Problemstellung und Hypothesen
Nach einem Vierteljahrhundert ihres Bestehens blickt dieBundesrepublik Deutschland auf die Leistung von sieben Bundestagen, vier Bundeskanzlern und drei Bundespräsidenten zurück, die im Namen des Volkes — von dem alle Staatsgewalt ausgeht — die politischen Entscheidungen verantwortet, die Richtlinien der Politik bestimmt und Volk und Staat vor der Welt repräsentiert haben. Die Geschichte dieses Staates ist auf weiten Strecken auch die Geschichte seiner Verfassung. Welche Entwicklung hat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in diesen 25 Jahren genommen, in einem Zeitraum, der fast so lange währte wie die Weimarer Republik und das nationalsozialistische Regime zusammen? Gibt es überhaupt eine Entwicklung im Sinne eines historischen Wandels, kann es sie ge-ta, wenn die Grundwerte der Verfassung als mnmittelbar geltendes Recht jeglicher Ändenungsmöglichkeit entzogen sind?
I!) Demokratische „Herrschaft" wird im fol-lenden unter dem Aspekt des Verhältnisses ter beiden Kategorien Grundrechtsgaran- fe und Volkssouveränität zueinander dar-aufhin untersucht, welche Bedeutung die behaupteten oder tatsächlichen Ubereinstim-Hingen bzw. Diskrepanzen zwischen diesen linzipien für die politische Bildung der Staatsbürger haben. Die Untersuchung geht ivon aus, daß Gefahren für den Bestand der Zeitlichen demokratischen Grundordnung schworen werden, die angeblich schon einmal die Demokratie in Deutschland, die Wei-Arer Republik, zerstört haben. Neu ist die behauptung, daß diesmal die von demokratien Regierungen erlassenen Richtlinien für den politischen Unterricht in einigen Bundesländern selbst Angriffe gegen die Grundwerte der Verfassung begünstigen oder zumindest nicht entschieden genug zurückweisen. Das ist Anlaß für die Frage, wer in wessen Namen befugt und legitimiert ist, Ziele und Inhalte der politischen Erziehung festzusetzen. Wenn es Landtage und Kultusminister sind, so greift das Problem zurück auf deren Legitimation, die, vordergründig gesehen, durch ihre Bindung an die Verfassung der Bundesrepublik gegeben scheint. Die Untersuchung zielt daher auf die Frage, wodurch welche Leitwerte und Normen der Verfassung legitimiert sind, d. h., worauf sich ihr Anspruch gründet, von allen Bürgern und Inhabern von Staatsgewalt als verbindlich anerkannt zu werden. (2) Politisch geht es darum, wer die Kriterien für Veriassungsieindlichkeit zu bestimmen und anzuwenden berechtigt ist, didaktisch um das Verhalten der Staatsbürger, das durch politische Erziehung erreicht werden soll. Die erste der im folgenden behandelten Hypothesen besagt, daß die Sozialwissenschaften, besonders die Politikwissenschaften, in den Auseinandersetzungen um die Interpretation der Verfassung nicht „objektiv", gewissermaßen als neutraler Schiedsrichter, urteilen können, sondern sich für eine der konfligierenden Auffassungen entscheiden müssen. Als Erklärungshypothese hierfür dient die Unterscheidung zwischen einem mehr statischen, strukturalistisch-funktionalistischen und einem mehr dynamischen, historischen Demokratieverständnis. (3) Im Mittelpunkt der Erörterung steht der Versuch, nachzuweisen, daß die konkurrie-renden und z. T. gegensätzlichen Konzeptionen von politischer Bildung in den Richtlinien der Bundesländer Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nicht nur auf dieses unterschiedliche Demokratieverständnis zurückzuführen sind, sondern auch auf ein gegensätzliches Geschichtsverständnis. Die Hypothese lautet: Konservative Wissenschaftler und Politiker neigen dazu, die Gegenwart als Abschluß der Vergangenheit zu sehen, „fortschrittliche" eher als den Beginn der Zukunft. Da als wissenschaftstheoretischer Hintergrund für eher konservative Konzeptionen der politischen Bildung strukturell-funktionale Systemtheorien, für eher fortschrittliche Positionen dagegen die sog. Kritische Theorie der Gesellschaft vermutet werden, setzt sich diese Untersuchung mit deren Geschichtsverständnis auseinander. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Kriterium, wie in der Geschichte und in der Gegenwart Veränderungen und Revolutionen gewertet werden. (4) Die so gewonnenen Ergebnisse werden ständig rückbezogen auf das Veriassungsver-ständnis der konfligierenden Parteien und konkurrierenden didaktischen Konzeptionen. Sie führen zu der Hypothese, daß die in den Grundrechten formulierten Grundwerte unserer Staatsordnung von den einen als Ende der revolutionären Kämpfe um Demokratie und Freiheit, von den anderen als eine historische Epoche in einer noch längst nicht abgeschlossenen Emanzipationsbewegung gewertet werden. Der Verfasser neigt der zweiten Auffassung zu, begründet aber im folgenden seine Ansicht, daß Veränderungen des politischen Systems, die bei der Weiterentwicklung des Prinzips der Volkssouveränität notwendig werden, in der Bundesrepublik ohne revolutionäre Änderung der Grundnormen, d. h. im Rahmen des Prinzips der Grundrechtssicherung möglich sind.
Dabei wird vorausgesetzt, daß das Bonne Grundgesetz nach den Erfahrungen der Ve gangenheit im Unterschied zur Weimare Verfassung dem Prinzip der Grundrechts, cherung unbedingten Vorrang vor dem Pn zip der Volkssouveränität eingeräumt hat. P litische Erziehung, die den entscheidungsfäh gen und verantwortungsbewußten (mündiger Staatsbürger zum Ziel hat, erfährt daher ihn letzte Legitimation durch das Demokratieve ständnis und den politischen Willen de Mehrheit der Staatsbürger, ihre staatliche Ordnung im Sinne der Würde des Menscher, unter Inanspruchnahme ihrer garantiertet Grundrechte, selbst zu bestimmen. (5) Die Untersuchung gelangt nach einer Kritik der vor allem an funktionalistischen Systemtheorien orientierten Konzeptionen de: politischen Bildung zu der Folgerung, dal diese dazu beitragen, den Willen nach Demokratisierung im Sinne von größerer Teilhabe an Entscheidungen in der gesamten Gesellschaft eher zu schwächen als zu stärken. Di nicht das System der Institutionen durch die Verfassung für unantastbar erklärt wird, sondern die Grundrechte, deren Schutz sie vor allem dienen sollen, plädiert der Verfasser für eine allmähliche Erweiterung der Entscheidungsfreiheit im Sinne des Prinzips der Volkssouveränität, beginnend mit einer durch eine breite Diskussion im Volke vorbereiteten Urabstimmung über die Verfassung selbst und der unmittelbaren Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk, das sich freilich zuvor als Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland und nicht als „das deutsche Volk" verstehen müßte. Eine solcherart legitimierte Verfassung wäre zugleich die Legitimation für die aus der Verfassung abzuleitenden Inhalte und Ziele der politischen Bildung.
Zwischen Klassenkampf und Verfassungstreue?
Die Debatte des Deutschen Bundestages am 14. /15. Februar 1974 über die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die in diesem Jahre auf 25 Jahre Gültigkeit zurückblickt, hat in erschreckender Weise deutlich gemacht, was Friedrich Minssen meinte, als er in seinem Beitrag zur Diskussion um die Hessischen Rahmenrichtlinien im Oktober 1973 einleitend bemerkte, man könne der Entscheidung über Lernziele und Lerninhalte fast „Verfassungsrang" zubilligen. Die Politiker haben unterschiedliche Antworten auf die Frage der Didaktiker gegeben, welche inhaltlichen Bedingungen erfüllt sein müssen, „damit Lernziele Geltung beanspruchen können' Kein Abgeordneter konnte z. B.der durch Bundesinnenminister Genscher abgegebenen Erklärung der Regierung widerspre-chen: „Audi Schule und Erziehung sind nicht wertfrei. Sie sollen zur Bejahung der freiheitlichen Prinzipien unserer Ordnung führen" Von den Lehrern forderte die Regierung: „Wer unsere Kinder erziehen und lehren will, muß zur Parteinahme für die Wertordnung unserer Verfassung bereit sein."
Die Sprecher der Opposition allerdings warfen der Regierung vor, gerade im Bildungswesen verfassungsfeindlichen Tendenzen nicht nur unzureichend entgegenzuwirken, sondern solche offen zu begünstigen oder gar zu verlangen. Schon in der Begründung des Antrages, der die Debatte auslöste, meinte Dr. Dregger, nicht nur die Hessischen Rahmenrichtlinien zur Gesellschaftslehre, sondern auch die von den Kultusministern Girgensohn in Nordrhein-Westfalen und von Oertzen in Niedersachsen erlassenen Richtlinien seien „nicht am Grundgesetz, sondern an der spätmarxistischen Ideologie der neuen Linken orientiert". Eine solche „ideologisch fixierte Erziehung“, — durch die „die Kinder in den Kategorien des Klassenkampfes erzogen, alle Identifikationsmöglichkeiten mit der staatlichen Gemeinschaft radikal zerstört .. . die Werte unserer freiheitlichen Ordnung nicht nahegebracht, sondern diskreditiert" werden, nannte Dregger „Verfassungsbruch". Baden-Württembergs Ministerpräsident Dr. Filbinger brachte weitere Beispiele dafür, daß sich — wie er es sah — „Bildungseinrichtungen von dem entfernen, was das Grundgesetz unter Erziehung und Ausbildung versteht. Ich brauche nur die Hessischen Rahmenrichtlinien zu erwähnen, um zu zeigen, daß dort ein lupenreines Konfliktmodell des Klassenkampfes vorgelegt wird." Besorgt und beschwörend fragte Filbinger: „Müssen wir es hinnehmen, daß unsere Kinder die Schule als Gegner der Verfassung, unseres Grundgesetzes, verlassen?"
Wie kann, wie soll sich der an die Richtlinien gebundene Lehrer verhalten, wenn (z. B.) der Kultusminister als sein Dienstherr erklärt: „Unumstritten ist für die Verfasser der Rahmenrichtlinien als Zielvorstellung politischer Bildung, Schüler mit den Grundwerten unserer demokratischen Verfassung zu identifizieren und sie zu engagieren für die Lösung jener Probleme unserer gesellschaftlichen wie politischen Ordnung, die die Verfassungswirklichkeit uns stellt"? Offensichtlich läßt das Grundgesetz so divergierende Interpretationen zu, daß sich die beiden großen staats-tragenden Parteien SPD und CDU/CSU gegenseitig beschuldigen können, ihre Auffassungen widersprächen der Verfassung. Wird ein Lehrer anders reagieren können als der FDP-Abgeordnete Dr. Hirsch, der angesichts dieser unüberbrückbaren Gegensätze ausrief: „Diese Art der Identifizierung mit dem Staat wird für mich zu dem unerträglichen Gleichnis, daß Bekenner andersartiger politischer* Auffassungen nicht nur Unrecht hätten, sondern daß sie verfassungswidrig handelten, also Verfassungsfeinde seien"?
Wenn die staatstragenden Parteien, die im Bund und in den Ländern mit derart gegensätzlichem Verfassungsverständnis Lernziele festlegen und zugleich über die Macht verfügen, sie in ihren Schulen durchzusetzen, nicht verbindlich angeben und legitimieren können, welche Inhalte verfassungskonform sind, so scheint dem Lehrer wie dem wissenschaftlichen Didaktiker kein anderer Ausweg zu bleiben, als im Falle eines Loyalitätskonfliktes dem Bundesverfassungsgericht die letzte Entscheidung über Lernziele und -inhalte zu überantworten. Oder darf der Didaktiker, als Wissenschaftler, selbst auf die Verfassungsnormen zurückgreifen, um daraus für sich sein Curriculum und seinen Unterricht zu legitimieren, wie das z. B. Minssen (a. a. O.) durch Bezug auf Artikel 1 oder Wolfgang Abendroth durch Heranziehung der Art. 20 und 79 GG tun?
Die Curriculum-Theoretiker aus der Schule von Herwig Blankertz, Gösta Thoma und die nordrhein-westfälischen Richtlinienautoren Walter Gagel und Rolf Schörken, lehnen eine solche Deduktion von Lernzielen aus Verfassungsnormen ab, „weil diese auslegungsbedürftig (wie Art. 1 GG) oder auslegbar (wie die übrigen) sind, soweit es sich um Verhaltensnormen handelt, die für den Staatsbürger relevant sind. Ein aus dem Grundgesetz zu deduzierendes Curriculum würde die Entscheidungen über Lehrinhalte an das Bundesverfassungsgericht delegieren."
Wenn die derzeitige Opposition im Bundestag der Partei des Bundeskanzlers vorwirft, ihr Programm sei „antipluralistisch, antidemokra-tisch und im Grunde totalitär" (Dregger in der oben zitierten Rede am 14. 2. 1974), so hält sie die politischen Zielwerte der Regierung, soweit sie in ihrem Programm formuliert wurden, für nicht legitim. Leitet die Regierung daraus Ziele und Inhalte der politischen Bildung ab, dann bedeutet die Behauptung Dr. Dreggers, „die Übereinstimmung zwischen denen, die auf dem Juso-Kongreß das Sagen hatten, und den Richtlinienverfassern in Wiesbaden ist unverkennbar", in der Tat die Aufforderung an betroffene Lehrer und Eltern, das Bundesverfassungsgericht gegen die Landesregierung anzurufen. Dieses hätte vermutlich Dr. Dreggers Prämisse zu überprüfen, die der SPD als Unterorganisation angehörenden Jungsozialisten stünden nicht auf dem Boden der Verfassung. Gilt diese Behauptung als erweislich wahr, so wäre die „Übereinstimmung" ihrer politischen Ziele mit den Lernzielen der Hessischen Rahmenrichtlinien festzustellen.
Das Verfassungsgericht wäre gezwungen, zu definieren, was (z. B.) unter der „spätmarxisti-sehen Ideologie der neuen Linken" zu verstehen ist; es müßte den Inhalt der Begriffe „Konfliktmodell" und „Klassenkampf" auf seine Verfassungskonformität überprüfen, mit anderen Worten zwischen Wissenschaft und Ideologie und zwischen verfassungskonformer und nicht-verfassungskonformer Wissenschaft eine justiziable Grenze ziehen. Praktisch würde damit z. B. nicht nur der Politiker Ernest Mandel durch den Verfassungsschutz der Bundesrepublik als unerwünschte Person abgelehnt, sondern auch sein wissenschaftliches Werk einer Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen. Den Arbeiten von Marx, Engels, Lenin und Trotzki müßte folglich dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das wäre lächerlich, wenn es nicht der Realität so nahe wäre: Fast wäre das Gericht in die Lage gekommen, prüfen zu müssen, ob das Lehrbuch „sehen beurteilen handeln" der Didaktiker Wolfgang Hilligen und Siegfried George — die übrigens weder marxistische noch nicht-marxistische Wissenschaftler für Marxisten halten — marxistischeIndoktrination statt legitimierter demokratischer Lernziele bietet.
Es gehört — in Erinnerung an die Unfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts, im Falle des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL über die Verfassungsmäßigkeit der Regierungsmaßnah-men zu entscheiden — keine prophetische Gabe dazu, vorauszusehen, daß der politische Riß ebenso wie durch das Parlament auch durch das Verfassungsgericht hindurchgehen wird. Eine inhaltliche Bestimmung der Gren-zen zwischen Freiheit von Forschung und Lehre und „Treue zur Verfassung" überschreitet in jedem Falle die Kompetenz von Juristen und ist eine politische Entscheidung, der jeder Politiker und noch mehr jeder Wissenschaftler die Legitimität bestreiten könnte. Die Sorge der Didaktiker, die im Namen einer politisch legitimierten und legal entscheidenden Landesregierung Lernziele und -Inhalte für Richtlinien formulieren, in einen letztlich nicht justiziablen Normenkonflikt zu geraten, ist offenbar nicht unbegründet.
Legitimation durch Wissenschaft?
Die Alternative, die von den Autoren der . Richtlinien für den politischen Unterricht" des Landes Nordrhein-Westfalen angeboten wird, ist „der Ansatz beim Selbstverständnis der BRD", das durch zwei (möglicher-, nicht notwendigerweise) konkurrierende Instanzen ausgedrückt wird: einerseits die Wissenschaften und zum anderen die gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen. Die genannten Richtlinienverfasser und Curriculum-Strategen übersehen gewiß nicht, daß sich durch die Artikulation des Staats-und Verfassungsverständnisses der unübersehbar vielen gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen kaum ein tragfähigerer Konsens über die Grundwerte unserer Ordnung ermitteln ließe als etwa durch die Debatte des Deutschen Bundestages. Aber selbst wenn er durch einen rationalen Diskurs herzustellen wäre, blieben die Normen der Verfassung letztlich den unvereinbaren Auffassungen über Ziel und Inhalt politischer Leitvorstellungen ausgeliefert. Diese Art von . Pluralismus" sollen deshalb die Wissenschaften „objektivieren und begründen".
Ich versuche im folgenden zu zeigen, daß die-ser Rekurs auf die Wissenschaften, insbeson-dere die Sozialwissenschaften, das Legitimationsverlangen weder der Politiker noch der Lehrer befriedigen kann.
Pie tiefe Kluft, die sich zwischen SPD und CDU/CSU aufgetan hat, trennt auch die Sözialwissenschaftler in der Bundesrepublik. Deshalb stehen sich auch fachwissenschaftlich und -didaktisch begründete Curricula und Richtlinien wie z. B. die von Hessen auf der einen und die von Rheinland-Pfalz auf der anderen Seite nicht nur konkurrierend, sondern in ihren Prämissen wie in ihren politischen Folgerungen prinzipiell unvereinbar gegenüber. Die bislang einzige Feststellung, die seitens der Politikwissenschaft angesichts dieser Lage unwidersprochen blieb, formulierte Hans-Hermann Hartwich, nämlich die, daß die unvereinbaren wissenschaftstheoretischen Prämissen aus „grundsätzlich divergierenden Auffassungen über . Demokratie'und damit — noch weitergehend — über die Reichweite von . Politik'resultieren"
Die Hessischen Rahmenrichtlinien berufen sich auf das „emanzipatorische Erkenntnisinteresse" der Kritischen Theorie, deren wichtigste Prämisse Jürgen Habermas als „die Offenheit der geschichtlichen Entwicklung in die Zukunft" formuliert hat
Die anthropologischen Prämissen bezeichnen die Begriffe „zweckrationales Handeln" (im Bereich der Arbeit) und „kommunikatives Handeln" (im Bereich der Sprache), die Habermas historisch zugleich erläutert und ableitet: „Da nach Habermas die historische Entwicklung weder determiniert noch von ewig wirkenden Gesetzes bestimmt ist, hängt es vom Willen der Menschen ab, wie sie ihre Zukunft gestalten und für welchen Weg sie sich entscheiden" Die dem Menschen ständig zur Lösung aufgegebenen Probleme der Lebenserhaltung „schließen eo ipso Lern-und Verständigungsprozesse ein" Das Basis-axiom der Theorie von Habermas, eine Norm, die a priori „eingesehen" werden könne, ist die Annahme, daß jedes Individuum aus Interesse an der Lebenserhaltung nach Mündigkeit strebt.
Didaktiker wie Franz Heinisch, Johannes Beck u. a. leiten daraus das Ziel ab, Menschen aus den Bedingungen zu befreien, die ihrer Selbstfindung und Selbstbestimmung entgegenstehen, sie zur Erschließung der sie umgebenden Realität und zum Erkennen ihrer objektiven Interessen zu befähigen. Das Leitbild der „demokratischen Selbstorganisation" sei, so argumentieren sie weiter, durch das Grundgesetz nicht verboten, aber unter den Bedingungen des organisierten Kapitalismus nicht zu verwirklichen. Folglich sei die Transformation des organisierten Kapitalismus in eine Gesellschaftsordnung, die in allen Bereichen demokratische Selbstorganisation zulasse, durch die Verfassung nicht verboten, sondern vielmehr durch das erkenntnisleitende Interesse an „Emanzipation“ legitimiert und daher moralisch geboten.
Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob die Formulierung der Lernziele in den Hessischen Rahmenrichtlinien volles Verständnis und eine zutreffende Interpretation der Kritischen Theorie der Gesellschaft ausdrücken. Entscheidend ist die Tatsache, daß dieser sich als historische Sozialwissenschaft verstehenden Wissenschaftstradition eine ganz aniett grundsätzlich entgegensteht und -wirkt, die letztlich bis auf Aristoteles zurückgeht. Wem ein Didaktiker wie Bernhard Sutor „ein Vermögen der Werterkenntnis im Menschen'voraussetzt andererseits Politik versteht als „Verwirklichung allgemein menschlicher Werte" dann kann es logischerweise keinen Gegensatz zwischen dem Interesse des Individuums, seinem Streben nach Freiheit und der Ordnungsfunktion von Staat und Herrschaft geben. „Sinn" und „Zweck“ politischer Ordnung sei es wesensmäßig, individuelle Freiheiten im historisch Möglichen zu verwirklichen. Es ist nach diesen Prämissen konsequent, wenn die Kategorie „Konflikt'schärfstens zurückgewiesen und statt dessen auf das „Gemeinwohl" verwiesen wird: Die Verabsolutierung des Konfliktes und die Negation von Herrschaft tendiere auf Anarchie, d. h. „Totalitarismus". Hier und heute heißt das: Die liberal-soziale Demokratie ist gegen ihre totalitäre Perversion zu verteidigen; die Forderung nach „Demokratisierung" aller gesellschaftlichen Bereiche ist nicht wissenschaftlich begründbar (legitimiert), sondern „totale Ideologie"
Bernhard Sutor zieht die didaktischen Konsequenzen aus einer wissenschaftlichen Lehre über Politik, die ihre zeitgenössischen Vertreter in Manfred Hättich, Dieter Oberndörfer, Wilhelm Hennis, Arnold Bergstraesser, Eric Voegelin und Hans Maier findet. Sutor ist aber federführender Theoretiker der Curriculum-und Richtlinienkommission für politische Bildung in Rheinland-Pfalz. Daß Richtlinien für Bayern unter einem Kultusminister Hans Maier Lernziele und Unterrichtsinhalte angeben, die mit denen eines Kultusministers von Friedeburg aus der „Frankfurter Schule unvereinbar sind, läßt darauf schließen, dal die Wissenschaft auf beiden Seiten der Legiti-mation und Rechtfertigung divergierender politischer Ziele dient. In der Bundesrepublik stehen sich in der Tat sozialdemokratische und christlich-demokratische Curriculum-Konzepte gegenüber, die für sich jeweils respektable und traditionsreiche Wissenschaftsthebrien reklamieren.
Die historische Dimension
In einer ersten vergleichenden Analyse der Richtlinien für Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hat Wolfgang Billigen zu ermitteln versucht, „wieweit die normativen Optionen für die je unterschiedlichen Demokratievorstellungen . genau identifiziert'und thematisiert werden"
Sein vorläufiges, noch weitgehend hypothetisches Fazit lautet: . In Rh. -Pf. geht es im wesentlichen um das Aufdecken von Mißständen als Abweichungen vom Selbstverständnis des GG — und nicht um Aufklärung über strukturelle Ursachen. In NRW geht es im wesentlichen um das Aufdecken der Mängel im Bewußtsein (und der Ursachen dafür) — und weniger um konkrete Modelle gesellschaftlichen Wandels; vor der Qualifizierung, in Alternativen zu denken, treten die Alternativen selbst zurück.
In den HRR geht es zuerst um das Erfahrbar-machen der grundsätzlichen strukturellen Differenz zwischen dem demokratischen Gebot und der Wirklichkeit — weniger aber um die konkreten Schwierigkeiten, die sich bei einer Veränderung einstellen müßten."
Allen drei Konzeptionen fehlt offenbar, woran es — wie nach einer Überprüfung der Be-gründung zu vermuten ist — den Kriterien billigens selbst mangelt: die historische Di- mension, in der auch die Normen des Grundgesetzes und ihre Umsetzung in die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik zu sehen sind. Die Aufgabe der historisch vorgehenden Politikwissenschaft besteht nach Helga Grebing darin, „Demokratie als historische Kategorie zu reflektieren, also die statische normative-begriffliche Fixierung von . Demokratie'zu ersetzen durch die interpretierende Beschreibung des historisch-dynamischen Prozesses der Demokratisierung. Demokratie ist dann jeweils die Resultante aus bestimmten Bedingungen und bestimmten Absichten auf Grund bestimmten Interesses an einem bestimmten historischen Moment."
Wenn das, was jeweils unter „Demokratie" verstanden und in normativ bezogenen Institutionen praktiziert wird, unter bestimmten feststellbaren Bedingungen in einer beschreibbaren historischen Situation aus manifesten Interessen resultiert, dann müßte dieses historische Beurteilungsraster auf die Bundesrepublik und die 25jährige Geschichte ihrer Verfassung anwendbar sein. Indikatoren für das, was in der Bundesrepublik jeweils unter „Demokratie" verstanden wurde bzw. gemäß den Erwartungen der politischen Entscheidungsträgerverstanden werden sollte, sind die jeweils vorherrschenden Lehrmeinungender politischen Didaktik. In diesem Sinne ist die Geschichte der politischen Bildung zugleich Teil und Spiegelbild der Geschichte der Bundesrepublik. In den Wandlungen ihrer Theorie und in den wechselnden Aufgabenstellungen und Lehrinhalten stellt sie das Selbstverständnis unserer Staats-und Gesellschaftsordnung dar.
Die politische Bildung war von Anfang der Bundesrepublik Deutschland an darauf gerichtet, die nach der gescheiterten Republik von Weimar und dem nationalsozialistischen Regime in den Herzen und Hirnen der Menschen kaum verankerte und gewollte Demokratie zu stabilisieren. In der Realisierung des Prinzips der Volkssouveränität blieb daher die Verfassung von Bonn hinter der Weimarer zurück. Vor allem schien die historische Erfahrung die mangelnde Fähigkeit der „Massen" zur politischen Entscheidung erwiesen zu haben: Alle plebiszitären Elemente der Weimarer Verfassung wurden durch repräsentative ersetzt, bis auf die plebiszitäre Funktion von Wahlen. Die „Demokratie" nach dem Bonner Grundgesetz teilte das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgehen sollte, in eine Funktionselite und die Masse der Staatsbürger, der mitzuwirken zwar nicht verwehrt, die aber auf bestimmte institutionelle Bahnen und Verhaltensnormen verwiesen wurde.
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verstand „Demokratie“ zuerst und vor allem als Lebensform (Ethik) und „Demokratisierung" als sittliche Erziehung. Schon die Erziehungsprogramme der Alliierten zur Zeit der Besatzung, besonders die re-education-Politik der USA, enthielten den Auftrag an die Schulen, „mitzuwirken am Aufbau einer wahren Demokratie" die" gesehen wurde als diejenige Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, die am besten geeignet ist, der einzelnen Persönlichkeit freie Entfaltung seiner Kräfte zu gewährleisten. Die sittlicheErneuerung des Staates sollte daher von unten, vom Jugendlichen, vom Kinde her die Gesellschaft durchdringen. Aus diesem Grunde rechnete man mit mindestens einer Genera-tion Dauer der ethischen Restauration, aber es wurde nicht verbindlich erklärt, ob dann auch der zu erwartenden Fähigkeit zur demokratischen Selbstbestimmung durch die Verfassung Rechnung getragen werden sollte.
Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, daß dieser Auffassung von Demokratie und Demokratisierung die Konzeption von Friedrich Oetinger — „Erziehung zur Partnerschaft" und „elementare Sittlichkeit" — am ehesten entsprach, zumal der neue Staat als „Provisorium" kein Identifikationsobjekt für den einzelnen sein wollte und sollte. Tatsächlich ist dieses Verständnis von Demokratie und Demokratisierung jedoch zunehmend in Widerspruch zur politischen Entwicklung geraten, obwohl es sich in demselben Maße in der politischen Bildung durchzusetzen schien, wie sich die Institutionen des Staates und gesellschaftliche Führungspositionen festigten, Zu erklären ist dieser Widerspruch leicht: Da die überwältigende Mehrheit zunächst Demokratie als Lebensform lernen sollte, konnte die Demokratie als Staatsform von den anderen ausgefüllt werden.
Es wurde vorausgesetzt, daß der Nationalsozialismus als die extrem inhumane Pervertierung von Herrschaft von einer überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes, wenn nicht gewollt, so doch wenigstens geduldet und nicht verhindert wurde. Das „Versagen'der Weimarer Verfassung, der „Republik ohne Republikaner", galt als Zeichen für die mangelnde Reife der Staatsbürger und ihrer Unfähigkeit zur rationalen Entscheidung, so daß die neue Demokratie nach dem durch äußere Niederwerfung beendeten nationalsozialistischen Regime jedenfalls in ihren Anfängen nicht auf sie gegründet werden konnte. Diese Menschen sollten vielmehr die Prinzip 1en der „elementaren Sittlichkeit", d. h Menschlichkeit, Toleranz, Kooperationsfähigkeit und Hilfsbereitschaft von Grund auf ler nen. Die Führung der Staatsgeschäfte und die politischen Entscheidungen übernahmen für sie die wenigen Repräsentanten der demokratischen Parteien, die als „antifaschistisch auch das Vertrauen der Besatzungsmächte besaßen und durch plebiszitanaloge Wahlen dem Prinzip Rechnung trugen, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Im übrigen blieb dem Volke die Teilhabe an politischen Entscheidungen weitgehend versagt, dafür schienen seine Grundrechte durch die Inhaber der Staatsgewalt optimal garantiert zu sein.
In dem heutigen Konflikt geht es im Kern darum, ob die Masse der Menschen ein Mehr an Teilhabe will und ob sie fähig ist, nicht nur im engeren institutioneilen Rahmen der Politik, sondern auch in der Arbeitswelt und in ihrem unmittelbaren Lebensraum ihr Leben mitzubestimmen. Gewiß stehen einzelne Bestimmungen der Verfassung solchen Ansprüchen im Wege. Aber sind sie deswegen nicht historisch legitimiert, wenn (allerdings nur unter dieser Bedingung) die Betroffenen selbst dieses Recht verlangen? Habermas würde diese Frage vermutlich bejahen und vielleicht die Hessischen Rahmenrichtlinien so interpretieren, daß sie das Lernziel „Selbstund Mitbestimmung" eigentlich so verstehen, wie man die Demokratisierungsabsichten der Amerikaner schon 1945 hätte verstehen können oder gar müssen. Die sittlich an die Grundrechte gebundene Staatsgewalt der Bundesrepublik hat in den letzten 25 Jahren die ihr gestellte Aufgabe optimal erfüllt, dürfte dagegen das Fazit jener Politologen sein, die Demokratie im Sinne von Manfred Hät-tich und Hans Maier verstehen und in der Bundesrepublik verwirklicht sehen.
Sie sehen, wie Bernhard Sutor es in seiner Didaktik ausdrückt, die „anthropologische Fundierung der Politik und ihre Orientierung an letzten Werten" durch die Bindung der Staatsgewalt an die zum positiven Recht erklärten Grundrechte als gesichert und unbedingt zu erhalten an, stimmen aber, wie Hans Maier als Kultusminister Bayerns am 15. 2. 1974 in der Bundestagsdebatte erklärte, der Auffassung zu, „daß Verfassungen sich entwickeln, ... daß wir heute das Grundgesetz mit anderen Augen sehen, anders interpretieren, andere Akzente setzen als 1949". Niemand dürfte auch der Auffassung widersprechen wollen, daß „Grundmaße unverrückt blieben" müssen: „Das sind die Menschenrechte." Maier fuhr dann fort: „Aber es wäre verfehlt . . ., die Einhaltung geltenden Verfassungsrechts, geltender Verfassungsgrundsätze von dem Postulat der sozialen Weiterentwicklung des Grundgesetzes abhängig zu machen." Maier forderte auch die SPD auf, einzuräumen, „daß die freiheitlich-demokratische Grundordnung in jedem Fall der Diskussion entzogen ist".
Das Verlangen nach Teilhabe an Macht und die Überwindung des Parteienprivilegs, das mit Sicherheit kein Dogma und kein absolutes Prinzip der freiheitlichen demokratischen Ordnung ist, nennt Maier „zerstörerischen Radikalismus", der dadurch zu erklären sei, „daß diese Jugend, die keine Erfahrung mehr mit dem Dritten Reich gehabt hat, die auch keine Erfahrung mit kommunistischen Diktaturen hat, nicht den gleichen Zugang zur Verfassung und zu der Erfahrungsgrundlage dieser Verfassung hat wie die mittlere und ältere Generation". Nun läßt sich die radikale Kritik an der Verfassungswirklichkeit aber nicht auf ein Generationsproblem reduzieren, wenn man nicht Wissenschaftler wie Wolfgang Abendroth als unerhebliche Außenseiter betrachtet. Es geht in der Tat nicht nur um die institutioneile Sicherung der Menschenwürde und Grundrechte, sondern um die Legitimation des Mitbestiinmungsverlangens durch die Verfassung.
Wenn die Voraussetzung richtig ist, daß das Grundgesetz aus verständlichem Mißtrauen gegen die Rationalität und Entscheidungsfähigkeit der Massen jede weitere Teilhabe des Volkes an Macht und Entscheidungen außer plebiszitanalogen Wahlen ausgeschlossen hat, dann wird die Frage erlaubt sein, ob sich nicht bei veränderten und im Grunde erwünschten Voraussetzungen auch die Normen ändern müssen, die im Widerspruch zu einer solchen extensiven Interpretation der Grundrechte und dem Gebot, die Würde des Menschen zu achten und schützen, stehen oder aber im entgegenstehenden Sinne ausgelegt werden können. Die politisch schwerwiegenden Konflikte der letzten Jahre standen denn auch unter der Frage, wann und wodurch die Grundwerte der Verfassung gefährdet werden.
Es stellte sich heraus, daß der liberale Gehalt der Menschenrechte als individuelle Abwehr-rechte gegenüber dem Staat, entgegen der Absicht des Verfassungsgebers, neue Aktualität dadurch gewann, daß Staatsgewalt und parlamentarische Kontrolle zusammenfielen: Staatssicherheit gewann Vorrang vor dem Schutz individueller Grundrechte, und das Vorgehen gegen den SPIEGEL machte deutlich, daß Grundrechte auch durch eben jene Staatsgewalt verletzt werden können, deren Aufgabe ihr Schutz sein soll. Aus der Erkenntnis, daß der heranwachsende Staatsbürger sich in solchen Konfliktsituationen orientieren und entscheiden (I) lernen müsse, schrieb Hermann Giesecke 1965 seine „Didaktik der politischen Bildung", mit der er sich u. a. gegen die 1955 vom Deutschen Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen formulierte Erwartung wandte, daß politische Bildung vor allem „ein gesundes Staatsge-fühl" anstreben müsse.
Dem Mißtrauen der politischen Entscheidungsträger gegenüber der Rationalität der Massen folgte nunmehr ein wachsendes Mißtrauen gegenüber der moralischen Legitimation von Machtausübung in diesem Staate, das sich in den 60er Jahren in offenen Zusammenstößen mit der Staatsgewalt äußerte. Diese sich verschärfenden inneren Spannungen sind untrennbar eingebettet in die sich entwickelnde Rolle der Bundesrepublik in der internationalen Politik. So waren z. B. die soge-nannten antisemitischen Ausschreitungen des Jahres 1959 von besonderer Bedeutung und wurden vom Ausland beobachtet, weil man befürchtete, daß zwischen der Politik der Regierung, z. B. gegenüber Israel, und den Stimmungen und Tendenzen im Volke ein Widerspruch bestehe. Der Prozeß gegen Eichmann in Jerusalem und der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt, wissenschaftliche Analysen und viele andere Zeichen veranlaßten schließlich die Kultusminister Anfang 1959 zu dem «Beschluß über die Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichtsunterricht", womit zugleich Konsequenzen aus empirischen Untersuchungen gezogen wurden, die eine erschreckende Unwissenheit der Schuljugend ans Licht gebracht hatten. Die Behandlung des Nationalsozialismus sollte keineswegs primär die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft vermitteln — davon ist weder im Beschluß der Kultusminister noch in der vorausgegangenen Erklärung des Deutschen Ausschusses die Rede —, sondern „im Hinblick auf seinen politischen Bildungsgehalt" angelegt werden, d. h.der „Erziehung von jungen Menschen zu Hütern und Verteidigern der rechtsstaatlichen Ordnung" dienen
Daß im Interesse der Staatssicherheit und zur Sicherung des Demokratieverständnisses Lernziele und -Inhalte nicht in erster Linie wissenschaftlichen, sondern politischen Kriterien unterliegen, zeigte sich in den „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht", die die Kultusminister unter dem Eindruck der Berliner Mauer und der KubaKrise im Jahre 1962 beschlossen. Wenn inhaltlich „verwerfliche Zielsetzung" und „verbrecherische Methoden" totalitärer Staaten im Mittelpunkt stehen, ist anzunehmen, daß die Lernziele affektiv bestimmt sind: „das menschliche Leid . . . zum erschütternden Erlebnis werden lassen, ... die Haltung, die Männer und Frauen des Widerstandes und Verfolgte des Totalitarismus bewiesen haben ... als vorbildlich zu würdigen". Ohne Zweifel sind solche Zielsetzungen politisch legitim, aber nicht wissenschaftlich. Abgesehen davon, daß die Politikwissenschaft längst die wissenschaftliche Reichweite des Begriffs „Totalitarismus" erheblich eingeschränkt und seine ideologische Funktion zu erkennen begonnen hatte, ist eine derartige Ausrichtung auf affektive Lernziele auch didaktisch bedenklich. Aber die Schule sollte weder Ge-schichts-noch Politikwissenschaft treiben, sondern mithelfen, den Staat vor Bedrohung zuschützen.
Die Tendenz, die Selbst-und Mitbestim-mungsansprüche des Individuums den Erfordernissen der Staatssicherheit unterzuordnen, führte zur Auflehnung gegen die Staatsautorifilm den Jahren 1967/68. Mindestens der Widerstand der Gewerkschaften gegen eine Reihe von Verfassungsänderungen (Notstandsgesetze) war bestimmt durch den Versuch, den ursprünglichen Geist und Gehalt des Grundgesetzes gegen die Ansprüche der Staatsgewalt zu verteidigen. Wenn nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze durch verfassungsändernde Mehrheit die Bundesregierung alle Institutionen der politischen Bildung dazu aufrief, im Sinne der Verfassung zu handeln, dann waren der Staat und die Verfassung von 1968 gemeint. Wer aber meinte, die Verfassung von 1949 könne ebenso in Richtung auf mehr Volkssouveränität wie auf Stärkung der Staatsorgane ausgeweitet und verändert werden, lief Gefahr, an die Legalitätsgrenze zu geraten. Was also die heutige Situation der politischen Didaktik kennzeichnet, ist die erkennbar werdende Nachwirkung des letztlich nicht wirklich ausgetragenen, sondern durch die zufällige Mehrheit eines parteipolitischen Zweckbündnisses nur rechtlich entschiedenen Konfliktes über Demokratie und Demokratisierung, darüber, was Demokratie inhaltlich und institutionell ist bzw.sein sollte und welches Ziel sie als „Prozeß" haben darf bzw. sollte.
Politik und Geschichtsunterricht
Erst unter Einbeziehung der historischen Di-mension, die „Emanzipation" als Kampf um die jeweils mögliche Freiheit von Herrschaft, d. h. unter dem Prinzip der Parteinahme für die um Freiheit Ringenden, betrachtet, lassen sich die Chancen von „Demokratisierung" hier und heute an der Realität auch der Institutionen richtig einschätzen und gewinnt Hilligens Kritik an den Hessischen Rahmenrichtlinien, he mit seiner Annahme von deren Verpflich-tag gegenüber der Kritischen Theorie gewiß " icht falsch eingeordnet sind, wissenschaftli-Che Überzeugungkraft. Aus diesem Grunde Mt auch Minssens Kritik tiefer, wenn er die " en HRR zugrunde liegende Prämisse vom emokratiegebot" des Grundgesetzes als hi-dorisch unzureichend begründet kennzeich-*et Die in den HRR immer wiederkehrende Formel „historisch geworden, also veränder-Dir • wird nicht mit historischen Inhalten gey *'so daß sie „das Trugbild unbegrenzter etfügbarkeit über gesellschaftliche Zukunft Suggeriert".
Die Kritik an den Richtlinien in Nordrhein-Westfalen zielt auf denselben Mangel, nämlich das Unvermögen, die formale Qualifikation des Entscheidungshandelns (Denken in Alternativen = Urteilen) inhaltlich zu bestimmen und damit nicht alle denkbaren Alternativen als gleichwertig zu tolerieren. Diese Un-Entschiedenheit resultiert aus der wissenschaftstheoretischen Position der in NRW . federführenden'Didaktiker Rolf Schörken und Walter Gagel, die sich auf den Blankertz-Schüler Gösta Thoma berufen: „Das Curriculum hat das Selbstverständnis der Bundesrepublik und der sich in partikularem Sinn als Träger der Republik verstehenden Interessengruppen zu repräsentieren." Die-ses Selbstverständnis wird nach Thoma durch „die einschlägigen Wissenschaften" objektiviert, vor allem durch Soziologie, Politologie, Ökonomie und, „insofern dieses Selbstverständnis historisch vermittelt ist, Geschichtswissenschaft. Da Thoma es bei diesem inhaltsleeren Hinweis beläßt, sind die Schwierigkeiten verständlich, denen die Curriculum-Verfasser gegenüberstanden, als sie die von Blankertz erhobene Forderung umsetzen wollten, „objektivierbare Veränderungen der Lebenssituationen“ und „entgegenstehende Faktoren aus dem Bereich vorgegebener Institutionen" zu benennen und operationalisierbar zu machen. Und dennoch wird den Sozialwissenschaften zugetraut, daß sie über „wissenschaftliche“ Wahrheitskriterien verfügen, denen die inhaltlichen Ansprüche des Unterrichts unterstellt werden müssen, „weil im Unterricht nichts gelehrt werden darf, was wissenschaftlich unhaltbar ist"
Die fehlende inhaltliche Bestimmung der historischen Dimension durch Blankertz und Thoma machte es offenbar Gagel und Schör-ken unmöglich, in ihrem Curriculum das Verhältnis von Politik und Geschichte so eindeutig zu bestimmen, daß die Frage nach den Zielen und Inhalten des Geschichtsunterrichts beantwortbar ist: „Politischer Unterricht ist nicht mit dem Geschichtsunterricht oder der Zeitgeschichte gleichzusetzen; er kann ihn auch nicht ersetzen." Daraus ziehen die Richtlinien den Schluß, daß neben dem Politik-ein eigenständiger Geschichtsunterricht notwendig sei.
Es ist kaum zu bestreiten, daß politischer Unterricht „ohne historisches Verständnis der politisch-gesellschaftlichen Probleme nicht denkbar" ist, weil „die historische Perspektive verhindert, daß Bestehende als . natürlich'und unabänderlich anzusehen". Es bleibt aber offen, ob der politische Unterricht selbst die historische Dimension einbeziehen oder an einen selbständigen Geschichtsunterricht abtreten soll. Die „Richtlinien für den Politischen Unterricht" erwarten vom Geschichtsunterricht, er könne „die Konsequenzen und die Tragweite von Entscheidungen analysieren, die in der Vergangenheit vollzogen wurden'Soll dann dem Politikunterricht die Aufgabe zufallen, aktuelle Entscheidungen in der Gegenwart für die Zukunft zu reflektieren und zu ermöglichen? Welches aber sind dann die Kriterien, nach denen Zielrichtung, Wert-orientierung und Inhalt der Entscheidung bestimmt werden, wenn man die Orientierung an den Normen des Grundgesetzes selbst wegen ihrer Mehrdeutigkeit ablehnt? Den Maß. stab beim „Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland" zu suchen, bietet mindestens die Gefahr der Anpassung an die herrschende Mehrheit und die herrschende Verfassungslehre. Der Auftrag, den die „Richtlinien" dem politischen Unterricht erteilen, lautet: mitzuhelfen, den „Verfassungsauftrag des demokratischen Staates zu verwirklichen", und das erfordere vom Staatsbürger u. a. die „Bereitschaft, zur Veränderung der bestehenden politischen Ordnung auf demokratischem Wege beizutragen, falls diese die Freiheitschancen ungenutzt läßt, die bereits realisierbar sind" (Lernziel zur „Qualifikation 2“). Sie verweisen dabei auf „ungenutzte politische Wandlungsspielräume zur Einlösung von Verfassungsansprücheri Die hiermit angeprochenen Normen, die allerdings nur unter dem Aspekt des möglichen Widerspruches zwischen Anspruch und Wirklichkeit und nicht in ihrem eigentlichen Konfliktpotential, der inneren Widersprüche, gesehen werden, sind allerdings Resultate von „Entscheidungen ..., die in der Vergangenheit vollzogen wurden". Das Konfliktpotential liegt darin, daß ganz entscheidende inhaltliche Bestimmungen und konkrete Aussagen über die Zukunft der Gesellschaftsordnung nicht als eindeutige Ansprüche der Verfas sung vorliegen, hingegen sich „ungenutzt Freiheitschancen" eher als Wille der Betroffe nen artikulieren und oft nur realisierbar sind im Konflikt mit den Inhabern der Staatsge-walt oder anderen gesellschaftlichen Mächten. Wie die historische Erfahrung zeigt, wird die Verweigerung von demokratischen Ansprüthen durch die Staatsgewalt — wie auch durch andere gesellschaftliche Mächte, z. B. Kirchen, Interessengruppen und Wirtschaftsmonopole — mit dem Hinweis auf übergeordnete Werte oder sogar Verfassungsnormen begründet. Wenn das Grundgesetz so offen ist, wie es auch z. B. Hans Maier sieht, dann gehört die Entstehung dieser Normen nicht in den Geschichts-, sondern in den Politikunterricht, weil dann Entscheidungen begründet werden müssen, die damals bewußt oder als Resultat der politischen Machtverhältnisse der Zukunft überantwortet wurden. Politisch bedeutet daher die Forderung nach „Demokratisierung" der gesamten Gesellschaft den Anspruch, daß diese Zukunft jetzt gekommen und die damals verschobene Entscheidung jetzt fällig sei.
Jedes Mehr an politischer Freiheit ist in der Vergangenheit an der Grenze zwischen Legalität und Legitimität und oft nur unter Bruch der Legalität erreicht worden. Jede Staatsgewalt, auch in Rechtsstaaten wie dem unseren, tendiert aber dahin, sich für den Garanten der Freiheiten zu halten (weil ihre Legitimation darauf beruht) und mithin Gefährdungen ihrer selbst als Angriff auf die Grundwerte der Ordnung abzuwehren. Keine Staatsgewalt wird eine Aufforderung zum Bruch der Lega-ität, d. h.der geltenden Rechte und Gesetze zu tolerieren bereit sein, selbst wenn diese als „Einlösung von Verfassungsansprüchen" legitim erscheint. Man wird deshalb von keiner Regierung Richtlinien für den Unterricht erwarten können, die eine Aufforderung zum Bruch der Legalität erlauben und unter histoTschem Aspekt legitimieren könnten. Die Hessischen Rahmenrichtlinien enthalten solChe Aufforderungen nicht, aber allein die Möglichkeit ihrer Fehlinterpretation in dieser
Richtung setzt sie dem massiven Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit aus.
Auf das Verhältnis zwischen Geschichts-und Politikunterricht bezogen bedeutet das: Geschichtsunterricht stützt und festigt immer das Politik-und Staatsverständnis des jeweils herrschenden Regimes: „Von unserem Geschichtsunterricht ist also immer erwartet worden, daß er Werthaltungen in der Vergangenheit aufzeigt, die auch für die jeweilige Gegenwart und Zukunft gelten sollen. Dieses Konservieren früherer politischer Werthaltungen ist die entscheidende politische Zielsetzung des Geschichtsunterrichts." Dem herrschenden, d. h. durch Lehrbücher und Unterricht vermittelten Geschichtsbild liegen dieselben wissenschaftstheoretischen und ontologischen Prämissen zugrunde, die oben als prinzipiell kontrovers und letztlich unvereinbar gekennzeichnet wurden. Reinhard Kühnl bezeichnet es in diesem Sinne als „Ideologie", wenn z. B. die Französische Revolution als nahezu einzige Revolution der Geschichte positiv bewertet wird, weil sie „tatsächlich gewissermaßen den Grundstein der bürgerlichen Gesellschaft in Europa gelegt und die Voraus, -Setzung für die bestehenden parlamentarischen Demokratien geschaffen hat“
Die Erklärung der Menschenrechte gilt als „die Herstellung einer modernen Gesellschaftsordnung" oder „Durchbruch zu einer neuen Zeit", als „Beginn des modernen demokratischen Zeitalters", aber die deutschen Geschichtsbücher haben es schon erheblich schwerer mit der Bewertung der gescheiterten Revolution von 1848/49; die Pariser Kommune wird entweder verschwiegen oder negativ bewertet. Kühnl kommt zu dem Schluß, daß die überwiegende Masse unserer Schulbücher der historisch-gesellschaftlichen Dimension nicht gerecht wird, weil jede Rechtfertigung revolutionärer Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse als verfassungsfeindlich ausgeschlossen werden soll. Zur Erkenntnis des Konfliktpotentials in unserer Gegenwart tragen Geschichtsbücher und -unterricht bislang nichts bei, was den Verzicht auf Politikunterricht zugunsten der Geschichte verständlich machen könnte, wie Fackiner und Nitschke übereinstimmend feststellen.
Geschichtsunterricht auf der Grundlage der Kritischen Theorie wäre dagegen eine Geschichte des Kampfes um Mündigkeit, stellte den Konflikt emanzipatorischer Bewegungen mit der jeweiligen Staatsmacht auch dann in den Mittelpunkt, wenn diese die demokratischen Ansprüche mit Gewalt unterdrückt hat. Die „Alternative" besteht in diesem Geschichtsbild aus Unterwerfung oder Auflehnung. Aber keine Staatsgewalt wird bereit sein, diese Alternative für sich selbst gelten zu lassen, weil sie ihre Legitimation insoweit auf die Geschichte gründet, als sie sich für die Vollendung der in ihrer Gewalt ausgedrückten Sinngebung der Geschichte zu halten tendiert. Darin sehen Politikwissenschaftler wie Manfred Hättich und Didaktiker wie Bernhard Sutor auch die Legitimation unserer auf die Grundrechte gegründeten Staatsautorität und den „positiven Sinn von Herrschaft", den nach Ansicht Sutors „Konfliktdidaktiker" wie Hermann Giesecke und Rolf Schmiederer nicht nur leugnen, sondern angeblich in einer für die Freiheit und Demokratie zerstörerischen Weise durch politischen Unterricht diskriminieren wollen.
Habermas und Hättich haben also ein völlig konträres Geschichtsbild, weil das „zur Zukunft offene" Geschichtsverständnis potentiell in der Weise revolutionär ist, daß die Erkenntnis möglich ist, daß mehr Freiheit auch in unserer Gesellschaft nur um den Preis des Konfliktes an der Grenze der Legalität, d. h.der geltenden gesetzlichen Toleranz, zu haben sein könnte. „Denken in Alternativen und Mut zum Parteiergreifen" mag gleichwohl auch verbal in den „Zielhorizont" von Richtlinien gehören, wie in denen des Landes Rheinland-Pfalz. Das bedeutet aber wenig konkrete Anleitung zum Entscheidungshandeln, wenn sie gleichzeitig vor Zielwerten wie „Mündigkeit" und „Emanzipation" warnen, weil sie als „beliebige Leerformeln" manipulativer Auslegung ausgesetzt seien. Die historische Perspektive, unter der die Formulierung der Grundrechte in der Verfassung als Markstein in der Geschichte der Emanzipation und auf dem Wege zur Mündigkeit erscheint, wäre aber durchaus in der Lage, diese Begriffe mit konkreten Leitvorstellungen auszufüllen und zur Maxime politischen Handelns zu machen, um alle Menschen zu befähigen, aus ihrer selbstverschuldeten politischen Unmündigkeit herauszutreten. Unsere Verfassung bietet zum ersten Male in der Geschichte die Möglichkeit,den Kampf gegen Institutionen, die die Ausdehnung von Demokratie auf die gesamte Gesellschaft, z. B. auf die Arbeitswelt, und die Erweiterung der Freiheit verhindern, durch die Verfassung und die Grundrechte selbst zu legitimieren. Voraussetzung dafür ist ein Geschichtsverständnis, in dem „Demokratie“ als der Prozeß zunehmender Freiheit durch Selbstbestimmung der Beherrschten weitergelebt wird.
Wenn man — mit Hilligen und Hartwich -bei den hessischen wie bei den nordrhein-westfälischen Richtlinien also eher ein „prozeßtheoretisches" Demokratieverständnis feststellt — was, wie angedeutet, nicht uneingeschränkt gilt —, dann beruhen die rheinland-pfälzischen zweifellos eher auf einer „Ordnungstheorie", d. h. einem formalen Demokratieverständnis, das Helga Grebing als un-historisch charakterisiert hat. Den Nachweis liefert eine Interpretation des didaktischen Ansatzes von Bernhard Sutor, der an den Formulierungen maßgeblich mitgewirkt, das Ergebnis im Namen des Kultusministeriums von Rheinland-Pfalz kommentiert und seine Konzeption in seiner umfänglichen „Didaktik des politischen Unterrichts" dargelegt hat.
A-historischer Funktionalismus ...
Sutor fragt, ungeachtet der „Merkmale der historisch-hermeneutischen Position", die Hilligen aus den Richtlinien herausliest, nach dem . Wesen des Politischen", das er als „eine Weise der menschlichen Kommunikation, die die erörterten Fragen der Geschichtlichkeit, Gesellschaftlichkeit und Moralität impliziert", beschreibt (S. 53). Allerdings beschränkt er . Geschichtlichkeit" auf den anthropologischen Bereich, indem er damit weniger Ver-
als Zukunftsorientiertheit meint, gangenheits-
nämlich Überlieferung und Zukunftserwartung. Hier trifft Minssens Kritik an den HRR auch Sutor, dessen politischer Tendenz er ansonsten nähersteht als den hessischen Autoren: Während Sutor „Ordnung und Führung" als das spezifisch Politische bezeichnet und auf die Grundkategorie „Gemeinwohl" bezieht, beschränkt Minssen die Geschichtlichkeit auf die zu fordernde Einsicht, „daß der Mensch dabei nicht aus dem geschichtlichen Zusammenhang heraustreten kann".
Sutor legt seine wissenschaftstheoretische Position und damit wohl auch die der Richtlinien offen, wenn sie als funktionalistisch in dem Sinne bezeichnet werden, „daß in der pluralistischen Gesellschaft Staat nur noch funktional verstanden werden kann, das heißt von den Zwecken her, die ihm in und durch Gesellschaft gesetzt sind" Das soll heißen: Die Menschen einer Gesellschaft setzen aus ihrer Interessenlage heraus dem Staat Zwecke, denen dieser zu dienen hat. Die normativen Implikationen dieses Ansatzes sind deutlich: Da der Staat menschliche Werte als gesellschaftliche sichert, in dem er sie institutionalisiert, hat er Anspruch auf Re-sPekt, ja „Würde". In diesem Sinne sieht Hät-tch im Staat zwar keinen Wert an sich, auch kein ethisch neutrales Institutionengefüge, sondern eine Organisation von Menschen, die •dllgemein menschliche" Werte zu verwirkli-chen hat. Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Frieden (z. B.) sind keine spezifisch politischen Werte, sondern Normen einer „Ethik der Mitmenschlichkeit", was soviel heißt wie Gemeinwohl. Wie sie verwirklicht wurden, lehrt ihre Geschichte
Sutor entwickelt die didaktische Umsetzung dieses funktionalen Staatsbegriffs nicht zufällig in der Auseinandersetzung mit der Konzeption von Hermann Giesecke, dessen Formulierung, politische Bildung müsse kritisch sein gegenüber allem was „Herrschaft" ist, er für einseitig und gefährlich hält, weil damit nicht der Sinn für die „positive Funktion von Herrschaft", wie sie die pluralistische Demokratie kennzeichne, geschärft werde Auch die Mehrheitsentscheidung sei ein Herrschaftsakt, aber durch ihren Ursprung in der Gesellschaft legitimiert. Es gehöre dagegen zu den eigenen Zweckbestimmungen anderer gesellschaftlicher Bereiche, daß in ihnen Mehrheitsentscheidungen weder funktional noch zweckdienlich sind, z. B. in der Wissenschaft, in der Medizin, aber auch in einer Armee oder im Bildungswesen, wo der Ersatz der Entscheidungskompetenz von Fachleuten durch Mehrheitsentscheidungen von Nichtfachleuten letztlich eine „Mehrung von Herrschaft" und damit das Gegenteil von „Demokratisierung" bedeute. Die Forderung nach „Fundamentaldemokratisierung", der sich Giesecke angeschlossen hat, verweist Sutor als „totale Ideologie" in den Bereich der Utopie, die politisch zum Totalitarismus führe. Hier scheint Sutor die Befürchtung von Ernst Forsthoff zu teilen, daß die Bundesrepublik aufhöre, ein Staat im hergebrachten Sinne des Begriffs zu sein, wenn sie z. B.den unter Berufung auf die Grundrechte erhobenen Forderungen nach innerer Pressefreiheit, betrieblicher Mitbestimmung oder gar Entscheidungsrechten von Studierenden in der Wissenschaft nachgebe
Die mit dem Begriff „konservativ" sicher zu undifferenziert, aber der Tendenz nach nicht falsch klassifizierte Kritik Forsthoffs am „Pluralismus" konstatiert eine wachsende Differenz zwischen „Politik", im engeren Sinne als die staatlichen Institutionen und die in ihnen verlaufenden Entscheidungen verstanden, und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen. Forsthoff sieht darin eine „Auswirkung der technischen Realisation", weil dem Staate jene „eigenständige Macht" fehle, um „den technischen Prozeß in die Schranken zu verweisen, welche die Humanität. . . gebietet" Die hierdurch bedingte „Verunsicherung des einzelnen" und sein unzureichendes Verständnis der neuen „Großstrukturen" trennt auch im Bewußtsein den Lebens-und Erfahrungsbereich des einzelnen von dem Bereich, in dem die politischen Entscheidungen fallen.
Es fällt auf, daß in den strukturalistischen und funktionalistischen Theorien der Gesellschaft sowohl für den von Forsthoff beschriebenen Prozeß als auch für die angenommenen Folgen für den einzelnen der Begriff „Entfremdung" benutzt wird. Wie Günter C. Behr-mann dargelegt, „wird die Entfremdung in der neuzeitlichen Sozialphilosophie vor allem auf die soziale Differenzierung, auf die Auflösung eines das Individuum voll einbeziehen-den Handlungs-und Sinnzusammenhanges und in anderer Wendung auf das Mißverhältnis zwischen der partikularisierten alltäglichen Lebenswelt des Individuums und der gesamtgesellschaftlichen — politischen und ökonomischen — Hervorbringung gesamtgesellschaftlicher Lebensverhältnisse zurückgeführt, welche, wiewohl von diesen Individuen geschaffen, als äußere, nicht beherrschbare Macht auf sie zurückwirken".
Da das wichtigste Erkenntnisziel funktionalistischer und struktureller Staats-und Gesellschaftstheorien nach Wolfgang Behr die „Aufrechterhaltung einer wie auch immer organisierten Ordnung" ist, d. h. politische Stabilität, verkürzt sich „die so überwiegend vertretene Systemperspektive . . . zur jeweiligen . Regierungsperspektive'", wie es Wolf-Dieter Narr ausgedrückt hat. Politisch und didaktisch bleibt in dieser Perspektive, wie Behr meint, kein Raum für „innovative Normen für politische Praxis", und so erscheinen dann alle jenen Bestrebungen, auch der neuen politischen Didaktik, die auf Kritik und Veränderung vorgegebener Institutionen zielen, nicht nur als Ausdruck, sondern auch als Triebkraft der Entfremdung: „Der Blick auf die neuere politische Pädagogik hat gezeigt, daß sie von Vorstellungen durchzogen ist, die eine Entfremdung von den Institutionen der modernen Demokratie zugleich widerspiegeln und verstärken"
In den Richtlinien von Rheinland-Pfalz wird daher nach der Genese der ausschließlich funktional verstandenen Institutionen ebenso-wenig gefragt wie nach der historischen Bedingtheit gesellschaftlicher und politischer Normen, z. B.der Positivierung der Grundrechte durch das Grundgesetz. Woran sich daher die Postulate „Forschritt, Reformen und Weiterentwicklung der Demokratie" orientieren sollen, bleibt offen; die Aussage, Demokratie sei „Prozeß, ständige Aufgabe”, wird historisch nicht begründet und ist mithin politisch wie didaktisch unverbindlich. Damit fällt diese funktionalistische Konzeption der Didaktik noch hinter die ursprüngliche strukturell-funktionale Systemtheorie von Talcot Parsons zurück, der „System“ als eine . Handlungseinheit" begriffen hat, die „Ziele" anstrebt, d. h. einen wünschenswerten Zustand, an dessen Erreichung bzw. Nichterreichung die Leistungen des Systems gemessen werden. Der normative Aspekt des Handelns ist dadurch gegeben, daß die Angehörigen der Gesellschaft Erwartungen an die Funktions(Rollen-) träger richten, durch die Handlungsziele „legitimiert" werden. Solcherart „Systeme von Erwartungsmustern", die durch ein bestimmtes Ausmaß an Zustimmung (Konsens) und zeitlicher Dauer (Tradition) als legi-tim(iert) betrachtet werden, nennt Parsons . Institutionen". Immerhin ist der Hinweis auf die Bedingung einer bestimmten zeitlichen Dauer die Andeutung einer historischen Dimension in der Weise, daß mindestens theoretisch Tradition und Konsens auch auseinanderfallen und damit die Institutionen fragwürdig werden können.
Parsons fragt primär nach den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um eine soziale Ordnung zu stabilisieren. Wenn Konsens und Tradition divergieren, ist die Ordnung gefährdet. Sein Interesse als Sozialwissenschaftler galt damals, als er seine Theorie konzipierte, der Frage, wie eine Ordnung zu stabilisieren sei, um solchen Gefährdungen entgegenwirken zu können. „Parsons formuliert das Problem genauso wie Hobbes, der ebenfalls das Problem der Ordnung in den Mittelpunkt gestellt hatte. Ebenso wie Hobbes besteht für Parsons das zentrale theoretische Problem in der Frage nach dem Gültigkeitsanspruch einer Theorie, die von dem Postulat der Ordnung ausgeht, in einer Wirklichkeit, die den Eigenwert von Ordnungen, die selbstverständliche Geltung von Institutionen nicht mehr kennt, sich nicht mehr einfach als funktionierendes System legitimieren kann, sondern als institutionelle Ordnung rechtfertigen muß, die bestimmte gesellschaftliche Interessen bedient."
Ordnet man Parsons Theorie selbst historisch ein, so ergibt sich, daß sie offenbar eine politische Funktion erfüllte: Seine funktionalistische Theorie muß selbst funktionalistisch interpretiert werden. Als er — in „The Structu-re of Social Action", 1937 — seinen Theorie-ansatz darlegte, war das Selbstverständnis demokratischer Institutionen in den USA für viele, vor allem konservative Amerikaner, in Frage gestellt: einerseits durch die Etablierung faschistischer Systeme in Europa, andererseits durch die Maßnahmen Roosevelts (New Deal) als Reaktion auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Vermutlich ist es auch kein Zufall, daß wenig später Parsons Schüler R. K. Merton seine Unterscheidung von manifesten und latenten Konflikten, von Funktionalität und Dysfunktionalität sowie seine Hypothese von der „self-fulfilling prophecy" an Beispielen aus der jüngsten Geschichte der USA zu belegen versuchte. Was indessen die Reichweite der strukturell-funktionalen Theorie in der Verallgemeinerung angeht, so ist Jonas zuzustimmen, daß sie empirisch keine Kenntniserweiterung zuläßt, daher weder beweis-noch widerlegbar und auf „ex-post-facto-Klassifikationen" begrenzt ist, weil sie eher normative als historisch-erklärende Ansprüche erhebt — und erfüllt!
... in der didaktischen Theorie .. .
So ist wohl auch die überraschend späte Rezeption der funktionalen Demokratietheorie durch die politische Didaktik in der Bundes-republik zu erklären. War auch 30 Jahre nach Parsons die Geltung demokratischer Institutio-nen nicht mehr selbstverständlich, der „Eigenwert ihrer Ordnung" nicht mehr legitimiert? Es gibt Anzeichen für die Richtigkeit der Annahme, daß sich Didaktiker wie Heinrich Bußhoff, H. -G. Assel, Klaus Hornung, Hugo Andreae und schließlich Sutor und Behrmann durch die empirischen Befunde zur Wirksamkeit der politischen Bildung ebenso herausgefordert fühlten wie durch die starke Betonung der Begriffe Konflikt, Interesse und Selbstbestimmung bei Giesecke, Mollenhauer, Schmiederer, Gottschalch und anderen, deren Konzeptionen als Reaktionen auf die Brüchigkeit des unreflektierten Demokratieverständnisses der Ära Adenauer verstanden werden können
Spätestens 1968 hatten die politischen Entscheidungsträger in den drei etablierten Parteien Anlaß, um die Verbindlichkeit der Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung besorgt zu sein. Mit dem Konsens drohte auch das bisherige Selbstverständnis der Bundesrepublik der Kritik der Sozialwissenschaftler ausgesetzt zu werden. Aus der Regierungskrise war eine Legitimationskrise geworden, so daß Heinrich Bußhoff auf die Kritik Fischers an seinem Buch provozierend fragte: „Sollen die Grundrechte in Rücksicht auf politische Bildung prinzipiell in Frage gestellt oder außer Kraft gesetzt werden?“
Zur gleichen Zeit wurde im Deutschen Bundestag die Verfassungstreue von Hochschullehrern bezweifelt, die, wie Wolfgang Abendroth, das Grundgesetz und die Grundrechte demokratie-extensiv auslegten. Im Gegensatz dazu verstanden sich Politikwissenschaftler wie W. Hennis, M. Hättich und andere aus der Schule von Arnold Bergstraesser, die bis dahin in der politischen Didaktik meinungsführend waren, eher als Apologeten des Bestehenden, die die Verfassung der Bundesrepublik als die denkbar beste, wenn auch noch nicht optimal verwirklichte empfahlen. Wissenschaftstheoretisch äußerte sich die Kontroverse in dem sogenannten Positivismus-Streit um das alte Problem der Wertfreiheit von Wissenschaft, der eine neue Dimension, nämlich die Frage nach der Legitimation, erreichte. Auf dem berühmt gewordenen 16 Deutschen Soziologentag 1968 in Frankfurt a. M. forderte Niklas Luhmann in seinem Referat „Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse" die Kritische Theorie im allgemeinen und Jürgen Habermas im besonderen heraus, indem er die bis dahin scheinbar allein von dieser Seite beanspruchte Kategorie „Sinn" als „eine bestimmte Strategie des selektiven Verhaltens unter der Bedingung hoher Komplexität" für die funktionale Systemtheorie reklamierte und soziale Systeme als „sinnhaft identifizierte" bezeich-ete Die zunehmende Komplexität, lehrt uhmann, erfordert die Delegation jener sinniildenden Prozesse, „denen man früher letzte Neltauslegungen zuschrieb", an „relativ gut Teilsysteme", weil sie dort „im irofilierte In-eresse höherer Leistung funktional spezifiiert" werden können. Komplexe Gesellschafensind, er weiter, auf solche „funktio- iale Differenzierung" angewiesen, so daß dieser Prozeß von den Mitgliedern komplexer Gesellschaften anerkannt werden müsse. Wenn man weiter annimmt, daß „Politik" jeies Teilsystem ist, das „sinnbildende Prozesse'als Auftrag der Gesamtgesellschaft vorantreibt, so werden die normativen Setzungen politischer Entscheidungsträger dadurch legitimiert, daß die Mitglieder der Gesellschaft iiepolitischen Institutionen anerkennen.
Es ist hier nicht der Platz, Habermas'Gegen-konzeption einer „Theorie der kommunikativen Kompetenz" zu referieren; aufschlußreich ist vielmehr die überraschend schnelle Rezeption der Luhmannschen Theorie durch Didaktiker wie Behrmann und Sutor, so daß ihre Grundgedanken und didaktischen Konsequenten in den Richtlinien von Rheinland-Pfalz mederzufinden sind. Eine Erklärung dieser Übernahme durch die politischen Entschei-dungsträger enthält möglicherweise die Hypothese, die Habermas in seiner Kritik an Luhmann formuliert hat: Kommunikatives Handeln, das etwa dem „Konsens" der Strukuralisten und Funktionalisten entspricht, orientiert sich an kulturellen Werten; ist aber lasHandeln „interessenorientiert", so tritt an e Stelle zunehmend „strategisches" Han-Wn, ein Handeln, das in der Wertung von unktionalisten als dysfunktional beargwohnt wird. Habermas meint: „Dieser Fall 11 ein, wenn der Konsensus über geltende formen (und die darin festgelegte Verteilung er Chancen bedingter legitimer Bedürfnisbe-tdedigung) zerbricht, d. h. wenn die Legitima-
onen der geltenden Normen erschüttert und das Gleichgewicht der durch diese Normen geregelten Interaktionssysteme gestört wird."
Offenbar haben konservative Politiker, gestützt auf die Diagnosen funktionaler Systemtheoretiker und Didaktiker, den Eindruck, daß der von Habermas gesetzte Fall eingetreten ist: Aus dem „pluralistischen" Miteinander der gesellschaftlichen Gruppen, das allerdings nur in idealtypischen Überhöhungen normativer Theorien existiert, wird bei analytischer Erfassung der Wirklichkeit ein Wettbewerb und schließlich ein Konflikt um die „Umverteilung der Chancen von Bedürfnisbefriedigung" und um die Macht als das Vermögen, andere (Individuen und Gruppen) daran zu hindern, ihre Interessen durchzusetzen. In diesem Zusammenhang kritisiert Habermas den funktionalistischen Begriff der Ideologie bei Luhmann, wonach gesellschaftliche Normen überhaupt rational nicht legitimiert werden können und nur die Verfahren des Zustandekommens einer Norm wissenschaftlicher Erfassung zugänglich sind, überraschenderweise folgt gerade diesem Wissenschaftsverständnis die Curriculum-Konzeption von Nordrhein-Westfalen, denn genau hier setzen Thoma, Gagel und Schörken an: Wissenschaftlichkeit in der Curriculum-Entwicklung sei dadurch gegeben, daß das Verfahren, durch das Lernziele zu politischen Normen werden (politisch dürfte es eher umgekehrt sein), transparent, objektiviert und damit überprüfbar werde.
Zwar fordert Thoma „die Berücksichtigung einer politischen Dimension", womit gemeint ist, daß sich die beanspruchte wissenschaftliche Erkenntnis auch politischer Kritik stellen müsse, aber „auch die geforderte politische Kritik wissenschaftlicher Erkenntnis kann und muß im Medium der Wissenschaft selbst organisiert werden" Gemeint ist die Frage nach der Funktion von Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft, denn „das Politikum besteht darin, daß die Verwertung wissenschaftlicher Analyse nicht nur einem Prozeß der Demokratisierung dienen kann, sondern auch Entdemokratisierung zu fördern vermag". Die politische Kritik von Zielwerten des Unterrichts kann und muß nach Thoma „demokratisch gebunden", nach Gagel auf den „in einer Gesellschaft vorhandenen Konsensus über Werte" orientiert werden. Legitimiert sind also Normen nicht allein schon durch ein demokratisch legales Verfahren, „sondern weil die Adressaten dieser Norm das Bewußtsein ihrer Richtigkeit haben".
Aber erfahren sie dadurch bereits ihre „innere Rechtfertigung", daß Lernziele von den Adressaten akzeptiert und diese am Entscheidungsprozeß beteiligt werden? Mit Habermas („Diskursive Legitimation") wird an der Be-gründbarkeit von Wertentscheidungen festg halten, wenn auch nicht — im Unterschied z Luhmann — durch Ableitung aus nicht mei hinterfragbaren Normen; aber die von Gag geforderte „kompetente und interessierte Di kussion", in der sich die Entscheidungen , bi währen" müssen, kann kaum zu einem andere als dem von Thoma erwarteten Resultat fül ren, daß sich „die spezifischen Interessenart kulationen von Gruppen" feststellen lasser Demokratische Mehrheitsentscheidungen sh mithin als Legitimationsakt anzusehen, wen „Wissenschaft durch die Köpfe der Mensche hindurch" (Thoma) diese Entscheidungen s beeinflußt hat, daß „Mündigkeit dadurch ei möglicht wird“.
Auf diese Weise wird Habermas um die in storische Dimension verkürzt und auf Luh mann projiziert.
... als Rechtfertigungslehre?
Wenn eine funktionale Staatstheorie wie die von Luhmann in diesem entscheidenden Punkt auf bloßen Dezisionismus zurückfällt und nicht die historische Dimension des Legitimationsproblems erschließt, dann gewinnt — nach Habermas — eine solche Theorie den Charakter einer Ideologie in Sinne eines „herrschaftslegitimierenden Weltbildes" mit Rechtfertigungsfunktion. Und eben diese Funktion erfüllt die Theorie Luhmanns durch ihre Übernahme in didaktische Konzeptionen, wie denn auch Behrmann immer wieder von den Bedingungen spricht, die zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Teilsysteme erforderlich seien, vor allem die „Legitimation der politischen Ordnung durch die Bürger" womit wahrscheinlich „Zustimmung" gemeint ist. Die didakti-sehe Konsequenz ist „die Ausbildung vor Teilnahmerollen und deren funktionsspezit sehe Bestimmung“ (sic!) durch institutionalisiertes Lernen, d. h. durch politische Bildung. In letzter Instanz, d. h. beim Lehrer, reduziert sich der Handlungsspielraum auf die Kritik am Verhalten politischer Entscheidungstra-ger, die kontrolliert und — im äußersten Falle — ersetzt werden können, im Idealfall des Erfolges politischer Bildung durch den Kritiker selbst. Gegenüber den Institutionen aber 15 Loyalität und Solidarität zu fordern, denn sie sind als solche legitimiert, wenn sie funktional begreifbar und rational begründetsind und welche könnten das nicht nachweisen zumal dann, wenn man das von ihnen artikt lierte Selbstverständnis zum Ausgangspun" wählt, wie Thoma, Gagel und Schörken’ Konsequenz: Kritik den Personen — Acht®! den Institutionen!?
Weder die rheinland-pfälzischen noch d nordrhein-westfälischen Richtlinien reden d mit einer formalen Institutionenkunde d“ Wort, etwa im Sinne der — manchmal zu Unrecht gescholtenen — Staatsbürgerkunde der Weimarer Republik. Der Begriff „Institutionen“ umfaßt wesentlich mehr als Parlamente, Behörden, Gerichte u. ä., nämlich auch die Normen. Luhmann selbst hat in einer seiner ersten grundlegenden Arbeiten die „Grundrechte als Institution“ funktional aufgefaßt: . Grundrechte dienen als eine unter vielen funktional-äquivalenten Institutionen der industriell-bürokratischen Sozialordnung dazu, das Kommunikationswesen so zu ordnen, daß es im großen und ganzen für eine Differenzierung offenbleibt."
Luhmann versteht Funktion also durchaus auch dynamisch und mithin historisch in dem Sinne, daß institutionalisierte Normen wie die Grundrechte als Legitimation von Macht, die aus der gesellschaftlichen Totalität als eine Art von Teilsystem herausdifferenziert worden ist, stets auf eine ganz bestimmte Ordnung bezogen sind, in diesem Falle auf die . industriell-bürokratische". Aus dieser Prämisse, daß machtlegitimierende Normen (besser: legalisierende Institutionen) relativ sind zur jeweiligen Gesellschaftsordnung und ihrer Herrschaftsstruktur, ergibt sich einerseits, daß auch die Grundrechte in der Verfassung der Bundesrepublik nicht aus einem vorpositiven Sein von Rechtsnormen, z. B. naturrechtlich, abgeleitet werden und mithin keine absolute Gültigkeit beanspruchen können, andererseits aber die Schwierigkeit, die Wirksamkeit politischer Leitwerte bei sozialen Veränderungen, z. B. die revolutionäre Wirkung der Menschenrechte, anzuerkennen oder auch nur verstehbar zu machen, wie das Geschichtsverständnis der Kritischen Theorie es versucht. Die funktionale Theorie der Grundrechte ist " eniger in ihrem Ansatz, dem letztlich so-wohl die nordrhein-westfälischen als auch die rheinland-pfälzischen Konzeptionen folgen, als vielmehr in ihren möglichen politischen und didaktischen Konsequenzen insofern unpolitisch, als sie die historische Dimension ausschließlich in der Gegenwart auslaufen läßt, da ihr zufolge die dem einzelnen zugestandenen Rechte dazu dienen, das bestehende System durch funktionale Differenzierung leistungsfähiger zu machen und den Menschen in die Lage zu versetzen, unter Berufung auf die garantierten Freiheiten in den Teilsystemen verschiedenen Rollen (Funktionen) gerecht zu werden. Walter Euchner hat deshalb die Theorie Luhmanns als ganz und gar unhistorisch kritisiert: „Die klassischen liberalen und demokratischen Grundrechte werden konsequenterweise ihres emanzipatorischen Gehalts, um dessentwillen sie im Kampf des Bürgertums gegen Feudalismus formuliert wurden, entkleidet."
Im Kampf der Bürger gegen den Feudalismus war z. B. das Recht auf Eigentum ein revolutionärer Anspruch, seine Durchsetzung ein Akt von emanzipatorischer Bedeutung: Aus der Abhängigkeit der Vasallen von der Krone war eine Abhängigkeit der Krone vom Geld des Besitzbürgertums geworden. Ihr Anspruch auf Teilhabe an der Macht ging einher mit der Erwartung, dieses Eigentum vom Staat, d. h. von der Krone, nicht antasten zu lassen. Gestützt auf entsprechende philosophische Lehren, die wirtschaftlichen Wohlstand als Resultat eigener Leistung und Tüchtigkeit preisen, wurde das Recht auf Eigentum zu einem Merkmal von „Würde des Menschen", zu einem Bürgerrecht. Um dieses Recht derjenigen, die bereits Eigentum besaßen und als Machtmittel im Kampf um ihre Emanzipation einsetzten, zu legitimieren, wurde es für „alle" gefordert. Das Leistungsprinzip in der Konkurrenzgesellschaft suggerierte für „jeden" die gleichen Chancen für den Erwerb an Eigentum.
Heute dient die Eigentumsgarantie vielfach als Abwehrrecht gegen Ansprüche von Nicht-besitzenden auf Grundrechtsgeltung innerhalb de» Verfügungsbereiches von Privatbesitz, z. B. gegen die Forderung von Redakteuren nach „innerer" Pressefreiheit in Privatunternehmen. Auch das Recht von Arbeitnehmern auf Mitbestimmung im Betrieb wird unter Berufung auf Art. 14 GG zurückgewiesen, wobei unter ande. cin damit argumentiert wird, daß zum „Eigentum" buch das volle Verfügungsrecht gehöre, das durch Mitbestimmung beeinträchtigt werde. In der Tat ist die Eigentumsgarantie in erheblichem Umfange eine Schranke für die Geltung anderer Grundrechte, z. B. die Freiheit der Meinungsäußerung, das Koalitionsrecht, die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Art. 14 GG lautet auch nicht „Jeder hat das Recht auf Eigentum", sondern: „das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet", was so interpretiert werden kann, daß nur bestehendes Eigentum geschützt, nicht aber der Staat verpflichtet wird, Nichtbesitzenden den Erwerb zu ermöglichen. Die große Masse der Arbeitnehmer kann nicht einmal frei über die eigene Arbeitskraft verfügen; die Eigentumsgarantie der Verfassung ist für sie nur als Privileg der Besitzenden, nicht als Merkmal der eigenen „Würde" erheblich. „Die bürgerliche Forderung nach Achtung der Menschenwürde ist heute nur eine formale Fiktion und kann ihr verheißungsvolles Versprechen nicht in der Praxis — in der Arbeitswelt — einlösen.“ Die praktische Anwendung des bürgerlichen Rechts auf Eigentum wirkt der Emanzipation der Arbeitnehmer entgegen, wie es Euchner im Blick auf die von ihm kritisierte Theorie von Luhmann behauptet. Interpretiert man dagegendie Grundrechte unter dem Aspekt der „Würde des Menschen“ historisch-dynamisch, d. h. zur Zukunft hin offen, dann erscheint die Forderung begründet und berechtigt, den Grundsatz der Selbst-und Mitbestimmung nicht mehr ausschließlich auf das Verhältnis des Individuums zum Staat und auch nicht auf das Individuum zu beschränken, sondern auch auf Gruppen und auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auszudehnen, zumal die theoretische Unterscheidung von Individuum, Gesellschaft und Staat unhaltbar geworden ist: „Unsere Deutung des Begriffs Menschenwürde muß sich an den Problemen und Forderungen orientieren, die für den gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung erheblich sind. Die bestehende Industriegesellschaft bietet zum ersten Mal in der Geschichte Möglichkeiten und konkrete Ansätze zur Verwirklichung der . Würde des Menschen'im gesamten gesellschaftlichen Bereich."
„Würde des Menschen" als historische Fundamentalnorm
Wenn der Artikel 1 des Grundgesetzes die „Fundamentalnorm" unseres Staates ist (Werner Maihofer), dann ist die politische Wirklichkeit in der Bundesrepublik stets unter dem Kriterium zu sehen, ob dieses System h’er und heute tatsächlich am besten und sichersten jene „Würde des Menschen" garantiert, die seine Freiheit als selbsterkämpfte Überwindung von Unmündigkeit und Fremdbestimmung erfahrbar macht. Werner Maihofer hat — als Staatstheoretiker wie als Sprecher der Bundesregierung — das Würdeschutzgebot der Verfassung als „die prinzipielle Verfügbarkeit des Seins des Menschen durch sich selbst" interpretiert, die für den einzelnen unmittelbare Erfahrung werde durch das Gegenteil, das Ausgeliefertsein an die Willkür und das Belieben des anderen, der „mit uns machen kann, was er will..der hoffnungslosen Übermacht des anderen"
Die erste Frage ist, ob es solche Antastungen der Menschenwürde in dieser Gesellschaft und in diesem Staate noch gibt. Die an den Menschenrechten orientierten normativen Didaktiker und Politiker sind bereit, zuzugeben, daß Gefährdungen und Beeinträchtigungen auch hier noch vorkommen, jedoch als Folgen individuellen Fehlverhaltens mit rechtsstaatlichen Mitteln geahndet und korrigiert werden können, keineswegs aber strukturell bedingt sind, weshalb z. B. auch Theorien wie die Lehre von der „strukturellen Gewalt“ (Galtung) in den Richtlinien von Rheinland-Pfalz keinen Platz finden. In der Bundesrepublik gibt es danach offenbar keine irrationalen Formen von Herrschaft mehr, keine prinzipielle Verweigerung von Lebensbedingungen, die der „Würde des Menschen" nicht entsprechen.
Die Geschichte kann zwar unter dem Aspekt gesehen werden, wann und wo es früher Knechtschaft, Unterdrückung, Verweigerung von Rechten, Konflikte und Kriege gab; problematischer wird aber die Auswahl von Unterrichtsgegenständen aus der Gegenwart: Gibt es Unterdrückung und Mißachtung der Menschenwürde nur in „totalitären" Staaten? Welche sind dann „totalitär"? Gehört die Verweigerung von Menschenrechten in der DDR und in der Sowjetunion in den Unterricht, nicht dagegen die Wirklichkeit der . Würde des Menschen" in den USA, in Asien und Afrika? Finden diese Themen nur dann Eingang in den Unterricht, wenn die revolutionären Bewegungen auf jene Staats-und Gesellschaftsordnung zielen, die als liberale repräsentative Demokratie das historische Resultat der bürgerlichen Revolution und Emantipation gewesen ist? Auch die heute im Grundgesetz festgeschriebenen Normen wa-----ren einmal Leitwerte von Revolutionären, die schließlich die Macht gewannen, sie in geltendes Recht umzuwandeln. Ist damit der Kampf um die Selbstbestimmung des Menschen vollendet, das Endzeitalter der Mündigkeit erreicht? Es scheint, als ob sich in dieser Überzeugung, trotz inhaltlicher Gegensätzlichkeit, die DDR und die Bundesrepublik ebenso gleichen wie die USA und die UdSSR.
Die Geschichte der Demokratie ist die Geschichte einer Revolution, einer Entwicklung, die durch einen zeitlich und räumlich erheblich dimensionierten Konflikt vorangetrieben und vermutlich auch nicht beendet wird. Daß dieser Kampf weitergehen wird, macht den Zukunftsbezug der historischen Dimension in der politischen Bildung aus. Nur wer seine Kritik an Verstößen gegen die Menschenwürde auch historisch legitimieren kann, weiß, wann und wie er sich politisch offensiv verhalten muß und kann, um den Grundrechten Ausdehnung und Geltung zu verschaffen. Die Verfassung räumt viele Rechte „jedem" ein, die früher von denen gefordert und erreicht wurden, die ihren Anspruch dadurch gerechtfertigt haben, daß sie diese nicht nur für sich und im eigenen Interesse, sondern für „alle" geltend machen, überall gibt es Unbehagen und entsprechende Reaktionen, wenn tatsächlich die „Masse jedermann" ernsthaft diese Rechte für sich in Anspruch nimmt. KonservativeKräite in allen Gesellschaftsordnungen deuten die Gegenwart als Abschluß der Vergangenheit, „fortschrittliche“ sehen sie dagegeneher als Beginn der Zukunft. Aber historische Erfahrungen deuten darauf hin, daß der Besitz der Macht aus Revolutionären meist Konservative macht: Revolutionäre oder auch nur die Legitimität politischer Institutionen in Frage stellende Forderungen nach Veränderung werden als vorbildliches Verhalten nur für die Vergangenheit anerkannt, soweit sie den jetzt bestehenden Zustand herbeizuführen geholfen haben, in der Gegenwart aber oft diskriminiert, auch dann, wenn ein solches Verlangen unter Berufung auf Grundrechtsgarantien der Verfassung legitimiert erscheint. Damit werden nicht nur „Systemveränderun-gen", sondern auch Menschen, die sich als Kämpfer für die Verfassung verstehen, der Legitimation durch die Verfassung beraubt. Nicht nur der gegenwärtige Konflikt in Jugoslawien zwischen den konservativen Parteifunktionären und denjenigen, die in der Arbeiterselbstverwaltung nur den ersten Schritt auf dem Wege zu einem selbstverwaltenden Sozialismus sehen, wie ihn die Verfassung im Auge hat, ist durch diese Markierung der Toleranzgrenze gekennzeichnet, sondern auch der Versuch der Opposition in der Bundesrepublik, der SPD zu unterstellen, sie böte nicht die Gewähr, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten.
Konrad Hesse hat, wie auch Habermas und konservative Theoretiker übereinstimmend annehmen, als Voraussetzung für die normative Verbindlichkeit der in der Verfassung ausgedrückten Wertordnung den „aktuellen Willen" der Bürger bezeichnet, „diese Inhalte der Verfassung als verbindlich anzusehen und zu realisieren" In der Absicht, diesen Willen in den Staatsbürgern der Bundesrepublik Deutschland zu wecken, sind sich Politiker und Didaktiker der politischen Bildung einig. Man begegnet den vermeintlichen Gefährdungen durch einen politisch-didaktischen Zirkel:
Diese (freiheitliche demokratische) Ordnung gilt als legitimiert, wenn die Bürger ihre Grundwerte als verbindlich und schätzenswert anerkennen. Da das aber offenbar (noch) nicht der Fall ist, hat politische Bildung die Aufgabe, diese Legitimation herzustellen. Inhaltlich lassen sich jedoch die Konzeptionen kaum miteinander vereinbaren. Es ist die erklärte Absicht der Richtlinien von Hessen ebenso wie von Rheinland-Pfalz, den Willen zu wecken, die Inhalte der Verfassung durch verbindliche Anerkennung zu legitimieren. Dabei berufen sie sich auch auf Sozialwissen42 schaftler, die einen auf jene, die die Verfassung im Sinne von Abendroth, Hartwich, Giesecke u. a. „historisch-dynamisch", „zur Zukunft offen" interpretieren und ihren emanzipatorischen Gehalt als noch keineswegs realisiert ansehen, die anderen auf solche, die sie für „die freieste Verfassung der Welt" (Dreg. ger) und nur in unwesentlichen Erscheinungen für verbesserungsbedürftig halten. Die Hessischen Rahmenrichtlinien folgen der einen, die Rheinland-pfälzischen der anderen Interpretation.
Während sich die Kultusminister dieser beiden Länder für jeweils eine der beiden Positionen entschieden haben, setzen der Kultusminister von Nordrhein-Westfalen und seine Entscheidungshelfer voraus, „daß Gesellschaftswissenschaft als kritische Theorie und Erziehungswissenschaft im erkenntnisleitenden Interesse an der Mündigkeit des Menschen (als Glied der Gesellschaft bzw. als zu Erziehender) übereinstimmen und damit den Verfassungsauftrag des demokratischen Staates zu verwirklichen suchen" In Wirklichkeit besteht jedoch weder die Überein-stimmung zwischen Gesellschafts-und Erziehungswissenschaft noch Konsensus darüber, welches inhaltlich der „Verfassungsauftrag des demokratischen Staates" ist. Diese Forme! ist ebenso inhaltsleer und konflikthaltig wie die inhaltlich unbestimmten Normen des Grundgesetzes selbst. Der vorausgesetzte Minimalkonsens besteht bestenfalls in einem unverbindlichen Bekenntnis zu den Leerformeln (wie z. B. „Würde des Menschen") der Verfassung, während die Auseinandersetzung um die inhaltliche Bestimmung historisch tiefer-liegende Konflikte anzeigt, bei denen sich beide Seiten auf dieselben Grundgesetznormen — und auf die passenden Aussagen von Sozialwissenschaftlern — berufen.
Man ist geneigt, Wolfgang Hilligen zuzustim men, wenn er den Richtlinien von Nordrhein-Westfalen vorwirft, daß vor der Fähigkeit in Alternativen zu denken, die Alternativen •Ibst zurücktreten. Im Kampf um die Durch-•tzung und Verwirklichung einer menschen-iirdigen Ordnung stehen Sozialwissenschaft-r nicht als „objektivierende" Medien des sellschaftlichen Selbstverständnisses zwi-hen oder gar über den Parteien und Fron-in. Wenn Legitimation politischer Zielwerte urch „Zustimmung" gewonnen wird, dann ird die wissenschaftliche Argumentation ein litte! im politischen Kampf, in dem kein Be-iligter neutral sein kann. Wer das Bestehen-e für das historisch optimal Erreichbare hält, eht die Geschichte anders als der, der sich i einer unendlichen Kette von Vor-Kämpfern keine bessere Zukunft glaubt. listoriker und Sozialwissenschaftler, die sich m Verfassungsgebot orientieren, „die Würde es Menschen ... zu achten und zu schützen", önnen sich nicht darauf beschränken, Antaungen der Menschenwürde nur in der Ver-angenheit festzustellen. In diesem Punkte rärden sie kaum kontrovers stehen zu (z. B.) ordnungstheoretischen" Wissenschaftlern, fe Frage ist, ob die Bundesrepublik Deutsch- nd und ihr Grundgesetz nur einen Zwi- chenzustand in der Geschichte der bürgerli-hen Gesellschaft markieren oder einen End-ustand erreicht haben. olgt man der zweiten Auffassung, so dient e historische Dimension der politischen Biltag dem Nachweis, „daß bestimmte Grund•orte und Grundrechte für eine menschensürdige Ordnung erforderlich sind ... Es geht hen nicht darum, daß Macht und Herrschaft abile Ordnungen gewähren, sondern, daß wir ie Wertvorstellungen kennen und reflektie-A die zu einer . stabilen'Ordnung beitragen. Der Geschichtsunterricht vermittelt allem „normative Einsichten, um Entscheidungen zu treffen", z. B. solche, daß „besonders die Amerikaner... für Freiheit und individuelle Grundrechte" kämpften, die Angelsachsen immer infolge ihrer „rationalen politischen Verhaltensweise ... das Geheimnis der Widerstandskraft... gegen politische Tyrannis besaßen", aber die von dort stammenden freiheitlichen Ordnungsformen „im Zeitalter des Totalitarismus in eine Krise gerieten"
Wolfgang Heidelmeyer veröffentlichte 1968 (!) in der Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (49/68) einen Beitrag unter dem Titel „Die Menschenrechte — Idee, Gestalt und Wirklichkeit", in dem er u. a. eine bemerkenswerte „Lehre" aus der Französischen Revolution zog: „Die Lehre der Französischen Revolution und der aus ihr hervorgegangenen Grundidee ist, daß auch mit höchster Feierlichkeit verkündete Rechte des Menschen einer verfassungsmäßigen Kontrolle bedürfen" (S. 11). Die Normen, die sich in den Menschenrechten als verbindliche Werte für eine Gesellschaft durchsetzen, bedürfen daher der Macht, die sie institutionalisiert. Erst eine durch sie legitimierte Staatsgewalt garantiert ihre Wirksamkeit. Da aber das Grundgesetz als erste Verfassung der Welt die Grundrechte zum unveränderlichen und unmittelbar geltendem Recht erklärt hat, markiert es einen nicht mehr überbietbaren Geltungsanspruch der früher vor-staatlichen Werte. Damit wurden, erläutert Assel, die „angeborenen und unveräußerlichen Menschenrechte" aus dem Gültigkeitsbereich „eines bestimmten zeitgenössischen Staatsdenkens" herausgelöst und fanden absolute Anerkennung: „Darin kam nicht zuletzt das veränderte Staatsbewußtsein zum Ausdruck, denn über jeden Zweifel hinweg stand nun der Mensch an der Spitze der Wertskala." Anders ausgedrückt: In den Formulierungen des Grundgesetzes von 1949 finden die Kämpfe um die Menschenrechte ihren siegreichen Abschluß, sie werden jedem weiteren Zugriff des Gesetzgebers entzogen und gelten fortan „als . zeitlos'Deshalb ist jene Staatsgewalt auf jeden Fall zu stärken, die sich diese Sicherung der Grundrechte zur Aufgabe gestellt hat. Zu sichern ist sie — wenn man Assel, Heidelmeyer, Behrmann und auch Hans Maier konsequent folgt — vor allem gegenüber der rationalen Entscheidung nicht fähigen Masse, deren Schutz die Grundrechte letztlich dienen. Stärkung der Staatsautorität und Abbau der Volkssouveränität liegen daher im wohlverstandenen Interesse des Volkes, dienen dem „Gemeinwohl", nicht die utopischen „totalitären" Vorstellungen aus der Ideenwelt Rousseaus.
Die Auffassung, daß das Grundgesetz von 1949 die staatsrechtlich denkbar beste Garantie der „Würde des Menschen" bietet, rechtfertigt — z. B. nach Ansicht von Forsthoff — auch die Einschränkung von Grundrechten durch die Notstandsgesetzgebung zugunsten der Staatssicherheit. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den ideologischen Implikationen und Konsequenzen der Lehre vom „Totalitarismus". Der Glaube, daß der eigene Staat „die freieste Verfassung der Welt" habe (Dregger), wird kaum überboten durch die missionarische Außenpolitik, die die USA im Namen der Werte ihrer Verfassung seit zweihundert Jahren treiben, und den Glauben der Sowjetunion an ihre Weltmission. Staat und menschliche Grundwerte sind identisch, Kritik am Staate wird zum Verstoß gegen die Grundwerte der Freiheit.
Wer dagegen Geschichte so interpretiert, daß Verfassungen für eine ganz bestimmte Gesellschaft in einer beschreibbaren historischen Situation Normen setzen, von denen man nicht annehmen kann, daß sie ausnahmslos von allen Betroffenen rückhaltlos anerkannt werden, wird nicht leicht davon zu überzeugen sein, daß die Ausübung von Staatsgewalt, auch wenn sie im Namen absoluter Werte zu handeln vorgibt, dadurch bereits diese Werte im Sinne des „Gemeinwohls" realisiert. Er wird aus der Geschichte eher Mißtrauen gegenüber den Inhabern von Macht gewinnen und Kontrolle der Macht über Vertrauen stellen. Kontrolle aber läßt sich nur über Teilhabe an Macht und Entscheidungen ausü Aus dieser historischen Perspektive erseh das Grundgesetz von 1949 als relativ zur maligen politischen und gesellschaftlicher tuation: Die Grenzen, innerhalb derer es ten sollte, waren ein Zufallsprodukt des Z ten Weltkrieges, aus mehr praktischen Gl den weitgehend identisch mit den alten Gi zen historisch überholter dynastischer Ge de. Ein Volk, das diesen Staat bilden oder wollen konnte, gar ein souveränes, war denfalls nicht der Schöpfer der Veriassi Daß es gar die Grundwerte von sich aus derte, hat niemand vorausgesetzt, eher gin Besatzungsmächte und die durch den Na mus nicht belasteten deutschen Politiker v Gegenteil aus: So wenig Volkssouveräni wie möglich, dafür so viel Rechtsstaatlichk wie möglich.
Wäre es z. B. nicht möglich, die Urteilsfäh keit des Volkes dadurch zu „testen", daßm im 25. Jahre ihres Bestehens den Präsident der Republik, der ja das ganze Volk repräse tieren soll, wieder durch das ganze Vt wählen läßt? Selbst wenn das Volk ei schlechtere Wahl treffen würde als die kleii Parteielite, die hier stellvertretend für d Volk handelt, könnte sehr großer Schadt nicht angerichtet werden. 25 Jahre lang wat die Parteielite der Bundesrepublik um Ve trauen des Volkes — wer aber schenkt da Volke Vertrauen, wenn dieses nicht selb: sein Recht auf Mitentscheidung fordert un durch die Ausübung dieser Macht das V#trauen rechtfertigt?
Die Interpretation des Grundgesetzes beginn meistens mit ihrem 1. Artikel; aber in seiner letzten sagt es selbst etwas über seine Gültig keitsdauer:
„Artikel 146: Dieses Grundgesetz verliert» ne Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutscher Volke in freier Entscheidung beschlösset worden ist."
Das Grundgesetz von 1949 ist niemals durd eine freie Entscheidung des Volkes legi miert worden. So fragwürdig und pseudop" biszitär Volksabstimmungen über Verfassungen auch immer sein mögen, verlangt das Grundgesetz selbst diese Legitimation. Sie ist nicht eingeholt worden, weil der Begriff „das deutsche Volk" z. Z. nicht zu bestimmen und verfassungsrechtlich „justiziabel" nur das jeweilige „Staatsvolk" ist, in diesem Falle: die Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland. Tatsache ist, daß die Verfassung kein Provisorium mehr ist, weil dieser Staat ein Völkerrechtssubjekt ist, ebenso wie die DDR. Diese Verfassung gilt für die Menschen, die in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland leben und deren Staatsangehörigkeit besitzen.
Es gibt keine „deutsche“ Staatsangehörigkeit mehr, und wer die Bundesrepublik als seinen Staat bejaht, muß die Realität anerkennen, daß ihre Verfassung nur von denen legitimiert werden kann, die ihren Bestimmungen unterliegen.
Noch ist das Grundgesetz de jure ein Provisorium. Es würde seine Gültigkeit zugleich verlieren und wiedergewinnen an dem Tage, an dem es „vom Volke der Bundesrepublik Deutschland in freier Entscheidung beschlossen worden ist", wenn eine verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag bereit wäre, den Artikel 146 in diesem Sinne zu ändern. Durch eine solche Zustimmung des Volkes könnte es seinen Willen bekunden, die Verantwortung für diesen Staat und den Schutz seiner Verfassung selbst zu übernehmen, für einen Staat, in dem alle Gewalt nicht vom Volke ausgeht, sondern auch von ihm ausge-übt wird.
Die politische. Bildung sollte in ihren von den politischen Entscheidungsträgern vorgegebenen Zielwerten von dem Vertrauen ausgehen, daß die überwältigende Mehrheit willens und fähig werden wird, ihre Grundrechte in Anspruch zu nehmen, den Schutz ihrer menschlichen Würde selbst zu garantieren und Demokratie als kontrollierte Macht auf Widerruf zu praktizieren. Das Problem der Legitimation von Zielen und Inhalten des politischen Unterrichts kann jedenfalls nur auf diese Weise gelöst werden: Sie bedürfen der bewußten Zustimmung aller Betroffenen, und betroffen vor Politik sind alle Menschen, die in diesem Staate leben.
Die Wissenschaften, vor allem die Sozialwissenschaftler, haben in diesem rationalen Diskurs der Legitimierung kein Privileg, wohl aber eine besondere Verantwortung. Politiker und Didaktiker, die bei ihnen Entscheidungshilfe suchen, müssen wissen, daß Sozialwis-senschaftler und andere Experten niemandem eine politische Wertentscheidung abnehmen oder erleichtern können, weil sie diese Entscheidung selbst fällen müssen, bevor ihre wissenschaftliche Kompetenz einsetzt. Wenn der 1970 verstorbene Göttinger Sozialwissenschaftler Bruno Seidel einmal gesagt hat, Sozialwissenschaftler hätten das schlechte Gewissen der Gesellschaft zu artikulieren, so meinte er tatsächlich die Wissenschaftler als verantwortlich handelnde Persönlichkeiten. Sie fällen vor aller überprüfbaren wissenschaftlichen Tätigkeit eine Wertentscheidung nach bestem Wissen und Gewissen. Und wer in der Bundesrepublik Deutschland ein Bekenntnis zu ihrer Verfassung ablegen muß, als Beamter, Soldat, Abgeordneter oder Minister, sollte die von ihm geforderte Entscheidung fällen „nach bestem Wissen und Gewissen",denn diese Entscheidungsinstanz setzt das Grundgesetz als letzte Norm und als das wesentliche Merkmal der „Würde des Menschen“.