Europa — Ende einer Hoffnung? Von der Krise der Europäischen Gemeinschaft zur Krise der Staaten
Claus Schöndube
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Zusammenfassung
Die Krise der Europäischen Gemeinschaft, die mit Frankreichs Politik des leeren Stuhles 1965/66 begann, scheint heute ihren Höhepunkt erreicht zu haben. In einer veränderten weltpolitischen Situation (Verringerung der Ost-West-Spannung, weltweite Inflation, Erdöl-, Energie-und Rohstoffkrise), die eine solidarische Haltung der Gemeinschaftsländer dringend gebieten würde, zeigt sich der Rat der EG immer weniger in der Lage, eine gemeinsame Politik zu beschließen. Der Versuch, durch Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs den Entscheidungsmechanismus wieder in Gang zu bringen, muß nach drei Konferenzen ebenfalls als gescheitert angesehen werden. Zu der Krise der Europäischen Gemeinschaft gesellt sich heute, 25 Jahre nach der Gründung des Europarates, eine Krise der Mitgliedstaaten, die immer „unregierbarer" werden. Diese Entwicklung — die seit mehr als 150 Jahren vorausgesagt ist — ist aber nach Ansicht des Autors weniger eine Krise des demokratischen Prinzips oder der Gesellschaft, sondern eine Krise des europäischen Nationalstaates, der heute für die großen Aufgaben angesichts der zunehmenden transnationalen Interdependenz zu klein geworden ist. Im Blick auf diese Entwicklung untersucht der Autor die Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft und kommt zu dem Schluß, daß der Rat mit seiner Praxis der unbedingten Einstimmigkeit bei wichtigen Fragen nicht zu Entscheidungen kommen kann, da die ausschließlich nationale Betrachtung der gemeinsamen Probleme die europäische Konsensusbildung verfälscht und verhindert. Außerdem fehlen der Gemeinschaft wichtige Zuständigkeiten in nicht wirtschaftlichen Fragen, ohne die aber eine europäische Gesamtpolitik nicht betrieben werden kann. In dieser Situation plädiert der Autor für die sofortige Föderierung Europas durch Ausarbeitung einer bundesstaatlichen Verfassung durch das Europäische Parlament, denn der fehlende europäische Konsensus in der EG könne nur durch die Durchsetzung des demokratischen Prinzips und die effektive Beteiligung aller lebendigen politischen Kräfte herbeigeführt werden. Das Beharren auf dem Prinzip der nationalen Souveränität führe nur zu einer weiteren Aushöhlung der Demokratie und verstelle Europa den Weg, um an den großen Aufgaben in der Welt gleichberechtigt mitzuwirken.
Das Ultimatum der Labour-Regierung Mit der Rede des britischen Außenministers Callaghan am April 1974 1), in der er ultimativ eine Neuverhandlung der britischen Beitrittsbedingungen zur Europäischen Gemeinschaft forderte und unverhohlen mit einem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Gemeinschaft drohte, falls die übrigen Staaten die Wünsche seines Landes nicht respektieren würden, dürfte der Höhepunkt der gegenwärtigen Krise der europäischen Integration erreicht sein. Callaghan forderte von seinen acht Kollegen im Ministerrat aber nicht nur eine Änderung der Agrar-und anderer Politiken sowie eine Verringerung des britischen Finanzbeitrags, sondern er äußerte zugleich nachhaltige Zweifel an dem zumindest noch gemeinsam proklamierten Ziel des Aufbaues der Europäischen Union bis 1980. Er forderte die Beibehaltung der Entscheidungsbefugnisse über die wesentlichen politischen und ökonomischen Fragen durch die britische Regierung und das Unterhaus. Damit stellte er sich auch in Gegensatz zur französischen Regierung, hatte doch der jüngst verstorbene Staatspräsident Georges Pompidou zumindest für die Zukunft eine europäische Regierung mit wirklichen Entscheidungsbefugnissen mehrmals öffentlich proklamiert, wenn auch in der gegenwärtigen Diskussion seine Regierung immer wieder die Übertragung von Souveränitätsrechten strikt abgelehnt hatte. Damit scheint die Europäische Gemeinschaft festgefahren und die Krise zum eigentlichen System der Gemeinschaft geworden zu sein. Nichts geht mehr in Brüssel — das ist die lakonische, aber treffende Feststellung zur gegenwärtigen Situation.
Die Krise begann 1965 Die gegenwärtige Krise ist jedoch nicht neu; sie begann bereits 1965/66, als die französische Regierung die Politik des leeren Stuhls praktizierte und erst dann ihren Platz im Ministerrat wieder einnahm, als die übrigen fünf Partner die Wünsche der französischen Regierung akzeptiert hatten
Dadurch wurde der vorgesehene weitere supranationale Aufbau der Europäischen Gemeinschaft blockiert, der vertraglich vereinbarte Übergang zu Mehrheitsentscheidungen ausgesetzt und die von der Kommission vorgeschlagene Eigenfinanzierung der Gemein-schäft mit der Einräumung echter Haushalts-befugnisse für das Europäische Parlament zunächst verschoben.
Diese institutionelle Schwächung des Gemeinschaftssystems geschah zu einer Zeit, als das Weltwährungssystem noch voll funktionierte und der Dollar noch die unbestrittene Leitwährung der westlichen Welt war. Von einer möglichen Energie-und Rohstoffkrise wurde zwar gesprochen, aber kaum ein Politiker nahm die (durchaus zahlreichen) Warnungen, die vor allem von Sachverständigen der Europäischen Gemeinschaften kamen, wirklich ernst Auch fand diese Aushöhlung des institutionellen Systems zu einem Zeitpunkt statt, in dem die Übergangszeit der EWG als der wichtigsten der drei Gemeinschaften noch nicht abgeschlossen war. Der Zollabbau und der gemeinsame Außenzoll waren erst zu zwei Drittel durchgeführt und die gemeinsame Agrarpolitik noch im Aufbau. Die von der stufenweise Errichtung der Zollunion ausgehende stimulierende Wirkung auf die Produktion und den Handelsaustausch hatte zu diesem Zeitpunkt erst richtig eingesetzt. Der innergemeinschaftliche Handel hatte sich von 1960 bis 1965 verdoppelt; er sollte sich in den darauffolgenden fünf Jahren noch einmal verdoppeln. Erst am 1. Juli 1968 war dieser Aufbau vollendet und erst nach diesem Zeitpunkt verlor die Europäische Gemeinschaft sichtbar an Dynamik, da nun die weiteren Arbeiten sich nicht mehr zwingend aus dem Vertrag herleiteten, sondern die Politik jeweils neu durch den Ministerrat einstimmig zu beschließen war, was immer weniger gelang. Von diesem Zeitpunkt an etwa änderte sich auch das Gesicht der Weltpolitik.
Weltpolitische Veränderungen Blickt man heute, 25 Jahre nach Gründung des Europarates, 23 Jahre nach Gründung der Montanunion, als der ersten der drei Gemeinschaften, und 17 Jahre nach Gründung der EWG und EAG (Euratom), die seit dem 1. Juli 1967 durch gemeinsame Organe verwaltet werden, auf die weltpolitische Szene, so sind erhebliche Unterschiede festzustellen gegenüber den Zeiten des Höhepunktes des Kalten Krieges, in denen diese Institutionen entstanden.
Im politischen Bereich ist es den USA und der UdSSR gelungen, ihr Verhältnis weitgehend zu entspannen. Die USA haben gleichzeitig auch ein neues Verhältnis zur Volksrepublik China gefunden und sie konnten sich aus der militärischen Verstrickung des Vietnam-Krieges lösen. Auf drei Konferenzen wird in verschiedener Besetzung zwischen westlichen und östlichen Staaten über Ausgleich, Zusammenarbeit und Rüstungsbegrenzung verhandelt: KSZE, MBFR und SALT. Die UdSSR hat die Europäische Gemeinschaft als Realität anerkannt. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihr Verhältnis zum Osten durch die Verträge von Moskau und Warschau nachhaltig entspannt. Das Berlin-Abkommen der vier Alliierten brachte zudem auch eine Entspannung im deutsch-deutschen Verhältnis; der Grundvertrag regelt das Nebeneinander der zwei deutschen Staaten. Am 5. Mai 1974, dem Europatag, werden die beiden deutschen Staaten ihre Vertretungen im jeweils anderen Land errichtet haben.
Diese hier nur angedeutete veränderte politische Weltlage verringerte die Wirkung der Ost-West-Span Mai 1974, dem Europatag, werden die beiden deutschen Staaten ihre Vertretungen im jeweils anderen Land errichtet haben.
Diese hier nur angedeutete veränderte politische Weltlage verringerte die Wirkung der Ost-West-Spannungen als Integrationsfaktor.
Die französische Regierung hatte nach der Beilegung der EWG-Krise im Januar 1966 die NATO-Krise ausgelöst und die militärische Integration der NATO verlassen. Ihre eigenständige Sicherheitspolitik dokumentierte sie unter anderem durch die Nichtteilnahme am Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und an den MBFR-Verhandlungen in Wien. Zugleich verstärkte sie die wenig amerikafreundliche Komponente ihrer Politik.
Durch diese allgemeine Entwicklung wurden erstmals auch andere, nun gesamteuropäische Kooperationsvorstellungen denkbar, zumal bei solchen Autoren, die die Europäischen Gemeinschaften vor allem als Kinder des Kalten Krieges 4) oder als den Kapitalismus stabilisierende Einrichtung 5) ansahen.
Weltwirtschaftliche Veränderungen Während also die Weltpolitik in Richtung auf Entspannung verlief, ist in der Weltwirtschaft eine umgekehrte Tendenz sichtbar geworden. Hier sind die drei Haupterscheinungen das faktische Ende des Währungssystems von Bretton-Woods durch die Aufhebung der Goldkonvertibilität des US-Dollars am 15. August 1971, die anhaltende Inflation besonders in den westlichen Industriestaaten und schließlich die Erdölkrise, die eine Weltenergiekrise auslöste, hinter der sich aber eine allgemeine Rohstoff-krise ankündigt. Alle drei Krisen haben die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft als'der Welt größter Außenhändler und zugleich der Welt größtes Energieimportgebiet in Mitleidenschaft gezogen. Die bis dahin nicht selten gehegte Hoffnung, die Gemeinschaft vollende und vervollkommne sich gewissermaßen von Krise zu Krise [einige Jahre vorher sprach man von der Automatik der ökonomischen Integration 6) ], ging nicht in Erfüllung.
Der Versuch eines Auswegs:
die Gipfelkonferenzen Genau das Gegenteil trat ein. Als nach Vollendung der Zollunion immer deutlicher wurde, daß der weitere Au ], ging nicht in Erfüllung.
Der Versuch eines Auswegs:
die Gipfelkonferenzen Genau das Gegenteil trat ein. Als nach Vollendung der Zollunion immer deutlicher wurde, daß der weitere Aufbau ins Stocken geriet und sogar die Kommission öffentlich feststellte . ., daß der Rat manchmal den Eindruck erwecke, eine internationale Konferenz zu sein, in der nationale Delegationen untereinander verhandeln, während er in Wirklichkeit doch ein Regierungsorgan einer Gemeinschaft von 180 Millionen Einwohner ist, die wie jedes unserer Mitgliedsländer wirksam geführt werden muß" mehrten sich die Stimmen, die neue Impulse zur „Vollendung, Erweiterung und Vertiefung der EG" forderten.
Augenscheinlich war der Rat das Nadelöhr geworden, in dem jede weitere Entwicklung blockiert wurde. So entstand die Idee der Gipfelkonferenzen der Staats-und Regierungschefs, die als eine Art Prärogative jeweils die Ziele zu stecken hatten, die dann die Minister im Rat in konkrete politische Aktion umsetzen sollten. Drei Gipfelkonferenzen wurden bisher abgehalten: im Haag vom 1. bis 2. Dezember 1969, in Paris vom 19. bis 20. Oktober 1972 und in Kopenhagen vom 14. bis 15. Dezember 1973. Die erfolgreichste Gipfelkonferenz war die erste, denn hier gelang zumindest der Durchbruch zur Erweiterung der EG, die am 1. Januar 1973 vollzogen wurde. Das Ergebnis des norwegischen Volksentscheides, der den Beitritt ablehnte, zeigte jedoch plötzlich, daß das Ansehen der Gemeinschaft inzwischen erheblich gelitten hatte. Vor allem das demokratische Defizit und die fehlende Gesellschaftspolitik lösten nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Gemeinschaft zunehmend Kritik aus.
Im Haag konnte man sich auch über die Einführung der Eigenmittel verständigen, so daß durch Vertrag der sechs Mitgliedstaaten vom 22. April 1970 die EG stufenweise eigene Einnahmen erhalten soll. Allerdings verschob man die Frage des Haushaltsrechts des Europäischen Parlaments auf einen späteren Zeitpunkt.
Schließlich einigte man sich grundsätzlich — nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Inflation und der Währungskrise — auf die Einführung der Wirtschafts-und Währungsunion, mit der versucht werden sollte, bis zum Ende der siebziger Jahre die Wirtschafts-und Währungspolitik vollständig zu vergemeinschaften und somit für die EG eine stabilitätsorientierte Wachstumspolitik betreiben zu können.
Auch die Verstärkung der politischen Zusammenarbeit beschloß man im Haag. Hier kam es im Verlauf der Gespräche der Außenminister zu der Vereinbarung über das Konsultationssystem der politischen Direktoren der Außenministerien (Davignon-Verfahren), die in der Zwischenzeit die umstrittene Israel-Erklärung vom 6. November 1973 8) und das Papier zur europäischen Identität vom 14. Dezember 1973 9) vereinbart haben.
Allerdings muß festgestellt werden, daß der französische Wunsch, diese politische Zusammenarbeit außerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu organisieren, voll verwirklicht wurde. So kam es am 23. Juli 1973 zu dem sonderbaren Vorgang, daß die Außenminister sich vormittags zu politischen Gesprächen in Kopenhagen im Rahmen des Davignon-Verfahrens trafen, zu Mittag das Flugzeug bestiegen und am gleichen Nachmittag in Brüssel als Rat der Gemeinschaft ökonomische Fragen weiterverhandelten. über die Frage der Verstärkung des Entscheidungsmechanismus in der Europäischen Gemeinschaft und über die Kompetenzen des Europäischen Parlaments konnte der Haager Gipfel jedoch keine weiteren Beschlüsse fassen.
Die Pariser Gipfelkonferenz, die schon mit den drei neuen Partnern stattfand, beschloß ein noch weitergehendes Programm, das die Staats-und Regierungschefs selbst als das Integrationspapier der siebziger Jahre bezeichneten. Erneut beschlossen sie die Einführung der Wirtschafts-und Währungsunion bis 1980, über deren erste Stufe man sich auf der Grund-läge des Werner-Berichtes einigte. Ihr Aufbau geriet jedoch durch die unterschiedlichen Reaktionen der Mitgliedsländer auf die Währungsereignisse ins Stocken.
Darüber hinaus beschloß der Pariser Gipfel die Einführung einer europäischen Regionalpolitik und eines Regionalfonds, einer gemeinsamen Sozialpolitik, einer Industrie-, Wissenschaftsund Tecinologiepolitik, einer Umweltpolitik, einer Energiepolitik und einen umfangreichen Katalog der Verbesserung der Außenbeziehungen. Schließlich einigten sich die Staats-und Regierungschefs darüber, daß man zu einer noch stärkeren politischen Zusammenarbeit kommen wolle, daß die Institutionen verstärkt werden und daß unter absoluter Einhaltung der bereits geschlossenen Verträge die Gesamtheit der Beziehungen der Mitgliedstaaten in eine Europäische Union umgewandelt werden sollen
Unter dem-Eindruck dieses umfangreichen Katalogs war die Kommission während des ganzen Jahres 1973 damit beschäftigt, umfangreiche Berichte und Vorschläge zu den einzelnen Politiken zu verfassen, zumal die Gipfelkonferenz einen festen Terminplan verabschiedet hatte, der wichtige Berichte für das Jahr 1973 forderte.
Die wesentlichsten Daten dieses „Fahrplans für die siebziger Jahre" sind
1. 4. 1973:
Gründung eines gemeinsamen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit.
1. 5. 1973:
Bericht der Kommission über die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der Organe der Gemeinschaft. Die Frage der echten Kompetenzen für das Europäische Parlament soll geprüft werden. 30. 6. 1973:
Bericht der Außenminister über die Verbesserung der politischen Zusammenarbeit der EG-Länder. 31. 7. 1973:
Bericht der Kommission zum gemeinsamen Umweltschutz. 30. 9. 1973:
Bericht der Kommission über kurzfristigen monetären Beistand. 31. 12. 1973:
Bericht über die Bedingungen einer stufenweisen Vergemeinschaftung der Währungsreserven, Errichtung eines Fonds zur europäischen Regionalentwicklung. 1. 1. 1974:
Eintritt in die zweite Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion, Vorlage eines Aktionsprogramms zur gemeinsamen Sozialpolitik. Vorlage eines Aktionsprogramms für den wissenschaftlich-technischen Bereich und für eine gemeinsame Industriepolitik.
Letzte Frist für Entscheidungen auf dem Gebiet der Verbesserung der Entscheidungsstruktur der Institutionen der Gemeinschaft. 1975:
Bis Jahresende Vorlage eines Berichts zur Umwandlung der Europäischen Gemeinschaften in eine Europäische Union. etwa 1976:
Gipfelkonferenz der europäischen Staats-und Regierungschefs zur Festlegung der Bedingungen zur Gründung der Europäischen Union. 31. 12. 1980:
Vollendung der Wirtschafts-und Währungsunion. Gründung der Europäischen Union.
Nach der Pariser Gipfelkonferenz gelang aber nur noch die Gründung eines gemeinsamen — bescheidenen — Fonds zur währungspolitischen Zusammenarbeit. Alle anderen Fragen scheiterten, nachdem die Kommission ihre Vor-schlüge unterbreitet hatte, an der Uneinigkeit des Rates.
Schließlich die Gipfelkonferenz von Kopenhagen. Sie fand auf dem Höhepunkt der Ölkrise am 14. und 15. Dezember 1973 statt und schien eher eine Konferenz der arabischen Außenminister, die nach Kopenhagen angereist wa-ren, als eine Konferenz der Europäischen Gemeinschaft. Die Staats-und Regierungschefs beschlossen im Grunde nichts Neues, sondern bekräftigten lediglich ihre Absicht, die bereits früher beschlossenen Maßnahmen zu verstärken bzw. zu beschleunigen. Wie wenig die Gipfelkonferenzen wirklich in der Lage waren und sind, die Krise des Entscheidungssystems der Gemeinschaft zu überwinden, zeigte sich in ihrem neuerlichen Beschluß, „daß der Regionalfonds am 1. Januar 1974 errichtet werden sollte" Aber schon zwei Tage später, bei der Sitzung des Ministerrates in Brüssel am 17. und 18. Dezember 1973, konnte keine Einigung über den Fonds erzielt werden, der bis heute noch nicht errichtet ist.
In Brüssel blüht der „nationale Schacher"
Nach drei Gipfelkonferenzen muß man feststellen, daß es ihnen nicht gelungen ist, den zunehmenden Immobilismus und die damit einhergehende Renationalisierung der Politik der Mitgliedstaaten aufzuhalten oder gar um-zukehren.
Die Inflation konnte nicht gemeinsam bekämpft werden. Nur noch fünf Staaten floaten gemeinsam nach außen, und ob dieser Fünfer-block noch lange hält, ist fraglich. Die Ölkrise hat die Gemeinschaftsländer eher auseinander-gebracht als geeint, sie hat zusätzlich das Verhältnis zu den USA erneut belastet. Die seit über einem Jahrzehnt beschlossene gemeinsame Energiepolitik blieb Theorie, obwohl sie mehrfach vom Rat und den Gipfelkonferenzen Beziehungen der bestätigt wurde. Die Länder der Gemeinschaft gegenüber den USA wurden immer widersprüchlicher. Die feierlich vereinbarte gemeinsame Handelspolitik wird von allen Mitgliedstaaten durch sogenannte Kooperationsabkommen, die teilweise auch mit der Gewährung von Krediten einhergehen, unterlaufen. „Die Einsicht wächst", so stellte kürzlich Staatssekretär Apel vom Auswärtigen Amt fest, „daß die gegenseitige Verflechtung unserer Volkswirtschaften den Funken der Krise schneller überspringen lassen wird, aber sie führt augenscheinlich noch nicht zu schnellem und solidarischem Handeln der Neun. Klein-mut wächst, kurzsichtiger nationaler Schacher blüht."
Aber es ist schlimmer: In Brüssel blüht eigentlich gar nichts mehr. Hier verdorrt eine Idee, die bis vor kurzem und vielleicht auch noch heute eine der großen Hoffnungen der Völker auf Frieden, Freiheit und soziale und zwischenstaatliche Gerechtigkeit ist.
Das italienische Mitglied der Kommission, Altiero Spinelli, wurde noch deutlicher anläßlich der Verleihung des Schuman-Preises am 12. März 1974 in Bonn „Was soll man von der Unfähigkeit halten, eine Mittelmeerpolitik zu erarbeiten? Was von der Unfähigkeit, die Agrarpolitik zu überprüfen, um sie sowohl weniger kostspielig wie sozial gerechter zu gestalten? Was sagen zu der Unfähigkeit, die doch mehrfach feierlich anerkannte Verpflichtung zu erfüllen, eine europäische Politik der regionalen Solidarität zu schaffen? Was sagen zu der Weigerung, dem Europäischen Parlament echte Befugnisse zur Kontrolle des Haushalts der Gemeinschaft zu übertragen? Was zu der sogenannten . politischen Zusammenarbeit', die ihre Zusammenkünfte von Ministern und politischen Direktoren von einer Hauptstadt zur anderen schleppt und deren Haupttätigkeit darin zu bestehen scheint, zu vermeiden, die brennenden Probleme konkret anzugehen, dafür aber immer häufigere Zusammenkünfte vorzuschlagen?
Was sollen wir schließlich von den Konferenzen der Staats-und Regierungschefs halten, die feierlich Gipfelkonferenzen genannt werden — vielleicht um über jede von ihnen das Motto schreiben zu können über allen Gipfeln .. ., spürest du kaum einen Hauch'— Konferenzen, deren zunehmende Häufigkeit anscheinend mit abnehmender Konsistenz einhergeht.
Man hat von der Gefahr einer Renationalisierung gesprochen. Sagen wir ruhig die Wahrheit: Die Renationalisierung ist in den Worten und im Handeln aller unserer Regierungen bereits im Gange. Ich sage aller, wenn auch die Verantwortungen verschieden verteilt sind.
Betrachtet man dieses deprimierende Schauspiel, könnte man versucht sein zu sagen, daß unsere Regierungen und hinter ihnen die politischen und wirtschaftlichen Kräfte unserer Gesellschaften im Grunde bereits beschlossen haben, den Aufbau Europas abzubrechen und zur alten Praxis der völlig souveränen nationalen Politik zurückzukehren. Aber so einfach liegen die Dinge auch wieder nicht. Die gleichen Politiker nämlich, die praktisch dabei sind, diese Renationalisierung zu bewirken, sind gleichzeitig tief beunruhigt und besorgt über die unvermeidlichen Folgen dieser Entwicklung. "
Die Krise der Gemeinschaft und die Lage der Mitgliedstaaten Das Bild, das die Gemeinschaft heute bietet, gibt in der Tat Anlaß zu tiefer Sorge. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Beunruhigung der Führungskräfte der europäischen Demokratien sich vorrangig auf den Zustand der Gemeinschaft bezieht oder ob es sich dabei primär um eine Beunruhigung über den Zustand und die Regierungsfähigkeit der Staaten selbst handelt. Es mehren sich nämlich die Zeichen, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft immer unregierbarer werden.
Alle Länder der Europäischen Gemeinschaft zeigen Anzeichen einer tiefen Krise. Die Bundesrepublik Deutschland erscheint zwar noch stabil, aber die letzten Wahlausgänge bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg, bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein, Nord-hessen und Rheinland-Pfalz ergaben nachhaltige Verluste für die Führungspartei der Bonner Koalition, die in dieser Höhe aus den örtlichen Gegebenheiten nicht gerechtfertigt sind. Die Analyse dürfte richtig sein, daß der Wahl-ausgang von der „politischen Großwetterlage" beeinflußt wurde. Diese Wahlen dürfen ebenso als Protest gelten wie die letzten Wahlen in allen übrigen Gemeinschaftsländern. Bei den Wahlen in Dänemark und Großbritannien zeigt sich dieser Trend noch deutlicher. In Dänemark wurde eine illusionistische Partei bei den Wahlen am 4. Dezember 1973 auf Anhieb zweitstärkste Partei. In Großbritannien muß heute eine Labour-Minderheitsregierung führen, die gerade eben etwas mehr als ein Drittel (37, 2 °/o) der Stimmen erhielt. Frankreich zeigt nach dem Tode von Staatspräsident Pompidou die tiefe Zerrissenheit der bisher führenden gaullistischen Partei, und die tiefe Beunruhigung des Volkes vor allem über die inflationäre Entwicklung.
Die Opposition sucht die Fehler zwar hauptsächlich in der persönlichen Führungsschwäche der Verantwortlichen und diese wiederum fragen sich, ob sie möglicherweise ihre Politik schlecht „verkaufen"; dies ist jedoch eine höchst oberflächliche Betrachtungsweise.
Lotet man tiefer, so erkennt man, daß sich heute alle Staaten der Europäischen Gemeinschaft in einer existentiellen Krise befinden. Großbritannien steckt in der stärksten Wirtschaftskrise seiner Geschichte; in Belgien und Italien scheint die Krise schon zum politischen Alltag zu gehören, überall zeigt sich Protest: Die Jungen in den politischen Parteien beginnen ihrem Parteiestablishment die Gefolgschaft zu verweigern und die Wähler folgen — wenn auch in anderer Weise — diesem Trend. Muß man daraus den Schluß ziehen, daß plötzlich in allen westeuropäischen Staaten die politische Führungsklasse vom Bazillus der Führungsschwäche befallen ist?
Krise der Demokratie?
Auf der Suche nach den Ursachen für diese krisenhaften Erscheinungen scheint es wieder einmal, als ob man den falschen Schuldigen an den Pranger stelle: die Demokratie. Was Bundeskanzler Willy Brandt in der Verfassungsdebatte des Bundestages am 15. Februar 1974 „die Krise der westlichen Demokratien" nannte, erläuterte Richard von Weizsäcker in der gleichen Debatte einen Tag vorher so: „Der Staat besitzt heute nicht die Kraft, gemäß dieser Verantwortung zu handeln. Macht und Verantwortung sind auseinandergefallen. Niemand entläßt den Staat aus der Verantwortung für das Gemeinwohl, aber die Macht geht mehr und mehr auf die Gruppen über. Bei Stabilität und Wachstum war das weniger spürbar. Die meisten Bürger waren irgendwo . dabei', wenn der Kuchen verteilt wurde. Bei Nullwachstum und Teuerung geraten wir aber in verschärfte Verteilungskämpfe, die sich selbst überlassen sind und daher zu entarten drohen. Es sind nicht, wie die Marxisten meinen, die Kämpfe zwischen Kapitalisten und der Arbeiterklasse, sondern es sind die Kämpfe unter den Beschäftigungszweigen und Gruppen. Sie nehmen sich gegenseitig die Anteile weg, weil ja Zusätzliches zur Verteilung gar nicht bereitsteht ... Es ist, wie die Zeitung , Le Monde'es für die Lage in Westeuropa beschrieb, jeder für sich und Gott für den Stärksten . . . Wer aber einerseits die öffentlichen Mittel vergrößern will und andererseits die Politik der Selbstregelung gesellschaft-liehen Gruppen überläßt, wird nur allzuoft erleben, wie die Gruppen unter der Fahne von Reformen eigene Interessen zu Lasten des Ganzen durchsetzen. Es gibt keine Reformen ohne einen starken Staat. Es gibt auch keine Demokratisierung ohne einen starken Staat."
Bei erster Betrachtung erscheint diese Analyse schlüssig, doch bei näherer Betrachtung melden sich Zweifel an. Ist es wirklich die Verantwortungslosigkeit der gesellschaftlichen Gruppen gegenüber dem Staat, die an krisenhaften Erscheinungen Schuld ist? Oder ist es nicht der Staat selbst, der nicht mehr in der Lage ist, für die Gesellschaft im öffentlichen Bereich die Bedingungen des Fortschritts zu gewährleisten?
Die Krise des Staates Betrachtet man die großen Aufgaben unserer Zeit, so muß man feststellen, daß der Staat in der Tat sich immer unfähiger zeigt, seine Aufgaben zu lösen. Welche großen Probleme man auch heranzieht — kein Staat Westeuropas kann sie, angesichts der Interdependenz unseres Wirtschaftssystems, mehr lösen. Betrachten wir: — Inflation und Währungsinstabilität, die zu einem Weltphänomen der westlichen Industrienationen geworden sind. — Umweltschutz kann kein europäischer Staat allein lösen, da Wasser und Luft keine Grenzen kennen. Solange keine gemeinsamen Gesetze die Staaten binden, bleibt die billigste Produktion auf Kosten der Umwelt die Devise. — Eine ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung war das Ziel des EWG-Vertrages.
Aber angesichts des ruinösen Wettbewerbs um den größten Anteil am Sozialprodukt hat man 10 Millionen Arbeiter entwurzelt und arme und reiche Regionen allein nach ökonomischen Gesichtspunkten entstehenlassen. — Die Energiekrise zeigte die Hilflosigkeit unserer Staaten vor dem Boykott der ölproduzierenden Länder. Im Wettkampf um die billigste Produktion begaben wir uns in totale Abhängigkeit von Energieeinfuhren aus dritten Ländern und ließen Euratom, das vor allem zur Entwicklung der Atom-Energie gegründet worden war, in einer Krise versinken. — Mangels einer gemeinsamen Wirtschaftsund Strukturpolitik begaben wir uns weiterhin in starke Abhängigkeit von multinationalen Konzernen, die heute kein einziger der europäischen Staaten mehr kontrollieren kann. — Seit Jahren liquidieren wir in der Europäischen Gemeinschaft die für diesen Wettbewerb zu kostenintensiv arbeitenden eigenen Rohstoffvorkommen und werden immer abhängiger von Rohstoffeinfuhren.
Diese Liste könnte beliebig fortgesetzt werden, denn es gibt heute kaum noch ein Gebiet, wo unsere Staaten souverän entscheiden können. Im Kampf um Wachstum und Erhöhung der Produktion vernachlässigten die europäischen Staaten oft eine vorausschauende Politik, die auf die wirklichen Welttendenzen Rücksicht genommen hätte.
Die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten zeigten also einen bemerkenswerten Mangel an weltpolitischem Weitblick.
Den Versuch der Lösung der Krise im Nahen Osten überließen sie allein den Amerikanern und den Russen. Die Entwicklungshilfe wurde unter dem Gesichtspunkt der eigenen Versorgung mit Rohstoffen und der eigenen Exporte in die Länder der Dritten Welt und nicht als wirkliche Hilfe für diese Länder betrieben. In der Frage der europäischen Sicherheit sind die Länder der Gemeinschaft nachhaltig gespalten; das Verhältnis zu den USA ist widersprüchlich und zu den osteuropäischen Staaten mehr als verwirrend.
So ist die Lage der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten recht einfach zu charakterisieren: Der gemeinschaftlichen Effizienz fehlt die Macht, der nationalen Macht fehlt die Effizienz. Angesichts der Unfähigkeit der nationalen Staaten nimmt es nicht Wunder, wenn die Völker beginnen, den Führenden die Gefolgschaft zu verweigern, „Protest" wählen und die gesellschaftlichen Gruppen zur Selbsthilfe übergehen. Das Publikum reagiert im Grunde genommen folgerichtig, denn der Nationalstaat ist zunehmend weniger in der Lage, die Bedürfnisse seiner Bürger zu befriedigen. Im Augenblick erleben wir, daß der Bürger sich immer weniger mit seinem Staat identifiziert, dessen parlamentarisches System immer weniger greift. Aus dieser Situation kann aber sehr rasch eine Umkehrung erfolgen, in der erneut extreme Tendenzen — von rechts oder links — die Lösung aller Probleme durch den autarken Nationalstaat versprechen.
Das dies so ist, liegt nicht am Wesen der Demokratie, sondern am Staat selbst: er ist zu klein geworden.
Das Ende des europäischen Staatensystems Was sich heute vor unseren Augen abspielt, ist seit 150 Jahren immer wieder vorausgesagt worden: Seit Alexis de Tocqueville's Warnung aus dem Jahre 1835, daß wir einer Zeit entgegengehen, in der nach einem „geheimen Plan der Vorsehung" die Anglo-Amerikaner und die Russen berufen zu sein scheinen, dereinst die Geschichte der halben Welt zu lenken ist immer wieder von Autoren aller Schattierungen und aller Nationen darauf hingewiesen worden, daß Europa sich diesen Gegebenheiten anzupassen habe und nur gemeinsam in der Lage sein werde, sich zu behaupten. Aus der Fülle der Voraussagen seien nur drei zitiert: Constantin Frantz aus dem Jahre 1870, Arnold Toynbees Gedanken aus dem Jahre 1926 und Ortega y Gassets Warnung aus dem Jahre 1928.
Unter dem Titel „Die drei Hauptfaktoren der Weltpolitik" schrieb Constantin Frantz in seiner „Naturlehre des Staates"
„Auf der einen Seite Rußland, auf der anderen die neue Welt, einstweilen durch Nordamerika vertreten, in der Mitte aber das abendländische Europa: das sind jetzt die drei Hauptfaktoren der Weltpolitik. Im vollen Gegensatz zu einander, und eben deswegen sich gegenseitig anziehend, stehen Rußland und Nordamerika. Beide aber sind darin gleich, daß ihre territoriale Basis nicht sowohl ein Land als einen Erdtheil darstellt. Hier wie dort mit Riesen-strömen ausgestattet; hier wie dort eine auffallende Monotonie der physischen Gestaltung, die sich auch in dem Menschenleben abspiegelt, in welchem Massenwirken vorherrscht. Beide Reiche besitzen die Möglichkeit, sich immer weiter auszudehnen, wozu sie auch den entschiedensten Trieb zeigen; beide gewähren ihrer anwachsenden Bevölkerung einen fast grenzenlosen Spielraum. Welche wichtigen Folgen müssen daraus entspringen! Denn wie ganz anders ist die Lage des westlichen Euro pas's mit seiner dichten Bevölkerung, deren Zuwachs keine Existenzbasis findet außer durch gesteigerte Intensivität der Wirthschaften, durch Handel und Industrie. Von Ausdehnung keine Rede, so oft auch einzelne Staaten sich auf Unkosten ihrer Nachbarn vergrößern mögen. Das Ganze wird dabei um keinen Zoll länger oder breiter, und durch solche Vergrößerungspolitik seiner Glieder, mit den unvermeidlichen Kriegen im Gefolge, nur verwüstet. Kann es sich nicht ausdehnen, so muß es um so mehr sein Gebiet vertheidigen, das Entrissene zurückfordern. Und wenn zu seinen Seiten zwei Riesenmächte heranwachsen, so muß es um so mehr zusammenhalten, denn nur als vereinigtes Ganzes vermag es sich in Zukunft zu behaupten."
Die Europäer hörten nicht auf diese Stimme und die vorhergesagten Kriege traten ein.
Etwa ein halbes Jahrhundert später war es Arnold Toynbee, der in seiner Vorlesung 1926 unter dem Titel „Europa ist klein geworden" aus seiner Sicht diese Entwicklung schilderte: „Mit Sicherheit können wir heute schon feststellen, daß die europäischen Nationalstaaten in dem Umfang, den Frankreich und England im achtzehnten, Deutschland und Italien im neunzehnten Jahrhundert angenommen hatten, viel zu kleine und zerbrechliche Gefäße für diese Kräfte sind. Der neue Wein des Industrialismus und der Demokratie wurde in alte Schläuche gegossen und zersprengte sie, so daß sie nicht mehr zu gebrauchen sind."
Und schließlich sei Ortega y Gasset zitiert, der 1928 in seinem Buch „Aufstand der Massen" warnend seine Stimme erhob:
f „Die Abneigung gegen das Parlament hat nichts mit seinen offenkundigen Mängeln, ja überhaupt nichts mit ihm selbst als einem politischen Instrument zu tun. Sie rührt davon her, daß der Europäer nicht weiß, wozu er es gebrauchen soll, daß die Ziele des traditionellen öffentlichen Lebens ihm nicht zusagen, kurz, daß er sich keine Illusionen über den Staat macht, dessen Bürger, dessen Gefangener er ist. Weder in England, noch in Deutschland, noch in Frankreich. Es wäre nutzlos, seine Verfassung im einzelnen zu ändern, denn es ist nicht die Verfassung, die versagt, sondern der Staat selbst; er ist zu klein geworden." Diese Mahnungen aber blieben ungehört. Anstelle der Erweiterung des demokratischen Systems auf supranationaler Ebene, wie sie seit Jahrhunderten von fast allen Theoretikern der demokratischen und vielen der sozialistischen Revolution gefordert worden war, kehrte man zurück zur Parole des starken Nationalstaates, der dann in zwei Weltkriegen seine fast vollständige Katastrophe erlebte.
Alle Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg, wenigstens für einen Teil Europas das demokratische Prinzip in die zwischenstaatliche Politik einzuführen, blieben Versuche. Die große Hoffnung, daß der vor 25 Jahren gegründete Europarat ein Anfang dafür wäre, wurde nachhaltig enttäuscht. Was von der Beratenden Versammlung des Europarates übrigblieb, ist so wenig, daß kaum noch eine Zeitung von seinen Arbeiten Notiz nimmt. Die nationalen Volksvertretungen haben es mit einem Staat zu tun, der allein kaum noch handlungsfähig ist. „In der Praxis begnügen sich die Volksvertretungen heute, zu vollendeten Tatsachen Ja und Amen zu sagen und Entschlüsse zur Kenntnis zu nehmen, die von nicht-verantwortlichen internationalen Gremien gefaßt worden sind. Ein derartiger Zustand ist eine glatte Negierung aller Grundlagen demokratischen Lebens; aber die sich hier abzeichnende Fehlentwicklung kann nicht dadurch gesteuert werden, daß die Nationalparlamente ihre verlorenen Vorrechte zurückerhalten. Eine derartige Rückbildung könnte nur zur Anarchie oder zumindest zu einem unbeschreiblichen Durcheinander führen. Die echte Lösung kann nur darin bestehen, die Entscheidungsgewalt und die Kontrollfunktion dorthin zu übertragen, wo die großen Entschlüsse tatsächlich gefaßt werden."
Dies schrieb der langjährige Rektor des Europa-Kollegs in Brügge bereits 1952. Heute hat sich dieser Prozeß erheblich verstärkt.
Die Politik der europäischen Staaten entsteht längst nicht mehr im Dialog zwischen Parlament und Regierung. Sie wird in Gipfel-und Ministerkonferenzen formuliert. Ihnen fehlt aber der Konsensus der Völker und die Effizienz. Den transnationalen Parlamenten, wie dem Europäischen Parlament, der Versammlung der Westeuropäischen Union und der Beratenden Versammlung des Europarates ver-weigern die nationalen Regierungen bisher auch nur die geringsten Rechte zur Mitgestaltung des gemeinsamen Schicksals.
Die falsche Konstruktion So stellt sich heute erneut die Frage, der die Staaten bisher immer ausgewichen sind: Es ist die Frage nach dem handlungsfähigen und demokratischen Europa.
Die Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft ist so, daß die gemeinsame Politik aus dem einstimmigen Konsensus der Mitgliedsregierungen entstehen soll. Diese Konstruktion kann nicht funktionieren, denn sie geht davon aus, daß die neun Minister immer die Interessen ihrer Bürger vollständig vertreten können. Diese Annahme ist falsch. Ein Landwirt der Gegend von Freiburg hat vielmehr gemeinsame Interessen mit einem Landwirt aus der Gegend von Colmar als mit seinem Landsmann, der in Aachen Industriearbeiter ist. Was der Minister in Brüssel vertritt, ist das Interesse seiner Regierung, in der sich absolut nicht die Interessen der jeweiligen Völker völlig widerspiegeln. Die nur nationale Behandlung der europäischen Probleme verfälscht sie, worauf kürzlich Altiero Spinelli in der bereits zitierten Rede hingewiesen hat „Der Rat ist eine Versammlung von neun Ministern, die hinter verschlossenen Türen über die Politik der Gemeinschaft, über ihre Gesetze, über ihre Ausgaben beschließen, nachdem sie so getan haben, als prüften sie die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments; die nach Möglichkeit die Kommission auf das Niveau einer Arbeitspapiere vorbereitenden Behörde oder eines ehrlichen Maklers zwischen den Regierungen degradieren. Der Rat zieht nur deshalb nicht den Haß auf sich, den jede derartige Oligarchie normalerweise auf sich zieht, weil der anscheinende Exzeß an Befugnissen durch die tatsächliche Ohnmacht annulliert wird.
Denn wenn die neun Minister sich den Entwurf einer gemeinsamen Entscheidung vornehmen, dann ist jeder von ihnen durch ein langes und komplexes nationales , Policy making'und . Decision making'sozusagen vorprogrammiert. Nationale Verwaltungen, nationale Pressure Groups, nationale Regierung haben zusammengewirkt, um das spezielle nationale Interesse zu bestimmen, das dann jeder Minister im Rat zu vertreten hat. In diesem ganzen Prozeß kommt lediglich der nationale Standpunkt zu präzisem Ausdruck, weil eben dies der Zweck dieses Prozesses ist. Wenn der Minister das in Brüssel zu behandelnde Dossier erhält, hat er nur noch seine Eloquenz spielen zu lassen, um seine These seinen Kollegen darzulegen. Doch in diesem Augenblick sind die Spiele bereits gemacht, mit Würfeln, die im nationalen Sinne verfälscht sind. Der Vorschlag der Kommission, den der Rat vor sich liegen hat, ist zwar mit einem supranationalen Verfahren erarbeitet worden und ist also in der Regel Ausdruck des gemeinsamen Interesses; aber er ist nur ein schwaches Arbeitspapier, das der Rat gegebenenfalls nur wenig zu beachten braucht, weil keine europäische politische Kraft hinter diesem Dokument steht. glauben, Es ist einfach absurd zu daß neun getrennte Beschlußverfahren, die sich auf jeweils neun politische, wirtschaftliche und administrative Gleichgewichte stützen, permanent durch eine Art von präetablierter Harmonie zu konvergierenden Ergebnissen führen können.
Man hört oft sagen, das ganze Übel käme daher, daß das Mehrheitsvolumen im Rat abgeschafft wurde, und die ganze Maschine werde wieder in Gang kommen, wenn der Rat wieder mit Mehrheit entscheiden könne. Aber die Kritik muß sehr viel radikaler sein.
Erstens sind nämlich wichtige Fälle, in denen die Verträge nicht die Einstimmigkeit im Rat vorsehen, sehr selten. Alle neuen Politiken, die Regionalpolitik, die Energiepolitik, Industriepolitik, Währungspolitik, Umweltpolitik, die Erweiterung der internationalen Befugnisse usw. müßten jedenfalls auch nach dem Römischen Vertrag einstimmig beschlossen werden.
Zweitens ist, solange die Staaten als solche die Entscheidungsbefugnisse behalten, der einstimmige Konsensus, das Liberum Veto, eine logische Notwendigkeit, wie man in jedem Handbuch des Völkerrechts nachlesen kann.
Das Übel liegt darin, daß man zwar anerkannt hat, diese und jene Materie sei von gemeinsamem Interesse, daß man aber die Macht, über sie zu entscheiden, in den Händen der Staaten belassen hat, daß also weiterhin als internationaler Rechtsgegenstand behandelt wird, was inzwischen Gegenstand des innereuropäischen Gemeinschaftsrechts sein müßte."
Aber das Brüsseler System ist nicht nur ineffektiv, es diskreditiert auch die europäische Einigung.
Die Föderierung Europas In dieser Situation gibt es nur eine Lösung.
Europa kann nicht zur lebendigen Realität werden, wenn es in den Händen von Ministerräten bleibt, die hinter verschlossenen Türen tagen. Es kann nur entstehen, wenn die lebendigen Gruppen und gesellschaftlichen Kräfte in der Lage sind, zum Aufbau des gemeinsamen Europas entscheidend beizutragen.
Nur die gewählten Vertreter der Völker, die in einem dauernden Dialog mit der Basis stehen, die von dieser durch Wahlen berufen und abberufen werden können, sind in der Lage, einen Konsensus zu finden, der tragfähiges Fundament zur Entwicklung eines europäischen Gemeinschaftswillens abgeben kann. Gewählte Parlamente sind das zentrale Element der repräsentativen Demokratie. Ihre faktische (wie im Nationalstaat) oder vertragliche (wie bei allen europäischen Gemeinschaftsorganisationen) Schwächung muß zum Absterben des demokratischen Systems führen.
Die sofortige direkte Wahl und die Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments wäre demnach die wichtigste Aufgabe. Aber auch dies würde die Probleme nicht ganz lösen, denn der Europäischen Gemeinschaft fehlen entscheidende Zuständigkeiten zu deren Lösung. Immer klarer wird (und dies haben inzwischen auch die Regierungschefs eingesehen), daß jede Wirtschaftspolitik des politischen Ziels bedarf und daß sie, wenn sie isoliert betrieben wird, zu Fehlentwicklungen führen muß. Wirtschaft ist für den Menschen da; ihr müssen gesellschaftspolitische Ziele gesteckt werden — nicht umgekehrt. Die zunehmende Kritik, besonders junger Menschen, an der Europäischen Gemeinschaft ist darauf zurückzuführen, daß die Gemeinschaft keine politischen Ziele stecken kann, auf die „hingewirtschaftet" werden soll.
Allein die Entwicklung der Rechte des Europäischen Parlaments löst also die Probleme nicht. Was nötig ist, ist die Schaffung des europäischen Bundesstaates, der über alle wesentlichen Kompetenzen verfügt und in dem das Prinzip der Subsidiarität gewahrt bleibt, damit individuelle, regionale, nationale und europäische Interessen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Die Forderung nach der Europäischen Union der Staats-und Regierungschefs weist in diese Richtung. Die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung kann aber nicht die Sache von Ministerräten, das heißt im Klartext von Beamten sein. Sie muß in die Hände der Vertreter der Völker gelegt werden.
Das Europäische Parlament mit seiner über zwanzigjährigen Erfahrung im transnationalen Parlamentarismus könnte der Ort sein, wo diese Verfassung entstehen könnte, wenn man es damit beauftragen würde oder wenn es sich das Recht dazu nehmen würde, wie sich der Kongreß von Philadelphia das Recht nahm, die Verfassung der amerikanischen Föderation zu schaffen.
Blick nach vorn diejenigen, die gewohnt sind, es Für allein mit in die Vergangenheit die Politik dem Blick zu betrachten, scheint diese Forderung fast unvorstellbar und zu revolutionär. Aber beim Blick in die Zukunft gibt es keine andere Lösung, wenn Europa nicht abdanken will.
Welches sind die großen Aufgaben?
1. Die Schaffung der europäischen Förderation ist kein Selbstzweck und auch keine einfache Vergrößerung des europäischen Nationalstaats in eine europäische Dimension. Vielmehr kommt es darauf an, die zwischenstaatliche Anarchie durch die Einführung des demokratischen und föderalen Systems zu zivilisieren. In der Auseinandersetzung um den Weg dieser Welt muß Europa seinen Ordnungsbeitrag leisten, nicht durch die Vergrößerung etatistischer Macht, sondern durch eine Demokratisierung der Machtbeziehungen zwischen seinen Gliedern, die eine effiziente Politik auf der Grundlage eines gemeinsamen Rechts ermöglicht. 2. Föderierung aber bedeutet zugleich Demokratisierung nach unten. Sie ist keine Übertragung von Machtbefugnissen von einer anonymen Macht auf die andere, sondern sie bedeutet die unmittelbare Mitwirkung eines jeden Betroffenen an der Regelung der Probleme seiner Lebens-und Wirkungsgemeinschaft. Die nur nationale Sicht der Politik verfälscht die Dinge auch hier, wie die regionalen Notstandsgebiete in der Europäischen Gemeinschaft beweisen. Selbstbestimmung der Menschen, der lebendigen Gruppen und Regionen, ist das Gebot des Föderalismus, das durch den schwachen Nationalstaat ständig gefährdet wird. 3. Die Industriestaaten der Erde stehen am Ende jener Entwicklung, die durch das hemmungslose Wachstum und den rücksichtslosen Ge-und Verbrauch der Rohstoffe dieser Erde, ohne Schonung der Ökologie, der Umwelt und der Lebensbedingungen für die später folgenden Generationen gekennzeichnet ist. Kein europäischer Staat allein kann angesichts der Interdependenz und der Konkurrenz aus diesem System des ökonomischen Wettkampfs ausscheren. Europa als Ganzes, zumindest aber die Europäische Gemeinschaft als Anfang, kann im Innern beginnen, solidarisch neue Entwicklungstendenzen und, nach außen gleichberechtigt mit den übrigen Großmächten, einen Dialog in dieser Richtung anzustreben. Jeder europäische Nationalstaat, der diese Politik allein versuchen würde, müßte schon an der Macht der multinationalen Konzerne scheitern, die er nicht beeinflussen kann.
4. Während also die Industriestaaten zu einer Politik des gebremsten Wachstums und des „recycling" kommen müssen, müssen sie andererseits zugleich eine uneigennützige Politik der Entwicklung der armen Länder stärker als bisher betreiben. Der Weltsozialkonflikt, der von Jahr zu Jahr größer wird, fordert zu einer entschlossenen Antwort heraus.
Alle diese Aufgaben — hier konnten sie nur bruchstückhaft angedeutet werden — sind im europäischen Gegeneinander unlösbar. Sogar die Dimension der Europäischen Gemeinschaft ist für Weltprobleme schon zu klein. Im Dialog der Weltmächte könnten aber die europäischen Staaten durch die Gemeinschaftsbildung zumindest eine viel wichtigere Rolle als heute spielen.
Bleibt eine letzte Frage. Würden die Völker Europas einer solchen Politik zustimmen, auch wenn ein Nullwachstum die Konsequenz wäre und Opfer verlangt würden? Diese Frage ist theoretisch nicht beantwortbar. Aber der Autor ist davon überzeugt, daß eine Gemeinschaft, die zukunftsweisende Ziele und Aufgaben aufzeigt und ihre Bürger daran gleichberechtigt und solidarisch beteiligt, vielmehr Zustimmung erhält als eine Summe kleiner Staaten, die in bürgerferner Technokratie verharren und die mehr und mehr die Fähigkeit verlieren, Antworten auf die entscheidenden Fragen der Zeit zu geben.
Claus Schöndube, geb. 23. 12. 1927, Studium der Naturwissenschaften und der politischen Wissenschaft; seit 1954 freier Journalist und Schriftsteller. Mitglied der Redaktion der Zeitung Europa Union, Korrespondent der Wochen-zeitung Das Parlament für die europäischen parlamentarischen Versammlungen. Veröffentlichungen: Eine Idee setzt sich durch, Hanrelar bei Bonn 1964 (gemeinsam mit Christel Ruppert); Grundsatzfragen der europäischen Integration, Hangelar bei Bonn 1967; Die europäische Integration. Lehr-und Informationsmappe für politische Bildung, Köln 1968; Das neue Europa-Handbuch, Köln 1969; Europa-Taschenbuch, Bonn 1970; Europa — Verträge und Gesetze (Herausgeber), Bonn 1972. Außerdem zahlreiche Broschüren, Zeitschriften-und Zeitungsartikel im In-und Ausland.
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