Seit nunmehr 25 Jahren versucht der Europarat in Straßburg, im Rahmen seiner Befugnisse die Idee der europäischen Einheit mit Leben zu erfüllen und die Zusammenarbeit mit 17 Mitgliedstaaten zu intensivieren. • Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage, welche politische Rolle der Europarat in Zukunft für die weitere Entwicklung der westeuropäischen Integration und zur Förderung der gesamteuropäischen Kooperationsbestrebungen zu spielen vermag und welche konkreten Aufgaben von der Organisation erfüllt werden können. Den Überlegungen liegt die Annahme zugrunde, daß der Prozeß der westeuropäischen Integration auf zahlreichen Wegen erfolgen muß, um gegen periodisch wiederkehrende Rückschläge gewappnet zu sein, daß die intersystemare Kooperation in Europa durch zumindest sektorale Institutionalisierung abgestützt werden muß, um friedenssichernde Wirkungen hervorzubringen, und daß der Europarat für beide Ziele einen sinnvollen Beitrag zu leisten vermag. Seine spezifischen Handlungsmöglichkeiten werden anhand von sechs Funktionen bestimmt. Im Interaktionsfeld der angestrebten Europäischen Union sind dies seine Brückenfunktion zwischen den EG-Staaten und seinen übrigen Mitgliedstaaten, seine Forumsfunktion für die Diskussion aktueller gesellschaftspolitischer, europapolitischer und weltpolitischer Probleme und seine Dienstleistungsfunktion zur Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in konkreten Bereichen der Daseinsvorsorge. Im Interaktionsfeld der gesamteuropäischen Kooperation lassen sich seine Dienstleistungsfunktion, seine Planungsfunktion für die Entwicklung neuer Bereiche und Formen der intersystemaren Kooperation und seine Kommunikationsfunktion zur Verbesserung des politischen Dialogs unterscheiden. Auf der Grundlage einer Analyse der bisherigen Ostpolitik des Europarats und der speziellen Schwierigkeiten, die seine zukünftige Rolle auf dem Feld der innereuropäischen Beziehungen bestimmen, wird ein Stufenplan skizziert, der darauf abzielt, einzelne Phasen eines denkbaren breiteren Aktionsfeldes der Organisation zu beschreiben.
Vorbemerkung
Daß der Europarat am 5. Mai 1974 bereits 25 Jahre besteht, dürfte einer breiteren Öffentlichkeit kaum bewußt sein. Was die europäischen Angelegenheiten betrifft, so konzentriert sich die Aufmerksamkeit der politisch interessierten Bürger auf das nicht immer ganz durchsichtige, aber folgenreiche Treiben und Streiten der EG und ihrer Mitglieder. Der Unterschied zwischen dem Europäischen Parlament und der Beratenden Versammlung muß häufig erst ausdrücklich erläutert werden, und sogar in den Redaktionen großer Tageszeitungen scheint sich manchmal sprachliche Verwirrung breitzumachen, wenn von einer Sitzung des jeweiligen parlamentarischen Gremiums in Straßburg zu berichten ist. Die Tätigkeiten des Europarats haben offensichtlich einen nur geringen Nachrichten-wert. Die sporadische Berichterstattung über den Europarat in Zeitungen und Nachrichtensendungen wird völlig überlagert von einer Flut von Interviews, Stellungnahmen, Diskussionsrunden, Kommentaren und Informationen über Tagungen des Ministerrats der EG, über Forderungen, Angebote und Beschwörungen einzelner Mitgliedstaaten, über Anregungen der Kommission und über die Versuche und das häufige Scheitern gemeinsamer politischer Aktionen.
Es kann daher nicht verwundern, daß in den vergangenen Jahren immer wieder die Frage nach der Daseinsberechtigung der Straßburger Organisation aufgeworfen und mit schöner Regelmäßigkeit auch ihr baldiges Ende vorausgesagt wurde. Skeptische Beobachter lassen sich auch nicht dadurch günstiger stimmen, daß der Europarat allen Unkenrufen zum Trotz ein Vierteljahrhundert lang seine Lebensfähigkeit unter Beweis gestellt hat. In dieser Tatsache erblicken sie nur eine Bestä-tigung mehr für das bekannte Phänomen, daß Organisationen aller Art dahin tendieren, ein großes Beharrungsvermögen zu entwickeln und ihren Daseinsgrund nicht selten in sich selbst und in ihrer Erhaltung zu sehen oder, wie man es noch boshafter ausdrücken kann, daß sie vor allem die Probleme lösen, die es ohne sie nicht gäbe.
Vor dem Hintergrund solcher Beobachtungen über den relativ geringen Stellenwert des Europarats im Wahrnehmungsfeld der politisch interessierten Bürger, aber auch der Massenmedien und nicht zuletzt der Politiker selbst, erhält dieser Jahrestag eine besondere Bedeu-tung. Er bietet eine günstige Gelegenheit, um das Informationsdefizit über den Europarat abzubauen. Solche Jubiläen sind aber auch der Gefahr ausgesetzt, daß sie zum Anlaß genommen werden, um einseitig zu bilanzieren und zu rechtfertigen, ohne auch kritisch bestimmte Entwicklungen zu überprüfen oder gar die Zukunft in die Betrachtung miteinzubeziehen. Wehmütige Erinnerungen an unerfüllt gebliebene Ziele sind jedoch zur Lösung aktueller und konkreter Probleme in Europa ungeeignet. Dieses Datum sollte daher genützt werden, um eingefahrene Prozeduren und Überzeugungen neu zu überdenken.
Reformdiskussionen sind im Europarat nichts Neues. Das Unbehagen an seinen unzureichenden Befugnissen und an der Kluft zwischen den in der Versammlung debattierten Empfehlungen und ihrer geringen Wirkung auf die nationalen Politiken wurde in der Vergangenheit immer wieder artikuliert und von der Versammlung zum Anlaß genommen, um die Aufgabe des Europarats deutlicher zu definieren. Die Erweiterung der EG hat erneut und noch drängender die Frage nach seiner zukünftigen Rolle aufgeworfen. Während in früheren Jahren die Initiative zu solchen Diskussionen bei einzelnen Abgeordneten lag, zeigen sich nunmehr Versammlung und Ministerkomitee gemeinsam entschlossen, die Aufgaben und Arbeitsmethoden des Europarats präziser zu bestimmen. Der Reverdin-Bericht der Beratenden Versammlung (1973) und der Bericht einer vom Ministerkomitee eingesetzten Arbeitsgruppe (1974) liegen als Ergebnis dieser Absicht vor Auf der Basis einer eingehenden Prüfung der Vorstellungen der Regierungen der Mitgliedstaaten über die zukünftige Rolle des Europarats sowie zahlreicher Sondierungsgespräche in anderen zwischenstaatlichen Organisationen werden eine ganze Anzahl von Vorschlägen unterbreitet. Gemeinsam ist beiden Berichten, daß der Europarat „stromlinienförmiger" werden soll. Die Anregungen laufen auf eine Modernisierung und Effektivierung seiner Arbeitsmethoden und eine stärkere Konzentration in seinen zwischenstaatlichen Kooperationsvorhaben hinaus. Gemeinsam ist den Berichten auch die Tendenz, nur solche Vorschläge zu machen, für die eine allgemeine Zustimmung der Mitgliedsregierungen zu erwarten ist.
Folglich sucht man vergeblich nach Aussagen, die entscheidende Neuerungen empfehlen. Der Berichterstatter und frühere Präsident der Beratenden Versammlung, Reverdin, sprach daher auch von einem „realistischen Bericht über das, was zur Zeit möglich" sei. Der Bericht spiegelt den aufgefundenen Konsens zwischen den nationalen Außenministerien wider, und das ist gleichbedeutend mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Unabhängig davon muß die an mehreren Stellen des Berichts und in der Debatte zum Ausdruck gebrachte Entschlossenheit der Beratenden Versammlung, eine Politik der „offenen Tür" im Rahmen der gesamteuropäischen Kooperation zu verfolgen, ebenso positiv vermerkt werden wie das Ziel, mit allen der Organisation zur Verfügung stehenden Mitteln die Integrationspolitik der EG zu ergänzen und nicht in ein falsch verstandenes Konkurrenzverhältnis zu treten.
So begrüßenswert die von den beiden politischen Organen des Europarats vorgebrachten Vorschläge im einzelnen auch sind, so unbefriedigend wirken sie in einer längerfristigen Perspektive. Was als realistischer Ansatz erscheint, kann auf Dauer dazu führen, daß der Europarat, wie so oft, die weiteren politischen Entwicklungen kommentiert, anstatt sie zu beeinflussen. Dies gilt vor allem für die Kooperation zwischen Ost und West. Selbstverständlich sind Maßnahmen zur Rationalisierung seiner Tätigkeiten und zur Verbesserung seiner Beziehungen zu anderen internationalen Organisationen, vor allem im Hinblick auf eine sinnvoll zu gestaltende Konsultationspraxis mit der EG, äußerst wichtig, denn nur dann kann sein politisches und technisches Kooperationspotential ganz ausgeschöpft werden. Solange aber alle Überlegungen in einem relativ eng begrenzten Rahmen erfolgen, der weitgehend von den Konstanten der bisherigen Politik und des für unveränderlich geltenden Statuts geprägt wird, bleibt die Zukunft des Europarats eine ungelöste Frage. Allein innovatorische Ansätze können zur stärkeren Aktivierung der Organisation beitragen. Die Überprüfung und Verbesserung ihres prozeduralen und technischen Instrumentariums bilden einen ersten Schritt, der aber nur dann sinnvoll ist, wenn er zu be-gründeten Überlegungen über die funktionale Einordnung der Organisation in den Prozeß der in Europa angestrebten politischen Ziele führt. Reparaturen am Getriebe der Organisation können die Diskussion — und natürlich eine darauf bezogene Entscheidung — über die Route, die sie in der europäischen politischen Landschaft der nächsten Jahre einzuschlagen gedenkt, nicht ersetzen. Um Einfluß ausüben zu können, braucht der Europarat das Interesse der Öffentlichkeit Dieses gewinnt er nur, wenn er ein überzeugendes Konzept seiner Aktionsmöglichkeiten und seiner Ziele im Feld der europäischen Politik entwirft, das die Vorzüge dieser Organisation und ihre noch unerschlossenen Entwicklungsmöglichkeiten deutlich macht.
Im folgenden sollen Elemente eines solchen zukunftsgerichteten Entwurfs skizziert werden. Wir beabsichtigen dabei nicht, die im Europarat angestellten Überlegungen zu dokumentieren und von dieser Perspektive aus zu argumentieren — eine Perspektive, die eine größere Affinität zum Status quo und zu den hergebrachten Praktiken aufweist als eine Betrachtungsweise, die aus einer interessenmäßigen Distanz zum Untersuchungsgegenstand erfolgt. Unser Ziel ist es vielmehr, eine Ortsbestimmung des Europarats in einer längerfristigen Perspektive zu entwerfen, die den Ansätzen zur „Betriebsblindheit" entgegenzuwirken vermag, die einer solchen Organisation innewohnen. Es sollen Entwicklungschancen verdeutlicht werden. Diese ergeben sich weder aus einer einfachen Fortschreibung des gegenwärtigen Zustandes noch aus einem realitäts-und praxisfernen Sprung in eine neue Qualität der Tätigkeitsmerkmale des Europarats. Sie hängen von Optionen ab, die im Europarat getroffen werden müssen, und zugleich von äußeren Einflüssen, denen er ausgesetzt ist. Um genauere Aussagen machen zu können, müssen die Möglichkeiten der Straßburger Organisation im Koordinatensystem der angestrebten Europäischen Union und der ebenfalls für wünschenswert erachteten gesamteuropäischen Kooperation ausgelotet und den politischen und organisatorischen Bedingungen entsprechend optimiert werden.
Unseren Überlegungen liegen zwei Prämissen zugrunde. 1. Die Mitgliedstaaten sehen im Europarat mehr als ein Symbol für europapolitische Blütenträume, die nicht reifen konnten, und dem sie eine pietätvolle Reverenz auch in Zukunft nicht verweigern wollen; sie sind vielmehr entschlossen, sich seines Potentials zur aktiven Mitgestaltung der Lebensbedingungen in Europa zu bedienen. 2. Die Reaktionen des Subsystems Europarat auf die politischen Entwicklungen im Gesamtsystem Europa sind Einflußfaktoren in diesem Prozeß und müssen folglich in diesem größeren Zusammenhang gesehen werden.
I. Der Europarat als ein Element bei den Bemühungen um Friedenssicherung und Daseinsvorsorge in Europa
Häufig wurde der Europarat metaphorisch umschrieben als „lebende Pflanze", „Ideenlabor", „Scheinwerfer auf der Straße zur europäischen Einigung" als „Gesetzgeber Europas" als Mittler zwischen dem Möglichen und Wünschenswerten „Kristallisationssymbol des europäischen Gedankens", „Pfeiler der UNO", „Wahrer des westlichen Humanismus" und in zahlreichen anderen Bil-dem. Ob aus allen diesen Begriffen nicht eine gewisse Unsicherheit darüber zum Ausdruck kommt, welche Rolle dem Europarat zugewiesen werden soll, nachdem seine „revolutionäre Phase" bereits 1951 ohne den erhofften Erfolg zu Ende ging, und er nicht zu einer europäischen politischen Behörde mit beschränkten Funktionen, aber realen Machtbefugnissen wurde, bleibe einmal dahingestellt. Sicherlich sind jene Charakterisierungsversuche nicht unbegründet, wohl aber unzureichend. Aus ihnen lassen sich nur schwer konkrete Perspektiven ableiten. Eine empirisch tragfähige Ortsbestimmung des Euro-parats im Rahmen der innereuropäischen Entwicklungen der nächsten Jahre darf sich nicht mit der verengten Perspektive einer sich selbst genügenden Organisationsegozentrik begnügen. Die Rolle des Europarats läßt sich nur bestimmen vor dem Hintergrund der in Europa stattfindenden Veränderungen in den zwischenstaatlichen Beziehungen und der Herausbildung neuer Entscheidungszentren und transnationalen Strukturen. Das bedeutet, daß nach seinem Beitrag zur westeuropäischen Integration und gesamteuropäischen Kooperation zu fragen ist. Anders formuliert: In welcher Weise kann der Europarat sinnvoll und effektiv bei der subregionalen und regionalen Friedenssicherung und Daseins-vorsorge in Europa eingesetzt und wie kann seine Kapazität voll genutzt werden? Die Aussagen des Statuts über seine Aufgaben müssen auf diese beiden Ziele bezogen werden.
Friedenssicherung und Daseinsvorsorge sind die beiden fundamentalen, eng miteinander verbundenen, in manchen Bereichen sogar identischen Aufgaben jeglicher Staatstätigkeit. Diese Aufgaben erfordern heute Ressourcen, Techniken und Planungen, die in zunehmendem Maße die Möglichkeiten der Einzelstaaten übersteigen und zu Problemen ganzer Regionen werden. Unter Daseinsvorsorge ist die Gesamtheit der wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen, kulturellen und im weitesten Sinn technischen Dienstleistungen gemeint, von denen die Existenz des einzelnen Bürgers in der modernen Industriegesellschaft abhängt. Gesundheitswesen, Energie-versorgung, Bildungswesen, Wirtschaftswachstum, Umweltschutz sind nur einige Stichpunkte, die zeigen, daß die Sicherung der Lebensgrundlagen unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft schon längst die individuelle Leistungskraft des einzelnen Bürgers übersteigen und zu staatlichen Aufgaben geworden sind, die wegen ihrer Größenordnungen dahin tendieren, im Verbund mit anderen Staaten gemeinsam geregelt zu werden. Friedenssicherung ist mehr als nur die Regelung oder Vorbeugung eventueller militärischer Konflikte — ein Bereich, der dem Europarat gemäß seines Statuts entzogen ist—, Friedenssicherung läßt sich umfassender als ein Prozeß der friedlichen Veränderung der Kommunikation, der Erwartungen, der Produktion und der Allokation von Werten beschreiben, der die Beziehungen der Staaten neu gestaltet.
Alle Staaten in Europa, ungeachtet ihrer ideologischen, politischen und gesellschaftlichen Gegensätze, sind mit diesen beiden elementaren Aufgaben ständig konfrontiert. Ihre konkreten Antworten auf diese Herausforderungen freilich sind so vielfältig und gegensätzlich wie ihre Bündnisverpflichtungen, Feindbilder, Wertvorstellungen und historischen Erfahrungen. Es bleibt also das Problem bestehen, Wege zu finden, um die Interaktionen zwischen den Staaten und Staatengruppierungen in Europa, aber auch zwischen sozialen und wirtschaftlichen Organisationen so zu verändern, daß jene Ziele optimal verwirklicht werden können. An diesem Punkt wenden sich unsere Überlegungen wieder dem Europarat zu.
Um seine zukünftige Rolle zu bestimmen, müssen drei Fragen beantwortet werden:
1. In welchen politischen und/oder geographisch definierten Interaktionsfeldern kann der Europarat einen sinnvollen Beitrag zur Daseinsvorsorge und Friedenssicherung leisten? 2. Welche speziellen Funktionen kann er dabei erfüllen?
3. über welche Aktionsmöglichkeiten verfügt er, um seiner Rolle gerecht zu werden?
Interaktionsfelder, Funktionen und Aktionsweisen sind in der politischen Realität aufeinander bezogen. Die Funktionen und Aktionsweisen der Organisation hängen vom jeweiligen Interaktionsfeld ab und dürfen daher auch nicht getrennt behandelt werden. Auf dem europäischen Schauplatz lassen sich zwei Interaktionsfelder unterscheiden: die Europäische Union und die gesamteuropäische Kooperation.
II. Der Europarat und die Europäische Union
Die auf der Pariser Gipfelkonferenz von 1972 für 1980 anvisierte Vollendung der Wirtschafts-und Währungsunion der EG-Staaten ist die politische Willenserklärung für einen sich in Etappen vollziehenden Integrationsprozeß, der schließlich die wichtigsten politischen Entscheidungsbereiche umfassen und in einer politischen Union kulminieren soll. Die damit eingeleitete Entwicklung soll vom ersten Europa der Zollunion und der gemeinsamen Agrarpolitik der Neun zum dritten Europa führen. Dahrendorf schreibt dazu: „Der Zeitraum des zweiten Europa ist der zwischen der Europäischen Gemeinschaft von heute und der Europäischen Union von übermorgen. Das heißt vor allem, daß das zweite Europa kein Ziel an sich selbst ist; es ist nichts anderes als ein Stück des Weges durch den noch weißen Fleck der Landkarte unserer Zukunft. Ich verstehe das zweite Europa also nicht emphatisch, in großen Buchstaben, als Ersatz des Bisherigen oder neue Version des Erstrebten, sondern praktisch, als effektive Fortsetzung der bestehenden Europäischen Gemeinschaft und aller anderen Formen der Zusammenarbeit in Richtung auf die Europäische Union, damit als bleibende Markierung des Weges voran."
Das dritte Europa ist zunächst nicht mehr als eine konkrete Utopie, wie optimistisch man auch immer die Zukunft beurteilen mag. Mögen davon auch Handlungsimpulse ausgehen, im Konfliktfall besitzt dieses Ziel noch-immer einen geringeren Stellenwert als etwa nationale währungspolitische Interessen, die die Vollbeschäftigung und die Exportfähigkeit der einheimischen Industrie betreffen. Alle Erfahrungen sprechen dafür — und das Ausscheiden Frankreichs aus dem europäischen Währungsverbund Anfang 1974 ist nur eine Bestätigung—, daß die Entwicklung zur Europäischen Union diskontinuierlich verlaufen und mehr Zwischenlösungen als endgültige Ergebnisse hervorbringen wird. Dahrendorfs Plädoyer für die pragmatischen Lösungen der Probleme innerhalb und außerhalb der vorhandenen Institutionen der EG im Hinblick auf die angestrebte Europäische Union und seine gut begründete Ablehnung dessen, was man technokratischen Puritanismus nennen könnte, bringen ein bei vielen Bürgern, aber auch unter engagierten Europäern weitverbreitetes Unbehagen über die undurchsichtigen und schwerfälligen, immer häufiger von nationalen Egoismen bestimmten Entscheidungsprozeduren in Brüssel zum Ausdruck. Die Offenheit für verbesserte, neue und zusätzliche Formen der politischen Zusammenarbeit ist die Voraussetzung dafür, daß aktuelle Probleme der neun Mitgliedstaaten gemeinsam und effektiv gelöst werden, um dem Ziel einer Europäischen Union schrittweise näher zu kommen, das in seinen Konturen noch sehr-unscharf ist, aber ungeachtet dessen als eine Herausforderung an die politische Phantasie der Europäer schöpferische Energien freisetzen kann.
Die Ungewißheit über das dritte Europa, über seinen geographischen Umfang und seine innere Struktur, ist zugleich eine Chance für experimentellere Politiken, die mehr der Überzeugungskraft praktischer Fortschritte und gelöster Probleme als den angeblichen Sachzwängen von Verträgen vertrauen. In diesem Sinn gilt es, die vorhandenen Möglichkeiten der EG voll und ganz auszuschöpfen. Dies heißt aber nicht, daß jeder Blick über die damit gezogenen institutioneilen Grenzen hinweg ausgeschlossen sein muß. Das hat Dahrendorf sehr plastisch so ausgedrückt: „Das vorhandene Gebäude ist nicht nur zu klein, es ist auch merkwürdig angelegt, hat mehr Wirtschafts-als Wohnräume, viel zu wenig Fenster und eine Klimaanlage, die drinnen ständig eine leichte Föhn-Atmosphäre hervorruft. Das fördert weder die Stimmung noch den Kreislauf noch die Beweglichkeit und spiegelt im übrigen sowohl eine unbegründete Milde als auch eine falsche Nähe des Entfernten vor. Da muß repariert werden. Da muß aber auch die Frage gestellt werden ob das ganze Europa in den kommenden Jahren überhaupt in einem einzigen Haus Platz finden muß, ob es nicht besser ist, eine bunte Siedlung zu errichten, die für viele Temperamente und Bedürfnisse Platz hat, öb also eine lockere, offene Bauweise nicht am Ende mehr Menschen besser unterbringt. Die Europäische Union wird dann eine lebendige Stadt und nicht ein durch An-und Umbauten vollends unübersichtlich gemachtes Wohnmonstrum. "
Aus mehreren Gründen erscheint uns diese Argumentation überzeugend zu sein. Erstens, weil das empfohlene pragmatische Vorgehen, fernab von jedem übertriebenen Institutionalismus, aber auch frei von theoriegläubiger Innovationssucht, den politischen Möglichkeiten der zur gemeinschaftlichen Zusammenarbeit Regierungen am entschlossenen nächsten kommt. Zweitens, weil das Ziel der Europäischen Union höher bewertet wird als jede europapolitische Dogmatik, die genau vorschreibt, welche Wege dorthin einzuschlagen sind. Drittens, weil sich aus diesem realistischen Ansatz die Perspektiven ergeben, die unseren Überlegungen über die zukünftige Rolle des Europarats entsprechen.
Wenn die Europäische Union als gemeinsames Ziel der westeuropäischen Staaten zu einer greifbaren Realität werden soll, dann muß das zweite Europa zu einer Phase des „trial and error", der Erprobung zusätzlicher politischer Kommunikationskanäle und erweiterter Kooperationsformen werden. In diesem Stadium der Entwicklung sollte die europäische Integration auf mehreren Beinen stehen, um periodischen Rückschlägen auf bestimmten Gebieten besser gewachsen zu sein. Je dichter geknüpft das Netz der gegenseitigen Abhängigkeiten ist, um so weniger gefährlich sind die an manchen Stellen sichtbar werdenden Risse. Auf den Europarat bezogen heißt dies, daß in dieser Phase der Integration zahlreiche Aufgaben erfüllt werden müssen, die unverzichtbar sind und auf wenig Aufsehen erregende Weise zur Friedenssicherung und Daseinsvorsorge beitragen und damit der Idee der Europäischen Union weitere Substanz verleihen.
Es lassen sich drei wichtige Funktionen des Europarats unterscheiden, denen eine ganze Fülle verschiedenster Tätigkeiten zuzuordnen sind. Es handelt sich um seine — Brückenfunktion — Forumsfunktion — Dienstleistungsfunktion 1. Brückenfunktion Damit ist die Tatsache angesprochen, daß der Europarat eine wichtige Klammer zwischen den neun EG-Staaten und seinen übrigen acht Mitgliedern (Island, Malta, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz, Türkei, Zypern) darstellt. Die höhere Interaktionsfrequenz der Neun birgt unter dem Gesichtspunkt eines möglichst umfassenden dritten Europa die Gefahr in sich, daß neue Barrieren entstehen, welche die „ins" und die „outs" voneinander trennen.
Die Beratende Versammlung und das Ministerkomitee bieten dagegen eine echte Chance, daß eine solche Aufspaltung in europäische Staaten erster und zweiter Ordnung verhindert werden kann und daß zwischen dem gemeinschaftlichen und dem freien Europa ein permanenter und formalisierter Gedanken-und Informationsaustausch stattfindet. Denn hier haben die kleineren europäischen Staaten die Möglichkeit, einen den wirtschaftlich und politisch mächtigeren Staaten ebenbürtigen Einfluß geltend zu machen und ihre sonst häufig übersehene Kompetenz der Betroffenheit ins diplomatische Spiel zu bringen. Hinzu kommt, daß sich der in der Beratenden Versammlung institutionalisierte Gedankenaustausch qualitativ von den Kontakten zwischen auftragsgebundenen Regierungsvertretern der einzelnen Staaten und Organen der EG durch seine parlamentarische Öffentlichkeit unterscheidet. Auf dem Straßburger Forum können alle anstehenden Fragen unter einer originär europäischen Perspektive beraten werden, was der Tatsache Rechnung trägt, daß alle Mitgliedstaaten, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur EG, Teile eines interdependenten Geflechts von wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sind und somit alle von den in Brüssel gefaßten Beschlüssen nachhaltig berührt werden. Daß die Beratungen der Parlamentarier im Europarat nur zu Willensbekundungen führen, an die das Ministerkomitee und die einzelstaatlichen Regierungen nicht gebunden sind, vermindert den Wert dieser Artikulation europäischer Zielsetzungen in keiner Weise. Der Verzicht auf diese Form einer parlamentarischen Öffentlichkeit käme einer Diskriminierung der Staaten gleich, die im Europäischen Parlament weder Sitz noch Stimme haben. Hinzu kommt, daß das dritte Europa eben mehr sein soll als ein großer Wirtschaftsverbund, daß eine Vielzahl weiterer Bereiche der Daseins-vorsorge und der Friedenssicherung angeglichen, gemeinsam entwickelt und gemeinsam überprüft werden müssen.
Auch vor diesem Hintergrund kann kein Zweifel daran bestehen, daß rein bilaterale Beziehungen einzelner Staaten mit der EG keinen Ersatz für die auf Europaratsebene vorgenommene Durchleuchtung des Integrationsprozesses und gemeinsam erarbeiteter Vorschläge bilden. Diese permanente Diskussion politischer, wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, wissenschaftlicher und technologischer Probleme ist eine von mehreren sinnvollen Maßnahmen, um denkbaren Tendenzen der Entfremdung zwischen einer Kernzone und einer Randzone innerhalb der westeuropäischen Integration zu begegnen. Die Sicherung der Rohstoffbasis und der Energieversorgung, aber auch Prioritäten in der Forschungspolitik und im Verkehrswesen sind Fragen, die alle Staaten in Europa betreffen, und dabei kann die Beratende Versammlung eine nützliche Rolle im Austausch von Informationen über angestrebte Lösungen einzelner Staaten oder Staatengruppierungen spielen. Der Europarat wird seine Brückenfunktion vor allem dann wirkungsvoll ausüben können, wenn er in kontinuierlichem Kontakt zur EG in Brüssel steht und alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit ausschöpft. Der Reverdin-Bericht und der Bericht des Ministerkomitees haben dazu eine ganze Reihe konkreter Vorschläge ausgearbeitet, die auf eine stärkere gegenseitige Konsultation zielen Auf der Grundlage eines regelmäßigen Austauschs von Informationen über Projekte von beiderseitigem Interesse auf allen Verwaltungsebenen und auf der Ebene des Ministerkomitees sind dann Maßnahmen denkbar, die der Harmonisierung dienen.
Die Bedeutung einer zukünftigen Europäischen Union hängt auch davon ab, daß sie möglichst viele Staaten umfaßt, auf welche Weise dies auch immer verwirklicht wird. Daher ist es wichtig, daß die übrigen Mitglieder des Europarats nicht an den Rand der Integrationsbestrebungen gedrängt, sondern in der Weise in diesen Prozeß einbezogen werden, daß sie konzeptionell an diesem Ziel mitarbeiten können. Es ist wichtig, daß diese Mitwirkung sich parlamentarischer Prozeduren bedient und an die Öffentlichkeit appelliert. Nur so kann verhindert werden, daß Europa noch mehr, als es dies bereits zu sein scheint, zu einer Angelegenheit von Berufseuropäern und Konzernen wird, die Bevölkerung in den einzelnen Staaten aber der nationalen Handlungsfreiheit wieder oberste Priorität einzuräumen beginnt — mit allen den dann voraussehbaren negativen politischen und wirtschaftlichen Folgen. Wenn es dagegen der Beratenden Versammlung gelingt, als attraktive Plattform einen permanenten Dialog und Disput zwischen den Repräsentanten der verschiedenen nationalen Parlamente über alle europapolitischen Zielsetzungen in Gang zu halten, wenn sie sich weiterhin und verstärkt um die unverzichtbare Rückkopplung mit den nationalen Parlamenten bemüht und schließlich mit gut durchdachten Vorschlägen als eine Art politischer Resonanzboden für technokratische Harmonisierungsprojekte an die Öffentlichkeit herantritt, dann erfüllt sie eine wichtige Kommunikationsaufgabe für den Integrationsprozeß. 2. Forumsfunktion Mitbestimmung, Demokratisierung, Chancen-gleichheit, Bildungsnotstand, Umweltschutz, Qualität des Lebens sind nur einige von zahlreichen Stichworten, die die öffentliche Diskussion in allen europäischen Staaten bestimmen und elementare Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen und Ängste der Bürger zum Ausdruck bringen. Als verbindende europäische Elemente treten uns hier die Sorge um die Zukunft, die Kritik an der Rationalität des Bestehenden, die Suche nach mehr praktizierter Gerechtigkeit entgegen. Hier hat der Europarat ein bei weitem noch nicht ausgeschöpftes Tätigkeitsfeld. Weil die europäischen Staaten, auf lange Sicht gesehen, gemeinsame Willensbildungs-und Entscheidungsstrukturen schaffen wollen, gilt es heute, die gemeinsamen Probleme zu erkennen, sie ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu heben und nach Lösungsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Es handelt sich dabei weniger um Fragen der großen Politik und der Wirtschaft, sondern um Sachverhalte, die den politischen Prioritätenkatalog, die Wertvorstellungen und das Selbstverständnis der Gesellschaften betreffen, ohne deren Klärung die Europäische Union zu einem rein ökonomischen Gebilde wird, das bei den geringsten Schwierigkeiten ins Wanken gerät.
Die wissenschaftlich begründeten Warnrufe über die Grenzen des Wachstums und eine gesteigerte Sensibilität vieler Bürger für die Schattenseiten der modernen Technik, die Zweifel an der Durchlässigkeit demokratischer Institutionen für gesellschaftliche Bedürfnisse und damit an ihrer Legitimität, aber auch die zunehmende Bereitschaft, vor allem in der jüngeren Generation, politischen Total-entwürfen und Heilslehren zu vertrauen, lassen die in Artikel 1 des Statuts des Europa-rats formulierten Aufgaben in neuem Licht erscheinen. Das gemeinsame politische Erbe der Europaratsstaaten, von dem dort die Rede ist, ist kein unveränderliches Faktum, das es nur noch zu bewahren und zu verteidigen gilt, es muß vielmehr den sich wandelnden Bedingungen moderner Gesellschaften angepaßt, konkretisiert und zu einer für jeden Bürger erfahrbaren Realität werden. Unter dieser Perspektive eröffnen sich eine ganze Reihe von Aufgaben für den Europarat. Er verfügt über das nötige breitgefächerte und flexible Instrumentarium, um zum idealen Forum für einen großen europäischen Dialog zwischen Politikern, Wissenschaftlern, Publizisten und Vertretern organisierter Interessen zu werden. Auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Methoden kann sich der Europarat kontinuierlich mit den Fragen beschäftigen, die im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehen, und er kann zugleich die Aufmerksamkeit neu auftauchende, einer auf breiteren Öffentlichkeit noch nicht bewußte Probleme lenken. Verfahrensweisen müssen eigens entwickelt werden, die solche eine auf Dauer angelegte Beschäftigung des Europa-rats mit der Zukunft und mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen regeln. Die Forumsfunktion des Europarats bedeutet, daß die Versammlung, das Ministerkomitee, Experten-ausschüsse, Konferenzen und Publikationen in einem Verbund eingesetzt werden, um zur Fragen zur Erarbeitung solcher Klärung und Propagierung und von Lösungen beizutragen. Eine solche auf Dauer angelegte Diskussion und Reflexion der wichtigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit auf allen formellen und informellen Ebenen, die eine solche Organisation bietet, dienen dazu, das Problembewußtsein von Abgeordneten, aber auch einer interessierten Öffentlichkeit einem gemeinsamen Standard anzugleichen. Die Überwindung struktureller Disparitäten zwischen den westeuropäischen Staaten ist nämlich nicht ausschließlich eine Frage der materiellen Harmonisierung verschiedenster Lebensbereiche, sondern auch ein Problem der Angleichung von Einstellungen und Wert-haltungen in konkreten Konfliktlagen. Die für den Erfolg solcher Aktivitäten unabdingbare Publizität stellt sich dann ein, wenn die Konferenzen, Parlamentarierrunden, Experten-gutachten, Publikationen und politischen Debatten des Europarats neue Ideen zutage fördern — und wenn kontroverse Positionen ausgetragen werden.
Realistischerweise wird man nicht davon ausgehen können, daß die angedeuteten Tätigkeiten unmittelbare Folgen haben. Es geht mehr um Bewußtseinsbildung und -Veränderung, um Beeinflussung der Öffentlichkeit und der Beteiligten und langfristig auch darum, Entscheidungshilfen für interessierte Regierungen zur Verfügung zu stellen.
Wenn von Perspektiven für den Europarat die Rede ist, dann muß ganz deutlich gesagt werden, daß sich die Straßburger Organisation nicht damit begnügen darf, bedächtig die europäischen und weltpolitischen Ereignisse zu verfolgen und zu kommentieren.
Wenn ihr auch echte Befugnisse fehlen, so verfügt sie doch über Möglichkeiten, um Anregungen zu vermitteln, Expertisen zu erarbeiten, um sich zum Sprachrohr staatsbürgerlicher Kritik an der schwerfälligen Maschinerie des Europa der Technokraten zu machen und um die Wünsche und Ängste der Bürger zu artikulieren und zu diskutieren. Diese Hin-wendung zum Bürger ist eine wichtige Bedingung dafür, daß die Union mehr Europäische sein wird als eine konkrete Utopie. Der Europarat könnte erste wichtige Schritte in diese Richtung unternehmen. Der Europarat kann als eine Agentur zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die gesellschaftspolitischen Dimensionen der europäischen Integration und zugleich als eine Agentur zur Artikulation des in der Bevölkerung vorhandenen Unbehagens an diesem Prozeß wirken. Seine Kontakte mit über 100 nichtstaatlichen internationalen Organisationen müßten zu diesem Zweck erheblich erweitert, und vor allem durch Verbindungen zu wichtigen nationalen Interessengruppen erweitert werden. Durch eine solche Zweiwegkommunikation zwischen Bürgern und verantwortlichen Politikern kann der Europarat seine Kompetenz als ein unverzichtbares Forum unter Beweis stellen. Das häufig beklagte demokratische Defizit der EG kann auf diese Weise sicherlich nicht ausgeglichen, aber doch wenigstens abgebaut werden.
Die Forumsfunktion bezieht sich auch auf das Verhältnis Europas zu außereuropäischen Staaten. Die Beratende Versammlung war in der Vergangenheit immer wieder eine geschätzte Tribüne, von der aus sich Politiker aus aller Welt und Vertreter internationaler Organisationen an die Öffentlichkeit in Europa wandten und den Abgeordneten der Bera-tenden Versammlung Rede und Antwort standen. Als größtes parlamentarisches Gremium in Europa sollte sie alle Initiativen ergreifen, um den Dialog mit Repräsentanten der Vereinigten Staaten, Japans, der Entwicklungsländer und der ölproduzierenden Staaten zu ermöglichen, der in Straßburg um so offener geführt werden kann, als er ohne Verpflichtungen und ohne sonstige Zwänge erfolgt und allein dem Ziel dient, Positionen und Argumente abzuklären und multilaterale Probleme gemeinsam zu diskutieren. 3. Dienstleistungsfunktion Die bisher entworfenen Perspektiven des Europarats wären unvollständig, wenn man seinen konkreten Beitrag zur Angleichung der Lebensbedingungen der Bürger auf den zahlreichen Gebieten jenseits von Handel und Wirtschaft außer acht ließe. Die stattliche Zahl von rund 80 Expertenkomitees, die auf so verschiedenartigen Gebieten wie Sozialordnung, Rechtswesen, Gesundheitswesen, Naturschutz, Raumordnung, Wissenschaft und Bildung tätig sind, um gemeinsame Abkommen zu erarbeiten, und die auf diese Weise bisher zustande gekommenen 80 zwischenstaatlichen Verträge (Konventionen), unter denen vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta herausragen, beweisen, daß der Europarat hier eine wenn auch wenig Aufgabe nützliche, erfüllt. Ihn in Zukunft ausschließlich als einen Ort der politischen Reflexion, Argumentation und Diskussion sehen zu wollen, hieße ihn eines wichtigen Tätigkeitsfeldes zu berauben, auf dem er unmittelbar und mit konkreten Maßnahmen zur Substanz eines vereinigten Europa beiträgt. So wichtig seine Brücken-und seine Forumsfunktion auch sind, sein politisches Gewicht bemißt sich ebenfalls danach, wie unmittelbar er mit den realen, sich aus den vielfältigen Strukturverschiedenheiten der europäischen Staaten ergebenden Problemen vertraut ist und zu ihrer Lösung beiträgt.
Der. Begriff der Dienstleistungsfunktion bezieht sich auf die zwischenstaatlichen technischen Aktivitäten des Europarats. Sein regelmäßig fortgeschriebenes Arbeitsprogramm, die Konventionen, Expertenkomitees und Fachministerkonferenzen bilden ein differenziertes Netz von Kooperationskanälen, das den interessierten Staaten zur Verfügung steht.
Die in den einzelnen Sachbereichen angestrebte Harmonisierung und Standardisierung der gültigen Regelungen bzw. die gemeinsame Erarbeitung solcher Regelungen lassen ein breitgefächertes Band von Rechtsnormen entstehen. Soweit diese Normen von den einzelnen Staaten in Kraft gesetzt werden, führt dies — langfristig gesehen — zur sektoralen Angleichung der unterschiedlichen strukturellen Bedingungen in den einzelnen Staaten. Für sich genommen mögen die Ergebnisse dieser Bemühungen von nur untergeordneter Bedeutung sein — Vereinheitlichung der Adoptionsvorschriften, der Ausbildungsordnungen für Krankenschwestern, des Tier-schutzes, des Niederlassungsrechts, der Anerkennung von Universitätsprüfungen etc. In ihrer Gesamtheit vereinfachen sie aber den Austausch von Menschen, Gütern und Dienstleistungen und tragen dazu bei, eine engere Verbindung zwischen den Mitgliedstaaten zu verwirklichen.
Eine nüchterne Bestandsaufnahme muß aller. dings auch deutlich machen, daß jenes im Europarat erarbeitete Angebot von einheitlichen Rechtsnormen lückenhaft und von sehr unterschiedlichem Gewicht ist. In vielen Fällen machen die Mitgliedstaaten nicht ausreichend Gebrauch davon und zögern die endgültige Verbindlichkeitserklärung und Übernahme ins innerstaatliche Recht (Ratifikation) sehr lange hinaus. In diesem Punkt wird die institutioneile Schwäche des Europarats besonders offenkundig. -Das ausgefeilteste Abkom men bleibt wirkungslos, solange es die einzelnen Staaten nicht in ihre innerstaatliche Rechtsordnung aufgenommen haben. Es gibt keinen supranationalen Mechanismus, der als Schwungrad dienen könnte. Das im Europarat entwickelte Institut der Teilabkommen ist eine nützliche Vorkehrung, damit Konventionen nicht deshalb scheitern müssen, weil nicht genügend Mitgliedsregierungen an ihnen Interesse zeigen. Die oben angedeutete schwache Position der Organisation macht eine enge Verbindung ihres technischen mit dem parlamentarischen Sektor unerläßlich, um gegebenenfalls auf den Entscheidungsprozeß in den Mitgliedstaaten einwirken zu können, sobald sich die Regierungen allzu desinteressiert zeigen sollten.
Mit Ausnahme des Bereichs der Menschenrechte und ihres Anwendungsmechanismus im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention hat der Europarat keine spezifische Kompetenz gewonnen, die von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Er muß deshalb seine Dienstleistungsfunktion in Zukunft auf bestimmte Bereiche und Projekte konzentrieren Und deutliche Akzente setzen — eine Überlegung, die auch in der Organisation inzwischen akzeptiert wird und bereits zu einer Durchforstung und stärkeren Konzentration ihres Arbeitsprogrammes für die Jahre 1975— 76 geführt hat, dessen Bedeutung sich daran ablesen läßt, daß es mehr als 60 Prozent des Haushalts absorbiert
Der Einfluß, den die Organisation auf die zwischenstaatliche Kooperation nimmt, ist nicht nur eine Frage der Bereitschaft der Mitglieder Zusammenarbeit, er hängt davon auch zur ab, ihre ob Dienstleistungen Kompetenz erwirken können. Generell läßt sich sagen, daß sie ihren Dienstleistungscharakter auf solchen Gebieten deutlich machen muß, die einen unmittelbaren und möglichst aktuellen Bezug zu den grenzüberschreitenden Problemen moderner las Industriegesellschaften erkennen -sen.
Bevor wir diese Aussage konkretisieren, muß ein grundsätzlicher Einwand diskutiert werden, der sich darauf bezieht, daß der Europarat als Dienstleistungsagentur in einer Konkurrenzsituation zu zahlreichen anderen Organisationen in Europa steht. Häufig wird mit diesem Hinweis die Warnung vor sinnloser Doppelarbeit verbunden. In der Tat macht die Knappheit der finanziellen Mittel auch auf diesem Feld der ursprünglich nach jeweils aktuellen Bedarfslagen ins Leben gerufenen Organisationen so etwas wie eine Arbeitsteilung notwendig. Allerdings sollte man diesen Begriff nicht überziehen. Das Argument von der verschwenderischen Doppelarbeit zwischenstaatlicher Organisationen wird nicht selten überstrapaziert. Der Verdacht läßt sich nicht ganz von der Hand weisen, daß dahinter auch egoistische Motive der einen oder anderen Organisation stecken mögen.
Lassen wir aber einmal solche Vermutungen beiseite, dann zeigt bereits ein kurzer Über-blick über die in unterschiedlicher Form institutionalisierten zwölf politisch wichtigen Bindungen in Europa daß vor allem die wirt-schaftlichen und militärischen Belange „besetzt" sind, Während dem Europarat noch eine ganze Reihe anderer Bereiche offenstehen, wo er im gemeinsamen Interesse seiner Mitglieder und Unter der größeren Perspektive einer Europäischen Union seine Dienstleistungsfunktion verwirklichen kann. Daß jede einzelne der bestehenden Organisationen einen von den anderen möglichst klar abgegrenzten Aktivitätsbereich haben sollte, ist nicht nur ein schwer zu erfüllender frommer Wunsch von Integrationstheoretikern und geplagten Finanzministern, es ist auch unwahrscheinlich, daß überhaupt ein Modell einer echten Arbeitsteilung gefunden werden könnte, das alle Interessen zufriedenstellt. beteiligten Wichtiger als solche Vermutungen sind aber die Argumente, die für das gegenwärtige System einer Vielzahl von Organisationen mit teilweise ähnlichen Aufgaben sprechen Die Überschneidungen in ihren Tätigkeiten sind nie vollständig, weil schon der unterschiedliche Mitgliederbestand dafür sorgt, daß jeweils verschiedene Aspekte betont werden. Die Vergleichsmöglichkeiten der vorgelegten Abkommensentwürfe und gutachterlichen Äußerungen sind besser; die nationalen Bürokratien können wählen, welchen Kooperationsmechanismus sie bevorzugen. Die zweifellos gegebene Wettbewerbssituation fördert die Schnelligkeit und Güte der von den Organisationen zu erarbeitenden Maßnahmekataloge und erhöht damit die Chance, daß sich Experten und Regierungsvertreter schneller auf gemeinsame Lösungen einigen. Schließlich schafft die Proliferation von zwischenstaatlichen Organisationen zusätzliche Kooperationspotentiale: was von der einen Organisation nicht geleistet werden kann, gelingt vielleicht der anderen für einen kleineren Teilnehmerkreis. Aus der ungeplanten Vielfalt gemeinschaftlicher, zwischenstaatlicher und transnationaler Bindungen und Kooperationsformen ergeben sich natürlich Geld, Kraft und Zeit verschlingende Reibungsverluste. In dieser Vielfalt liegt aber auch eine Chance, die solche Nachteile wieder ausgleicht. Sie repräsentiert ein variables Angebot und ermöglicht einzelnen Staaten, je nach ihrer Integrationsbereitschaft und -fähigkeit, ebenso abgestuft davon Gebrauch zu machen. Arbeitsteilung sollte daher vor allem als eine Aufgabe der Koordination und Information zwischen den Sekretariaten der Organisationen verstanden werden, damit die Ergebnisse ihrer Arbeit allen interessierten und kooperationswilligen Regierungen und Gruppen zur Verfügung gestellt und die eigenen Planungen auf einer möglichst breiten Datenbasis erfolgen können. Enges Ressortdenken ist so fehl am Platz wie der Versuch, auf allen Hochzeiten zu tanzen.
Aus diesen Überlegungen läßt sich folgern, daß der Europarat in den kommenden Jahren seine Dienstleistungsfunktion an einer Doppelstrategie orientieren sollte. Zum einen ist es durchaus-sinnvoll, die bisherigen, auf den Abschluß von zwischenstaatlichen Abkommen in den genannten Bereichen gerichteten Tätigkeiten fortzuführen. Er wird weiterhin Erstklassiges auf zweitrangigen Gebieten hervorbringen und vor allem im Hinblick auf seine gesamteuropäische Aufgabe ein breites Kooperationsangebot aufrechterhalten, das fern von ideologischen und tagespolitischen Kontroversen ist. Als zentrale Aktionsbereiche werden im Entwurf für das Arbeitsprogramm 1975— 76 neben dem Schutz der Menschenrechte, der in jeder Hinsicht eine Ausnahme bildet, die Harmonisierung von Rechts-und Verwaltungsvorschriften genannt, die Kooperation im Erziehungswesen, in der Raumordnung und im Naturschutz, der Schutz der sozialen Rechte des einzelnen durch die Harmonisierung der Regierungstätigkeiten auf dem Gebiet der Sozialfürsorge, der Sozialversicherung und des Schutzes von Behinderten, sowie die Förderung des Gesundheitswesens Neben diesen Tätigkeiten empfiehlt es sich, zusätzlich auf solchen Gebieten aktiv zu werden, die in einem direkten Bezug zu den spezifischen Problemen moderner Industriegesellschaften stehen. Es ist dabei an das Problem der Informationsbeschaffung, -Speicherung und -Verbreitung, des Umweltschutzes, der Freizeit, der Gastarbeiter, der Forschungsförderung und neuer Verfahren der Bildungsorganisation zu denken. Damit ist kein restriktiver Katalog for-muliert. Es sind nur einige Beispiele für wichtige Fragen, die künftig gemeinsame Überlegungen und Lösungen erforderlich machen werden, wenn die europäische Integration echte Fortschritte machen und Europa mehr sein soll, um eine Formulierung Dahrendorfs aufzunehmen, als „eine kollektive Versorgungsanstalt für Veränderungsgeschädigte, eine Ersatzkasse für die Opfer des sozialen Wandels"
Der Europarat sollte etwa für Umweltschutz-fragen zu einer zentralen Sammelstelle für Informationen werden. Zu diesem Zweck wäre es sinnvoll, eine europäische Datenbank aufzubauen, ein Forschungsinstitut und ein Koordinationskomitee für die Zusammenarbeit der mit der Umweltschutzforschung beschäftigten wissenschaftlichen Institute und zwischenstaatlichen Organisationen ins Leben zu rufen. In dieser Rolle einer Informationsagentur für Fragen des Umweltschutzes läge eine sinnvolle Ergänzung zu den regelmäßig stattfindenden Fachministerkonferenzen auf diesem Gebiet. Seine Dienstleistungsfunktion im Bereich des Umweltschutzes wäre dann zu verknüpfen mit seiner Forums-und seiner Brückenfunktion. Die Sachkompetenz der Organisation in diesen Fragen ruht dann auf den drei Säulen ihres parlamentarischen und zwischenstaatlichen Instrumentariums. Der Europarat organisiert einen europäischen Daten-verbund, in seiner Versammlung wird über die politischen Zusammenhänge, Hintergründe und Folgen von Umweltschutzmaßnahmen diskutiert und es werden Empfehlungen an das Ministerkomitee gerichtet; in Expertenkomitees werden Abkommen zu einzelnen speziellen Fragen (Wasserverschmutzung, Lärmbekämpfung) ausgearbeitet, um die nationale Umweltschutzgesetzgebung der Mitgliedstaaten schon möglichst frühzeitig einem europäischen Standard anzugleichen.
Ein entsprechendes Vorgehen empfiehlt sich auch in anderen Bereichen, in denen der Europarat aktiv zu werden beabsichtigt. Grundsätzlich sollte seine Dienstleistungsfunktion in Zukunft vom Gedanken der Konzentration von Mittel und Arbeitsaufwand und der Spezialisierung getragen sei. Die bisher entworfenen Perspektiven dreier Funktionsbereiche des Europarats im Interaktionsfeld einer zukünftigen Europäischen Union erfordern keine tiefgreifenden Strukturveränderungen der Organisation, sondern nur einen zielgerichteten und effektiven Einsatz der vorhandenen Möglichkeiten, den Verzicht auf Allzuständigkeit und eine stärkere konzeptionelle Zuordnung aller Tätigkeiten auf die übergeordneten Ziele der Daseinsvorsorge und Frie-denssicherung in Europa, was auch die Bereitschaft voraussetzt, Prioritäten zu setzen. Weit einschneidender erscheinen die Perspektiven, die im Hinblick auf seine gesamteuropäische Funktion im folgenden Kapitel aufgezeigt werden.
III. Der Europarat und die gesamteuropäische Kooperation
Gesamteuropäische Kooperation ist ein Stichwort für eine zweite politische Entwicklungslinie, die sich im Verhältnis der europäischen Staaten zueinander abzeichnet und den Ost-West-Antagonismus tendenziell überlagert. Mit diesem Begriff wird wie bei der Europäischen Union weniger ein Tatbestand als ein Ziel beschrieben, das durch die Entspannungspolitik der beiden Weltmächte gefördert, unter dem Zwang zur arbeitsteiligen Daseinsvorsorge verstärkt und häufig als eine positive und konstruktive Form zur Friedenssicherung verstanden wird. Von Kooperation ist dann zu sprechen, „wenn vertragliche, längerfristige Vereinbarungen getroffen werden mit dem Ziel, gemeinsame Leistungen zu erbringen, das beiderseitige Vorgehen abzustimmen und wechselseitige Vorteile anzustreben, die zu einer gewissen gegenseitigen Abhängigkeit, zur Arbeitsteilung und schließlich zur Partnerschaft auf lange Sicht führen können" Zugleich ist mit diesem Konzept das Ziel einer Neuordnung und friedlichen Veränderung der politischen Beziehungen der europäischen Staaten, der Abbau der Konfrontation und die Schaffung eines dauerhaften Friedens verbunden.
Die funktionalistische Theorie geht von der Hypothese aus, daß durch intersystemare Kooperation die Neigung der Beteiligten zum militärischen Konfliktverhalten vermindert wird und die Sicherung des Friedens nicht mehr ausschließlich durch Bündnis-und Waffensysteme erfolgt. In einer Atmosphäre politischer Entspannung wird die Wohlfahrtsmaximierung zu einer wichtigen Voraussetzung der Systemerhaltung. Die Daseinsvorsorge der einzelnen Staaten überschreitet aus mehreren Gründen die nationalen Grenzen. Wirtschaft und Technologie können sich in Europa nur dann voll entfalten, wenn sie einen überstaatlichen Rahmen zur Verfügung haben, um den unverzichtbaren Spielraum für rationalisierende Maßnahmen zu gewinnen.
Damit ist ein erhöhter wirtschaftlicher, technologischer und kultureller Austausch zwischen den einzelnen Staaten verbunden, der dann positive Wirkungen auf das weitere Verhalten der Akteure hat, wenn eine möglichst gleichmäßige Verteilung der daraus erwachsenden Vorteile objektiv gegeben ist, aber vor allem auch subjektiv von den Akteuren wahrgenommen wird. Aus dieser Entwicklung kann sich dann eine Institutionalisierung der Transaktionen, Erwartungen und Interessen ergeben, ohne daß man allerdings von einer zwingenden Notwendigkeit sprechen könnte. Der Vorzug von intersystemaren Institutionen wird vor allem darin gesehen, daß an die Stelle der konfliktfördernden ideologischen Gegensätze die Regelung von Knappheitsproblemen (Sicherheit, Wohlfahrt, Freizügigkeit) treten. Das gleiche Stimmrecht bewirke eine faktische Rangangleichung der einzelnen Staaten. Damit sei eine Plattform gewonnen, die zur Abwehr hegemonialer Pressionen und Verdächtigungen eingesetzt werden könne. Schließlich sei die technische Zusammenarbeit der Experten geeignet, mögliche diplomatische Schwierigkeiten zu überwinden
Allerdings darf bei alledem nicht übersehen werden, daß gemeinsame Problemlösungsaktivitäten in einzelnen wirtschaftlichen und sonstigen Fragen nur eine Chance, aber keine Sicherheit für eine solche Entwicklung bieten, wenn sie nicht von entsprechenden politischen Entscheidungen begleitet werden Ob die KSZE zu einem solchen Kristallisationskern für eine langfristige institutionalisierte Zu-sammenarbeit zur Förderung von Sicherheit und Wohlfahrt in Europa werden kann ist noch völlig ungewiß, ebenso die Frage, wie der Europarat einer solchen gesamteuropäischen Dachorganisation zuzuordnen wäre. Sicher ist dagegen, daß die intersystemare Kooperation in Europa auf Dauer nur erfolgreich sein kann, wenn sie symmetrisch bzw. gleichberechtigt und in vielen Bereichen sowie über viele Kanäle (private, offizielle, bilaterale, multilaterale) erfolgt, wenn außerdem die Kooperationspartner ein gewisses Maß an Gemeinsamkeiten besitzen, wenn der damit verbundene Gewinn größer ist als die entstehenden Kosten und wenn ihre Institutionalisierung angestrebt wird
Wir gehen von der Hypothese aus, daß der Europarat zur Schaffung dieser Bedingungen einer erfolgreichen gesamteuropäischen Kooperation beizutragen vermag und daß er in Zukunft in erhöhtem Maße in diesem Interaktionsfeld tätig werden muß, um die eigene Stellung im Konzert der übrigen europäischen Organisationen zu stärken, vor allem aber um seinen Mitgliedern zu nützen. Im Augenblick scheint man in Straßburg allerdings in dieser Hinsicht nicht besonders optimistisch zu sein Es wäre jedoch ein entscheidender Fehler, auf eigene Initiativen zu verzichten und eine Politik des Abwartens zu verfolgen. In diesem Fall würde sich der Europarat unweigerlich an den Rand des politischen Geschehens in Europa manövrieren. 1. Wandlungen in seinem Rollenverständnis Der Europarat hat seine grundsätzliche Einstellung zu den kommunistischen Staaten verändert. Obwohl die Idee von einem einheitlichen Gesamteuropa häufig in der Beratenden Versammlung beschworen und die prinzipiel-le Offenheit der Organisation für alle diejenigen Staaten, die sich ihr noch anschließen wollten, gerne betont wurde, bedeutet dies nicht, daß in Straßburg schon sehr früh eine Möglichkeit zur intersystemaren Kooperation vorhanden gewesen wäre, ohne daß sie genutzt wurde. Nach dem Willen seiner Gründer — und das Statut bringt in seiner Präambel und in Artikel 1 diesen Willen deutlich zum Ausdruck — sollte der Europarat das Europa der Demokratie repräsentieren und nicht ein Europa der Geographie. So verstand sich die Straßburger Organisation als eine Gemeinschaft Gleichgesinnter und nicht als Forum für Gesamteuropa, wie es sich in seiner konkreten politischen Gestalt darbot. Die häufig zitierte Offenheit der Organisation blieb eine potentielle Möglichkeit, die an die Übernahme der Prinzipien des Statuts geknüpft war, und diente im wesentlichen der eigenen Legitimation sowie der anfangs gehegten Hoffnung, eine gewisse Anziehungskraft auf die osteuropäische Bevölkerung ausüben zu können. Direkte Kontakte mit kommunistischen Regierungen auch nur auf technischer Ebene anzuknüpfen, lehnte die Beratende Versammlung in den fünfziger Jahren strikt ab. Die Abgeordneten waren nicht bereit, die Beziehungen des Europarats zu den kommunistischen Staaten tagespolitischen oder diplomatischen Erfordernissen unterzuordnen, sondern verstanden sie betont als Prinzipienfrage. Nur im Falle Jugoslawiens nahm die Organisation eine differenzierte Haltung ein und zeigte sich Mitte der fünfziger Jahre an Kontakten auf zwischenstaatlicher, allerdings nicht parlamentarischer Ebene interessiert. Die 1955 kurzfristig auftauchende Chance für die Aufnahme von Beziehungen mit Jugoslawien zerschlug sich jedoch wieder, weil die Mehrheit der Abgeordneten den jugoslawischen Wunsch, Beobachter zu den Sitzungen zu entsenden, ablehnte Die Ostpolitik des Europarats blieb daher lange Zeit eine Politik der Solidaritätsbekundungen an die Adresse der Bevölkerung in Osteuropa. Er betrachtete sich als Anwalt jener Völker und vertrat eine prononciert wertbezogene, antikommunistische Politik.
Diese deklaratorisch-ideologische Phase in seiner Ostpolitik, die bis in die frühen sechziger Jahre reicht, ist geprägt vom rauhen Klima des Ost-West-Gegensatzes jener Zeit. Die Gründung des Europarats war ein Akt politischer Selbstbehauptung und ideologischer Selbstbesinnung der westeuropäischen Staaten, eine Reaktion auf Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa. Vor diesem Erfahrungshintergründ verstand sich die Straßburger Organisation als ein Symbol der Freiheit und sah ihre unverzichtbare Aufgabe darin, das Prinzip der gesamteuropäischen Solidarität der Völker institutionell zu verankern, deklaratorisch zu bewahren und zur verpflichtenden Richtschnur für die praktische Politik ihrer Mitglieder zu erheben. Ihr moralischer Rigorismus verbot formelle Kontakte mit Vertretern kommunistischer Regime.
Erst relativ spät setzte unter dem Einfluß der international längst praktizierten Entspannungspolitik seit 1963/64 eine Neuorientierung im Europarat ein, die daraufhin zielte, die Organisation als ein Instrument zwischenstaatlicher Kooperation auch für östliche Regierungen zu öffnen. Das Ministerkomitee gab Ende 1964 „grünes Licht" für eine Politik der Zusammenarbeit mit jenen Staaten in dem weiten Feld seiner technischen Tätigkeiten. Der damalige Generalsekretär Smithers setzte sich für eine Entideologisierung der Organisation ein und entwickelte eine sachlich-pragmatische Konzeption ihrer Aufgaben. Auch in der Beratenden Versammlung setzte sich die Überzeugung durch, daß die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit interessierten osteuropäischen Regierungen auf den politisch nicht-kontroversen Gebieten des Arbeitsprogrammes des Europarats für alle Teile von Nutzen sein könnte. Die Abgeordneten, die noch einen Schritt weiter gehen wollten und auch Kontakte auf politischer Ebene anregten — vor allem einige Labourabgeordnete setzten sich dafür ein—, konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Seither besteht ein breiter Konsens in der Organisation, jede Möglichkeit für die technische Zusammenarbeit mit interessierten Nichtmitgliedstaaten zu nutzen.
Die seit etwa 1964 zu konstatierende aktiv-pragmatische Orientierung des Europarats in seiner Ostpolitik ist bislang fast eine interne Angelegenheit geblieben, ohne nachhaltige Resonanz auf östlicher Seite. Die osteuropäischen Regierungen verhalten sich ausgesprochen zurückhaltend angesichts der Offerten des Europarats Ihre vereinzelte Teilnah-me an einigen Europaratskonferenzen (Demographie, Naturschutz, Kriminologie, Umweltschutz) und in einigen Expertenkomitees (Patentklassifikation, Blutplasma, kulturelle Fragen) kann noch nicht als echter Fortschritt bezeichnet werden. Daß dieser Zustand im Europarat als unbefriedigend empfunden wird, ist als überzeugender Beweis für sein neues Rollenverständnis zu werten.
Die in der Versammlung lange Zeit gepflegte moralisierende Argumentationsweise hat ihrer Tätigkeit nur allzu oft den Stempel politischer Sterilität aufgedrückt, da sie einerseits keiner Korrektur unterzogen wurde, als die Konsolidierung der osteuropäischen Regierungen bereits weit fortgeschritten war, und andererseits jede konstruktive Aktion wegen ihrer Prinzipienorientiertheit verhinderte. Daß in der zweiten Phase schließlich das politische Motiv stärker in den Vordergrund trat, hat den Europarat vor einer folgenschweren Stagnation bewahrt. Selbstverständlich bilden die Menschenrechte nach wie vor das geistige Fundament der Organisation. Es hat sich jedoch die Einsicht durchgesetzt, daß der unablässige Hinweis auf ihre Bedeutung kein Ersatz für Politik sein kann. Die Trennung zwischen ihrem parlamentarischen und ihrem zwischenstaatlichen Aktionsfeld hat der Organisation zweifellos eine größere Manövrierfähigkeit verschafft und sie in die Lage versetzt, von einer Politik der Appelle und platonischen Wünsche abzurücken. Damit ist jedoch das Problem noch keineswegs gelöst, das mit der engen, im Statut verankerten Handhabung der politischen Kontakte mit Nichtmitgliedstaaten zusammenhängt. Die Perspektiven für den Europarat werden daher auch davon bestimmt sein, wie diese Frage geregelt wird. Trotz ihrer wiederholt ausgesprochenen Bereitschaft, eine flexible Politik der „offenen Tür" zu verfolgen, steht die Organisation vor der Schwierigkeit, daß sie in dieser Frage nicht von einem einheitlichen Standpunkt ihrer Mitglieder ausgehen kann. Der Reverdin-Bericht legt in diesem Zusammenhang einen vorsichtigen Optimismus an den Tag, der sich deutlich von der knappen, ganze acht Zeilen umfassenden Bemerkung der Arbeitsgruppe des Ministerkomitees unterscheidet, derzufolge die Regierungsvertreter der Teilnahme von Nichtmitgliedstaaten an der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit des Europarats positiv gegenüber stehen — eine Aussage, die nur eine Wiederholung von 14 vorangehenden öffentlichen Erklärungen des Ministerkomitees der vergangenen Jahre darstellt und als Kompromißformel zwischen den Repräsentanten eines zurückhaltenden und eines aktiven politischen Kurses im Ministerkomitee gewertet werden muß 2. Randbedingungen Jeder Versuch, eine realistische Zukunftsperspektive für den Europarat im Rahmen der gesamteuropäischen Kooperation zu gewinnen, muß sich zunächst mit den abschätzbaren restriktiven Bedingungen beschäftigen, die seine Position und Funktion in diesem Interaktionsfeld beeinflussen werden. Auf der Grundlage der dabei gewonnenen Erkenntnisse wird es dann möglich sein, seine zukünftige Rolle näher zu beschreiben. Folgende Randbedingungen sind dabei zu beachten: a) Der Europarat in östlicher Sicht b) Der Rollenkonflikt c) Faktoren östlicher Politik a) Der Europarat in östlicher Sicht Die Zurückhaltung der kommunistischen Regierungen gegenüber dem Europarat — Jugoslawien ist eine Ausnahme — zeigt, daß er in der Rangliste der möglichen Vehikel für eine geregelte intersystemare Kooperation immer noch weit unten liegt. Daran haben offensichtlich auch die diplomatischen Sondierungen des Generalsekretariats der letzten Jahre wenig zu ändern vermocht. Die Gründe dafür sind auf zwei Ebenen zu suchen. Zum einen weist die Palette der bereits bestehenden zwischenstaatlichen Organisationen in Europa genügend Farbtupfer auf, von denen man sich in den östlichen Außenministerien stärker angezogen fühlt und sich auch mehr verspricht als vom Europarat, der eher bei den Grautönen angesiedelt zu sein scheint. So wird die UN-Wirtschaftskommission für Europa (ECE) — die bislang einzige regionale Organisation für Gesamteuropa — besonders positiv beurteilt und häufig als geeigneter Rahmen für eine über wirtschaftliche Fragen hinausreichende Kooperation beschrieben Das Interesse an der EG versteht sich von selbst, weil in Brüssel über vitale Fragen der Handels-und Wirtschaftsbeziehungen entschie-den wird, die auch auf die östlichen Länder zurückwirken, und weil nunmehr auch die Sowjetunion bereit ist, die EG als ein Faktum anzuerkennen und mit ihr in Kontakt zu treten Zum anderen ist der relativ geringe Stellenwert des Europarats in der Rangskala der osteuropäischen Regierungen eine Folge der speziellen Einwände, die dort ihm gegenüber erhoben werden. Galtung hat diese Vorbehalte in zahlreichen Interviews mit osteuropäischen Regierungsvertretern aufgespürt So wird u. a. argumentiert, es gebe im Osten keine dem Europarat entsprechende Organisation, so daß über den Europarat letzten Endes nur konflikttreibende, asymmetrische Beziehungen hergestellt werden könnten; die Mitgliedschaft in der Organisation sei eindeutig an ideologischen Kriterien ausgerichtet und auf die parlamentarische Demokratie Westeuropas beschränkt; der Ausschuß für europäische Nichtmitgliedstaaten und zahlreiche Entschließungen und Empfehlungen der Versammlung seien der Beweis dafür, daß der Europarat ein Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges darstelle; die kommunistischen Parteien der Mitgliedstaaten seien in der Versammlung nicht vertreten; Sitz und personelle Zusammensetzung des Generalsekretariats kennzeichneten den ausgesprochen westlichen die Charakter der Organisation; in den Expertenkomitees behandelten Probleme seien für die osteuropäischen Regierungen von nur geringem Interesse; außerdem liege auch im Namen der Organisation eine deutliche Anmaßung, die ebenfalls zu sehr an die Zeit des Kalten Krieges erinnere. Die in diesen Argumenten zum Ausdruck kommende Einschätzung des Europarats wird auch von einigen osteuropäischen Autoren bestätigt und geteilt Doch diesen eher skeptischen Bemerkungen zum Trotz konnte Galtung bei seinen Gesprächen ein generelles Interesse am Europarat und eine gewisse Offenheit für weitere Initiativen aus Straßburg durchaus feststellen. So kritisch das Urteil über den Europarat auch sein mag, es darf nicht mit einer grundsätzlichen Ablehnung möglicher Kontakte gleichgesetzt werden. Jene Regierungen haben offenbar nicht damit gerechnet, daß der Europarat, der sich lange Jahre hindurch als Bannerträger der politischen Werte Westeuropas dargestellt und scharfe Kritik am kommunistischen Teil Europas geübt hat, eine Veränderung seiner Politik vornehmen werde. Man betrachtete ihn daher als einen erratischen Block aus der Zeit des Kalten Krieges und hatte deshalb Schwierigkeiten, die spät einsetzende Neuorientierung der Organisation wahrzunehmen. Hinzu kommt ein tiefes Mißtrauen, der Europarat werde seine alte Politik mit neuen Mitteln fortsetzen — eine Haltung, die im übrigen eine gewisse Entsprechung in zahlreichen Debatten der Beratenden Versammlung zur Entspannungspolitik hat. Mit positiveren Antworten wird der Europarat dann rechnen können, wenn es ihm dauerhaft gelingt, die Vorteile einer Kooperation deutlich zu machen und die Bereiche gemeinsamer Interessen hervorzuheben, wenn er sich außerdem ernsthaft mit jenen kritischen Argumenten auseinandersetzt und sie nicht einfach als ideologische Voreingenommenheit abtut. Dazu gehören dann auch die Überlegungen jugoslawischer und polnischer Autoren, eine Revision des Statuts ins Auge zu fassen Wie immer man in der Organisation zu diesen Fragen stehen mag — und die Bereitschaft der Mitgliedsregierungen zu einer Überprüfung des Statuts ist in nächster Zeit zweifellos denkbar gering —, jede Diskussion über die zukünftige Rolle des Europarats muß die Probleme berücksichtigen, die sich aus der historischen Bedingtheit der Europaratsverfassung und des gewandelten Ost-West-Verhältnisses ergeben. Wenn der Europarat auf die gesamteuropäische Kooperation Einfluß nehmen will, muß er diese offensichtliche Spannung bewältigen. b) Der Rollenkonilikt Der Wandel in seinem Selbstverständnis, den wir bislang feststellen konnten, hat dem Europarat relativ geringe Schwierigkeiten bereitet, weil er auf einer strikten Trennung zwischen dem zwischenstaatlich-technischen und dem parlamentarisch-politischen Bereich aufbaut. Es ist jedoch fraglich, ob sich diese Trennung langfristig gesehen aufrechterhalten läßt und ob die Attraktivität der Organisation für östliche Partner nicht gerade darunter leidet, daß sie damit eine indirekte, aber nicht weniger deutliche Abgrenzung vornimmt: ein Klub, dessen Mitglieder gerne bereit sind, in der Halle mit den Bewohnern der Nachbarhäuser über die Straßenreinigung, Müllabfuhr, Stromversorgung und Insektenbekämpfung zu verhandeln, sich aber strikt weigern, sie bis zur Garderobe vordringen zu lassen. Dabei soll Artikel 3 des Statuts, der die Mitgliedschaft im Europarat von der Anerkennung individueller Grund-und Menschenrechte abhängig macht, gar nicht mit einem einfachen Klubausweis verglichen werden, obgleich er eine ähnliche Funktion erfüllt. Er legitimiert aber jene Trennung, von der oben die Rede war und die das Problem zunächst einmal zu umgehen sucht, wie der Europarat in einer im Wandel begriffenen politischen Umwelt die gesamteuropäische Kooperation auf der Basis seines bisherigen Selbstverständnisses fördern soll. Hier liegt offensichtlich ein Rollenkonflikt vor, der verschleiert werden kann, indem alle anstehenden Entscheidungen zunächst einmal aufgeschoben werden oder indem man ihn einfach nicht zur Kenntnis nimmt, der aber nichtsdestoweniger der Handlungsfähigkeit der Organisation enge Grenzen setzt.
Dieser Rollenkonflikt ergibt sich aus der im Statut und in der Menschenrechtskonvention angelegten normativen Orientierung des Europarats und seiner denkbaren Funktion im Rahmen der Neugestaltung der innereuropäischen Beziehungen. Das Projekt eines Europa-rats und die Idee einer Europäischen Menschenrechtskonvention waren von Anfang an eng miteinander verbunden, wie der Haager Kongreß des Jahres 1948 zeigt. Guy Mollet bezeichnete in diesem Sinne die schließlich 1953 in Kraft getretene Konvention einmal als das moralische Fundament des Europarats Die damaligen Debatten in der Beratenden Versammlung zeigen deutlich, daß man mit der Konvention dem Europarat eine politische Waffe in die Hand zu geben hoffte, um den einzelnen Bürger zu schützen und die westeuropäische Einheit durch die Stärkung des Zusammenhalts und der Abwehrbereitschaft der Mitgliedstaaten zu beschleunigen Als Ausdruck für das gemeinsame geistige und kulturelle sowie politische Erbe ist die Konvention zweifellos ein wichtiger Beitrag, um die Solidarität der Europäer zu verlebendigen und zu konkretisieren, zumal die Rechte des einzelnen nicht nur proklamiert werden, sondern auch einklagbar sind. Man sollte jedoch die relativierende Wirkung von generalklauselartigen Bestimmungen des Vertragswerkes nicht übersehen. Was aber wichtiger ist als dieser Punkt oder die Tatsache, daß die Schweiz und Frankreich sich bis heute immer noch nicht in der Lage sehen, die Konvention zu ratifizieren — eine Änderung in dieser Haltung zeichnet sich allerdings ab —: solange die Konvention als normative Selbstrechtfertigung des Europarats betrachtet wird, verbietet sich jede die Grenze rein zwischenstaatlicher Kooperation in technischen Angelegenheiten überschreitende Öffnung der Organisation für Staaten, die dem liberal-westeuropäischen Vorbild nicht entsprechen. Solange dieses Selbstverständnis nicht überprüft und im Lichte neuer Erkenntnisse weiterentwickelt wird, stößt jeder Versuch, die Rolle des Europarats in Zukunft zu bestimmen, auf ein Hindernis, das seinen Aktionsbereich einschränkt und seine Funktionen in Frage stellt.
Dabei sprechen zumindest drei Überlegungen gegen die Aufrechterhaltung dieses Junktims. Zum einen gibt es außer der genannten historischen Begründung keine weiteren, die diesen Zustand auch weiterhin rechtfertigen könnten. Es ist nicht einzusehen, warum die Mitglieder des Europarats als Einzelstaaten in regem politischem Austausch mit den osteuropäischen Staaten stehen, in Straßburg in ihrer Gesamtheit aber peinlich darauf bedacht sind, sich abzugrenzen. Das mit der Konvention verbundene Instrumentarium — Kommission, Gerichtshof, Ministerkomitee — ist viel zu wichtig, als daß sich die Mitglieder des Europarats damit begnügen dürften, sich gegenseitig permanent zu versichern, wie ernst sie jene Bestimmungen nehmen und daß dies außerhalb dieses Kreises ganz und gar nicht der Fall sei. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß der eine oder andere Staat in seinen bilateralen Beziehungen mit kommunistischen Regierungen mehr zur Konkretisierung einiger Menschenrechte beitragen kann, als dies durch Deklarationen möglich ist. Durch praktisches Handeln könnte der Europarat dem Geist der Konvention u. U. wirkungsvoller entsprechen als durch eine legalistisch enge Auslegung ihres Auftrags.
Der zweite Gesichtspunkt bezieht sich auf das zu einseitig normative Menschenrechtsverständnis der Beratenden Versammlung. Das moderne Verfassungsrecht stellt demgegenüber den ursprünglich vorhandenen Zusammenhang zwischen der Funktion dieser Rechte und ihres Wertcharakters in den Vordergrund Eine offene Gesellschaft, die sich zu einem komplexen politischen Ordnungsgefüge organisiert, bedarf dieser Rechte, damit das Gesamtsystem seinen freiheitlichen Charakter behält und funktionsfähig bleibt und damit die dafür notwendigen „Kommunikationschancen" garantiert sind. Die Freiheit und Unantastbarkeit des Individuums wird zur Bedingung der Systemerhaltung, wenn unterstellt wird, daß es nicht durch Zwang und Terror, sondern durch Interessenausgleich und Mehrheitsentscheid funktionieren soll. Die Menschenrechte sind dem einzelnen von Natur aus mitgegeben, weil er Mensch ist. Aber sie ermöglichen auch erst eine sich in Freiheit organisierende und artikulierende Gesellschaft. Eine solche struktur-funktionale Betrachtungsweise des Menschenrechtsgedankens wäre der Beratenden Versammlung anzuraten. Anstatt ausschließlich moralische Argumente ins Feld zu führen, sollte darauf verwiesen werden, daß alle Mitglieder des Europarats die Daseinsvorsorge ihrer Bevölkerung unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft nur nach Maßgabe gewisser, mit den Menschenrechten identischer Standards optimal erfüllen können, und daß sich auch die osteuropäischen Staaten der Frage stellen müssen, wie sie auf Dauer ohne Zwang und mit der Unterstützung der Bevölkerung die Aufgaben des modernen Staates erfüllen wollen. Der Normengesichtspunkt geht nicht verloren, wird aber objektiviert. Der Instrumentcharakter der Konvention wird deutlicher; der Europarat kann freier über seine Kooperationsmethoden verfügen.
Ein drittes, formaljuristisches Argument muß schließlich noch angeführt werden. Das Statut ist für eine zeitgemäße Interpretation durchaus offen. Nach Artikel 4 kann das Ministerkomitee jedem europäischen Staat die Mitgliedschaft im Europarat antragen, wenn er „für fähig und gewillt befunden wird, die Bestimmungen des Artikels 3 zu erfüllen". Es ist also theoretisch durchaus denkbar, daß das Ministerkomitee auch einen Staat mit kommunistischer Regierung für „gewillt" befinden kann, die Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz der Menschenrechte anzuerkennen, wenn bestimmte politische Veränderungen in dieser Richtung wirksam werden (das gilt natürlich auch für die autoritären politischen Systeme in Spanien, Portugal und Griechenland). Daß diese Möglichkeit vom Statut ausdrücklich erwähnt wird, ist nicht unwichtig. In der Literatur wird nämlich auch die Meinung vertreten, daß die formale Existenz von Grundrechten in kommunistischen Verfassungen durchaus als Ansatz für eine positive Weiterentwicklung wirken könne, auch wenn diese sozial-ökonomischen Rechte nur Auslegungsrichtlinien sind, die erst noch durch Gesetze eigens konkretisiert werden müssen Es wird auch hervorgehoben, daß sich die Amtsinhaber zwar gewisse Widersprüche zu den Grundrechtsbestimmungen erlauben können, daß ein grundrechtswidriges Verhalten jedoch ideologisch nicht mehr so einfach zu rechtfertigen sei. Generell empfiehlt sich eine abgestufte Beurteilung, die den auffindbaren unterschiedlichen Praktiken entspricht.
Der Rollenkonflikt des Europarats ist nur dann unauflösbar, wenn den vorangehenden Argumenten für die Beseitigung des Junktims zwischen normativen Postulaten und politischen Beziehungen keine Bedeutung beigemessen wird. c) Faktoren östlicher Politik Im vorangehenden Abschnitt wurden Randbedingungen skizziert, die den Aktionsspielraum des Europarats im Interaktionsfeld der gesamteuropäischen Kooperation beeinflussen. Als intervenierende Variablen, die in ihrer Konsequenz ebenfalls die Handlungsmöglichkeiten des Europarats bestimmen, sind spezielle Faktoren der osteuropäischen Politik zu nennen. Es handelt sich dabei um das Verhältnis dieser Länder zur Sowjetunion, um ihre Beziehungen untereinander, um die Reaktion der jeweiligen Staatspartei auf Ansätze gesellschaftlicher Pluralisierung, um Veränderungen in den Wirtschaftssystemen. Die Unwägbarkeiten, die allein in diesen vier Faktoren enthalten sind, machen jede Prognose zu einer riskanten Angelegenheit. Sie wur-de bereits an anderer Stelle versucht und soll hier nicht wiederholt werden. Festzuhalten bleibt lediglich, daß der Europarat in diesem Interaktionsfeld mit der Wirksamkeit zweier Bedingungen zu rechnen hat: 1. Die Sowjetunion wird weiterhin als „übergeordneter Sollwertgeber" (Zellentin) die Zielrichtung der Kooperationspolitik jener Staaten bestimmen; 2. die auf ad hoc-Basis oder längerfristig geregelten Austauschprozesse zwischen den ost-und westeuropäischen Staaten führen nicht zur Konvergenz der Systeme, sondern allenfalls zur sektoralen Interdependenz und lassen sich als „antagonistische Kooperation" (v. Bredow) charakterisieren.
Um die Funktionen des Europarats innerhalb der gesamteuropäischen Kooperation zu bestimmen, müssen die aufgezeigten Randbedingungen berücksichtigt werden. Es gilt Mittel und Wege zu überprüfen, um ihre negativen Auswirkungen auf seine Aktionsmöglichkeiten zu neutralisieren. Die an letzter Stelle genannten Faktoren werfen dabei noch die geringsten Probleme auf, denn die Tätigkeiten des Europarats haben keinen Einfluß auf die Beziehungen der osteuropäischen Staaten zur Sowjetunion und zielen nicht darauf ab, die Systemmerkmale der beteiligten Staaten zu verändern. Außerdem verfügt die Organisation über keinerlei supranationale Elemente, so daß es keine Majorisierungsprobleme gibt. Ihre vielbeklagte institutionelle Schwäche kann in diesem Zusammenhang zu ihrer Stärke werden. Die anderen Punkte verlangen dagegen Entscheidungen, die in die bisherige Struktur des Europarats eingreifen. Der Rollenkonflikt muß entschärft werden; zugleich gilt es Lösungsmöglichkeiten zu untersuchen, die sich mit den Einwänden der kommunistischen Regierungen beschäftigen. Wir haben damit ein Koordinatensystem gewonnen, in dem wir eine realistische Perspektive entwerfen wollen. Zunächst soll ein Stufenplan skizziert werden, der eine Optimierung des Kooperationspotentials des Europarats unter den genannten Bedingungen anstrebt. In einem zweiten Schritt sollen dann einige konkrete Funktionsbereiche näher erläutert werden. 3. Ein Stufenplan: Organisation für paneuropäische Angelegenheiten An anderer Stelle haben wir bereits die Entwicklungsmöglichkeiten des Europarats einer eingehenden Überprüfung unterzogen. Anhand einzelner Modelle wurden Kriterien erarbeitet, um die Vor-und Nachteile sowie den Realitätsgehalt verschiedener Zielvorstellungen festzustellen. Der im folgenden skizzierte Stufenplan baut auf diesen Überlegungen auf. Es handelt sich dabei um ein Modell, das den stufenweisen, aber nicht zwangsläufigen Ausbau eines breitgefächerten gesamteuropäischen Kooperationsangebots im Europarat anstrebt. Wir gehen davon aus, daß sein zwischenstaatlich-technischer und sein parlamentarisch-politischer Aktionsbereich gleichermaßen einzusetzen sind, weil sie die Chance bieten, die einen oder anderen Kooperationsprobleme schrittweise zu neutralisieren. Sieben Entwicklungsphasen sind denkbar, die sich folgendermaßen charakterisieren lassen: a) Kooperation im technischen Bereich. Die Zusammenarbeit auf Expertenebene im Europarat dient zwei Zielen. Einmal ist sie geeignet, einige der vielfältigen Aufgaben der Daseinsvorsorge der einzelnen Regierungen zu erleichtern, indem die Erfahrungen einer großen Anzahl von Staaten genützt werden, um Probleme zu lösen, die nationale und ideologische Grenzen überschreiten, und zugleich Kosten zu sparen. Die Vereinheitlichung von Rechtsnormen, die Vereinfachung bürokratischer Vorschriften, die Erleichterung des Austausch von Gütern, Personen und Informationen haben auf lange Sicht gesehen eine gesteigerte Effektivität des staatlichen, wirtschaftlichen und privaten Handelns in ganz Europa zur Folge. Daß im Europarat nicht die „großen" Probleme behandelt werden, muß kein Nachteil sein. Noch ist die gesamteuropäische Kooperation mit einer zarten Pflanze zu vergleichen, die auf jeden Tropfen Wasser angewiesen ist. Die positiven Erfahrungen, die hier gemacht werden, können größeren Unternehmungen zugute kommen.
Das zweite damit anvisierte Ziel ist ein politisches. Es geht darum, Mißtrauen abzubauen und ohne irgendwelche politischen Vorleistungen oder ideologischen Verzichterklärungen den von allen Seiten verkündeten Wunsch nach friedvolleren Beziehungen in einem kleinen Teilbereich zu verwirklichen und ein Netz von gemeinsamen Aktivitäten zu organisieren. Langfristig gesehen sollen auf diese Weise institutionalisierte politische Kontakte vorbereitet und auf dem Wege ihrer Anbindung an sachliche Probleme substantiiert werden. In dieser ersten Phase wird vom Europarat noch keine Entscheidung zur Aufhebung des Rollenkonflikts vorausgesetzt, während die erwähnte Zurückhaltung auf östlicher Seite dadurch überwunden werden könnte, daß das Angebot zur technischen Kooperation als erste Stufe eines längeren Prozesses erscheint, der jedoch keinen „point of no return" enthält und somit die souveräne Entscheidungsgewalt der beteiligten Staaten nicht einschränkt. b) Konferenzen des Europarats über gesamteuropäische Probleme. Es handelt sich hierbei um die Fortsetzung und Intensivierung einer bereits mehrere Jahre geübten Praxis. Neben den Fragen des Umweltschutzes, der Demographie, kultureller Angelegenheiten, der Rohstoffversorgung und der Energiegewinnung könnten je nach Bedarf neu auftauchende Probleme aus allen Bereichen der staatlichen Daseinsvorsorge behandelt werden. Der Europarat, der diese Konferenzen, Symposien, Roundtables etc.organisiert und für eine gewisse Kontinuität dieser Veranstaltungen sorgt, wird zu einem Umschlagplatz für Ideen und Informationen, deren sich die jeweils verantwortlichen Entscheidungsträger bedienen können; er wird zu einem Ort für den wissenschaftlichen Gedankenaustausch und für informelle politische Kontakte und Gespräche zwischen Ost und West. Neben größere Konferenzen sollte eine ganze Reihe weiterer Veranstaltungen treten wie etwa Tagungen wissenschaftlicher Disziplinen und Jugendtreffen. Generell sollten diese Veranstaltungen für alle europäischen Staaten und internationalen Organisationen offen stehen, was nicht bedeutet, daß ihr Zustandekommen davon abhängt, daß alle auch wirklich teilnehmen. Aus politischen Gründen werden immer wieder einige Regierungen auf ihre Mitwirkung verzichten. Das wird um so seltener der Fall sein, wenn diese Konferenzen attraktiv sind und einen echten Gewinn versprechen. c) Beobachter auf ad hoc-Basis in der Beratenden Versammlung, wenn über Themen vorwiegend technischer Natur von gesamteuropäischer Relevanz debattiert wird. In dieser dritten Phase würde die Versammlung an alle interessierten Regierungen und Parlamente Einladungen ergehen lassen, z. B. an Debatten über Umweltschutzfragen, das Gastarbeiterproblem, die Rohstoffversorgung als Beobachter teilzunehmen. Daraus erwächst für beide Seiten keinerlei Verpflichtung, es eröffnet sich jedoch die Chance, Vorurteile und Informationslücken abzubauen. Zugleich könnte damit deutlich gemacht werden, daß diese Staaten eine Art europäischer Identität zumindest in ihren gemeinsamen Problemen aufweisen. d) Repräsentanten von Nichtmitgliedstaaten sprechen vor der Beratenden Versammlung zu einzelnen umgrenzten Fragen von gesamteuropäischem Interesse. Ein solcher Meinungsund Informationsaustausch zwischen einem Repräsentanten des RGW, Regierungsvertretem oder Parlamentariern und den Mitgliedern der Versammlung könnte einen permanenten Dialog eröffnen, der sicherlich auch Kontroversen provoziert, aber vor allem der Willensbildung auf beiden Seiten dienen könnte. Das Risiko, daß daraus unerfreuliche Propagandaveranstaltungen werden, ist gering, da beide Seiten daran interessiert sein dürften, die Chance für weitere derartige Diskussionen offenzuhalten. Es sollte der Versammlung um so leichter fallen, solche Einladungen auszusprechen, als sie in der Vergangenheit bereits des öfteren auch Vertreter außereuropäischer Länder, die nicht zu den Demokratien nach westeuropäisch-liberalem Vorbild gehören, empfangen hat. Das Interesse der östlichen und anderen Nichtmitgliedstaaten, vor diesem Forum die eigenen Standpunkte zu einzelnen wichtigen Fragen zu erläutern, hängt von ihren positiven Erfahrungen ab, die sie im Bereich der technischen Kooperation im Europarat gemacht haben. e) Ständige Beobachter in der Versammlung und in ihren Ausschüssen. In dieser Phase wird endgültig der Schritt von der technischen Zusammenarbeit im zwischenstaatlichen Bereich zur Institutionalisierung parlamentarisch-politischer Beziehungen gewagt. Den ständigen Beobachtern kann auf Antrag von der Mehrheit der Parlamentarier das Rederecht gewährt werden. f) Assoziierte Mitgliedschait. Es wäre der Status einer Mitgliedschaft auf Probe, den der Europarat interessierten Staaten zuerkennt. Seine Ausweitung zu einer gesamteuropäischen Organisation ist damit de facto vollzogen. g) Vollmitgliedschait für alle interessierten europäischen Länder. Der Europarat ist nunmehr ein integrierter Bestandteil einer geregelten, auf Dauer angelegten gesamteuropäischen Kooperation.
Das Stufenmodell zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß seinen einzelnen Entwicklungsphasen keine Zwangsläufigkeit inne-wohnt. So hat etwa die dritte Phase keineswegs zwingend die nächste Etappe zur Folge;
sie behält ihren eigenen Wert auch dann, wenn der nächste Schritt unterbleibt. Damit ist die Offenheit für die weitere politische Entwicklung gewährleistet. Als langfristige Zielprojektion ist dieses Kooperationskonzept aber vielleicht in der Lage, auftauchende Schwierigkeiten zu überbrücken. Natürlich erfordert dieser Stufenplan, soll er vollständig verwirklicht werden, eine völlige Revision der Satzung des Statuts. Formaljuristisch ist die Zuerkennung des Beobachterstatus'
auch ohne Satzungsänderung möglich (Artikel 53 GO der Beratenden Versammlung), während für assoziierte und Vollmitglieder besondere Voraussetzungen gelten (Artikel 3 des Statuts). Folglich setzt das Modell in seiner letzten Konsequenz die Entideologisierung der Organisation voraus, die dann mehr dem Bild der UNO in regionalem Maßstab als ihrer heutigen Konzeption gliche. Es ist nicht nötig darüber zu spekulieren, ob die Entwicklung schließlich in diese Richtung verläuft.
Wichtig ist dagegen, daß mit diesem Stufenplan eine ganze Reihe von Zwischenlösungen angesteuert werden kann, die sich sinnvoll in die gesamteuropäischen Kooperationsbestrebungen einfügen. Es geht zunächst ganz pragmatisch darum, sein Instrumentarium möglichst flexibel einzusetzen und die verschiedenen Kooperationsebenen auszubauen, um die grobe Alternative zwischen der Mitgliedschaft und der Nichtmitgliedschaft zu differenzieren. Es wäre politisch unklug und sicher nicht im Sinne der Förderung gesamteuropäischer Kooperationsstendenzen, wollten die Mitglieder des Europarats alle weiteren Entscheidungen, die den Einsatz der Organisation betreffen, von der Fortentwicklung der KSZE abhängig machen oder gar auf deren Umwandlung in eine neue gesamteuropäische Großorganisation vertrauen. Die Unwägbarkeiten dieser Konferenz liegen allzu sehr auf der Hand, als daß der Europarat in Erwartung ihrer Ergebnisse sich in Zurückhaltung üben dürfte. Es könnte nämlich einer in ferner Zukunft liegenden übergreifenden gesamteuropäischen Kooperationszentrale, der die einzel-nen subregionalen Organisationen dann zugeordnet werden — Galtung hat ein solches Modell diskutiert —, zugute kommen, wenn bereits einige Kooperationsaufgaben im Europarat institutionalisiert sind und vor allem konkrete Erfahrungen für weiterreichende Entscheidungen zur Verfügung stehen.
Die Gefahr, daß es im Europarat wegen dieses Stufenplans zu konflikttreibenden, asymmetrischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern und den anderen kooperationsbereiten Staaten kommen könnte, ist denkbar gering. Was die geregelte Kooperation der ersten Stufe angeht, so haben weder die zahlenmäßige Ausgewogenheit zwischen östlichen und westlichen Staaten noch die Frage der politischen Homogenität allzu großes Gewicht: In der Praxis wird immer nur ein Teil der Mitglieder an den verschiedenen Kooperationsvorhaben mitwirken, so daß im Prinzip jeweils nur die Experten der interessierten Staaten Zusammentreffen, die eine Konvention nur dann zustande bringen, wenn die Interessen der beteiligten Staaten gleichmäßig berücksichtigt sind. Majorisierungsprobleme tauchen nicht auf. Sobald die Stufen einer zusätzlichen politischen Kooperation erreicht sind, könnte durch eine entsprechende Stimmenverteilung für eine Korrektur des ungleichen Zahlenverhältnisses gesorgt werden. Generell muß der Europarat offen sein für spezielle Kooperationsanliegen der potentiellen Partner, und dies muß dann auch in seinem Arbeitsprogramm zum Ausdruck kommen. Auf diese Weise ist es möglich, Kosten und Gewinn für beide Seiten gleichzuhalten. 4. Tätigkeitsbereiche Vor dem Hintergrund des flexiblen Stufenmodells lassen sich drei Funktionsbereiche für die Straßburger Organisation unterscheiden, wobei zu beachten ist, daß die optimale Erfüllung dieser Aufgaben von der Entwicklung der Kooperationsintensität abhängt. Wir unterscheiden eine — Dienstleistungsfunktion — Planungsfunktion — Kommunikationsfunktion a) Dienstleistungsfunktion Eine ausführliche Erörterung dieses Punktes erübrigt sich, weil die bereits angeführten Argumente auch für dieses Interaktionsfeld gültig sind. Ein breites Spektrum gemeinsamer Harmonierungsvorhaben, von sekundärer Bedeutung zwar, aber auf die Vielfalt der Daseinsvorsorgeaufgaben und Bedürfnisse der daran beteiligten Staaten zugeschritten — z. B. die Förderung des Jugendaustauschs (Gesamteuropäisches Jugendwerk), die Vereinheitlichung des Patentrechts, die Verbesserung des wissenschaftlichen Informationsaustauschs —, sollte von einem oder zwei zentralen Kompetenzbereichen umgeben sein, die dem Europarat sein charakteristisches Profil als Dienstleistungsagentur verleihen. Als ein Beispiel wurde bereits auf den Bereich des Umweltschutzes hingewiesen. Eine nicht minder wichtige und permanente Aufgabe ist die Koordinierung aller gesamteuropäisch orientierten Projekte, die in den zahlreichen anderen zwischenstaatlichen Organisationen geplant und verwirklicht werden. Der Europarat könnte sich zu einem Informationszentrum entwickeln, dessen parlamentarisches Organ darüber hinaus die Chance böte, technokratische Vorhaben auf ihre politischen Implikationen zu überprüfen. Im Sinne einer Koordinierungestelle könnte der Europarat auch auf dem Gebiet des kulturellen Austauschs zwischen ost-und westeuropäischen Staaten wirken und z. B. eine Kommission für gesamteuropäische kulturelle Angelegenheiten ins Leben rufen. Entscheidend ist, daß er sein Dienstleistungsangebot mit deutlichen Akzenten versieht und attraktiv gestaltet. Die im Stufenmodell angelegte schrittweise Ausweitung dieser Funktion auf die verschiedenen Kooperationsebenen kann als ein solcher Anreiz wirken. b) Planungsfunktion Die Dienstleistungsfunktion des Europarats zielt auf die Verwirklichung konkreter, sich aus den unmittelbaren sachlichen Notwendigkeiten zwischenstaatlicher Austauschprozesse ergebender Aufgaben. Seine Planungsfunktion dagegen bezieht sich auf eine andere Dimension gesamteuropäischer Aktivitäten. Es handelt sich um die allgemeine Aufgabe, Bereiche ausfindig zu machen, die in gesamteuropäischer Kooperation sinnvoller und effektiver bearbeitet werden können, als dies im nationalen oder auch regionalen Rahmen möglich ist. Das Gebiet der Entwigklungshilfe bietet sich an. Die Planung gemeinsamer Entwicklungshilfeprojekte, die Rationalisierung der eingesetzten Mittel, die Koordinierung von Maßnahmen, die gegenseitige Information sind nur einige von einer ganzen Fülle von Aufgaben, die zunächst einmal theoretisch durchdacht werden müssen und für die es allgemeine Kriterien und Maßstäbe unter Zuhilfenahme der bereits vorhandenen Erfahrungen zu diskutieren gilt.
Der Europarat sollte als „Anreger" für solche und ähnliche Projekte wirken, der anderen zwischenstaatlichen Organisationen, interessierten Regierungen und Wissenschaftlern eine Plattform zur Diskussion und konkreten Kooperation bietet. Seine planerisch-prospektive Aufgabe bezieht sich zum zweiten darauf, neue Formen der Kooperation zu ersinnen. Galtung hat in anderem Zusammenhang von der Notwendigkeit gesprochen, in das Netz gesamteuropäischer Institutionen eine Kommission für die Zukunft Europas einzufügen, die als Forum für eine öffentliche Diskussion solcher Fragen dienen sollte 46). Darauf zu warten, bis sich die Regierung Darauf zu warten, bis sich die Regierungen in Ost und West zu einem solchen Schritt verständigen können und entsprechende institutioneile Vorkehrungen getroffen haben, hieße jedoch, wertvolle Zeit zu vergeuden. Hier sollte der Europarat die Initiative ergreifen und Vorschläge machen. Diese Aufgabe kann bereits in der ersten Phase von einem kleinen Expertenkreis angepackt und dann je nach Bedarf weitergeführt und auf allen weiteren Ebenen der Organisation intensiviert werden. In einem Verbund von schrittweise aufeinanderfolgenden Maßnahmen — Expertengespräche, Konferenzen, Forschungsaufträge, parlamentarische Diskussion unter Beteiligung von Beobachtern etc. — wird dann das ganze Arsenal der Kooperationsmöglichkeiten der Organisation in den Dienst dieser Aufgabe gestellt. In dieser Funktion darf sich der Europarat nicht darauf beschränken, allgemeingehaltene Wünsche zu artikulieren, sondern muß konkrete Vorschläge und Handlungsanweisungen formulieren und sie in ihrer Kosten-Nutzen-Relation darstellen. c) Kommunikationsiunktion „Wenn die Politik intersystemarer Zusammenarbeit in Zukunft den Frieden in unserer Welt festigen soll, muß auf allen Seiten die Bereitschaft gefördert werden, das eigene Bild vom Nachbarn nur als Teil der Wirklichkeit zu begreifen und durch einen dauerhaften Informationsprozeß, begleitet von korrigierender Rückkoppelung, Verfälschungen und Verzerrungen, auf ein . politisch vertretbares Ausmaß zu reduzieren. Vor allem kommt es dabei darauf an, sich endlich von der . Herrschaft der Schlagworte'zu befreien." 47) Um diesem wohlbegründeten Postulat gerecht zu werden, muß die technische Kooperation von einem politischen Dialog begleitet sein.
Die Kommunikationsfunktion des Europarats hat mehrere Aspekte. Zum einen ist damit die Aufgabe gemeint, als ein Forum den allgemeinen politischen Dialog zwischen Ost und West in Europa zu fördern — zwischen Politikern, aber auch zwischen Intellektuellen, Publizisten, Wissenschaftlern, je nachdem, welche der verschiedenen Ebenen in der Organisation gewählt werden. Dieser institutionalisierte politische Dialog zielt nicht auf konkrete Entscheidungen, sondern es geht um die Gegenüberstellung und Diskussion kontroverser Positionen. Die Themenauswahl sollte allerdings, nicht zufällig sein, sondern gezielt die gemeinsamen Probleme der Bevölkerung in Europa ins Bewußtsein heben. Ferner sollten auch die in den verschiedenen politischen Systemen angewandten unterschiedlichen Problemlösungsstrategien zur Debatte gestellt werden, um die Chance zu erhöhen, in Einzelfragen voneinander zu lernen. Auch die unüberbrückbaren ideologischen Gegensätze sollten beim Namen genannt werden, und zwar nicht in der Absicht, sich gegenseitig zu missionieren, sondern um sich besser zu informieren. Die Skala der Themen ist breit und reicht von den Vor-und Nachteilen einzelner Bildungssysteme bis zur Konvergenztheorie, von der Freizügigkeit in Europa bis zu den verschiedenen Konzepten einer europäischen Friedensordnung.
Zum einen ermöglicht der Europarat Kommunikation, zum anderen, und dies ist ein zweiter Gesichtspunkt, soll er Vorschläge erarbeiten, wie die innereuropäische Kommunikation verbessert werden kann. Weiterhin handelt es sich darum, die bilateralen Abkommen und Maßnahmen zur innereuropäischen Kooperation zu registrieren und alle interessierten Staaten, Gruppen und Organisationen über ihre ver-schiedenen Formen, über ihre Schwierigkeiten und Resultate zu informieren mit dem Ziel, ein Informationszentrum für gesamteuropäische Kooperationsvorhaben zu schaffen. Schließlich bezieht sich seine Kommunika-tionsfunktion auf das Verhältnis Europas zur übrigen Welt. Der Europarat könnte z. B.den Ländern der Dritten Welt als eine Tribüne dienen, auf der sie ihre spezifischen Probleme für die europäische Öffentlichkeit artikulieren.
Schlußbemerkung
Ob der Europarat zu einer musealen Institution wird, zu einem Denkmal seiner selbst oder bestenfalls zu einer Erinnerungsstätte an unerfüllt gebliebene europäische Wunschträume, oder ob er im Gegenteil in einem begrenzten, aber konkreten Rahmen die westeuropäische Integration und die gesamteuropäische Kooperation fördern wird, hängt ganz wesentlich davon ab, inwieweit die einzelnen Funktionsbereiche mit Leben erfüllt werden. Die Entscheidung darüber liegt bei seinen Mitgliedstaaten. Die hier entwickelten Perspektiven weisen den Europarat als einen funktionalen Bestandteil des europäischen politischen Systems aus. Sie bauen auf der Prä-misse auf, daß er positiv und aktiv auf die Veränderungen seines politischen Umfeldes zu reagieren beabsichtigt und über eine zureichende Anpassungsfähigkeit verfügt, um seine Rolle den veränderten Bedingungen gemäß neu zu definieren. Wir sehen im Europarat keine Organisation auf der Suche nach neuen Aufgaben, sondern eine Organisation, die die Skala ihrer spezifischen Handlungsmöglichkeiten deutlicher akzentuieren und im Bewußtsein der Öffentlichkeit verankern muß. Die Zukunft des Europarats wird davon geprägt sein, ob er sich an den Notwendigkeiten der achtziger Jahre oder an den Erwartungen der Vergangenheit orientiert.
Jürgen Weber, Dr. phil., geb. 1944, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Romanistik in Mainz und Straßburg, Wissenschaftlicher Assistent an der Akademie für politische Bildung in Tutzing. Veröffentlichungen: Der Europarat und Osteuropa. Entwicklung, Probleme und Möglichkeiten der Osteuropapolitik der Straßburger Organisation, Bonn 1972; Sozialkunde. Telekolleg II (Mitautor), München 1973; Die demokratische Alternative zum Kommunismus, in: Politische Studien, 19. Jg. 1968, H. 178; Die Bemühungen der Beratenden Versammlung des Europarats um Effektivität, in: Europa-Archiv, 23. Jg. 1968, F. 19; Sinn und Problematik der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/68; Die sowjetische Nachkriegspolitik als Ursache der westlichen Neuorientierung, in: Politische Studien, 20. Jg. 1969, H. 185; Utopisches Denken als Faktor der politischen Wirklichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22/69; Das sowjetische Wiedervereinigungsangebot vom 10. März 1952, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/69 und B 40/70; Die Ostpolitik des Europarats im Wandel, in: Europa-Archiv, 26. Jg. 1971, F. 24; Politischer Idyllismus. Formen, Folgen und Ursachen eines politischen Einstellungsmusters, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/73; Opposition als Institution und Funktion, in: Neue Politische Literatur, 19. Jg. 1974, H. 1.
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