Schule zwischen Gott und Marx. Konfessionelle Lernziele in einer pluralistischen Gesellschaft
Felix von Cube
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Zusammenfassung
Die Schule steht heute vor einem fundamentalen Problem, das in seinem Ausmaß und in seiner Bedeutung ». E. weder erkannt noch gelöst ist: dem Problem, daß die verschiedenen politischen und konfessionellen Gruppen unserer pluralistischen Gesellschaft ihre Ziele an der Schule verbindlich machen wollen. Vor wenigen Jahren noch wurden die Lernziele an der Schule kaum beachtet; sie fügten sich in eine relativ stabile und konservative Interpretation von Demokratie und Erziehung ein. Heute bildeh die politischen und konfessionellen Gruppen ein breites Spektrum zwischen links und rechts. Sie stehen in politischer Konkurrenz und in politischem Kampf. In diesen Kampf wird die Schule heute einbezogen: Parteien, Verbände, weltanschauliche Gruppen aller Art versuchen, ihre speziellen Ziele in der Schule verbindlich zu machen, um so die Schüler von vornherein auf ihre Seite zu ziehen. Damit steht die Schule — grob gesagt — zwischen Gott und Marx. Nun kann der Lernzielstreit weder machtpolitisch noch wissenschaftlich gelöst werden: machtpolitisch deswegen nicht, weil ein Lernzielprivileg einer bestimmten politischen oder konfessionellen Gruppe dem Pluralismus unserer Gesellschaft widerspräche (insbesondere im Hinblick auf die unmündigen Schüler), wissenschaftlich deswegen nicht, weil die Wissenschaft nur gegebene Zusammenhänge untersuchen, aber keine Ziele setzen kann. (Leider ist dieser Sachverhalt noch immer nicht von allen Politikern und Pädagogen zur Kenntnis genommen worden.) Eine dauerhafte Regelung des Lernzielstreites ist somit nicht auf inhaltlichen, sondern nur auf einer (vielgeschmähten) formal-demokratischen Basis möglich. Mein Vorschlag besteht darin, als affektive Lernziele nur die im Grundgesetz verankerten Werte in der Schule verbindlich zu machen. Alle anderen Vorstellungen, die vom Grundgesetz her nur zugelassen sind (z. B. religiöse oder marxistische), dürfen nur im kognitiven Bereich obligatorisch sein. Als affektive Lernziele sollten sie indessen angeboten werden. Die Entscheidung darüber, welche Lernziele dem verbindlichen bzw.dem zugelassenen affektiven Bereich angehören, liegt letztlich beim Verfassungsgericht.
Noä nie war die Politisierung der Schule so offenkundig wie heute. Der Streit um die Rah-menrichtlinien in Hessen, aber auch in Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen oder Bremen, geht seit Jahren durch Presse, Funk und Fernsehen. Konservative Gruppen werfen den Richtlinien vor, sie seien sozialistisch, marxi-stisch, antikapitalistisch, systemzersetzend. Vertreter der neuen Lernziele hingegen behaupten, daß durch ihre Richtlinien die Forderungen des Grundgesetzes überhaupt erst verwirklicht würden: Die Lernziele seien auf die Verwirklichung des mündigen Menschen in unserer Demokratie gerichtet.
Ich meine, daß der Lernzielstreit, der sich durch alle Fächer und durch sämtliche politischen Gruppen hindurchzieht, auf der falschen Ebene ausgefochten wird. Gewiß ist es das gute Recht konservativer Kreise, den Richtlinien vorzuwerfen, sie seien marxistisch; die Kritiker dieses Lagers sollten jedoch nicht vergessen, daß in den meisten Bundesländern als oberste Erziehungsziele „Ehrfurcht vor Gott" oder „Erfüllung des christlichen Sittengesetzes" stehen, und zwar nicht nur in den Richtlinien, sondern im Gesetz!
Es geht doch offenbar darum, daß heute marxistisch orientierte Kräfte dieselben Rechte und dieselben Privilegien für sich in Anspruch nehmen, die sich die konservativen schon vor Jahrzehnten genommen haben.
Heute, wo der Wertepluralismus unserer Gesellschaft immer deutlicher in Erscheinung tritt, und wo die unterschiedlichen politischen Gruppen versuchen, ihren Einfluß möglichst früh in der Schule wirksam werden zu lassen, muß das Problem der konfessionellen Lernziele — konfessionell im weitesten Sinne! — grundsätzlich geregelt werden. Schließlich handelt es sich bei der Setzung von Lernzielen nicht um politische Werbung, die sich an mündige Menschen wendet, Menschen, die selbst urteilen und entscheiden können, es handelt sich vielmehr um die frühzeitige Verinnerlichung bestimmter Werte bei Kindern und Jugendlichen.
Sollen spezielle politische oder weltanschauliche Gruppen unserer pluralistischen Gesellschaft das Recht haben, ihre Wertvorstellungen in der Schule verbindlich zu machen? Sollte sich die staatliche Schule überhaupt jeder Gesinnungsbildung enthalten oder sollten nur die grundgesetzlichen Normen und Werte verbindlich gemacht werden?
Der Lernzielstreit betrifft alle Bürger unserer Gesellschaft, nicht nur die jeweiligen Eltern oder Schüler, und muß daher in aller Breite und mit allen Konsequenzen offengelegt und diskutiert werden.
Zur Diskussion des Lernzielstreites und zum Zwecke einer eventuellen Regelung seien vier Fragen aufgeworfen, die ich dann im einzelnen zu beantworten versuche. 1. Welche politischen Absichten lassen sich hinter den einzelnen Zielen und Inhalten der Lernzielkataloge erkennen? 2. Wie kam es zu der scharfen Kontroverse? Warum hat der Streit um die Lernziele erst 1970 begonnen und nicht schon 1950 oder 1960? 3. Warum hat die Erziehungswissenschaft den Streit nicht längst entschieden?
Werden nicht seit Jahren wissenschaftliche Experten bemüht? Gibt es nicht bereits eine aufwendige Curriculumforschung? 4. Gibt es eine politische oder rechtliche Lösung des Lernzielkonflikts? Handelt es sich dabei um eine einmalige Entscheidung oder um die laufende Regelung eines fortdauernden Konflikts?
Ich meine, daß diese Fragen bis jetzt nicht hinreichend beantwortet wurden. Es besteht vielmehr eine erhebliche Unklarheit über die wirklichen Hintergründe des Lernzielstreits und über die Möglichkeiten seiner Regelung.
Um die erste Frage — worum es im Lernziel-streit überhaupt geht — beantworten zu können, möchte ich zunächst einige Beispiele von neuen Lernzielen nennen. Dabei kommt es im Augenblick weniger auf den Inhalt dieser Ziele an, als vielmehr auf die Tatsache, daß die jeweiligen Inhalte sehr unterschiedlich bewertet werden.
Ich selbst werde mich hier einer Stellungnahme enthalten, damit der Streit um die Lernziele möglichst deutlich vor Augen tritt.
Ein erstes Beispiel entnehme ich dem Lernziel-bereich „Schichtgebundene Sozialformen in der Familie" aus den hessischen Rahmenrichtlinien. Ich verwende dabei die erste Fassung dieser Richtlinien, da hier die politischen Absichten noch unverfälscht, d. h. ohne erzwungene Kompromisse, zum Ausdruck gebracht werden.
Unter dem Thema Familie wird in den Rahmenrichtlinien die Ansicht vertreten, daß der Schüler nicht meinen solle, die Eltern könnten sich — insbesondere in Konfliktfällen — nach eigenem Willen entscheiden. Ihr Verhalten sei vielmehr sozial determiniert. Wörtlich heißt es: „. . . die Einsicht in die Abhängigkeit der Situation innerhalb der Familie von der Berufsstellung der Eltern, ihrer sozialen Herkunft, von Wertvorstellungen, die in der Zeit, in der die Eltern selbst aufwuchsen, als verbindlich galten, bietet eine Möglichkeit, unmittelbar erfahrene Anforderungen distanzierter zu beurteilen und ihnen dann mehr Verständnis entgegenzubringen."
Dazu schreibt Hanna-Renate Laurien, Staats-sekretärin im Kultusministerium des Nachbarlandes Rheinland-Pfalz: „Dies steht im Abschnitt für die Dreizehn-und Vierzehnjährigen und macht aus Kindern offenbar verstehende Richter der sozial gebundenen Eltern. Von Liebe, von Gefühl reden wir nicht, das ist doch nur ein repressives Relikt kapitalistischer Zeiten.“
Frau Laurien beanstandet insbesondere die Fragen, die unter der Rubrik „Unterrichtspraktische Hinweise" zu finden sind. Hier liest man unter anderem: „Wer dominiert in der Familie?
In welchen Aktionsformen äußert sich diese Dominanz?
Wie ist der Kontakt zwischen Eltern und Kindern? (Mahlzeiten, abends, tagsüber, am Wochenende, in den Ferien)
Wie verhalten sich die Eltern untereinander? (Formen des Konfliktaustrags, Anlässe für Streit, welche Rolle spielt dabei Alkohol . . .)
Wie wirkt sich die Situation'am Arbeitsplatz auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern aus? (Feierabendaggression, Schlafgewohnheiten z. B. bei Schichtarbeit)"
Nach Frau Laurien handelt es sich hier um einen gezielten Einbruch in die Privatsphäre — auch wenn dies von den Autoren der Richtlinien bestritten wird.
Schärfer noch lehnen die Gutachter des hessischen Elternvereins die angeführten Lernziele ab. „Solche polit-pädagogischen Eingriffe in die Elternbeziehung waren bisher nur von den Nationalsozialisten und den Kommunisten bekannt."
Betrachten wir ein zweites Beispiel kontroverser Vorstellungen: den Lernzielbereich Wirtschaft aus den hessischen Rahmenrichtlinien. Als Lernziel steht hier unter anderem: „Die Schüler sollen lernen, den eigenen Standort in wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zu bestimmen und prüfen, inwieweit über die Solidarisierung mit gleichermaßen Betroffenen eine Chance zur Interessenwahrnehmung besteht (z. B. Gewerkschaften)."
Dazu noch einmal Frau Laurien: „Schule als Werbung für den deutschen Gewerkschaftsbund ... ist das Pluralismus? Darf man nicht mehr Mitglied des Beamtenbundes oder gar — entsetzlicher Gedanke — leitender Angestellter, Unternehmer oder nicht organisierter Arbeiter sein? Parteiliche Stellungnahme in Konflikten, Vorherrschaft des Konfliktdenkens, verfälscht hier Schule zur Schulung!"
Die angegebenen Formulierungen in den Rahmenrichtlinien und andere — etwa die von der „uneingeschränkten Entscheidungsgewalt der Unternehmer" — veranlassen Frau Laurien zu folgender Feststellung: „Bildungspolitik erscheint nur in der SPD-Variation ... ein Aufruf zu mehr Gleichheit, nicht zu mehr Freiheit. Ein anderer prominenter Kritiker der Rahmen-
richtlinien, Uwe Diederichsen, Ordinarius für Bürgerliches Recht in Göttingen, schreibt: „Was im Lernzielkatalog . Menschen arbeiten'zum Arbeitsrecht gesagt wird, ist dilettantisch: die meisten Menschen seien gezwungen, , vom Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben', die Lohnab-
hängigen könnten in Solidarität auf betriebliche Entscheidungen Einfluß nehmen'. Mit solchen Formeln aus dem vorigen Jahrhundert läßt sich der Ausbau des modernen Arbeits-
rechts mit seinen zahlreichen Fürsorgepflichten des Arbeitgebers und der betrieblichen Mitbestimmung nicht erfassen. “
Insgesamt spricht Diederichsen in bezug auf die hessischen Rahmenrichtlinien von einem „kryptomarxistischen Vorverständnis ihrer Verfasser". Wörtlich schreibt er: „In der Behandlung des Rechts erweist sich der Lernziel-katalog . Ordnungen und Regelungen’ der hessischen Rahmenrichtlinien als rechtsfeindlich und damit als eines freiheitlichen Rechtsstaates unwürdig.“
Das ist eine herbe Kritik: sie muß allerdings auch im Zusammenhang mit folgendem Lernziel gesehen werden: „Die Schüler sollen prüfen, ob es Situationen gab oder gibt, in denen geklärt werden muß, ob zur Sicherung oder Verbesserung demokratischer Verhältnisse notwendig ist, formaldemokratische Spielregeln oder Rechte vorübergehend außer Kraft zu setzen."
Als Alfred Dregger, Vorsitzender der CDU in Hessen, diesen Satz in der Verfassungsdebatte vom 14. Februar 1974 vor dem Bundestag zitierte, wurde er von der Bundestagspräsidentin, Frau Renger, unterbrochen. Tatsächlich enthält diese Formulierung eine erhebliche politische Brisanz: Geprüft werden kann ja immer nur an Hand bestimmter zugrunde gelegter Kriterien. An Hand welcher Kriterien soll aber geprüft werden, Wann formaldemokratische Spielregeln außer Kraft zu setzen sind? Gibt es hinter dem Grundgesetz noch höhere Instanzen, und welche wären diese? (Ich meine — diese Stellungnahme sei mir gestattet —, daß das angegebene Lernziel eine gewisse Verachtung formal-demokratischer Spielregeln erkennen läßt, eine Verachtung, die man bei Sozialutopisten jeglicher Schattierung vorfinden kann.)
Ein weiteres Beispiel eines umstrittenen Lernziels entnehme ich dem Lernzielentwurf für politische Bildung aus Nordrhein-Westfalen: «Es soll die Fähigkeit und die Bereitschaft entwickelt werden, sich und anderen durch Abbau von gesellschaftlichen Zwängen Genußmöglichkeiten zu schaffen und diese zu erweitern. Denn in der industriellen Leistungsgesellschaft wird Genuß vielfach durch nicht notwendige Triebunterdrückung vorenthalten."
Hierzu schreibt Konrad Krämer, Präsident der katholischen Elternschaft Deutschlands: „Diese Sätze (man liest sie am besten sorgfältig noch ein zweites Mal) sind weder einer Werbeanzeige zur Steigerung des Alkoholverbrauchs noch der Einladung zum Besuch eines Eroscenters entnommen. Sie stammen auch nicht aus einer programmatischen Erklärung der Hippie-bewegung der späten sechziger Jahre. Nein — es ist zwar unglaublich aber wahr: diese Forderung nach gesteigertem Lustgewinn findet sich in einem Richtlinienentwurf für den politischen Unterricht, den der Kultusminister unseres größten Bundeslandes, Jürgen Girgensohn, einem begrenzten Personenkreis zur Erörterung zugeleitet hat."
In einem anderen Lernziel dieses Entwurfs ist davon die Rede, daß der Schüler sich von „nicht rational begründbaren Gehorsamsforderungen, z. B. Ritualen, Kulten, Ideologien" 1 distanzieren solle.
Hierzu schreibt Krämer: „Das Bild der Kirche wird im politischen Unterricht der Zukunft also mit wenigen Strichen gezeichnet: sie ist eine unbegründet gehorsamfordernde und mit Hilfe der Massenmedien manipulierende Einrichtung. Dagegen muß logischerweise mit revolutionären Mitteln Widerstand geleistet werden..."
Die Kontroverse wird aber auch in anderen weltanschaulichen oder moralischen Bereichen geführt. Hierzu noch ein Fall aus der Sexualerziehung: 1970 fanden in Berlin die Eltern einer Tochter, die damals in die zweite Klasse der Grundschule ging, in der Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden, im Deutschheft ihres Kindes folgenden Satz: „Ich wasche meine Scheide." Der Lehrer hatte zur Übung des fallrichtigen Sprechens die Schüler im Deutschunterricht Satzreihen bilden lassen, wie: ich wasche mein . . . Gesicht, Hals, Ohren, Brust, Bauch, Po, Penis bzw. Scheide, . . . usw.
Die Eltern klagten auf Unterlassung eines derartigen Sexualkundeunterrichts mit der Begründung, daß hier in das natürliche Recht der Erziehung durch die Eltern eingegriffen werde. Die Schule dürfe ihre hoheitlichen Befugnisse nur zur Erreichung öffentlich rechtlicher Zwecke oder Interessen ausüben. Eine derart private Angelegenheit wie die Sexualerziehung dürfe nicht durch Aufnahme in die Lehrpläne zum öffentlichen Anliegen gemacht werden. Hierdurch zwinge die Schule die Kinder zu einem Sollverhalten in sexuellen Bereichen, das keinesfalls — insbesondere im Hinblick auf die schriftliche Fixierung derartiger Dinge — der gegenwärtigen Sittenauffassung entspreche.
Das Verwaltungsgericht Berlin wies die Klage als unbegründet ab. Die dagegen eingelegte Berufung blieb ohne Erfolg. In der Begründung stellte das Oberverwaltungsgericht den informativen Charakter der Sexualerziehung heraus und das öffentliche Interesse an der sexuellen Aufklärung. Die Schule als Angelegenheit des Staates sei befugt, die entsprechenden Lernziele zu setzen und zu erreichen.
Interessant wird der Fall dadurch, daß ein prominenter Jurist, Prof. Hans-Ulrich Evers, gegen Begründung und Ergebnis der Entscheidung Bedenken angemeldet hat. Er schreibt: „Das Oberverwaltungsgericht hat versucht, die Bedeutung der sechs-bis achtjährigen Kindern zuteilwerdenden Wissenvermittlung herunterzuspielen. Dem ist zu widersprechen. Der Satz , Ich wasche meine Scheide'ist nicht, wie das Oberverwaltungsgericht dartut, lediglich die Beschreibung eines hygienischen Vorgangs ... Der Satz belehrt Kinder, sich mündlich und schriftlich auch in Gegenwart des anderen Geschlechts und in Gegenwart Erwachsener über Angelegenheiten ihres Intimbereiches zu äußern ... über Jahrhunderte galten andere Normen. Viele Eltern werden auch heute anderer Auffassung darüber sein, welche Grenzen Religion, Scham, Sitte und Anstand der Erörterung intimer und sexueller Angelegenheiten ziehen und ihr Kind im Sinne ihrer eigenen Auffassung erzogen wissen wollen. Uber Wert und Unwert der divergierenden Auffassungen ist hier nicht zu handeln. Für die Bestimmung der Grenzen der Schulgewalt ist entscheidend, daß die Rechtsordnung den Intim-und Sexualbereich des Menschen als Teil seiner Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen Schutz des Grundgesetzes stellt...“
Lassen wir es bei diesen Fällen bewenden; sie reichen aus, um darzustellen, worum es im Streit um die Lernziele geht: Es geht darum, daß mächtig oder einflußreich gewordene Gruppen in unserer Gesellschaft — seien es mehr sozialistisch orientierte oder mehr liberale — entsprechend ihrer politischen Konzeption neue Lernziele für die Schule setzen wollen. Dabei ist klar, daß konservative Kräfte die bisherigen Lernziele zu bewahren versuchen. Man darf schließlich nicht vergessen — und das ist den Kritikern der neuen Richtlinien in aller Deutlichkeit zu sagen _ , das die bisherigen Lernziele eine sehr einseitige christliche und kapitalistische Intention aufweisen. In vielen Bundesländern steht „Ehrfurcht vor Gott" als oberstes Erziehungsziel sogar im Gesetz! In den Bildungsplänen ist die Rede von Einordnung und Unterordnung, von Duldsamkeit, Fleiß und Sauberkeit. Vor allem aber wird immer wieder Ehrfurcht und Gehorsam gefordert.
Niemand wird bestreiten können, daß die konservativen Kräfte in unserer Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg ihre politischen Wertvorstellungen durch die Lernziele in die Schule hineingetragen haben. Heute sind es nicht nur die konservativen Kräfte, die ihre Lernziele durchsetzen wollen, heute sind es sämtliche Parteien, Verbände, Vereine oder andere politische Gruppen. Sie alle wollen ihre Vorstellungen zu verbindlichen Lernzielen machen, Dabei halte ich es für ein unwürdiges Versteckspiel, wenn die politischen Gruppen unserer Gesellschaft ihre Ziele verschleiern oder wenn sie leugnen, ihre Werte durch die Schule tradieren zu wollen. Insbesondere halte ich es für ein unwürdiges Versteckspiel, wenn die Autoren der hessischen Rahmenrichtlinien ihre marxistische Zielvorstellugen nicht beimNamen nennen. Schließlich ist in den Richtlinien häufig genug von Klassen die Rede, von Widersprüchen in unserer Gesellschaft (statt von Interessengegensätzen), von Verkauf von Arbeitskraft, von einer uneingeschränkten Milieutheorie oder von der schichtenspezifischen Determiniertheit des Denkens und Verhaltens. Daß das Wort Klassenkampf nicht ausgesprochen wird, kann unter diesen Umständen nur taktische Gründe haben.
Warum sollte man die Ziele verschleiern! Marxistische Wertvorstellungen sind in unserer Gesellschaft erlaubt — ebenso wie christlich liberale oder nationale und daß marxistische Gruppen ihre Werte an der Schule durchsetzen wollen, ist ebenso wie verständlich wie dieselbe Absicht bei den christlichen, liberalen oder nationalen Konfessioner oder Parteien.
In unserer pluralistischen Gesellschaft steh die Schule nun einmal zwischen den politi sehen Kräften und Ansprüchen, sie steh — grob gesagt — zwischen Gott und Marx Man kann auch sagen: Bei den neuen Richtlinien geht es — ebenso wie bei den alten — um die Fortsetzung des politischen Kampfes auf dem Felde der Erziehung und der Schule.
Dabei muß man wissen, daß eine frühzeitige Verinnerlichung von Werten besonders wirkungsvoll ist. Die Kirche weiß das seit Jahrhunderten. Nicht umsonst setzt sie die christliche Erziehung schon am ersten Lebenstag an, nicht umsonst hat sich die Kirche der Erziehung in der Schule bemächtigt und sich hierfür der Unterstützung des Staates bedient.
Fassen wir zusammen, so können wir die Frage, worum es im Lernzielstreit eigentlich geht, folgendermaßen beantworten:
Beim Streit um die Lernziele geht es um den Einfluß, den die unterschiedlichen politischen und konfessionellen Gruppen unserer Gesellschaft auf die Schule und damit langfristig auf die Entwicklung unserer Gesellschaft nehmen wollen. Es geht um einen politischen Machtkampf, der über die Gesellschaft der kommenden Jahre und Jahrzehnte entscheidet.
Kommen wir nun zu unserer zweiten Frage: Wie kam es zu dieser scharfen Kontroverse? Warum hat der Streit um die Lernziele erst 1970 begonnen und nicht schon 1950 oder 1960? Zur Beantwortung dieser Frage ist es zweckmäßig, den Lernziel streit unter zwei Aspekten zu sehen: unter dem Aspekt der Politisierung der Schule schlechthin und unter dem Aspekt der pluralistischen Lernziele der heutigen Gesellschaft. Tatsächlich war die Schule schon immer ein wichtiges Instrument der Politik. Es ist ja geradezu selbstverständlich, daß eine Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Gruppe, die sich eine Schule leistet, die Absicht hat, mit Hilfe dieser Institution ihre Werte und Normen zu überliefern: Die herrschenden Werte einer Gesellschaft waren schon immer auch die herrschenden Lernziele der entsprechenden Schule. Man denke hier an die Ziele des Nationalismus, des Kapitalismus oder des Liberalismus, man denke an religiös-metaphysische Vorstellungen, die für die Schulen verbindlich gemacht wurden. Der autoritären Gesellschaftsform entsprechend traten solche Ziele immer mit dem Anspruch der absoluten Gültigkeit auf; es wurde Gehorsam gefordert, Ehrfurcht und Glaube.
Eine Politisierung der Schule hat es also schon immer gegeben. Die Lernziele waren allerdings kraft der herrschenden Werte und der politischen Macht kein Streitobjekt der öffentlichen Diskussion. Genau das ist neu am Lernzielstreit der Gegenwart! Nach unserer Verfassung besteht überhaupt erstmals die Chance, daß unterschiedliche politische Gruppen ihre Wertvorstellungen in die Schule hin-eintragen können. Dadurch bekommt die Politisierung der Schule ein neues Gesicht: Der Kampf um politische Macht und um politischen Einfluß in der Schule wird öffentlich ausgetragen. Der Lernzielstreit der Gegenwart ist somit nichts anderes als der Ausdruck des in unserer Verfassung verankerten Wertepluralismus und des Bestrebens der entsprechenden politischen Gruppen, ihre Ziele in der Schule zu setzen und durchzusetzen.
Warum aber wurde dieser Streit der Werte, der für die politischen Parteien und Verbände eine Selbstverständlichkeit ist, nicht schon längst auch im Bereich der Schule ausgefochten? Warum hat der Lernzielstreit nicht schon 1960 oder 1950 begonnen?
Die Frage läßt sich beantworten, wenn man sich die drei Phasen der politischen Entwicklung der Bundesrepublik und die sich jeweils anschließenden Phasen der pädagogischen Entwicklung vor Augen hält:
Die erste Phase, die bis in den Anfang der sechziger Jahre hineinreicht, war durch das Anknüpfen an bewährte Traditionen gekennzeichnet. Es war die Ära der christlichen Tradition, des christlichen Humanismus, des wirtschaftlichen Aufstiegs durch kapitalistische Methoden, es war die Ära Adenauers und der CDU. Vielleicht kann man sagen, daß diese Werte, die den Krieg überdauerten, mit besonderer Ehrfurcht bedacht wurden. Es war eine Phase, in der überkommene Autoritäten und deren metaphysische Legitimation nicht in Frage gestellt wurden.
Die Lernziele der Bundesländer — damals sagte man noch Bildungsziele — entsprachen diesen konservativen Einstellungen. Insofe. n wurde der vom Grundgesetz her mögliche Spielraum unterschiedlicher Werte sehr einseitig ausgefüllt.
Die zweite Phase der politischen und pädagogischen Entwicklung in der Bundesrepublik geht vom Anfang bis zum Ende der sechziger Jahre. Diese Phase läßt sich am besten durch das Wort Kritik kennzeichnen. Es war die Zeit der Negation des Bestehenden, die Zeit der Antiautoritären im weitesten Sinne. Man denke dabei nicht nur an die Rebellion der Studenten und Schüler — auch festgefügte Hierarchien wie beispielsweise die Kirche wurden von dieser Welle der Kritik, der Auflehnung, des Ungehorsams erfaßt. Ich erinnere hier an Hubertus Halbfas und Hans Küng.
In der Pädagogik wurde Alexander Neill zum Symbol der antiautoritären Erziehung. „Das Unglück der Menschheit", schrieb Neill, „liegt im Zwang von außen, mag er vom Papst kommen, vom Staat, vom Lehrer oder von den Eltern.“
Rückblickend erscheint diese Phase der Kritik, der Emanzipation, der Ablehnung alter Autoritäten, eine sehr verständliche Reaktion auf die lange Jahre unangefochten herrschende Tradition. Es ging ja damals — zumindest Anfang der sechziger Jahre — noch gar nicht so sehr um neue Zielvorstellungen, um neue politische oder pädagogische Konzeptionen, es ging vielmehr um das Infragestellen der bisherigen Herrschaftsformen schlechthin. Die im kritischen Lager versammelten Gruppen hatten in der Kritik selbst, im Streben nach Emanzipation, nach Loslösung aus alten Bindungen eine breite gemeinsame Basis. Das verbindende Element der Kritik am Hergebrachten überwog noch die Differenzierung in Sozialisten, Marxisten, Kommunisten, Liberale und andere Gruppen.
Die kritische Phase der sechziger Jahre blieb nicht ohne Auswirkung auf die Lernziele in der Bundesrepublik. In sämtlichen Bundesländern wurden — mit einigen Jahren Verspätung —• die bestehenden Bildungsziele durch Forderungen nach Kritik und Emanzipation ergänzt. So ist es in Bayern — seit 1972 — „Ziel des Sozialkundeunterrichts, den Heranwachsenden zur Kritik und Urteilsfähigkeit in politischen Fragen zu erziehen". In Nordrhein-Westfalen ist — seit 1973 — „das kritische Bewußtsein der Kinder früh zu aktivieren"; „Normen und Wertvorstellungen sollen kritisch überprüft werden". Ähnliche Lernziele sind zu Beginn der siebzigerJahre in allen Bundesländern aufgestellt worden. Interessant ist dabei, daß die Forderung nach Kritik oft unvermittelt neben den alten Bildungszielen wie Ehrfurcht und Anpassung steht. Der Lernzielkonflikt war somit schon angelegt; er trat jedoch nach außen hin noch nicht so deutlich in Erscheinung.
Die dritte Phase der politischen und pädagogischen Entwicklung setzt mit dem Ende der sechziger Jahre ein; sie kann als die Ausdifferenzierung des Wertepluralismus charakterisiert werden. Aus der Kritik überkommener
Werte und Normen entwickelten sich politische Gruppen mit unterschiedlichen Auffassungen über Demokratie und Freiheit, über Gleichheit und Gerechtigkeit. Jeder kennt das Spektrum von links bis rechts, von sozialistisch bis konservativ, von marxistisch bis liberal; jeder kennt die Polarisierung der politischen Lager, aber auch die Angst vor Extr -mismus und Radikalismus.
Im Augenblick erleben wir die Konsequenz dieses politischen Pluralismus für die Lernziel-setzung an der Schule. Die neuen Richtlinien in Hessen, Nordrhein-Westfalen und einigen anderen Ländern setzen eindeutig sozialistische Akzente; sie sind bewußt als politisches Langzeitprogramm zur Veränderung der Gesellschaft in einer ganz bestimmten Richtung entworfen. Daran ändert auch der weitere Gebrauch der Begriffe Kritik und Emanzipation nichts. Man kann leicht feststellen, daß diese Begriffe in einer ganz bestimmten Interpretation verwendet werden.
Selbstverständlich rufen die neuen Lernziele die anderen politischen Kräfte unserer Gesellschaft auf den Plan. Jetzt werden Privilegien verteidigt oder neue Ansprüche angemeldet. Man mag zu den neuen Lernzielen stehen, wie man will — eines haben die Richtlinien jedenfalls bewirkt oder werden es noch bewirken: die Erkenntnis, daß die Setzung verbindlicher Lernziele in einer pluralistischen Gesellschaft ein äußerst brisantes politisches Problem ist, ein Problem, das einer dauerhaften Regelung bedarf. Es bedarf deswegen einer dauerhaften Regelung, weil der Pluralismus in unserer Gesellschaft ein notwendiges und konstitutives Element darstellt.
So wie die politischen Kräfte bisher versuchten, ihre Werte und Normen an der Schule verbindlich zu machen, geht es allerdings nicht: Man kann weder unterschiedliche Lernziele zur gleichen Zeit verbindlich machen, noch ist es zulässig, eine politische Gruppe mit staatlichen Privilegien auszustatten. Für das Kind würde das bedeuten, daß es entweder zu widersprechenden Zielen gleichzeitig erzogen würde oder daß es in einseitiger Weise mit ganz bestimmten Werthaltungen indoktriniert würde. So geht es also nicht! Der Lernzielstreit muß auf andere Weis geregelt werden!
Wir kommen jetzt zur Untersuchung der dritten Frage, der Frage, warum die Wissenschaft den Lernzielstreit nicht längst entschieden hat. Es werden doch immer wieder Sachverständige bemüht, es werden wissenschaftliche Gut-B achter bestellt, es werden aufwendige Lernzielforschungen betrieben.
Hier stoßen wir auf ein Problem, das einer Klärung dringend bedarf, das Problem, was die Wissenschaft für die Politik leisten kann und was sie nicht leisten kann. Das Problem taucht nicht nur im Lernzielstreit auf, es spielt in allen gesellschaftlichen Bereichen — sei es die Gesamtschule oder die Rechtsreform — eine wichtige Rolle. Dabei " hört man immer wieder die Überzeugung, daß die Wissenschaft auch für die Zielsetzung zuständig sei: Der Pädagoge müsse wissen, welche Lernziele zu setzen sind, der Jurist müsse sagen können, ob der § 218 wegfallen soll oder nicht, der Kernphysiker müsse darüber entscheiden, wie die Atomkraft zu verwenden ist usw.
Tatsächlich ist jedoch die Wissenschaft nicht in der Lage, Ziele zu setzen. Die Wissenschaft deckt Ursachen, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten in den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen auf. Ihre Aussagen können von allen Menschen in gleicher Weise an der Logik und der Erfahrung überprüft werden. Wissenschaftliche Aussagen enthalten keine Wertung; sie sind entweder wahr oder falsch.
Die Wissenschaft macht also überprüfbare Aussagen über das, was ist, sie kann jedoch keine Aussagen machen über das, was sein soll. Eine Forderung — ein „Sollwert" — stellt ja immer eine zukünftige Möglichkeit dar; Möglichkeiten sind aber weder wahr noch falsch, zu jeder Möglichkeit lassen sich andere Möglichkeiten angeben.
Die Forderung, zum christlichen oder zum sozialistischen Menschen zu erziehen, ist weder wahr noch falsch. Man kann solche Ziele begrüßen oder ablehnen, man kann sie aber nicht beweisen oder widerlegen. Keine Wissenschaft kann sagen, ob Religion oder Latein an der Schule gelehrt werden soll oder nicht, ob privates Eigentum an Produktionsmitteln sein soll oder nicht. Ziele sind immer persönliche Wertsetzungen — auch wenn kleinere oder größere gesellschaftliche Gruppen denselben Werten anhängen. Letztlich bekennt sich jeder einzelne zu dieser oder jener Wertvorstellung — oder er verzichtet auf seine Entscheidungsfunktion.
Auch die in der Erziehungswissenschaft auftretenden Zielvorstellungen sind nichts anderes als persönliche Wertsetzungen — ob es sich dabei um „sittliche Erweckung" handelt, um die „Fähigkeit, Partei zu ergreifen" oder um „kritisches Verhalten" und „Selbstbestimmung". Es ist daher ein müßiger Ansatz, wenn sich Curriculumforscher bemühen, Lernziele zu „finden"; Ziele können weder „gesucht" noch „erforscht" werden — sie werden gesetzt! Dabei ist selbstverständlich zwischen Setzung und Durchsetzung zu unterscheiden. Die Setzung ist willkürlich (im wörtlichen Sinne), die Durchsetzung ist eine Frage der persönlichen oder politischen Macht.
In dem Augenblick freilich, in dem die Ziele formuliert sind, können sie unter den verschiedensten Aspekten untersucht werden: auf Widerspruchsfreiheit, auf prinzipielle Erreichbarkeit, auf die Interessenlage der Zielsetzer, auf historische oder gesellschaftliche Hintergründe usw. Daß solche Untersuchungen mit wissenschaftlichen Methoden durchgeführt werden können, steht außer Zweifel. Hier werden ja logische und empirische Maßstäbe zugrunde gelegt, es werden Vergleiche durchgeführt, Ursachen und Zusammenhänge aufgedeckt und Konsequenzen gezogen.
Gewiß liefern die Zieluntersucher auch Informationen, die die Zielsetzer eventuell zur Revision ihrer Entscheidungen veranlassen können. Das ändertJedoch nichts an der Tatsache, daß die Zielsetzung selbst ein Akt der persönlichen Wertentscheidung ist. Hält man sich diese klare Trennung von Wissenschaft und Politik vor Augen, mit anderen Worten, sieht man deutlich, was die Wissenschaft leistet und was sie nicht leistet, so muß man die Behauptung, die Wissenschaft könne Ziele setzen, als bewußte Irreführung bezeichnen.
Als Musterbeispiel für eine solche angeblich wissenschaftliche Ableitung zitiere ich den Beweis für die Notwendigkeit des Religionsunterrichts aus dem Artikel „Der Religionsunterricht im weltanschaulich neutralen Staat" von Axel von Campenhausen: „Das Christentum ist ein wesentlicher Faktor unserer Über-lieferung, eine Wurzel der gegenwärtigen geistigen Situation, und deshalb nicht aus der Schule auszuschließen. Allein die Erfahrung scheint doch immer wieder zu bestätigen, daß ein lebendiges Eindringen in das Wesen, Wirken und Wollen der Kirche ohne ein verstehendes Eingehen auf ihre letzten Ziele und Antriebe kaum jemals wirklich gelingt. Man wird also auch unter allgemeinen Bildungsgesichtspunkten dem herkömmlich geistlich bestimmten konfessionellen Unterricht den Vorzug geben dürfen. Der Religionsunterricht ist also von der geschichtlichen Aufgabe der Schule her gefordert." Wenn man mit solchen scheinlogischen Folgerungen seine eigenen Zielvorstellungen abzusichern versucht, so muß man sich gefallen lassen, daß andere Zielsetzer sich derselben Methode bedienen. Tatsächlich kann man mit derselben Methode zeigen, daß der Atheismus „von der geschichtlichen Aufgabe der Schule her gefordert ist", der Marxismus, der Nationalismus oder was auch immer gewollt wird — man braucht nur die Wörter auszuwechseln! Mit einer solchen Scheinlogik, wie sie die Hermeneutiker und Dialektiker verwenden, wird zwar der Anschein von Wissenschaftlichkeit erreicht, in Wirklichkeit geht es jedoch um die Setzung und Durchsetzung bestimmter Wertvorstellungen.
Ganz eindeutig ist der politische Mißbrauch des Wissenschaftsbegriffs bei den Marxisten. Im marxistisch-leninistischen Wörterbuch der Philosophie (1972) wird Wissenschaft als „eine spezifische Form des gesellschaftlichen Bewußtseins definiert, ein besonderes Gebiet der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, eine soziale Institution und unmittelbare Produktivkraft der Gesellschaft sowie theoretische Grundlage der Leitung der Gesellschaft".
Hier wird ganz offen Wissenschaft mit Sozialismus gleichgesetzt, hier wird von „wissenschaftlicher Weltanschauung" gesprochen, von „richtigem" und „falschem Bewußtsein“ usw. Dabei sollte man sich über eines im klaren sein: Die Bezeichnung politischer Tätigkeit als Wissenschaft kann nicht mehr auf der Ebene der Wissenschaft im Sinne einer logischen und empirischen Überprüfbarkeit diskutiert werden. Hier handelt es sich vielmehr um eine politische Strategie: Der Begriff Wissenschaft wird umfunktioniert zur Rechtfertigung und Durchsetzung bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen. Dabei haben die sogenannten bürgerlichen Wissenschaftler bis jetzt noch das Glück, wenigstens als Wissenschaftler bezeichnet zu werden: bei einer Gleichsetzung von Wissenschaft und Sozialismus werden sie dieses Privileg sicher nicht behalten.
Zusammenfassend kann man die Frage nach der Rolle der Wissenschaft im Lernzielstreit der Gegenwart etwa so beantworten: Die Wissenschaft untersucht, ob die Ziele erreichbar sind, welche Konsequenzen sich aus der Erreichung der Ziele für den einzelnen und für die Gesellschaft ergeben; die Wissenschaft steckt den Rahmen ab für Entscheidungsmöglichkeiten; die Lernziele selbst können jedoch nicht wissenschaftlich gesetzt werden. Ob ein Lernzielsetzer für mehr Selbstbestimmung eintritt oder für mehr Kollektivismus, für mehr Kritik oder für mehr Anpassung, ist keine Frage der wissenschaftlichen Ableitung, sondern eine Frage der persönlichen oder politischen Wertvorstellung. Ziele können somit nicht bewiesen werden, auch nicht objektiv begründ,! — wie es so oft heißt —, sie können lediglich engagiert vertreten werden.
Die persönliche Entscheidung kann auch nicht durch Appelle an Einsicht, an Bildung oder an Vernunft abgenommen werden. Tatsächlich gehen doch die Meinungen über das, was Vernunft ist, ebenso weit auseinander wie weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen. Ist es beispielsweise vernünftig, die Pille zu verbieten? Sind die alten Lernziele vernünftig oder die neuen?
Aus dem Unvermögen der Wissenschaft, den Lernzielstreit zu entscheiden, und aus der mangelnden Objektivität von Vernunft oder Einsicht ergibt sich folgende Konsequenz: Das Pro. blem der unterschiedlichen Lernziele und deren Verbindlichkeit in der Schule kann nur auf politischer und rechtlicher Ebene geregelt werden.
Kommen wir nun zu unserer vierten Frage: Gibt es eine politische oder rechtliche Lösung des Lernzielkonflikts?
Zur Beantwortung dieser Frage halten wir uns zunächst das Problem des Wertepluralismus in unserer Gesellschaft noch einmal vor Augen: In unserer pluralistischen Gesellschaft gibt es politische Parteien, Verbände und andere Gruppen mit unterschiedlichen Werten und Zielen. Dieser Pluralismus ist ein konstruktiver Bestandteil unserer Gesellschaftsordnung: Er garantiert Dynamik, Entwicklung und Auseinandersetzung; er garantiert eine lebendige Demokratie. Dabei müssen sich die politischen Gruppen jedoch im klaren darüber sein, daß sie ihre Zielvorstellungen, ihre Werte und Normen nur innerhalb ihres eigenen Wertsystems metaphysisch oder moralisch legitimieren können; eine für alle Gruppen verbindliche Legitimation im Sinne objektiver oder wissenschaftlich ableitbarer Werte gibt es nicht.
Gewiß wird in der Bundesrepublik Deutschland der Pluralismus der Werte durch das . Grundgesetz eingeschränkt — nur ein Utopist kann der Meinung sein, daß eine Gesellschaft auch solche Zielvorstellungen zuläßt, die ihre eigene Existenz untergraben. Man wird jedoch sagen dürfen, daß das Grundgesetz einen er heblichen Freiheitsspielraum für politische Interessen und Aktivitäten beläßt. Das neu aufgebrochene Lernzielproblem besteht darin, daß die einzelnen politischen Gruppen versuchen, ihre Werte für die Schule verbindlich zu machen. Gewiß haben das auch frühere Gesellschaften getan. Undemokratische und damit nicht pluralistische Gesellschaften konnten jedoch die Schule sehr leicht für ihre Zwecke einsetzen: Die Indoktrination war einseitig; eventuelle Konflikte wurden durch politische Macht abgewürgt. Heute melden alle politischen Gruppen ihre Ansprüche an, die Schüler frühzeitig zu ihrer Werthaltung zu führen oder zu bekehren.
Reden wir in diesem Sinne von konfessionellen Lernzielen, so besteht der besondere Zündstoff darin, daß sich die Lernzielsetzer an Kinder und Jugendliche wenden. Sie werben für ihre politischen Überzeugungen nicht bei mündigen und kritischen Bürgern, sie wenden sich vielmehr an unmündige und weitgehend noch unkritische Schüler. Diese sind der Beeinflussung sehr viel leichter zugänglich, ja, sie können sich ihr unter Umständen gar nicht entziehen. Jeder weiß, daß eine frühzeitige Internalisierung von Werten das Verhalten des Menschen weitgehend prägen kann; man denke an religiöse oder moralische Einstellungen, an sexuelle Verhaltensweisen, an innere Leistungszwänge und ähnliches.
Frühzeitige Indoktrination bedeutet somit langfristige Gesellschaftspolitik!
Daß die einzelnen politischen Gruppen die Absicht haben — ich sage nicht, das Recht! — ihre Werte in die staatliche Schule einfließen zu lassen, ist also nur konsequent. Waren es bisher vor allem konservative Kräfte unserer Gesellschaft, in erster Linie die Kirchen, die diese Absicht verwirklicht haben, so treten heute eine ganze Reihe anderer politischer Kräfte auf den Plan, die dasselbe Privileg für sich in Anspruch nehmen.
Bevor wir nun mit politischen und rechtlichen Argumenten — nicht mit inhaltlichen! — an den Lernzielstreit herangehen, sei noch einmal betont, daß dieser Konflikt in unserer pluralistischen Gesellschaft selbst angelegt ist. Er ist also nicht vorübergehend, er ist vielmehr konstitutiv und dauerhaft. Ja, der Konflikt ist, sofern man unsere Verfassung bejaht, auch wünschenswert. Man stelle sich nur vor, es gäbe keinen Lernzielstreit! Das hieße doch wohl, daß eine einzige politische Gruppe den Sieg davongetragen hätte, und das hieße wiederum das Ende der pluralistischen Gesellschaft.
Der Lernzielkonflikt ist also dauerhaft. Das bedeutet, daß man sich nach einer dauerhaften und dynamischen Regelung umsehen muß, nach einer Regelung, die eine faire Auseinandersetzung der politischen Kräfte erlaubt und kontrolliert.
Wie schwierig das Problem ist, läßt sich schon daran erkennen, daß beispielsweise ein Mehrheitsentscheid ganz andere Konsequenzen hätte als in anderen politischen Bereichen. Der erwachsene Bürger verkraftet es, vier Jahre von der CDU regiert zu werden und anschließend vier Jahre von der SPD. Verkraftet es aber auch das Kind, vier Jahre in Ehrfurcht vor Gott erzogen zu werden und dann vier Jahre — man verzeihe mir diese Glosse! — in Ehrfurcht zu Marx? Dasselbe kann übrigens viel rascher passieren, wenn die Eltern von Mainz nach Wiesbaden ziehen.
Versucht man, eine dauerhafte Regelung des Lernzielkonflikts zu finden, so kann es sich selbstverständlich nur um eine formaldemokratische und nicht um eine inhaltliche handeln. Den Ausdruck „formaldemokratisch" verwende ich dabei keineswegs abwertend, im Gegenteil: demokratische Regeln müssen formal sein, sonst würden sie ja den Bürger bevormunden. Um eine formale Regelung zu finden, könnte man zunächst daran denken, sämtliche affektiven Lernziele aus der Schule herauszuhalten. Unter einem affektiven Lernziel versteht man ein solches, bei dem Überzeugungen, Einstellungen, Werthaltungen, Gesinnungen usw. erzeugt werden sollen. Ein affektives Lernziel ist beispielsweise folgendes (ich zitiere aus den Richtlinien für die Volksschule in Nordrhein-Westfalen, 1967): „Der katholische Religionsunterricht will innerhalb der gesamten religiösen Erziehung in den Seelen der Kinder eine geschlossene katholische Gedanken-und Wertwelt aufbauen, eine feste katholische Haltung bilden, wobei die Erziehung und Führung zum praktisch-religiösen Leben immer letztes Ziel ist.“
Ein anderes affektives Lernziel gilt für das Land Bremen. Dort sollen die Schüler unter dem Thema „Wohnen" lernen, „wie der demokratische Anspruch sozialer Gerechtigkeit eingelöst werden kann". Zu diesem Zwecke sollen sie „Aktionen zur Veränderung starten". Die Durchführung dieses Lernziels führte zu einem Rechtsstreit wegen unzulässiger Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger.
Der vorgeschlagene Verzicht auf affektive Lernziele würde bedeuten, daß sich die Schule auf kognitive Ziele zu beschränken hätte. Unter kognitiven Lernzielen versteht man solche, die sich auf Kenntnisse und Erkenntnisse beziehen. Kognitive Lernziele sind etwa, „quadratische Gleichungen lösen können", „erkennen, daß es unterschiedliche Wirtschaftssysteme gibt", „erkennen, daß es politische Gruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen gibt" usw.
Neben den affektiven und kognitiven Lernzielen unterscheidet man noch die pragmatischen oder psychomotorischen. Hier geht es um Fertigkeiten wie Schreibmaschinenschreiben oder Schwimmen. Gewiß treten die Lernziele meist in enger Verbindung auf, dennoch ist die Einteilung nützlich und aufschlußreich.
Der Vorschlag, in der Schule grundsätzlich nur kognitive oder pragmatische Lernziele zuzulassen, hätte folgenden Vorzug: Die bloße Kenntnis der christlichen Konfessionen, der marxistischen, der liberalen und anderen Positionen bedeutet keine Verinnerlichung einer bestimmten Einstellung oder gar eine Festlegung einer bestimmten Verhaltensweise. Die Kinder und Jugendlichen würden also über die pluralistischen Werte unserer Gesellschaft aufgeklärt; sie würden wissen, daß es verschiedene Religionen gibt und wie diese historisch entstanden sind, sie würden wissen, wie die Programme der Parteien und Verbände lauten, sie würden aber nicht in einer bestimmten Richtung beeinflußt oder gar indoktriniert werden. Es würde keine Religion an der Schule geben, sondern Religionswissenschaft, es würde keine sozialistische Gesinnung geweckt, sondern über die verschiedenen Formen des Sozialismus informiert und diskutiert werden.
Der Vorzug bestünde also darin, daß keine politische Gruppe ein Privileg hätte, Kinder und Jugendliche zu indoktrinieren und in ihrer speziellen Richtung zu beeinflussen. Ein solches Privileg widerspräche ja gerade dem Pluralismus in unserer Gesellschaft, es widerspräche aber auch dem Prinzip der Mündigkeit. Schließlich wird ja durch eine derartige Wertinternalisierung kritische Distanz verhindert und freie Entscheidung weggenommen.
Fassen wir den Gedanken, nur kognitive Lernziele in der Schule zuzulassen, noch einmal zusammen: Eine völlige Verbannung der affektiven Lernziele aus der Schule — seien sie nun offen formuliert oder versteckt — würde den Lernzielstreit erheblich entschärfen. Der Schüler würde über die pluralen Vorstellungen unserer Gesellschaft informiert werden, er hätte aber selbst die Möglichkeit, seine Entscheidungen zu treffen.
An dieser Stelle könnte man den Einwand machen, eine solche lupenreine kognitive Ausbildung sei nicht möglich, da jeder Lehrer seine Wertvorstejlung in irgendeiner Form — und sei es auch unbewußt — ins Spiel bringen würde. Außerdem seien auch andere Erziehungsinstanzen wie Eltern oder Massenkommunikationsmittel wertgeladen und manipulativ. Der Einwand ist indessen nicht stichhaltig: Es macht doch einen erheblichen Unterschied, ob ich ausdrücklich versuche, bestehende Werte zu reflektieren und zu diskutieren, ob ich versuche zu informieren, Alternativen aufzuzeigen und zu relativieren, oder ob ich versuche, ganz bestimmte Werte zu indoktrinieren. Hier handelt es sich um grundlegend verschiedene Strategien, da es sich um grundlegend verschiedene Ziele handelt. Daß die Lehrer ihre eigenen Wertvorstellungen zur Geltung bringen wollen, ist selbstverständlich; aber man kann doch vom Lehrer erwarten, daß er seine eigenen Überzeugungen als solche deutlich macht. Außerdem sind Schüler, die über längere Zeit hinweg in dieser Form aufgeklärt wurden, durchaus in der Lage, die Werte als subjektiv zu erkennen. Es muß doch nur einmal die kritische Haltung geweckt werden, das Mißtrauen gegen die Verabsolutierung von Meinungen und die Fähigkeit, Informationen und Werte zu unterscheiden.
Der Gedanke, daß sich die Schule jeglicher Gesinnungsbildung zu enthalten habe, erscheint auf den ersten Blick bestechend; er scheint auch der Vorstellung des mündigen Menschen zu entsprechen. Dieser soll ja die unterschiedlichen Werte und politischen Konzeptionen kennen, aber er soll seine eigene Meinung bilden können und seine eigenen Entscheidungen treffen.
Die Beschränkung auf kognitive Lernziele würde auch eine praktikable, politische und rechtliche Lösung des Lernzielstreits darstellen. Keine politische Gruppe würde bevorzugt oder benachteiligt. Schließlich hat der Staat auch gar kein Recht, irgendeiner Partei oder einer anderen politischen Interessengruppe in einer von ihm zur Pflicht gemachten Veranstaltung, nämlich der Schule, ein Lernzielprivileg einzuräumen. Ich halte es daher für rechtswidrig, Lernziele wie „Ehrfurcht vor Gott" oder „Erfüllung des christlichen Sittengesetzes“ in die Verfassung zu schreiben. Das ist genauso rechtswidrig wie es entsprechende Forderungen im marxistischen Sinne wären.
So einsichtig der Gedanke sein mag, nur kognitive Lernziele zuzulassen, er läßt ein existentielles Anliegen unserer Gesellschaft außer acht: die Vermittlung unserer grundlegenden freiheitlichen und demokratischen Werte an die nachfolgenden Generationen. Man darf ja nicht vergessen, daß wir bei aller Pluralität der Werte eine gemeinsame Basis an Grundwerten besitzen. Auf dieser Basis beruht die Einheit der Bundesrepublik, auf dieser Basis funktioniert die Demokratie, die Gesetzgebung, der Pluralismus der Werte, die Regelung von Konflikten. Nun sind sich wohl alle Politiker, sofern sie das Grundgesetz überhaupt bejahen, darin einig, daß unsere Gesellschaft das Recht hat, ihre grundlegenden Werte durch Erziehung zu überliefern. Tatsächlich ist es ja richtig, was engagierte Vertreter unserer Demokratie immer wieder sagen, daß nämlich die Grundwerte der Demokratie selbst einer affektiven Zustimmung bedürfen.
Zu den Grundwerten gehört sicher das Prinzip der Demokratie selbst als Herrschaft des Volkes und zugleich als Kontrolle der Macht, zu den Grundwerten gehören die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der sozialen Verpflichtung des Staates, die Werte der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, der Meinungsfreiheit und der Toleranz.
Nur durch ein Engagement für diese Grundwerte, nur durch eine Verinnerlichung dieser Werte in jedem einzelnen Bürger bleibt die Demokratie lebendig. Diese Erkenntnis ist seit langem bekannt. Sie bedeutet insbesondere, daß die verbindlichen Grundwerte unserer Gesellschaft auch in der Schule verbindlich gemacht werden dürfen, ja, verbindlich gemacht werden müssen. Damit kann der Vorschlag, nur kognitive Lernziele in der Schule zuzulassen, nicht aufrechterhalten werden. Die gemeinsamen Grundwerte müssen auch als affektive Lernziele die Erziehung in der Schule bestimmen.
Der Vorschlag, nur die gemeinsamen Grundwerte als affektive Lernziele in der Schule verbindlich zu machen, löst jedoch einen neuen Konflikt aus: Wer entscheidet denn darüber, ob eine bestimmte Auffassung von Demokratie zu den verbindlichen Grundwerten gehört? Wir erfahren ja ständig — zuletzt in der Verfassungsdebatte vom Februar dieses Jahres — wie schwierig es ist, zwischen einer verbindlichen Auffassung des Grundgesetzes, einem zugelassenen Wert unserer Verfassung und eventuell nicht zugelassenen Zielvorstellungen zu unterscheiden. Man denke beispielsweise an sozialistische Interpretationen von Demokratie, an eventuelle Verbote extremer Parteien, an Radikale im öffentlichen Dienst und ähnliches.
Die Schwierigkeiten liegen aber oft auch im Detail. Erinnern wir uns an den Einspruch von Eltern gegen den in der Schule verwendeten Satz „Ich wasche meine Scheide“! Das Oberverwaltungsgericht war der Auffassung, daß in der Schule offen über geschlechtliche Themen gesprochen werden soll — auch gegen die Überzeugung einiger Eltern. Der Jurist Professor Evers ist hingegen der Meinung, daß die Behandlung sexueller Themen zum Intim-bereich der Familie gehöre und daß daher entsprechende Lernziele für die Schule nicht verbindlich sein dürften. Die letzte Entscheidung darüber, ob ein Lernziel dem verbindlichen, dem zugelassenen oder dem nicht zugelassenen Bereich angehört, liegt beim Verfassungsgericht in Karlsruhe.
Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen: Die staatliche Schule in der pluralistischen Gesellschaft hat über sämtliche Werte und Normen zu informieren, anders ausgedrückt: die Ziele und Programme der politischen oder konfessionellen Gruppen müssen in jedem Falle als Objekte des Unterrichts auftreten. Darüber hinaus hat der Staat das Recht, ja sogar die Pflicht, die in der Verfassung niedergelegten Grundwerte auch als affektive Lernziele verbindlich zu machen. Uber die Frage, ob eine bestimmte Interpretation der Grundwerte zu den verpflichtenden Lernzielen gehört, entscheidet in letzter Instanz das Verfassungsgericht.
Nun gehen wir noch einen Schritt weiter: Es erscheint mir durchaus sinnvoll, die zugelassenen Werte nicht nur als kognitive Lernziele für die Schule aufzustellen, sondern auch als affektive — dann allerdings nur als Angebot und nicht als Pflicht. Der Vorschlag ist insofern einsichtig, als man den Schüler nicht gleichzeitig zum Christen und zum Atheisten erziehen kann, zum Kapitalisten und zum Marxisten. Der Vorschlag entspräche insofern der Verfassung, als keiner politischen oder konfessionellen Gruppe das Privileg eingeräumt wird, ihre speziellen Ziele in der Schule verbindlich zu machen. Freiwillige Veranstaltungen mit affektiven Lernzielen sollten dabei nicht nur von engagierten Lehrern durchgeführt werden, sondern auch von Vertretern der jeweiligen politischen oder konfessionellen Gruppen. Andererseits meine ich jedoch, daß das Angebot an affektiven Lernzielen und den entsprechenden Veranstaltungen von der Schule kontrolliert werden müßte — sie hat schließlich die Verantwortung für den Pluralismus und die Zulässigkeit der dargebotenen Wertvorstellungen.
Die vorgeschlagene Regelung, daß die einzelnen politischen und konfessionellen Gruppen ihre Wertvorstellungen auch als affektive Lernziele in der Schule anbieten können, bringt eine Reihe neuer Probleme mit sich:
Man denke etwa an die Gewichtung der einzelnen Gruppen. Sollen die konfessionellen Lernziele nach statistischen Maßstäben angeboten werden oder nach dem Prinzip der Gleichberechtigung? Man denke ferner an die Auffassungskraft der Kinder und Jugendlichen. In einer Schule mit pluralistischem Angebot werden die Schüler ja mit recht unterschiedlichen, zum Teil auch gegensätzlichen Werten affiziert. Das kann für Kinder in den ersten Schuljahren zu einer Verwirrung führen, unter Umständen auch zu einer seelischen Belastung. Andererseits hat die Schule gerade auch die Aufgabe, auf die Tatsache der pluralen Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft vorzubereiten. Man muß also mit zunehmender Reife der Schüler auch das Angebot der Werte erweitern und vertiefen.
Die Hauptschwierigkeit der vorgeschlagenen Regelung liegt zweifellos an der Bestimmung der jeweiligen Grenze zwischen verbindlichen, zugelassenen und unzulässigen Lernzielen. Konflikte in diesen Grenzbereichen können nur auf rechtlicher Ebene entschieden werden. Würde man diese Regelung des Lernzielstreits auf traditionelle Bildungspläne anwenden, so käme man zu dem Ergebnis, daß Lernziele wie „Ehrfurcht vor Gott" oder „Erfüllung des christlichen Sittengesetzes''weder in der Verfassung noch in den Bildungsplänen stehen dürften. Hier handelt es sich eindeutig um spezielle Wertvorstellungen, die nicht zu den verbindlichen Grundwerten unserer Verfassung gehören.
Würde man diese Regelung des Lernzielstreits auf die hessischen Rahmenrichtlinien anwenden, käme man zu folgendem Ergebnis: Die kognitiven Lernziele müßten an einigen Stellen korrigiert werden. So dürfte beispielsweise nicht einfach von „schichtgebundenen Sozial formen in der Familie" die Rede sein, sondern von unterschiedlichen Theorien über das Ausmaß einer solchen Gebundenheit.
Die affektiven Lernziele, die marxistisch orientierte Einstellungen betreffen, äürften nicht dem verbindlichen Lernzielbereich angehören. Dasselbe gilt für die einseitige Stellungnahme für die Gewerkschaft. Eine solche wäre nach dem vorgeschlagenen Modell nur im Bereich des Angebots zulässig.
Mindestens ein Lernziel der Rahmenrichtlinien scheint mir außerhalb der Zulässigkeitsgrenze zu liegen: Ich meine die Aufforderung an die Schüler, zu prüfen, ob es Situationen gibt, in denen die formaldemokratischen Spielregeln vorübergehend außer Kraft zu setzen wären.
Man könnte der vorgeschlagenen Regelung des Lernzielstreits, nur die gemeinsamen Grundwerte als affektive Lernziele in der Schule verbindlich zu machen, vorwerfen, sie sei zu starr und verhindere eine weitere Entwicklung unserer Demokratie. Ich glaube, daß dem aus zwei Gründen zu widersprechen wäre: Einmal treten nach dieser Regelung sämtliche politischen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft sowie auch politische Konzeptionen anderer Völker und Gesellschaftssystemen als Objekte des Unterrichts auf.
Zum andern liegt in der Interpretation der Grundwerte durch die Lernzielsetzer eine nicht zu unterschätzende Dynamik. Hier können durchaus Tendenzen für eine gesellschaftliche Entwicklung gesetzt werden.
Schließlich werden die in unserer Gesellschaft zugelassenen Wertvorstellungen auch in der staatlichen Schule zugelassen. Der Schüler erfährt so den Pluralismus der Werte nicht nur kognitiv, er kann sich den Uberzeugungsversuchen auch auf affektiver Ebene stellen. Politische oder konfessionelle Gruppen, denen es nicht ausreicht, ihre speziellen Lernziele in der staatlichen Schule nur anbieten zu können, haben die Möglichkeit, ihre Ziele in privaten Schulen zu verwirklichen.
Was meines Erachtens unter allen Umständen verhindert werden muß, ist die Konfessionalisierung der staatlichen Schule durch politische Gruppen, die sonst in unserer Demokratie vor mündigen Menschen konkurrieren müssen. Keine dieser Gruppen — seien es Kirchen oder Parteien — darf das Recht haben, unmündige Schüler von vornherein auf ihre Seite zu ziehen.
Felix von Cube, geb. 1927, o. Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere Schulpädagogik, an der Universität Heidelberg, stellvertretender Vorsitzender des Bundesfachausschusses für Kultur-und Bildungspolitik der FDP. Veröffentlichungen: Kybernetische Grundlagen des Lernens und Lehrens, Stuttgart 19704, Was ist Kybernetik?, dtv 1972; Technik des Lebendigen, dva 1970; Gesamtschule — aber wie?, dva 1972; zahlreiche Aufsätze zur Pädagogik und Bildungspolitik.
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