit weder die undifferenzierte Rede von „Demokratisierung der Gesellschaft" noch Hartwichs Unterscheidung der beiden Demokratietheorien zur Klärung.
III. Geschichtlichkeit und Normativität
1. E. -A. Roloff markiert schon im Titel seines Aufsatzes den Hauptakzent seiner Kritik, in diesem Punkt, wie er meint, die Entwürfe aller drei Länder treffend: Es fehle ihnen „die historische Dimension, in der auch die Normen des Grundgesetzes und ihre Umsetzung in die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik zu sehen sind" (a. a. O., S. 9). Für die Richtlinien von Rheinland-Pfalz wird diese Kritik verschärft mit der Behauptung, in ihnen werde weder nach der Genese der nur funktional verstandenen Institutionen noch nach der historischen Bedingtheit gesellschaftlicher und politischer Normen gefragt; die Richtlinien fielen damit noch hinter die ursprüngliche Systemtheorie von Parsons zurück, in der die historische Dimension immerhin noch angedeutet sei (a. a. O., S. 18 f.). Dem „a-histori-schen Funktionalismus", den Roloff bei uns zu sehen glaubt, setzt er durchgehend eine dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse verpflichtete „historisch vorgehende Politikwissenschaft" entgegen, die nach Helga Grebing Demokratie als historische Kategorie reflektiere und so die statische, normativ-begriffliche Fixierung von Demokratie ersetze durch die interpretierende Beschreibung des historisch-dynamischen Prozesses der Demokratisierung (a. a. O., S. 9).
Nun habe ich zwar in den beiden voranstehenden Abschnitten zu zeigen versucht, warum wir die bloße Gegenüberstellung von Ordnung und Prozeß, von Normativität und Entwicklung für eine falsche Alternative halten. Ich will mich aber mit dem Verweis darauf nicht begnügen, weil die Frage nach der Bedeutung der historischen Dimension für die politische Bildung und die Deutung der Geschichtlichkeit damit nicht hinreichend erfaßt wären. Ich meine vielmehr zeigen zu können, daß nicht unsere Entwürfe, sondern Roloffs Deutung der historischen Dimension und seine Interpretation von Geschichtlichkeit im Grunde a-historisch, weil von viel zu kurzem historischem Atem gespeist sind. Zuvor ist jedoch mit Nachdruck Roloffs Behauptung zu widerlegen, wir frönten einem a-historischen Funktionalismus. 2. Vordergründig geht es um das Verhältnis von Geschichtsund Politikunterricht — eine didaktisch noch lange nicht ausdiskutierte Frage. Eine Intention der in Rheinland-Pfalz zuerst entwickelten Entwürfe für Sozialkunde der Sekundarstufe I war es, zunächst einmal das Spezifische soziologischer und politikwissenschaftlicher Frageweise sichtbar zu machen für Sozialkundelehrer, die in der Regel Geschichte, nicht aber Politikwissenschaft studiert hatten. Ein a-historischer oder gar anti-historischer Akzent hätte daher nahegelegen. Daß wir ihn dennoch nicht gesetzt haben, darüber kann schon ein flüchtiger Blick in die Einleitung zu unserem Themenkatalog belehren.
Als Formalobjekt des Faches Sozialkunde wird dort die politische Ordnung bezeichnet, „verstanden sowohl als Zustand wie auch als Aufgabe und Prozeß. Deshalb ist Sozialkunde mehr als Verfassungs-und Institutionenkunde. Sie betrachtet den Staat und seine Ordnungen nicht als vorgegebene statische Größen, sondern in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit einerseits, in ihren Funktionen für die Gesellschaft andererseits. Sozialkunde muß also darstellen, was ist, aber auch fragen, was sein soll" (a. a. O., S. 63). Demgegenüber wird Roloff seine Behautpung kaum aufrechterhalten wollen, unsere Konzeption sei „insofern unpolitisch, als sie die historische Dimension ausschließlich in der Gegenwart auslaufen läßt" (a. a. O., S. 23). Wer ferner meine Didaktik kennt, weiß, daß ich wie kaum ein anderer Didaktiker der politischen Bildung den Aufgabencharakter und damit die Offenheit und Zukunftsorientiertheit als den didaktisch relevanten Gegenstand politischer Urteilsbildung herausgestellt habe (vgl. meine Didaktik, z. B. S. 153 ff. und S. 271 ff.).
Richtig ist, daß die lernzielorientierten Ausarbeitungen unserer Themen für die Klassen 9 und 10 strukturanalytisch, funktional und sozialethisch orientiert sind, eben weil sie dem Geschichtslehrer Hilfen bieten sollten zur Einarbeitung in diese Betrachtungsweisen. Aber die Themen sind, wie in der didaktischen Einleitung ebenfalls ausdrücklich gesagt (a. a. O., S. 65), der in der 10. Klasse zu behandelnden Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zugeordnet, gemäß dem Auswahlkriterium permanenter Aktualität. Dies bedeutet, daß die Wahl gerade dieser Themen (z. B.: Struktur und Wandel der Industriegesellschaft, Wirtschafts-und Sozialordnung als politische Aufgaben, Europäische Einigung, Probleme der Weltpolitik) sachlich überhaupt nur aus der historischen Dimension legitimiert ist. Schließlich ist in dem Papier des rheinland-pfälzischen Kultusministeriums, das die Allgemeinen Qualifikationen der Sozial-kunde begründet und zur Diskussion stellt, auf die Aspekte der Nachbarfächer und auf die noch ausstehende Aufgabe, fächerübergreifende Ziele zu formulieren, hingewiesen (a. a. O„ S. 3.).
Gemäß den KMK-Beschlüssen zur Reform der Sekundarstufe II sind in den 1973 erschienenen Curriculum-Entwürfen der Mainzer Studienstufe die Fächer Geschichte, Sozialkunde und Erdkunde unter dem (fragwürdigen) Oberbegriff „Gemeinschaftskunde" erheblich stärker zusammengerückt, und zwar unter fächerübergreifenden Halbjahresthemen. Auch hier war die historische Dimension zur Bestimmung von Auswahlkriterien unentbehrlich. Im Vorwort zum „Grundkurs Gemeinschaftskunde" ist entsprechend vom gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bezugsrahmen sowie von der Notwendigkeit der historischen Dimension zur Erfassung politischer Systeme die Rede (a. a. O., S. 269 f.). Ich will nicht behaupten, daß die damit gestellte Aufgabe in unseren Entwürfen schon überall hinlänglich geleistet wäre. Diese sind eher Werkstattberichte zur Diskussion und Erprobung als fertige Curricula. Aber den Roloffschen Vorwurf haben sie nicht verdient. Anstelle einer Fülle beizubringender Zitate beschränke ich mich auf die Wiedergabe eines einzelnen Lernzieles fächerübergreifender Art aus dem ersten Halbjahreskurs: „Fähigkeit, soziale Prozesse nach formalen, funktionalen und genetischen Kriterien zu beobachten, mit ähnlichen Vorgängen zu vergleichen und die Ergebnisse zu abstrahieren" (a. a. O., S. 275).
Richtlinienkritik ist eine Hauptaufgabe des Didaktikers, und sie ist notwendig zur Bewältigung dessen, was Roloff mit Habermas das Legitimationsproblem nennt. Sie ist freilich nur zu leisten nach intensiver Lektüre des zu Kritisierenden. 3. Fragt man nun aber nach der didaktischen Relevanz der historischen Dimension bei Roloff selbst, dann stößt man auf eine eigenartiB ge Kurzatmigkeit angesichts der Fülle der Aspekte der europäischen und gar der Weltgeschichte. Die historische Dimension, heißt es (a. a. O., S. 13), betrachte „Emanzipation" „als Kampf um die jeweils mögliche Freiheit von Herrschaft, d. h. unter dem Prinzip der Parteinahme für die um Freiheit Ringenden". Hätte Roloff hier nicht eigenartigerweise die historische Dimension zum Subjekt gemacht, dann hätte er dem Leser vielleicht mitgeteilt, wer hier betrachtet, und dann wäre in einem Aufsatz, der immerhin über das Legitimationsproblem politischer Bildung handelt, vielleicht auch das Legitimationsproblem der Emanzipationspädagogik sichtbar geworden. Jedenfalls ist der Aspekt der Emanzipation, wie immer man diese definieren mag, sowohl faktisch in heutiger Geschichtswissenschaft als auch normativ, gemessen an den Grundwerten unserer Verfassung, nur einer von vielen möglichen bei der Betrachtung der Geschichte. Und daß Emanzipation in der erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Diskussion fraglos als oberste Zielnorm akzeptiert wäre, diesen Eindruck sollte man nicht erwecken 24a).
In welche Englührung ein der „kritischen Theorie" verpflichtetes Emanzipationsverständnis gerät, dafür liefert Roloff selbst Belege. Wieso ist es eigentlich „die Frage .. ., ob die Bundesrepublik Deutschland und ihr Grundgesetz nur einen Zwischenzustand in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft markieren oder einen Endzustand erreicht haben" (a. a. O., S. 27)? Das mag Roloffs Frage sein; das mag die Frage einer marxistisch inspirierten Geschichtsbetrachtung sein, die Geschichte glaubt objektiv gültig als Gesamtprozeß einer Entwicklung auf ein Ziel hin erfassen zu können. Ich stehe nicht an zu erklären, daß ich die Frage für absurd halte; ebenso wie Roloffs Behauptung, normativ orientierte Didaktiker und Politiker vermöchten Gefährdungen und Beeinträchtigungen der Menschenrechte in unserem System nur als Folgen individuellen Fehlverhaltens, „keineswegs aber (als) strukturell bedingt" zu begreifen (a. a. O., S. 25). Seit wann schließen Normen, Strukturen und Gewissensleistungen des einzelnen als Determinanten von Verhalten einander aus?
Die komplexen Phänomene, um die es hier geht, sind bei Roloff theoretisch-begrifflich deshalb nicht bewältigt, weil sein Instrumen tarium nicht ausreicht. Die von Aufklärunc und Idealismus entwickelten Kategorien de individuellen Emanzipation und des Fort schritts, von Marx mit Hilfe der Hegelschei Dialektik kollektiv umgedeutet, können unse rer Geschichtsbetrachtung Impulse geben unc müssen als heute noch virulente Fragen Ge genstand der Auseinandersetzung sein. Zu. Deutung von Geschichte und Gesellschaft rei chen sie allein nicht aus, und der mit ihnei häufig verknüpfte missionarische Absolut heitsanspruch ist gefährlich.
Alles Geschichtliche ist unter Wert-und Sinn aspekten ambivalent und vielfältig deutbar Unsere Sympathie mag heute eher Spartakus und seinen Aufständischen als Pompeius unc dem römischen Senat, eher den Bauernhaufer um Florian Geyer und Thomas Müntzer als der obsiegenden „Obrigkeit", eher den Bastil lestürmern als dem Hof Ludwigs XVI. gehören. Die Fülle des Geschehens, des Gewollten des Verwirklichten wie des Vergeblichen läßt sich jedoch nicht säuberlich in Fortschrit und Rückschritt oder gar in Gut und Böse sortieren. Audi der römische Senat, auch Luther in seiner Schrift wider die Bauern hatte Legitimationsgründe; und ist nicht die Frage berechtigt, obzwar unbeantwortbar, ob nicht eine entschieden auf Reformkurs gehende Herrscherfigur auf Ludwigs XVI. Thron vielleicht viel Unheil verhindert hätte, das im Gefolge der Französischen Revolution doch auch über Frankreich und Europa kam?
Daß der Kampf um Demokratie weitergeht, das soll nach Roloff „den Zukunftsbezug der historischen Dimension in der politischen Bildung" ausmachen (a. a. O., S. 25). Aber welche Demokratie ist gemeint? Die von Jefferson oder die von Robespierre? Die von Lassalle oder die von Marx? Die von Wilson oder die von Lenin? Und gehört zum Zukunftsbezug politischer Bildung nicht auch der Kampf um mehr Rechtsstaatlichkeit, um mehr soziale Gerechtigkeit, um mehr und sichereren Frieden in der Welt? Roloff wird diese Frage nicht verneinen, aber er kann das alles doch nicht sinnvollerweise dem Begriff Demokratie aufladen; dies zumal deshalb nicht, weil auch seine „historisch-dynamische Interpretation“ der Würde des Menschen nur auf mehr Selbst-und Mitbestimmung zielt (a. a. O., S. 24), beiseitelassend, daß Menschenwürde, Grundrechte, soziale Gerechtigkeit und Frieden nur durch staatliche Ordnung gesichert werden können. Weil Geschichtlichkeit eine universale Kategorie ist, darf die historische Dimension nicht so eng gefaßt werden, wie Roloff das tut. Sie geht nicht in politischer Bildung auf — ein Aspekt, der für einen eigenständigen Geschichtsunterricht spricht. Sie ist aber für die politische Bildung unentbehrlich, weil geschichtliches und politisches Bewußtsein untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. meine Didaktik, S 100 ff.). Diese Unentbehrlichkeit verbietet es freilich, die historische Dimension kategorial (z. B. auf den emanzipatorischen Aspekt) oder zeitlich (auf das 19. und 20. Jahrhundert) zu verkürzen. Gerade wenn wir im Sinne moderner Historie uns des Gegenwartsbezugs aller Geschichtsbetrachtung vergewissern, dann wird Geschichtswissenschaft zur historischen Ortsbestimmung der Gegenwart, nicht zur bloßen Dienerin gegenwärtiger Tendenzen; dann darf die Dialektik von Geschichts-und Gegenwartsbewußtsein nicht einseitig aufgelöst werden; dann enthält die Aufgabe einer Ortsbestimmung der Gegenwart möglicherweise viel mehr an Aspekten und Fragen, als wir durch die Brille heutiger Anschauungen und Neigungen zu sehen vermögen. Geschichtliche und politische Bildung müssen sich gegenseitig ergänzen und korrigieren, weil Geschichtsbild, Gegenwartsdeutung und Zukunftsentwurf im politischen Handeln untrennbar miteinander verbunden sind. Es besteht aber die große Gefahr, daß darin der politische und der geschichtliche Horizont sich gegenseitig ideologisch verkürzen. Dagegen gilt es zu beherzigen, was Arnold Bergstraesser sagte: „Wird Politik zur Weltpolitik, so ist die weltgeschichtliche Besinnung ihr notwendiges Korrelat." Dies ist der Grund, weshalb z. B. die Entwürfe zum Grundkurs Gemeinschaftskunde der Mainzer Studienstufe prinzipiell die ganze Menschheitsgeschichte als möglichen Gegenstand anbieten, wenn auch inhaltlich das der Gegenwart Nähere im Vordergrund steht. 4. Theoretisch begründet sind die Verengungen bei Roloff in einem verkürzten Verständnis von Geschichtlichkeit. Man findet sie in seinem Aufsatz immer nur als Chiffre für die emanzipatorisch in Anspruch genommene „historische Dimension" der gesellschaftlich-politischen Probleme. Eigenartigerweise konstatiert er, in meiner Didaktik sei Geschichtlichkeit „beschränkt" auf den anthropologischen Bereich (a. a. O., S. 17). Aber gerade die anthropologische Fundierung macht doch Geschichtlichkeit zu einer universalen Kategorie: Alle menschliche Verwirklichung, alles Gesellschaftliche ist geschichtlich, aus geschichtlich bereits Gewordenem bedingt und nach der Zukunft hin offen, unvollendet und unvollendbar Roloff hat offenbar gar nicht gesehen, daß ich gerade vom anthropologischen Ansatz her auch die im engeren Sinn sozial-und politikwissenschaftlichen Kategorien in meiner Didaktik im historischen Kontext entwickele (vgl. ebda. S. 55 ff. und S. 137). Die Stelle, die er als Beleg für meine „funktionalistische" Position anführt (a. a. O., S. 17), ist zugleich durch und durch historisci., nämlich als Polemik gegen Versuche, in der heutigen Zeit-und Weltsituation eine ausgesprochen nationale Erziehung zu propagieren. Schließlich kann ich den Hinweis darauf nicht unterdrücken, daß der von Roloff (ebda.) gegen mein Verständnis von Geschichtlichkeit zitierte Satz von Fr. Minssen wörtlich so bei mir steht (Didaktik, S. 100).
Das Verständnis von Geschichtlichkeit als universaler anthropologischer Kategorie führt zur Annahme einer unaufhebbaren Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität, von über-zeitlicher Normativität und zeitbedingter Realisierung. Der „Funktionalismus", den Roloff aus meiner Didaktik und aus den Mainzer Curriculumentwürfen liest, ist nicht der Funktionalismus der Systemtheorie, sondern entspringt der sozialphilosophischen Grundannahme, daß der Mensch als ein der Rationalität fähiges Wesen an politische Ordnungen grundsätzlich die Legitimitätsfrage stellt, d. h. ihren Daseinsgrund nur akzeptiert, wenn er sich aus seinem Daseinsverständnis herleiten läßt Die Frage, um welcher Ziele willen Staat und politische Ordnung als legitim gedacht werden können, hat geschichtlich sehr verschiedenartige Antworten gefunden, ist aber als Frage in allen Ordnungsformen erkennbar. Diese und andere Erkenntnisse berechtigen auch in einer historischen Sozialwissenschaft zur Frage nach den anthropologischen Konstanten. Roloffs Gegenüberstellung von historischer Sozialwissenschait und normativ orientierter Wissenschaftstradition aristotelischer Herkunft (a. a. O„ S. 8) scheint mir so nicht haltbar. Einerseits ist diese Wissenschaftstradition im unvermeidlichen Durchgang durch den Historismus des 19. Jahrhunderts verwandelt und hat Geschichtlichkeit als Grundkategorie in sich aufgenommen Andererseits enthält die „kritische Theorie", zumal auch in der Fortentwicklung durch Roloffs Hauptgewährsmann Habermas, durchaus anthropologisch-normative Elemente; sie enthält sie offensichtlich sogar so zentral, daß Kritiker ihr einen Umschlag von Kritik in Dogmatismus vorwerfen können Lassen wir letzteres dahingestellt; sicher ist, daß bei Habermas die Spannung zwischen historischer Relativität und theoretischer Gewißheit ebenso zu finden ist wie bei Denkern der aristotelischen Wissenschaftstradition. Die Maßstäbe der Selbstreflexion, sagt Habermas, könnten „a priori eingesehen werden" und seien „theoretisch gewiß" Seine Unterscheidung von Arbeit und Interaktion, von instrumentalem Verhalten und kommunikativem Handeln ist nichts anderes als die aristotelische Unterscheidung von Poiesis und Praxis, von facere und agere In beiden Versuchen geht es um das Benennen anthropologisch-sozialer Grundstrukturen zur Gewinnung objektiver, das Erkenntnisinteresse leitender Maßstäbe.
So ist denn auch Habermas'Plädoyer für die „praktische Vernunft" und „alteuropäische Menschenwürde" am Ende seines jüngsten Buches für den der aristotelischen Tradition verpflichteten Sozialwissenschaftler durchaus mehr als akzeptabel 31®). Die Frage nach einer möglichen Differenz reduziert sich darauf, ob Habermas am marxistisch inspirierten Anspruch der „kritischen Theorie" weiterhin festhält, die Totalität der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Bewegung erfassen zu können Dem wäre zu widersprechen gerade unter Berufung auf Geschichtlichkeit. Die von Roloff als normativ und aristotelisch charakterisierten Politikwissenschaftler und Didaktiker haben insofern das offenere Geschichtsbild als die „emanzipatorische" historische Sozialwissenschaft. Sie verteidigen die Prinzipien und Normen einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung nicht etwa aus der arroganten Annahme heraus, in ihnen sei die Geschichte vollendet, in ihrem Sinn erfüllt; sie verteidigen sie gegen die eindimensionalen Geschichtsdeutungen und Zukunftsentwürfe als heute unentbehrliche Leitlinien politischen Gestaltens in den sich wandelnden, nie ganz erhellbaren Situationen im offenen, unabschließbaren Gang der Geschichte.
IV. Sozialphilosophische Prämissen
1. Hier sollen keine philosophischen Spekulationen entfaltet, sondern nur kurz um der Transparenz willen die Prämissen aus dem Bereich der philosophischen Anthropologie und der Sozialphilosophie skizziert werden, die sowohl meinen bisherigen Darlegungen als auch unseren Curriculumentwürfen zugrunde liegen. Für die politik-und demokratietheoretische wie auch für die didaktische und curriculare Diskussion heute scheint mir dabei besonders wichtig, daß diese Prämissen nicht unbedingt einer einzigen philosophischen Richtung verpflichtet sind. Wir bewegen uns mit ihnen im Umkreis dessen, was als „Menschenbild des Grundgesetzes' bezeichnet werden kann und vom Bundesverfas-sungsgericht mehrfach so umschrieben wurde: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum — Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei ihren Eigenwert änzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Artikel 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Dies heißt aber: Der einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt."
Wir meinen, daß diese Umschreibung konsensfähig sein könnte auch für die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorieansätze und didaktischen Konzepte politischer Bildung. 2. Unsere erste Grundvoraussetzung ist die, daß die menschliche Person, wie immer man sie beschreiben oder definieren möge, /ndivi-duum und Gesellschaftswesen zugleich ist. Individualität und Sozialität bedingen sich gegenseitig und sind beide für die Person konstitutiv. Gesellschaft entsteht aus der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen durch Personen, aber die Person kann sich nur entfalten in solchen Beziehungen. Person ist immer Quelle und Produkt der Gesellschaft zugleich. Daraus folgt nicht die Gleichwertigkeit von Person und Gesellschaft, denn nicht die Gesellschaft, wohl aber jede Person bildet eine substantielle Einheit, ist handelndes Subjekt. Alles Gesellschaftliche gewinnt seinen Sinn letztlich nur aus seiner Personbezogenheit.
Unsere zweite Grundvoraussetzung ist die der Geschichtlichkeit von Person und Gesellschaft. Person steht nicht ein für allemal fertig vor uns, sondern verwirklicht sich in sich wandelnden Situationen, ist sich gegeben und aufgegeben zugleich. Habermas umschreibt diesen Tatbestand als Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität: „Die . Natur'des Menschen . . . begegnet als eine . Bestimmung'in des Wortes doppelter Bedeutung . . . Das, was am Menschen den Menschen ausmacht, Humanität, hat diesen doppelten Cha-rakter: dem Menschen selbst in die Hand gegeben, zugleich gegeben und aufgegeben zu sein."
Es gibt keinen empirisch faßbaren Grund für die Annahme, der Prozeß des sich wandelnden menschlichen Selbstvollzugs in einer sich wandelnden Gesellschaft könne irgendwann einmal zum Abschluß, zu einer Vollendung gebracht werden. Geschichtlichkeit des Menschen in seiner Gesellschaft heißt daher Leben zwischen Überlieferung und Fortschritt und heißt Offenheit und Unvollendbarkeit von Geschichte und Gesellschaft. 3. Daß Politik im oben umschriebenen doppelten Sinn ihren Ursprung in diesem gesellschaftlich-geschichtlich bedingten Personsein des Menschen hat, ist unmittelbar einsichtig. Der Mensch findet sich vor in sozialen Beziehungen, er gewinnt seine Individualität nur in diesen, und indem er sich individuell artikuliert, beeinflußt er sie zugleich, trägt zu ihrer Gestaltung und Wandlung bei. Darin gründet die Notwendigkeit der Politik im weiteren Sinne, nämlich der Regelung zwischenmenschlicher Kommunikation durch Koordinierung von Selbstverständnis und Interesse Beteiligter. Darin hat aber auch Politik im engeren Sinn ihren Ursprung, weil diese Koordinierung, wenn gesellschaftlicher Friede, wenn geregelter Umgang aller mit allen möglich sein soll, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene verbindlich erfolgen muß.
Von daher rechtfertigt sich dann auch die Verwendung des umstrittenen Begriffs Gemeinwohl als Ausdruck des Aufgabencharakters der Politik. Weil Sozialität dem Menschen nicht nur äußerlich, sondern wesentlich zukommt, gibt es nicht nur die vielen partikularen Interessen in einer Gesellschaft, sondern auch das allgemeine Interesse an deren sinnvoller Koordinierung, also das Interesse an einer funktionierenden politischen Ordnung der ganzen Gesellschaft. Es ist unschwer einzusehen, daß diese sich nicht per se durch Summierung von partikularen Interessen einstellt. Gemeinwohl ist nichts anderes als der Inbegriff der politisch zu schaffenden Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Zusammenleben einer Gesellschaft (wobei ich jetzt davon absehe, daß der Begriff des bonum commune der aristotelisch-thomistischen Sozialphilosophie umfassender ist, nämlich 8 auch das Gemeingut im primär nichtpolitischen gesellschaftlichen Bereich bezeichnet).
Wolfgang Hilligens Kritik an meiner Verwendung des Gemeinwohlbegriffs greift viel zu kurz, wenn er nur aus der zusammenfassenden Formulierung meiner Grundkategorien und daraus wiederum nur eine Wendung zitiert, in der das konkrete Gemeinwohl als Summe von Interessen bezeichnet ist (a. a. O., S. 278). Dies allein würde auch ich eine liberal-individualistische Auflösung der Gemeinwohlidee nennen. Die (wohlgemerkt nur zusammenfassende) Formulierung insgesamt lautet bei mir aber: „Politik im engeren Sinn hat die Aufgabe, das (nicht vorgegebene, sondern aufgegebene) Gemeinwohl zu verwirklichen durch Herstellung, Garantierung und Fortentwicklung einer Rahmenordnung für gesellschaftliches Leben. Das jeweils konkrete Gemeinwohl ergibt sich faktisch aus der Summe aller gemeinsamen gesellschaftlichen Interessen, die man politisch durchsetzen will; unter normativem Aspekt ist es der Inbegriff gesellschaftlicher Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens" (Didaktik S. 134).
Jeder genaue Leser wird erkennen, daß der mittlere Satz nicht normativ, sondern deskriptiv gemeint ist. Faktisch ist es so, daß viele partikulare Interessen, in Politik übersetzt, durch politische Instanzen der Gesamtgesellschaft wahrgenommen und so zu gemeinsamen Interessen geworden sind. Das, was als konkretes Gemeinwohl durchgesetzt wird, ist nun einmal nicht von den partikularen Interessen zu trennen, und die Trennung wäre auch gar nicht im Sinne der demokratischen Ordnung einer pluralen Gesellschaft. Gemeinwohl ist eine unverzichtbare regulative Idee, aber infolge der Geschichtlichkeit und Unvollendbarkeit menschlicher Gesellschaft kein ein für allemal erkennbares und zu verwirklichendes Ideal. Es bezeichnet eine ständige Aufgabe unter sich wandelnden Verhältnissen, und im Ringen um seine Verwirklichung ist jedermann Partei und hat deshalb die Pluralität der Überzeugungen und Interessen ihren legitimen Ort. In meiner oben zitierten Äußerung würde ich heute nur den Begriff „Summe" nicht mehr gebrauchen, weil er den Integrationsprozeß schlecht trifft.
Deshalb findet sich auch weder in meiner Didaktik noch in den rheinland-pfälzischen Entwürfen irgendwo die Annahme, eine Staatsgewalt, die im Namen absoluter Werte zu handeln beanspruche, realisiere damit bereits das Gemeinwohl (vgl. Roloff, a. a. O., S. 28). Wir gehen vielmehr davon aus, daß der demokratische Verfassungsstaat lediglich eine Reihe von allerdings nicht gering zu achtenden Prinzipien und Regeln für die jeweilige konkrete Findung des Gemeinwohls bietet und damit die Chance enthält zu verhindern, daß Interessenkonflikte ständig in Ordnungs-und Wertkonflikte umschlagen — ein Gesichtspunkt, der in didaktisch global vertretenen „Konfliktmodellen“ viel zu kurz kommt.
Unsere Entwürfe idealisieren keinen vermeintlichen Endzustand gesellschaftlicher Entwicklung, sondern zielen auf ein Bewußtsein von Wert und Relativität unserer Ordnung zugleich, wenn sie z. B. folgende Qualifikationen als vom Politikunterricht anzustreben umschreiben: „Fähigkeit und Bereitschaft zur Wahrnehmung eigener und fremder Rechte und zu rechtlich geordneter Konfliktregelung im freiheitlichen Rechtsstaat. — Fähigkeit und Bereitschaft zur kritischen Loyalität in und gegenüber den politischen Ordnungen der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie" (a. a. O„ S. 9 f.).
4. Im Rückblick auf die Gesamtheit der hier vorgetragenen Überlegungen läßt sich nun zusammenfassend formulieren, daß wir uns bei der Erarbeitung unserer Curriculumentwürfe ständig in einer Dialektik von Prinzipien und Zielvorstellungen bewegt haben, die ihren Ursprung hat in der Dialektik von Individualität und Sozialität der Person. Dialektik heißt Spannung zwischen zwei Bezugspunkten, aber zugleich auch gegenseitige Bedingtheit. Der Mensch bedarf der Gesellschaft, aber er kann sich als Subjekt mit seiner Individualität in keiner Gesellschaft absolut frei entfalten. Ordnungen helfen ihm und hemmen ihn, sind immer nur vorläufig und unvollkommen wie der Mensch selbst. Im Blick auf die marxistische Anthropologie gesagt: die von Marx verheißene totale Emanzipation bis zu dem Punkt, an dem man von einer Identität von Individuum, Gesellschaftswesen und Staatsbürger sprechen könnte, ist unerreichbar, ein Rest Entfremdung wird bleiben. Der tiefste Grund dafür dürfte im Verlangen des Menschen nach einem absoluten metaphysischen Sinn zu suchen sein — aber das ist nicht unser Thema.
Die angesprochene Dialektik erweist sich auf sozialethischer Ebene als Dialektik von partikularen Interessen und allgemeinem Interesse (Gemeinwohl); auf politiktheoretischer Ebene läßt sie sich etwa fassen als Dialektik von Freiheit und Ordnung, von Kommunikation und Institutionen/Normen, von Pluralität und Integration, von Konflikt und Konsens, von Gesellschaft und Staat; auf demokratietheoretischer Ebene begegnet sie uns als Dialektik von Prozeß und Ordnung, von Partizipation und Repräsentation, von Kontrolle und Ent Scheidungsfähigkeit, von Rechts-und Sozial-staatlichkeit, von Zumutbarkeit und Konsens-fähigkeit,
Damit das Ganze nicht mißverstanden wird als ein statisches Gerüst aus Prinzipien, muß man die grundsätzliche Geschichtlichkeit von Mensch und Gesellschaft hinzunehmen. Wir kennen nicht die Bauprinzipien einer richtigen oder gar idealen Gesellschaftsordnung, sondern nur Prinzipien des Handelns in sich wandelnden Situationen und Verhältnissen. Aber auch das Nachdenken über Geschichtlichkeit liefert uns keine glatte Formel, sei sie konservativ oder progressiv. Der Mensch hat Fortschritt nur, weil Gesellschaft Überlieferung bildet. Auch hier kehrt die Dialektik wieder, die uns aufgibt, im Für und Wider der konkreten Entscheidungsfragen nach nur vorläufigen Lösungen zu suchen, statt sich radikal dem angeblich Richtigen zu verschreiben. Wir „warnen" also nicht, wie Roloff meint (a. a. O., S. 16), vor so schönen Zielen wie Mündigkeit und Emanzipation, deren Austauschbarkeit übrigens erheblichen Zweifeln unterliegen muß, da der Emanzipationsbegriff die Forderung signalisiert, Veränderung der Gesellschaft bereits in den Erziehungsprozet einzuprogrammieren. Davon sei hier abgesehen. Wir bezweifeln die Tauglichkeit, die Tragfähigkeit solcher absolutgesetzten Formeln für den Versuch, die Ziele politischer Bildung so zu fassen, daß sie der Komplexität von Gesellschaft und Politik gerecht werden. Damit spielen wir keineswegs die Komplexität eines Systems gegen das Recht des Individuums aus, sondern versuchen gerade den Wertnormen gerecht zu werden, die sich aus einem personalen Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Gesellschaft ergeben. Nur wenn im grundlegenden Ansatz, in der allgemeinsten Zielbestimmung politischer Bildung diese Normen beachtet werden, kann die Gefahr vermieden werden, die Einzelziele ideologisch an der gesellschaftlich-politischen Realität vorbei zu bestimmen. Dies bedeutet nicht bloße Anpassung, nicht Verzicht auf kritische Maßstäbe gegenüber der Realität. Vielmehr werden diese Maßstäbe zur Beurteilung der Realität aus deren eigenen Sinnkategorien gewonnen. Auf diese Weise können Wertnormen und Realität im Unterricht kritisch miteinander vermittelt werden, und die Wertnormen fungieren nicht als unbefragbare Axiomatik, sondern werden in Dialog und Diskussion zurückverfolgt bis in ihre anthropologische und geschichtliche Herkunft.
V. Folgerung: Offene Curriculumkonzepte
1. Die wesentliche Folgerung aus unseren Überlegungen für Curriculumkonzepte lautet: Offenheit für die Pluralität konkreter politischer Positionen und Alternativen und damit für die politische Urteilsbildung im Konkreten. Dem hält Hartwich in seiner Kritik an den rheinland-pfälzischen Entwürfen entgegen, unsere dialektisch einander gegenübergestellten Begriffspaare enthielten die Gefahr, „daß der Unterricht nicht nur auf totale Anpassung an das Gegebene, sondern darüber hinaus zu einer profillosen , Einerseits-Andererseits-Haltung’ führt, was bestimmt kein Engagement erzeugt, kein Interesse findet und als unterrichtsnotwendig bestreitbar wäre. Ohne . Profilnormen'ist nicht mehr auszukommen. Da es in der Gesellschaft jedoch nun einmal divergierende gesellschaftspolitische . Profile'gibt, muß man sie nennen, sie beim Wort nehmen, sich entscheiden“ (a. a. O., S. 144). Wolfgang Hilligen macht sich diese Kritik, wenn auch mit anderen Worten, zu eigen (a. a. O., S. 274).
Ich finde, in Hartwichs Kritik werden verschiedene Ebenen miteinander vermengt, die die Curriculum-, Macher'tunlichst unterscheiden sollten. Im ersten Teil haben wir es mit reinen Mutmaßungen ohne empirische Basis zu tun, die sich auf unterrichtliche Wirkungen eines vom Kritiker nur oberflächlich zur Kenntnis genommenen Curriculums beziehen. Im zweiten Teil ist die Aussage so pauschal, daß man zurückfragen muß. Divergierende gesellschaftspolitische Profile muß man nennen - wir tun das; man muß sie beim Wort nehmen - was heißt das? man muß sich entscheiden— wer?: die Curriculumverfasser?, die Kulturbehörde? die unterrichtenden Lehrer? die Schüler? Im Kontext gelesen, verlangt Hartwich offensichtlich gesellschaftspoB litische Parteilichkeit der Curricula selbst; und auch Billigen macht uns einen Mangel daran zum Vorwurf. 2. Da wir mit unseren Kritikern darin übereinstimmen, daß das Grundgesetz nicht den Status quo festschreiben wollte, nicht nur Rahmenregeln für das Austragen von Konflikten bietet, sondern infolge der Wertgebundenheit dieser Regeln auch die Mehrung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit gebietet, fragen wir zurück, wie man eine darüber hinausgehende Parteilichkeit begründen will. Das Grundgesetz favorisiert über die allgemeinen Zielwerte hinaus kein bestimmtes Konzept (vgl. oben Nr. 1. 3). Bleibt also für die Begründung konkreter Parteilichkeit nur die Berufung auf die Wissenschaft, und in der Tat begründen mehr und mehr Autoren der politischen Didaktik, so auch Roloff, ihr Parteiergreifen für „emanzipatorische" gesellschaftspolitische Programme unter Berufung auf die sozialwissenschaftliche Literatur, die sich ihrerseits programmatisch von „emanzipatorischem Erkenntnisinteresse" leiten läßt.
Man muß aber doch sehen, daß es sich bei den Gesellschaftstheorien marxistischer Provenienz nicht um Theorien im Sinne sozialwissenschaftlicher Theoriebildung handelt, nicht um die Verbindung eines Maximums an empirisch gewonnenen Daten mit einem Optimum an immer vorläufig bleibender, überholbarer Erklärung, sondern um geschichts-und gesellschaftsphilosophische Theoreme, die allenfalls eine hypothetische Anwendung erlauben, die Frageimpulse liefern können. Wo sie nicht in der Schwebe skeptischen Fragens gehalten, sondern als wissenschaftlich gesicherte Aussagen in Politik umgesetzt werden, ersetzen sie Urteilsbildung durch moralisierende Parteinahme, definieren Konflikte in Freund-Feind-Verhältnisse um, steigern Alternativen zu Antagonismen.
Um diese praktischen Konsequenzen solcher Parteinahme geht, es hier. Was ist denn für die politische Urteilsbildung geleistet, wenn z. B. in einem Lehrbuch die bildungspolitische Streitfrage nach dem besseren Schulsystem nicht mehr durch Darlegung der verschiedenen Positionen mit ihrem Für und Wider vorgestellt, sondern das gegliederte System madig gemacht und die Gesamtschule kritiklos als die Lösung der Probleme ausgegeben wird?, wenn die Probleme unserer Städte auf die Bodenspekulation reduziert und Vergesellschaftung fraglos als positive Antwort dargestellt wird? Wie soll politische Urteilsbildung möglich bleiben, wenn nach Hermann Giesecke gemäß dem „fortgeschrittensten wissenschaftlichen Diskussionsstand" die Parteilichkeit politischer Bildung so aussieht: „Sie ist für die Interessen des Lehrlings, des Arbeiters, des . Sozialfalles', des Jugendlichen, und somit folgerichtig gegen die Interessen des Meisters, des Unternehmers, der Fürsorgebehörde, der Schulbehörde usw., allgemeiner: sie ist für die Interessen und Bedürfnisse des jeweils Schwächeren, Ärmeren, Unterprivilegierten."
Hier haben wir nicht nur die Steigerung des Konflikts zum Antagonismus; denn anders wäre das „folgerichtig" logisch nicht haltbar. Hier liegt auch schon vorher fest, wer im Streit die jeweils Stärkeren und Schwächeren sind, und also braucht nach dem Streitgegenstand gar nicht mehr gefragt zu werden. 3. Wir sind anderer Meinung und warnen vor einer so interpretierten Parteilichkeit um der politischen Bildung willen. Leider muß man, wenn man dies tut, heute damit rechnen, mit dieser Warnung wiederum einer bestimmten Seite zugerechnet, in die „rechte Ecke" gedrängt zu werden. Dort stehen wir nicht und wollen wir nicht stehen. Konkrete politische Programme und Positionen unterliegen dem politischen Tagesstreit, in dem es auf der Basis eines Minimalkonsenses nicht um Gut und Böse, sondern um allen Beteiligten zumutbare Kompromisse und allenfalls um die relativ bessere Lösung geht.
Als Gegenstand des Tagesstreites werden politische Konzepte selbstverständlich auch Gegenstand des Politikunterrichts. Curricula dürfen jedoch solche Konzepte nicht favorisieren, müssen vielmehr Lernziele so formulieren, daß die verschiedenen Positionen und Interessen, die Probleme und Alternativen sichtbar werden können. Nur so ermöglichen sie politische Urteilsbildung; denn diese verlangt immer ein Denken in Alternativen und erst auf dieser Basis den Mut zur Entscheidüng und zum Parteiergreifen, ohne die Sicherheit, das Richtige oder Risikolose gewählt zu haben. * Wenn Hartwich meint, diese Einerseits-Andererseits-Haltung erzeuge kein Engagement, dann muß er sich die Gegenfrage stellen lassen, ob ihm dogmatische Fixierung und reflexionsfreie Aktion lieber sind als die Fähigkeit, das Für und Wider komplexer Sachverhalte nüchtern zu wägen. Der Mangel an politischem Engagement in unserer Gesellschaft ist ganz gewiß nicht auf ein Übermaß an abwägendem Denken zurückzuführen.
Curricula dürfen das Offenhalten der Alternativen nur an den Grenzen durch Parteilichkeit ersetzen; nein, besser gesagt, mit Parteilichkeit verbinden; d. h. dort, wo eine bestimmte Politik eindeutig Menschenrechte oder Prinzipien der rechts-und sozialstaatlichen Demokratie verletzt. Erst in diesen Fällen sind die deutlicheren inhaltlichen Aussagen legitim, die Hartwich generell fordert. Aber selbst in diesen Fällen hat es pädagogisch keinen Sinn, den Lernenden durch vorformulierte Lernziele eigenes Denken und Entscheiden abnehmen zu wollen. Merkwürdig bleibt, daß man sich darüber heute unter Didaktikern einig ist, wenn es beispielsweise um die Darstellung kommunistischer Regime geht, während im „Inneren" das alte Freund-Feind-Schema neu ersteht und sich sogar theoretischer Begründungsversuche erfreut. 4. Die Didaktik darf nicht zur Fortsetzung der Politik mit pädagogischen Mitteln werden. Ein Ministerium, das Curricula in Kraft setzt, trifft zwar eine politische Entscheidung; eine Kommission, die Curricula entwirft, leistet politisch relevante Arbeit. Aber die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung verbieten es, im Prozeß der Erstellung von Curricula die erzieherische und die wissenschaftliche Kompetenz durch Politik aufzusaugen oder zu verdrängen. Es gibt das Elternrecht auf Erziehung der eigenen Kinder; es gibt die pädagogische Verantwortung des Lehrers, für die der Beamtenstatus ein Schutz, kein Hindernis sein sollte; es gibt die Freiheit des Glaubens und des Gewissens und die Freiheit von Forschung und Lehre; es gibt die verfassungsrechtlich legitime Pluralität der gesellschaftlichen Interessen und Kräfte, der wissenschaftlichen Schulen und Lehrmeinungen; es gibt schließlich Prinzipien wie Toleranz und Zumutbarkeit von Entscheidungen. All dies verbietet es den politischen Instanzen, in den Curricula gesellschaftspolitische „Profile" einseitig zu favorisieren. All dies gebietet vielmehr ein Konsensverfahren zur Entwicklung offener Curricula, die politische Urteilsbildung ermöglichen, aber nicht vor-wegnehmen. Anders ausgedrückt: Das Legitimationsproblem der politischen Bildung läßt sich zwar nicht rein normativ-deduktiv von der Verfassung her lösen, aber auch nicht dezisionistisch unter beliebiger Berufung auf Wissenschaft, sondern gerade gemäß den Prinzipien unserer Verfassung nur dialogisch-diskursiv, wobei Hauptaufgabe der Politik die Sorge sein muß für den von der Verfassung gewollten und umschriebenen Freiraum der Pluralität und Konsensbildung.